Die Wahrheit ist schwer zu verkraften Eine

Transcrição

Die Wahrheit ist schwer zu verkraften Eine
Die Wahrheit ist schwer zu verkraften
Eine Erzählung zu Joh.6,55-65
Die Mitteilung vom Tod der Mutter kam für Rudolf überraschend und auch wieder nicht.
Eigentlich hatte man schon längst damit gerechnet. In den letzten Jahren war sie immer
hinfälliger geworden. Nun saßen sie also im Auto, die beiden Söhne mit ihren Frauen, um an
der Beerdigung teil zu nehmen. Die Fahrt war bisher gut gelaufen. Rudolf war problemlos
und ohne Stau aus Potsdam in Leipzig eingetroffen und hatte den Bruder Willi mit seiner Frau
aufgenommen. Die Gespräche kreisten um die ganz alltäglichen Dinge. Willi schimpfte über
die zu geringe Rente, seine Frau Gertrud erzählte ständig von dem Unsinn, den ihre Katze
anstellte, Rudolf regte sich über die wie die Schnecken dahinkriechenden Autofahrer und die
Elefantenrennen der Brummis auf der Autobahn auf. Seine Frau Gabi schaute nur gelangweilt
durch die Gegend. Sie wusste eigentlich gar nicht so recht, warum sie diese Fahrt zur
Beerdung unternahmen. Eine Beziehung zur Schwiegermutter hatten sie alle nicht in diesem
Wagen. So waren ihre Gedanken. Aber nun fuhren sie halt. Und irgendwann würden diese
Stunden auch vorbei sein. Sabine, ihre Schwägerin, tat ihr schon ein wenig leid. Sie hatte
wieder mal die ganze Last der Vorbereitungen zu tragen, wie sonst auch bei den
Geburtstagen. Geradezu elektrisiert fuhr Gabi auf, als Willi meinte, er wüsste eigentlich gar
zu gerne, wie hoch das Erbe sei. Sie dachte erst, es sei ein böser Witz. Aber als sie sich
umdrehte und in sein Gesicht sah, wusste sie um den bitteren Ernst seiner Worte.
Die Beerdigung war vorbei. Trotz der Kälte war die Zeit dennoch schnell vergangen.
Manches, was der Trauerredner sagte, hatte Gabi von ihrer Schwiegermutter gar nicht
gewusst. Sie hatte sie ja auch erst in den letzten Jahren kennengelernt. Schließlich war sie seit
Kurzem mit Rudolf verheiratet. Sie kannte seine Mutter nur als hinfällige, alte, schon etwas
senile und kindische Dame. Einmal im Jahr kamen sie zu ihrem Geburtstag als Familie
zusammen. Und es war dann schon eigenartig, wie sie dort saß, nichts mehr begriff, aber die
Familie feierte.
Nun saßen die näheren und weiter entfernteren Verwandten in der Gaststätte beieinander.
Noch ein paar Episoden aus dem Leben der Schwiegermutter wurden erzählt, zwei, drei
Gedanken an die Tote verwandt, dann ging es zur Alltäglichkeit über. Da plötzlich kam es,
wie es kommen musste.
Willi sagte unvermittelt in einer Gesprächspause zu seiner Schwester Sabine: „Wie groß ist
denn eigentlich das Erbe? Und wann können wir damit rechnen, dass du uns die Summe
überweist? Mein Auto ist nämlich schon so gut wie hinüber. Ich könnte das Geld bald
gebrauchen!“
Sabine wurde blass und fing an zu zittern. In diesem Moment tobte Schwager Werner los. Sie
seien wohl alle übergeschnappt. Kaum sei die Mutter unter die Erde, ging es um ihr Geld. Die
ganzen Jahre habe sich Sabine keine Ruhe gegönnt, die alte Mutter gepflegt und sie seien alle
nur einmal im Jahr aufgekreuzt, haben ihre zwei Kästen Bier und andere Getränke nieder
gemacht, anschließend nach Hause gefahren und wieder ein Jahr den lieben Gott einen
frommen Mann sein lassen. Sabine aber musste die ganzen Kapriolen der Mutter aushalten.
Sie sollten sich alle was schämen.
Damit war der Streit perfekt. Das Ende vom Lied: Willi und Gertrud verließen ohne Gruß die
Gaststätte und warteten am Auto, bis Rudolf mit Gabi kam. Auf der Heimfahrt konnte sich
Willi nicht über Sabine und Werner genug auslassen. Kein gutes Haar hing mehr an ihnen.
Was ihnen Werner vorwarf, war alles nicht wahr. Schließlich hätten sie in früheren Jahren
sich auch um die Mutter bemüht. Rudolf schwieg zu allem. Er wollte es wohl nicht mit
seinem älteren Bruder verderben. Aber Gabi konnte schließlich nicht mehr an sich halten.
„Werner hat schon recht gehabt“, meinte sie. „Ich habe schließlich lange Zeit im
Seniorenheim gearbeitet. Und ich weiß, welche Nerven und Arbeit es kostet, sich mit einem
alten Menschen zu beschäftigen. Wenn das dann noch rund um die Uhr geschieht, kann das
nicht mit Geld aufgewogen werden. Wir sollten dankbar sein, dass Sabine diese Last getragen
hat und nicht gleich wieder an das Erbe denken.“
Da hatte sie etwas gesagt. Sie solle mal schön still bleiben. Schließlich habe sie sich doch in
das gemachte Nest gesetzt. So Gertruds Meinung. Und Willi nickte nur. Rudolf versuchte als
Fahrer etwas zu beruhigen. Aber der Rest der Fahrt verlief schweigend. In Leipzig trennten
sich die Paare kühl und distanziert. Keine Einladung zum Zwischenimbiss. Ade, auf
Wiedersehen! Und das war nicht mal so gemeint.
Als sie spät am Abend zu Hause ankamen, ging Rudolf sofort schlafen. Er hatte diesen Tag
satt. Gabi ließ sich die Ereignisse noch einmal durch den Kopf gehen. Dann griff sie zum
Telefon. Sie war froh, dass sich Sabine meldete und nicht Werner. So konnte sie zunächst
Sabine sagen, dass sie sich für das unmögliche Verhalten entschuldige. Sie hätte ihr
beipflichten müssen und es tue ihr leid, dass sie es nicht getan habe. Sie muss einfach zu
geben, dass Werner recht gehabt hat. Und was das Erbe anbelange, sie habe zwar mit Rudolf
noch nicht darüber gesprochen, aber sie wisse, dass er auch so denke, da solle sie ruhig erst
einmal an sich denken. Sie habe es sich schließlich reichlich verdient. Dann sagte sie noch
einen Satz, der ihr zwar unbedacht über die Lippen kam, der aber viel Wahrheit enthielt und
bei Sabine ein leichtes und befreiendes Lachen hervorrief. Sie sagte so nebenhin: „Die Liebe
und das Verstehen untereinander sind wichtiger als Autos und Katzenfutter.“ Das war zwar
unbewusst gesagt, aber sehr ernst gemeint.
Volker Schädlich

Documentos relacionados