Das Gedächtnis der Bewegung

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Das Gedächtnis der Bewegung
Medien
Die Atomkraftgegner haben zwar nichts Grundsätzliches verändert. Aber immerhin haben
sie vielleicht den Bau von einigen AKWs ver-
Ja. Es ist kein Verdienst der Grü­
nen im Parlament, sondern vor allem der
Pro­testbewegung, etwas verhindert zu
ha­ben – gerade weil sie außerparlamenta­
risch geblieben ist. In der Kommission für
Reak­torsicherheit sitzen heute ehemalige
AKW-Gegner, die mit den Grünen den
par­lamentarischen Weg gewählt haben.
Die kümmern sich heute um die Sicherheit
der AKWs.
hindert.
Einen Monat
nach Tschernobyl
traut sich ein
schwedischer
Landwirt nur im
Strahlenschutz­
anzug zur Arbeit
(links). Ein Inve-
Während sich die außerparlamentarische
stor kaufte 1995
Bewegung seit über 40 Jahren am Leben hält.
die Bauruine in
Woran liegt das? Die Atomkraftindustrie ist
eine feindliche Macht und geht, wie man
etwa an den Krebsfällen in der Elbmarsch
sieht, über Leichen. Die Protestbewegung
hat dagegen vielfältige Formen des Wider­
stands entwickelt und heute Unterstützung
in der breiten Bevölkerung. Diese Bewe­
gung ist nicht fragmentiert. Obwohl ihr
ganz unterschiedliche politische Ansichten
zu eigen sind, gibt es bis heute nichts, was
den Zusammenhalt dieser Bewegung zer­
stört. Das ist etwas Wertvolles.
Kalkar und
er­richtete einen
Freizeitpark
(rechts). Im Leitstand des SchnelDer Schweigemarsch vom 31. Oktober 1976 auf dem Elbdeich in Brokdorf
len Brüters tagen
(oben) richtete sich gegen das brutale Vorgehen der Polizei während der
heute die Gäste
AKW-Bauplatz­besetzung am Vortag. Nach dem Super-GAU von Tschernobyl
eines Kongress­
wurde vor dem Verzehr von Milchprodukten und Blattgemüse gewarnt
hotels (unten)
Er war Terrorist. Heute gibt er
die „Bibliothek des Widerstands“
heraus. Karl-Heinz Dellwo über
den AKW-Protest aus linker Sicht
Herr Dellwo, wie ist die Idee zur „Bibliothek
Vor vier Jah­
ren hat mich Willi Baer wegen eines Films,
den ich gemacht hatte, angerufen. Er ist
Mit­­herausgeber der Reihe. Ich hatte gerade
„Neben der Spur“ abgedreht, einen Doku­
men­tarfilm über Heimkinder. Wir haben
uns getroffen, geredet – und uns über die
68er-Geschichtsschreibung geärgert.
des Widerstands“ entstanden?
Die Bände mit dem
Titel „Lieber heute
aktiv als morgen ra­
dio­aktiv“ stellen die
bisher umfassends­
te Dokumen­tation
der Anti-AKW-Be­
wegung dar – mehr
als 1200 Buchseiten plus rund 50 Stunden
Film­material, die vom Widerstand gegen
das geplante Atomkraftwerk in Wyhl bis
zum Super- GAU in Fuku­shima reichen.
Willi Baer und Karl-Heinz Dellwo geben
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einer der bewaffneten Gruppen, die ver­­
sucht haben, eine Revolution umzuset­zen.
Das hat zwar nicht geklappt, wir hatten aber
eine ernste Absicht. Ernst war sie auch de­
nen, die später mit dem bürgerli­chen Staat
ihren Frieden gemacht haben.
gesellschaftlichen Verhältnissen bewegen
kann. Ich hatte mich der RAF angeschlos­
sen, weil ich der Meinung war, dass man
im revolutionären Kampf vorausgehen
und belegen muss, dass man seine Sache
ernst meint.
Verurteilen Sie das? Nein, warum sollte ich?
Aber ich mache diese Selbstentwertung
nicht mit – als sei das alles damals nur
al­ters­bedingte Jugendradikalität gewesen.
Das ist eine Lebens­lüge, mit der aus der
An­­­passung eine Tugend gemacht wird.
Wir haben uns gefragt: Wie kann man da­
ran erinnern, dass es in der Zeit um 1968
die Gewissheit gab, alles Private und Ge­
sellschaftliche neu gestalten zu können?
Film­dokumentationen transportieren die
Stim­mung einer Zeit besser als Bücher.
Gleich­zeitig wollten wir die Bewegungen
auch aus heutiger Sicht reflektieren – des­
halb die Bücher zu den DVDs.
Es gab Parallelen in der Entwicklung beider
In der Zeit, von der die Filme in der Edition er­
zäh­len, waren Sie selbst als Mitglied der RAF
Was genau hat Sie gestört? 1968
hat es einen
Auf­bruch und eine Revolte gegeben. In sei­
ner ursprünglichen Absicht, den Kapi­ta­lis­
mus abzuschaffen, ist die Revolte dann viel­
leicht gescheitert. Ich selber war ja Mitglied
in Haft. Haben Sie im Gefängnis von den Anti-
Ja. Aber
ich war damals ein Kritiker der Bewegung,
weil ich nicht glaubte, dass man über die
Atomkraft die Menschen zur Kritik an den
AKW-Protesten draußen erfahren?
