Kopfschlächter - Leseprobe
Transcrição
Kopfschlächter - Leseprobe
Tristan vom Wahn Kopfschlächter Die sieben Todsünden Zeitzeugenroman LESEPROBE © 2013 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 2 Taschenbuch: ISBN 978-3-8459-0938-7 Großdruck: ISBN 978-3-8459-0939-4 eBook epub: ISBN 978-3-8459-0940-0 eBook PDF: ISBN 978-3-8459-0941-7 Sonderdruck Mini-Buch ohne ISBN AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. 3 Superbia: Von Rindern und Kälbern „Duuff“ – dumpf ist der Schlag, mit dem der Bolzen die Schädeldecke durchschlägt. Der erste Schuss muss sitzen. Nicht, um den Tod schneller und weniger qualvoll herbeizuführen. Nein – wir dürfen keine Zeit verlieren. Groß sind die Augen, die mich in den letzten Sekunden anschauen. Sie sind immer groß und braun. Pro Stunde 60 Augenpaare – der Akkord drängt und lässt keine Zeit. „Duuff“ – der nächste Schuss durchschlägt mit hoher Geschwindigkeit die Schädeldecke. Ich muss das Bolzenschussgerät genau zwischen den Hörnern ansetzen, um das orangengroße Gehirn zu treffen. Große braune Augen, die mich anschauen. „Duuff“ – „Duuff“ – „Duuff“. Tod im 4 Minutentakt. Zuckend kracht der schwere Körper auf den Boden, die Gliedmaßen zappeln wie bei einem epileptischen Anfall. Nicht so lange – aber sie zappeln. Die Beine knicken ein und können den schweren Körper nicht mehr tragen. Das nächste Rind kommt auf mich zu und wird in der Stahlhalterung fixiert, die den Kopf justiert. Es schaut zu mir auf – und ich: „Duuff“. 60 Mal in der Stunde knalle ich den elf Zentimeter langen Bolzen durch die Schädeldecke. Die Zunge streckt sich nach vorne und Blut quillt aus dem Maul. Dunkelrot und schaumig. Der mit letzter Kraft zuckende Körper wird an den Hinterläufen von den Stahlösen des Kettenzuges ergriffen und nach oben gezogen. Der Bolzen betäubt nur. Der Aderschnitt durch die Lunge und die Halsschlagadern ist mit den scharfen Schlachtmessern ein Leichtes. Bevor ich das erste Mal in meinem Leben einen Halsschnitt setzte, dachte ich immer, eine Kuhhaut wäre hart wie gegerbtes, trockenes Leder. Aber nein: Das Messer gleitet durch Fell und Haut wie durch Butter, ohne 5 einen Widerstand zu spüren. Anschließend folgt der Halsbruststich, der mit einem Hohlstechmesser durch die Brust gesetzt und in Richtung Herz gestoßen wird. Im Rhythmus des Herzschlages spritzen in kurzer Zeit 40 Liter Blut aus dem Körper. Das warme Blut lackiert den Schlachtraum. Das Blut wird in Auffangbecken gesammelt. Kälberund Rinderblut geht an die Pharmakonzerne und wird zu Wundsalbe verarbeitet. Oder zu Mehl. Blutmehl ist ein vorzüglicher Pflanzendünger. In flüssiger Form auf den Boden aufgebracht, fördert es bei Gemüse ein schnelles und kraftvolles Wachstum, ohne dass das Aroma der Feldfrüchte leidet. Ganz im Gegenteil: Gemüse, das mit Blutmehl gedüngt wird, ist kraftvoll im Wuchs und zugleich herzhaft im Geschmack. Übrigens, die Behauptung, dass in Lakritz Rinderblut sei, ist eine Mär. Wir dopen uns hier auch immer mit dem Blut. Gemischt mit Korn ist der rostige Geschmack ein 6 Hochgenuss. „Hartmut, los, zeig uns, dass du ein ganzer Kerl bist und sauf!“, das waren die ersten Worte des Vorarbeiters, am ersten Tag hier im Schlachthof. Für mich kein Ding. Mund auf den Halsschnitt und rein mit der warmen Brühe. Ich bin das seit meiner Jugend gewohnt. Ich arbeitete neben der Schule bis zum Abitur beim Bauern und war stets bei den Hausschlachtungen als Gehilfe dabei. Andere gingen nach dem Abitur zur Uni und wurden Rechtsanwälte, Lehrer oder Sozialarbeiter – mich zog es zu Blut und Tod. Im Alter von 19 fing ich bei unserem Dorfschlachter an und habe das Handwerk von der Pike auf gelernt. Das warme Blut hat einen besonderen Wohlgeschmack. In den Pausen oder abends ziehen wir uns gerne mal ein Glas mit Blut und Korn rein. Der Korn sollte überwiegen, damit das Gesöff nicht nur den Schwanz stärkt, sondern auch richtig knallt. Manche von uns würzen mit Pfeffer nach oder quirlen noch ein Hühnerei ins Glas. Das sind die wahren Gourmets. Die Weichlinge und Quereinsteiger, die meinen, 7 man könnte hier im Schlachthof mal so richtig Kohle machen, kotzen oft ihren Einstandsschluck, der direkt vom Rinderhals genommen werden muss, sofort wieder aus. Viele kommen dann gar nicht mehr wieder. Wozu auch – solche Weicheier können wir hier nicht gebrauchen. Ich hab‘ mit zwölf angefangen zu saufen, das war in den Sommerferien. Im Garten meiner Eltern. Zelt aufgebaut und vom alten Sack drei Pullen Bier geklaut. Gesoffen und gekotzt. Aber da muss man durch, wenn man ein Mann werden will. Montagmorgens kommen immer die Rinder. Rinder sind ausgediente Milchkühe, Kälber und halt die jungen Bullen. Alle haben ihren Reiz. Das ist wie mit den Frauen – da unterscheiden wir doch auch nicht aufgrund ihres Alters, des Körpers oder sonst was – Hauptsache Fotze. Schlachten ist wie ein Orgasmus: Schau ihr in die Augen, wenn die Schlampe kommt. Schau dem Vieh in die Augen, wenn es krepiert. Darum ärgert es mich auch, dass hier im Akkord gearbeitet wird; aber lieber 60 8 kurze Orgasmen in der Stunde als gar keiner. Ich liebe den Montag, weil der Tod der Rinder ein besonderer ist. Es sind die größten Körper, die ich zu Fall bringe. Ich schieße auch gerne links oder rechts am Gehirn vorbei, um den Todeskampf zu verlängern, das ist für mich wie ein multipler Orgasmus. Der G-Punkt des Rindes liegt, wenn man von vorne rein schießt, rechts neben dem Gehirn. Streift der Bolzen das Gehirn, so verlängert sich unser Fick. Stöhnen, zucken, gurgeln – animalische Laute. Die Zunge schiebt sich aus dem Maul, weiß-roter Schaum quillt heraus, die Augen verdrehen sich langsam im Todeskampf. Geht ein Schuss daneben, muss ich, wenn Heinrich das mitbekommt, immer schnell nachladen, um mit ihm keinen Ärger zu bekommen. Nein, es geht Heinrich nicht um das Tier. Das ist ihm – wie fast alles in seinem Leben – völlig gleichgültig. Heinrich hat Schiss vor unserem Chef. Es geht um den Akkord und um die Kohle, die wir nach der Schicht in Alkohol oder reale 9 Orgasmen umsetzen. Nicht ohne Grund liegt der Puff genau gegenüber dem Schlachthof. Montags also kommen die Rinder. Lkw-weise. Samir – hier im Schlachthof arbeiten etliche Muslime – treibt die Viecher vom Lkw und stößt sie mit dem Elektroschocker den langen Gang hinauf zum Schafott, wo ich schon auf sie warte. Oft übergießt er die Tiere vorher noch mit Wasser, damit der Strom besser leitet und unter die Haut geht. „Zong“. Auf dem feuchten Fell hört man den einschlagenden Blitz dann auch viel besser. Die Viecher brüllen, pissen und scheißen den weiß gekachelten Schlachtgang voll. Was für ein Dreck. Pro Schicht 480 Rinder, da kommt was zusammen. Total glitschig. Samir sieht nach der Arbeit auch immer aus wie ein großer Haufen Kuhscheiße. Ich glaube, deshalb hasst er die Viecher. Vor allem hasst er Bio-Kühe. Nicht weil diese doch ein ach so schönes Leben hätten. Nein – er hasst die aufgetakelten, hochmütigen Tussen, die 10 das Bio-Fleisch im Bio-Supermarkt kaufen. Noch vielmehr hasst Samir die akademischen Ökotussen, die jeden mit einem herablassenden Blick strafen, der seinem Kind einen gezuckerten Schokokeks gibt. Ja, so langsam wissen wir es alle: Es darf nur ein gesunder, aber dafür ungenießbarer Dinkelkeks sein. Bio ist ja so hip und man tut ja sowas Gutes. Deshalb glauben auch alle an die Mär vom glücklichen Rind, das muhend auf der grünen Wiese steht, glücklich mit seinen Artgenossen spielt und nur saftiges Gras frisst. Und wenn es mal über der Weide regnet, damit das Gras auch schön saftig und grün wird, erstrahlt am Himmel ein Regenbogen. Und am Abend liegen sich die Kühe in den Klauen und haben sich alle ganz doll lieb. Wüssten die Rinder, was auf sie zukommt, würden sie den Weg trotzdem gehen. Aber das ist beim Menschen nicht anders. Viele gehen ihren Weg und hängen nachher am Haken – und wussten es doch vorher schon. Selbst schuld, wer immer noch an die Menschlichkeit glaubt. Ob die 11 Rinder an eine Menschlichkeit glauben? Ich glaube nur an den vollen Bauch, die Kohle und die Nutten im Haus gegenüber. „Samir, mach‘ hinne, ich brauch es jetzt!