Bewegungen: 1977 war sowohl das Jahr des
„Deutschen Herbsts“ als auch das Entschei-
Fotos: LAIKA-Verlag
Das Gedächtnis
der Bewegung
die Reihe im Rahmen der „Bibliothek des
Widerstands“ heraus. In der Edition fin­
den sich auch fast vergessene Dokumen­
tar­filme über politische Ereignisse wie
den Pariser Mai 1968, die portugiesische
Nel­ken­­­revolution oder die G8-Proteste in
Genua, über militante Gruppen wie den
Weather Underground oder die Black Pan­
ther, über Attac und den Widerstand ge­
gen die latein­amerikanischen Diktaturen.
Das Greenpeace Magazin traf Dellwo,
ehe­maliges RAF-Mitglied und Geschäfts­
führer des Laika Verlags, im Hamburger
Schanzenviertel zum Gespräch.
Greenpeace Magazin 4.12
atomkraft
dungsjahr für den Anti-AKW-Widerstand. Die
Demonstrationen in Brokdorf mit 50.000
und in Kalkar mit 60.000 Menschen, die
sogenannte „Schlacht um Grohnde“ und
die Großdemos gegen den Schnellen Brü­
ter im französischen Malville, bei der der
Lehrer Vital Michalon erschossen wurde –
es kam zur Konfrontation mit dem Staat,
das habe ich im Gefängnis verfolgt. Es war
etwas anderes als bei uns, und trotzdem
gab es Parallelen. Andreas Baader schrieb
sinngemäß: Uns vereint mit dieser Bewe­
gung, dass sie ebenso grundsätzlich alles
vom Interesse des Menschen aus bestimmt
und nicht von der Logik des Kapitals.
Der Film, der den Atom-Büchern ihren Titel
ge­geben hat, ist von 1976 und heißt „Lieber
heu­te aktiv als morgen radioaktiv“. Er erzählt
die Geschichte des Widerstands gegen das ge­
plan­te AKW im badischen Wyhl. Darin gibt es
Ein Grund könnte auch sein, dass die Protestbe-
ei­n e Szene, in der eine Bauersfrau während
wegung in den 60er- und 70er-Jahren mit dem
ei­ner Pro­­test­aktion gegen Politiker ruft: „Den
Heute ist
die Bereitschaft größer, die Verhältnisse
grundsätzlich in Frage zu stellen: Für den
Unfall in Tschernobyl konnte man ja sehr
leicht das realsozialistische System verant­
wortlich machen – bei Fuku­shima geht das
hingegen nicht. Man ist heute wesentlich
kapitalismus- und gesellschaftskritischer.
Vielleicht schafft es die AKW-Protestbewe­
gung ja noch, die Macht der Energiekon­
zerne zu brechen und die Bestimmung
über die Energieproduktion zu demokra­
tisieren. Interview: Christoph Twickel
Baa­der soll­­te man holen, was meint ihr, wie sie
Ähnliche Sätze höre
ich heu­te oft anlässlich der Finanzkrise.
Darin äußern sich Ohnmachtserfahrungen
und Kritik an der Linken, die ihnen kei­
ne Perspektive für eine Veränderung gibt.
Deshalb kommt der Wunsch auf, ein be­
waffneter Robin Hood müsste denen da
oben einheizen.
dann ren­nen würden!“
Als AKW-Gegner lief man 1977 Gefahr, auf dem
Weg zu einer Demonstration mit ent­sicherter
Zwang zur Revolution belastet war.
Maschinenpistole gefilzt zu werden. Die Grenzen zwischen Terroristenfahndung und Repression gegen den zivilen Widerstand waren flie-
Karl-Heinz Dellwo und
ßend. Hat diese Erfahrung nicht zuletzt auch zur
Willi Baer sind Heraus­
Nach 1977
haben die meisten gewusst: Die Revolution
wird nicht kommen. Bunte Listen entstan­
den. Die „taz“ gründete sich. Und die Idee
kam auf, eine parlamentarische Säule die­
ser neuen Bewegung zu schaffen. Vielen
war klar: Ewig am Zaun stehen oder auf
die Straße gehen, das funktioniert nicht.
Es muss die Perspektive einer grundsätz­
lichen Änderung geben. Wenn die nicht da
ist, dann zerfällt der Widerstand.
geber der umfassenden
Gründung der „Grünen“ geführt?
„Bibliothek des Widerstands“. Sie bietet eine
weltweite Übersicht über
alle Formen des emanzipatorischen Protests
und Widerstands. Im
Juni erscheint der vierte von insgesamt fünf
Bänden über die Anti-AKW-Bewegung:
„Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv“.
Laika Verlag, 230 Seiten, 29,90 Euro
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