“ Samir braucht es auch, er liebt es, die Viecher von der Laderampe zu stoßen. Er muss sich ja noch hoch arbeiten, um wie ich den Bolzen betätigen zu dürfen. Wenn ein Tier den Weg zum Schafott nicht alleine schafft, stützt Samir das Vieh, um mit ihm in die Ruhmeshalle des Todes zu kommen. Samir ist groß und stark und schafft es, ein Rind aufzubocken. Immer wenn ein Tier nicht mehr laufen kann – sei es durch den langen Transport oder einen Sturz von der Laderampe – ersetzt Samir die Vorderläufe, schultert das Vieh und schleift es bis zu mir. Er schwankt zwar zuweilen wie eine Todesbarke auf dem Wasser, aber er kommt immer ans andere Ufer. Klar, wir alle wissen, was das Gesetz vorschreibt: „Das Tier muss noch auf allen Vieren in den 12 Schachtgang kommen, um für den menschlichen Verzehr geeignet zu sein.“ Scheiß drauf’! Was soll dieser Müll – Hauptsache es lebt. Und wenn das Herz nicht mehr schlägt, aber das Vieh noch warm ist, so lebt es doch auch noch – oder? Gerade dann, wenn Samir seine Kraft unter Beweis stellt und das Vieh bis zur mir schleppt. Denn dann spricht es sogar: „Hallo, hier bin ich!“ Wenn das kein Beweis ist. Keiner redet darüber, aber Samir erhält vom Chef eine „Fährmanns-Prämie“ für jedes Vieh, das er „lebend“ bis zum Bolzen zerrt. Keiner spricht darüber, auch die Veterinärin nicht. Kann sie doch eh nichts dazu sagen, da gerade der Schwanz vom Chef in ihrem Maul steckt – und seine Kohle in ihrem Cabriolet. „Hey Samir, mach‘ hinne, ich brauch ’nen KopfFick.“ Samir beeilt sich, denn immer wenn ich „Kopf-Fick“ sage, bekommt er ’nen Korn von mir. Besonders lustig ist es, wenn Samir die Viecher bis zur Kopffixierung schleppen muss. Dann schaut er mir in die Augen und ruft: „No please, Master! No 13 please, Master!“ So wie ein Codewort beim SMSex. Wenn Samir ein männliches Kalb zu mir schleppt, feixt er: „Schau mir auf die dicken Eier, hab ich nicht dicke Klöten?“ Ich nenne Samir oftmals ‚NOPLEASE’. Das lockert unsern Alltag auf. Ein gar lustiges Spiel. „Hey NOPLEASE – get a fucking Korn!“ Uns gefällt es hier, wir machen ’ne gute Arbeit, verdienen fette Kohle und saufen, lachen und schlachten den lieben langen Tag. Im Sommer arbeite ich an der spanischen Küste in einem kleinen Hinterhof-Schlachthaus und verbinde meinen Urlaub mit der Arbeit. Das ist nicht so langweilig wie den ganzen Tag am Strand zu liegen und auf Titten und Ärsche zu schauen, an die man eh nicht ran kommt. Ich bin immer in Alicante. Dort schlachtet man noch wie in meiner Jugend. Aufgrund der laschen Behörden wird der kleine Schlachthof von keinem Veterinär kontrolliert. Man bleibt unter sich und seinesgleichen. 14 Besonders bei den Kälbern geht es derb zu. Lebend auf Holzbarren geworfen, werden die Köpfe mit scharfen Messern abgeschnitten, sodass ihr Herz das Blut aus dem offenen Hals pumpt. Bei Kälbern muss das ganze Blut schnell raus, damit das Fleisch schön weiß bleibt. Hier ist das Schlachten noch ein ehrliches und echtes Handwerk. Jeder Schlächter ist jeweils für ein Tier allein verantwortlich: Köpfen, Klauen abhacken, ausweiden und häuten. Wenn man schnell ist, zucken die Leiber nach getaner Arbeit immer noch aus Reflex. In Alicante liebe ich die frühen Morgenstunden in der Schlachthalle. In der Kühle des Morgens schwitzen die warmen Körper der toten Rinder und das Blut verdampft zu einem feinen Nebel, den das kalte Neonlicht in ein mildes Rot taucht. Dieser leuchtende Blutnebel ist der Bruder der Morgenröte. Weht der Wind landeinwärts, vermischt sich der Geschmack des Blutes mit der Frische des Meersalzes. Rinder und Stiere werden hier noch traditionell 15 mit dem Schlachthammer durch einen festen Schlag auf die Schädeldecke betäubt. Das ist wie auf der Kirmes beim „Hau den Lukas“ – genau zielen und mit großer Wucht draufschlagen. Sicherlich nicht so komfortabel wie das Bolzenschussgerät. Aber es ist ehrlicher und verlangt mehr Geschick. Nur muss hier der erste Schlag wirklich sitzen. Ansonsten schwillt die Schädelhaut an und bildet ein Polster, was die nachfolgenden Schläge erschwert. Insbesondere bei kräftigen Stieren ist es ein Kampf zwischen Mensch und Kreatur. Triffst du den Schädel nicht richtig, schleudert das Tier seinen mächtigen Kopf und den massigen Körper umher und reißt alles mit sich. So kommt es vor, dass die Hörner des Stieres den Körper des Schlächters der Länge nach aufschlitzen. Aber das macht den Reiz aus. Adrenalin durchströmt den Körper. Vom Blutrausch getrieben, schlage ich immer wieder aufs Neue treffsicher zu. Abends darf jeder Schlächter seinem letzten Stier die Hoden abschneiden und mit nach Hause nehmen. 16 Klein gehackt, gebraten mit Knoblauch und Zwiebeln, sind sie eine wahre Delikatesse. Nach der Arbeit verprasse ich meine Kohle mit den billigen tunesischen Nutten, die nach der Schicht schon in der Bar Tabaco warten. Hier nehme ich immer einen Absacker. Das spanische Bier ist lecker und mild, beinahe wie Kölsch. Dazu trinke ich nicht Wodka, sondern Absinth. Absinth ballert Dir Dein Gehirn weg. Und im feuchten Schoß der Huren finde ich meine Bestimmung und Glückseligkeit. Wieder in Köln. „Eine vom Leben gebeutelte Frau sucht verzweifelt einen Mann. In einer Kneipe kommt sie mit einem gut gebauten Kerl ins Gespräch. Er erzählt ihr, dass er erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden ist, wo er 15 Jahre gesessen hat. Hähähä hä“, gurgelt Samir. „Fragt die Frau: Was haben Sie denn verbrochen? Hähähä hä“, gluckst Samir erneut. „Ich rede nicht gern darüber. Aber im Streit habe ich meine Frau mit dem Schlachtbeil zerhackt. 17 Hähähä hä“, lacht und giggelt Samir völlig bescheuert vor sich hin. „Die Frau denkt kurz nach und fragt schließlich: Dann sind Sie also Single? Hähähä hä!“ „Hähähä hä“ – äffe ich ihn nach. „Deine Witze sind nicht nur bescheuert, Du lachst auch noch völlig debil.“ Abends gehen Samir, Heinrich und ich oft ins Mainzer Eck. Eine klassische Veedels-Kneipe, in der sich das Publikum mischt. Ein lokaler Schmelztiegel und Abbild dieser Stadt. Samir ist ein angenehmer Begleiter. Er hätte den Weg in den Schlachthof nicht unbedingt finden müssen. Seine Eltern sind Immigranten, die als Intellektuelle Anfang der 80er Jahre aus dem Iran vertrieben wurden. Irgendwie haben sie in Deutschland nicht Fuß fassen können und auch Samir hat dadurch seine persönliche Bestimmung nicht wirklich gefunden. Aber man kann im Leben halt nicht alles haben. Während der Schlachthof durchaus meine Bestimmung ist, wurde Samir wohl eher durch 18 Zufall zu meinem Kollegen und Freund. Ein feiner und doch zugleich grober Geist. Ganz anders als Heinrich. Ihn nehmen wir einfach immer nur mit. Er sagt so gut wie nie etwas. Denke mal, er ist auf der Flucht vor sich selbst. „Hähähä hä“ – Samir lacht wieder grenzdebil. „Samir, alter Türke!“ Es ärgert ihn, wenn ich ihn so nenne. „Warum giggelst Du so bescheuert? ‚Hähähä hä‘“, äffe ich ihn erneut nach und bestelle drei Kölsch und drei Wodka. „Hähähä hä“, entgegnet er. „Siehst Du da in der Ecke die alte Schabracke?“ „Klar, die kenn ich schon lange. Gordana Zonnebloem. Sie hat uns als Schauspielerin durch viele belanglose, weichgespülte Filme begleitet und die eine oder andere belanglose Show moderiert. Ihr Erfolg ist von gestern. Neulich sah ich sie im ‚Perfekten Promi-Dinner‘.“ Ich kenn sie aber auch aus dem Veedel, da ich hin und wieder beim hiesigen Metzger Zoppel an der Theke ausgeholfen habe. Sie war stets freundlich, doch immer ein wenig zu laut und nach 19 Aufmerksamkeit heischend. Wir mussten sie stets äußerst höflich und zuvorkommend bedienen. Der Meister schenkte ihr zuweilen ein Stück Rinderfilet, weil er stolz darauf war, dass eine so berühmte Frau bei ihm einkauft. Ja, er durfte sie sogar „Meine liebe Frau Gordana“ nennen. Früher kaufte Frau Gordana beim Metzger. Heute sehe ich sie eher bei Aldi. Sie kommt immer ganz früh, wenn der Laden noch leer ist und sie keiner sieht. Nach ihrer Scheidung, die sie in den Medien öffentlich zelebrierte und sich dabei selbst als das arme, betrogene Opfer darstellte, ist sie hier ins Veedel gezogen. Ich glaube, mittlerweile lebt sie gut zehn Jahre in Köln. Sie dürfte bereits auf die 65 zugehen. Oft sitzt sie am großen, runden Tisch, an dem sich die Mitglieder der Karnevalsgesellschaft „Kölner Funken blau weiß“ treffen. „Hähähä hä“, unterbricht Samir meine Gedanken erneut. „Ich hab letztens noch ein Interview mit der Zonnebloem gesehen. Da lachte die 20 Schabracke auch immer so blöde nach jeder Antwort, die sie von sich absonderte.“ Heinrich schiebt uns wortlos zwei frische Gläser Kölsch vor unsere durstigen Hälse. „Prost!“ Ich fixiere die Zonnebloem. Sie ist wie immer übertrieben gekleidet. Und obwohl das Mainzer Eck eine der letzten Raucherkneipen in Köln ist, glaube ich, ihr aufdringliches Parfum wahrzunehmen. Vielleicht ist es auch nur reine Einbildung und mein Gehirn gaukelt mir diesen schweren Geruch vor, den ich noch von ihr kenne, als sie in der Metzgerei eingekauft hat. Ich konnte sie und ihren beschissenen Duft noch nie riechen. Ihr erstarrtes Gesicht hat maskenhafte Züge angenommen: Aufgespritzte Lippen und eine geglättete Stirn. Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt, wie eine Fratze. Ihre Worte – auch wenn ich sie durch das Stimmengewirr nicht hören kann – sind hohl und leer. Aber das ist am Stammtisch der Blauen Funken auch völlig egal. Es ist eh immer nur belangloses Geschwätz über sich und andere 21 Karnevalsgesellschaften. Bunte Gockel und geklonte Tussen, die vor sich hin gackern. Das Kölsch läuft in Strömen. Der Geräuschpegel in der Kneipe wird immer lauter. Alles lacht und redet. Jeder glaubt, der andere höre ihm zu. Laute Monologe. Ich fixiere Frau Zonnebloem. Samir hat recht, sie giggelt und gurgelt nach jedem Wortschwall vor sich hin. Einer der Blauen Funken verglüht soeben durch den vielen Alkohol. Sein trunkener Körper rutscht plump unter den Tisch und macht so den Platz neben der blonden Fratze frei. Ich nutze die Gelegenheit, steuere auf den freien Platz zu und setze mich zu ihr. „Hi Gordana!“ Ich weiß, das ist eine Anrede, die ihrer vermeidlichen sozialen Stellung nicht gebührt. „Bitte“, antwortet sie schnippisch. Kurz und knapp müssen Antworten sein, wenn Du Deinem Gegenüber zeigen möchtest, dass Du Dich ihm überlegen fühlst. Von Nahem wirkt die abgetakelte Kuh noch fratzenhafter. Ihre Gesichtszüge sind durch die 22 zahlreichen Eingriffe der letzten Jahre festgefroren und die dicke Make-up-Schicht kaschiert oberflächlich die Falten der Neuzeit. Ihr Stern ist schon lange verglüht. Gordana sitzt mitten zwischen den Blauen Funken, und doch wird sie von ihnen kaum wahrgenommen. Sie blubbert, faselt und lacht vor sich hin. Sie ist das schmückende Beiwerk alter potenzloser Männer und lässt sich aushalten. Gordana will nicht mit mir sprechen, da ich für ihr Ego nicht von Interesse bin. Was soll ich für sie auch tun – außer ein paar Münzen in die Spendenbox zu stecken? Nur den Wein, den ich ihr bezahle, nimmt sie lächelnd an. Für ein „Danke“ reicht es nicht. Sie ist es gewohnt, dass andere geben und sie nimmt. Ich kenne ja ihr Verhalten gegenüber dem alten Zoppel. Je länger ich schweigend neben ihr sitze, desto unwohler fühlt sie sich. Dann endlich erbarme ich mich: „Frau Zonnebloem, was macht Ihre Stiftung?“ Ihre Augen öffnen sich und sie strahlt mich 23 erleichtert an. „Ich selbst lebe ja ganz bescheiden. Aber für arme Kinder in Afrika, da tue ich fast alles. Gerade lasse ich in Swasiland in einem Krankenhaus einen neuen OP-Raum für die armen Kleinen bauen. Ich nutze meine Popularität für die Kinder, da sie meine Hilfe brauchen. Ich sammle viel Geld für diese armen Wesen“, faselt sie stolz vor sich hin und lächelt, so als ob die Kameras laufen und sie in einer Talkshow sitzen würde. „Erkennen Sie mich nicht? Ich habe beim Metzgermeister Zoppel gearbeitet“, frage ich sie. „Ach ja, der Zoppel. Ein guter Mann. Er hat erkannt, wie wichtig diese Arbeit ist, und hat mich und meine Kinder unterstützt“, antwortet Zonnebloem. Ihre Antwort klingt einprogrammiert. Ich glaube, sie würde jeden kennen, dessen Name in einem Gespräch fällt. Dabei sind Namen und Personen für sie in Wirklichkeit nicht von Belang. „Meister Zoppel ist tot. Er konnte gegen den großen Supermarkt nebenan nicht mehr bestehen. Seine Metzgerei ging letztes Jahr pleite. Er starb 24 daraufhin vor lauter Gram.“ Frau Zonnebloem reagiert nicht. „Er hat jedes Jahr sein Weihnachtsgeld und alle Trinkgelder für Ihre Stiftung gespendet – auch noch ganz zuletzt, nur wenige Wochen vor seinem Tod, als er es sich gar nicht mehr leisten konnte“, fahre ich unerbittlich fort. „Es ist ja so wichtig, dass es Menschen gibt, die sich um das Elend der Kinder kümmern“, wiederholt sie ihre Schallplatte und konstatiert: „Sie wissen doch, dass es meine Aufgabe ist, Gutes zu tun.“ „Ja, ja – tue Gutes und rede darüber. Und Zoppel? Erinnern Sie sich nicht mehr an Meister Zoppel? Er hat Sie verehrt!“ „Ich opfere mich auf. Ich bin wie ein Engel für die armen Kinderseelen. Zoppels gibt es viele. Aber mich gibt es nur einmal. Finden Sie nicht?“ „Frau Zonnebloem. Auf dem Tresen, neben der Kasse, sammelte er immer Geld für Ihre Zonnebloem-Stiftung. Kurz vor seinem Tod hat er Ihnen noch einen Brief geschrieben und darum 25 gebeten, ob Sie nicht seine guten Rinderfilets in Ihrer Bekanntschaft weiter empfehlen könnten. Er kämpfte ums Überleben.“ „Was wollen Sie von mir?“, unterbricht sie mich barsch. „Was interessiert mich ein Metzger namens Zoppel?“ Sie streicht sich durchs Haar und demonstriert mir dabei den üppigen Schmuck an ihren Händen. „Wissen Sie, ich muss mich um das Wohl der Menschheit kümmern, da habe ich keine Zeit für irgendeinen alten Mann. Die Blauen Funken wollen mir dieses Jahr den gesamten Gewinn aus ihrer Prunksitzung stiften – ist das nicht großzügig? Und der Express wird groß darüber berichten: ‚Gordana Zonnebloem: Engel der armen Kinder Afrikas‘.“ „Klar, der Express liebt Sie – am geilsten fand ich ja die Story über Sie und Ihren Ex, der Sie betrogen hat“, locke ich sie aus der Reserve. „Ich habe darüber ein Buch geschrieben, Sie sollten es unbedingt lesen. Ein fantastisches Buch. Es zeigt, dass Männer echte Dreckschweine sind, dass sie an nichts anderes als an Sex denken und 26 uns Frauen nur benutzen.“ Es ist hoffnungslos, aber ich versuche es erneut: „Gordana – warum nur setzen Sie sich so für die Kinder ein?“ Zonnebloem wird nervös. „Warum Kinder?“, wiederholt sie genervt meine Frage und merkt, dass ich nicht die Antwort von ihr erwarte, die sie in jedem Interview gibt. Kinder, Hunde und andere Tiere sind ja immer ein Thema, das die Herzen der Menschen öffnet. Nimm Dich ihrer an, ergreife das Wort, und jeder hört Dir zu. „Warum waren Sie nicht für einen alten Mann aus der Nachbarschaft da?“ Ihre Augen weiten sich, sie starrt mich an wie ein Rind vor der Schlachtung. „Filets nehmen. Geld nehmen. Ach ja – es ist ja alles für die süßen kleinen schwarzen Kinder. Irgendwo in Afrika.“ Ihre Augen bitten um Gnade. Zu spät – ihr Kopf ist in der Halterung fixiert und wartet auf die Schlachtung der Seele. Ich bin tief in ihrem Gehirn. 27 „Ich war nicht immer die Prinzessin. Meine Kindheit war lieblos. Ich war kein Wunschkind. Ich war ein Schandfleck. Ein Mensch, der nur geduldet wurde.“ Die Worte verlassen mit zittriger Stimme ihren Mund. Automatisch, monoton und nicht mehr beabsichtigt. Ihre Augen werden glasig. Von ihrer eigenen Offenheit erschrocken, redet sie dennoch weiter: „Ich bin ein Nichts. Ein Niemand. Ich brauche die Öffentlichkeit. Ich brauche das Licht und den Glanz. Ich will gesehen und geliebt werden. Ich brauche die Kinder!“ Stille. „Keiner hat mich je geliebt. Alle haben mich benutzt. Mein Mann hat mich mit mindestens neun Frauen betrogen. Und wenn er sich bei mir mal auf die Schnelle befriedigt hat, dachte er an eine andere.“ Sie trinkt hastig ihren Wein aus und sucht nach helfenden Blauen Funken. Doch alle um uns herum machen ihrem Namen alle Ehre: Saufen, Karnevalslieder singen, den Mädels an die Titten oder zwischen die Beine grapschen. 28 Und noch ’ne Runde! Sie sind jetzt alle hier in dem Stadium, wo ihnen der letzte Funken Verstand abhandengekommen ist. Keiner nimmt unser Gespräch mehr wahr. Wenn man sie nachher fragen würde, ob ich an ihren Tisch gesessen hätte, so würde sich keiner von ihnen daran erinnern. Gordana starrt vor sich hin und wird sentimental: „Ich bin eine alternde Diva, die sich nur um ihren erloschenen Ruhm kümmert. Im Grunde ist mir jedes Mittel recht.“ Ich lasse nicht locker: „Keine Freunde, aber gleich neun Lochschwestern. Sie haben Angst vorm Versagen und vor Kränkung. Und dennoch kränken Sie die Menschen, die an Sie glauben.“ Gordana ist jetzt wie das Rind, das sich in sein Schicksal ergeben hat. Sie unterbricht mich nicht mehr. „Sie sind hilflos und schwach und stellen sich über jeden, den sie kennen. Ohne Publikum ist Ruhm nichts. Und Ihr Publikum hat Sie schon lange vergessen“, fahre ich fort. 29 Die Stimmung im Mainzer Eck ist ausgelassen. Alle Blauen Funken verglüht. Samir und Heinrich trinken und trinken. Lautes Stimmengewirr. In einer Ecke knutscht ein Paar, das sich wohl heute erst gefunden hat und den Abend mit einem Fick abschließend wird. Es ist ein Abend wie jeder andere. Wenn keiner einen liebt, dann muss man sich zwangsläufig selbst lieben. Der innere Aufstand ist kurz und schwer, der Fall vom Himmel ist schmerzhaft und dauert ein Leben lang. Doch die Hölle sind nicht die anderen, jeder schürt sein Feuer jeden Tag aufs Neue selbst. Gordana steht auf. Entschuldigt sich höflich und geht die Treppe hinab, die zu den Toiletten führt. Der Treppengang ist weiß gekachelt, eng und steil. Würden zehn Menschen gleichzeitig diesen schmalen Weg gehen, könnte der erste nicht umkehren. Würde er stehen bleiben, so würde er von der nachfolgen Masse überrannt. Ein Weg wie eine Einbahnstraße, ein Weg in die Sackgasse. Im Waschraum steht Gordana starr vor ihrem 30 Spiegelbild. Die Tür geht auf. Ihr Brustkorb wird von hinten zart umfasst. Groß sind die Augen, die irritiert in den Spiegel schauen. „Duuff“ – der elf Zentimeter lange Bolzen durchschlägt krachend ihre Schädeldecke. Die Augen brechen. Etwas Blut läuft aus ihrer Nase. 31 Avaritia: Von Pferden und Hunden Klack, Klack, Klack – Klack. Neben dem Tresen im Mainzer Eck surrt der Spielautomat. Ein ewiges Blinken und Flackern, das automatisch alle Blicke auf sich zieht. Nicht lange, aber immer wieder. Sobald sich was dreht, bewegt und leuchtet, schaut man unwillkürlich hin. Am Automat steht Glatze. Warum Glatze so heißt – ich weiß es nicht. Er hat vielmehr ganz langes, dunkles, lockiges Haar, das er zu einem Zopf zusammenbindet. Glatze ist meistens am späten Abend hier. Nie nüchtern, oft in wechselnder weiblicher Begleitung. Ich denke, es sind Frauen aus dem Milieu. Nutten, die den Freier fürs Leben suchen. Heute ist er allein. Glatze ist ein echter 32 Lebemann, der gerne zeigt, dass er‘s geschafft hat. Glatze hat Kohle. Oft sieht man ihn mit seinem gelben Ferrari durchs Veedel brausen. Abends tankt er hier seine Alkoholration in Form von Wein. Alma, unsere Wirtin, die den Laden schon seit Urzeiten betreibt und wirklich jeden hier und dessen ganze Geschichte besser kennt als derjenige selbst, hat für Glatze immer einen ausgesuchten weißen Burgunder vorrätig. Glatze säuft, daddelt und lallt. Um seine Füße hüpft der kleine weiße Köter aus der „CaesarWerbung“. Besonders während einer Verlustphase am Spielautomaten ist Glatze von dem lebenden Kotbeutel voll angepisst und tritt ihn mit dem Fuß zur Seite oder kickt ihn gegen den Tresen. „Scheiß Köter – lass‘ mich in Ruhe.“ Es ist bestimmt nicht seine Töle. Eine der Nutten hat ihn wohl bei ihm geparkt. Glatze gehörte früher zur Heizdecken-Mafia. Alma erzählte mir, dass er vor zehn Jahren als Promoter auf Bustouren unterwegs war und abgewrackten Weibern irgendeinen Schrott 33 verkauft hat. So ist das Schicksal: Männer sterben einfach früher und lassen ausgetrocknetes Dörrobst auf dieser Welt zurück, das mit der Kohle nichts anzufangen weiß. Und wenn man alles hat, kauft Frau halt Kupferarmbänder gegen die Erdstrahlung oder Heizdecken gegen das Rheuma und die körperliche Einsamkeit. Ich hab auch eine Heizdecke, die ich in kalten Winternächten sehr schätze. Meine Heizdecke ist aber von Lidl. Mir ist kalt, ich hatte einen harten Tag mit einer Menge Leichen. Am Anfang meines Berufes habe ich die Toten noch gezählt, waren es in der kleinen Dorfschlachterei doch eh nur zwei oder drei Tiere die Woche. Irgendwann habe ich es dann aufgegeben. Nicht aus Scham oder Betrübnis, nein, die Zahl wurde einfach zu lang – ich konnte mir die vielen Nullen hinter der Eins nicht mehr merken. „Alma, machst Du mir bitte eine Gulaschsuppe, ich habe Hunger und mir ist kalt.“ Die Gulaschsuppe hier ist die beste, die ich kenne. Eine gute, ehrliche Suppe aus Pferdegulasch. Sämig, mit viel Fleisch, gewürzt mit Lorbeer und Wacholder. 34 Abgerundet mit Sahne und einer leichten Rotweinnote. Im Rheinland ist die Abneigung gegen Pferdefleisch traditionell gering. Ich weiß nicht, ob es am französischen oder am römischen Einfluss liegt, oder daran, dass sich bestimmte Gerichte einfach über die Jahrhunderte gehalten haben. Ein echter „Rheinischer Sauerbraten“ wird nun mal aus echtem Pferdefleisch zubereitet und nicht aus Rind, so wie ihn die dämlichen Zugereisten mögen, diese Immis. Ich hab noch nie ein Pferd geschlachtet. Nicht, dass ich es nicht wollte; es ergab sich einfach nicht. Ich vermisse es auch nicht wirklich, werden die edlen Rösser doch wie stinknormale Rinder hingerichtet: Erst der Bolzenschuss, dann der Halsstich mit dem Hohlmesser. Das einzige, was mich reizen könnte, wäre die Schlachtung auf spanische Art: Mit einer Axt der gezielte Hieb auf den Kopf – locker aus dem Handgelenk genau zwischen die Augen. Die Pferdeschlachtung hat in Deutschland ihre 35 eigene Geschichte. Bis 1992 schrieb die Schlachtordnung vor, dass Pferde getrennt von anderen Tieren wie Rindern oder Schweinen zu schlachten seien. Den genauen Grund konnte mir bisher keiner sagen. Ich denke, es liegt daran, dass Pferde dem Menschen emotional näher sind, eher wie Hunde; nicht so wie all das andere Schlachtvieh. Nicht umsonst vergöttern kleine Mädchen die starken Tiere. Groß und mächtig, mit einer breiten Schulter zum Anlehnen. Immer da, wenn man einen Freund braucht. Stark, nicht nur vom Körper, sondern auch vom Gemächt. Und doch willig, sich in eine schmale Box – ausgefüllt mit Stroh, bei Wasser und Heu – einsperren zu lassen, wenn man der starken Schulter nicht bedarf. Welch ein weiblicher Irrglaube, als ob sich ein so stolzes Alpha-Tier einsperren ließe und sich mit einer einzigen Fotze begnügen würde. Für Männer ist das edle Ross natürlich die willkommene Schwanzverlängerung. Ein echter 36 Mann reitet einen Hengst – niemals einen Wallach. Und wenn er eine Stute reitet, dann von hinten. Die historischen Gründe gegen die Pferdeschlachtung sind vielfältig und gehen wohl auf den Kampf zwischen Christen und Heiden zurück. Pferde wurden bei den Heiden den Göttern geopfert, während Pferde weder bei den Christen noch bei den Juden zum Verzehr bestimmt waren. Rituale zu verbieten, heißt Macht über den Gegner zu erlangen. Und wer die Macht hat, kann die Unterlegenen nicht nur ausbeuten – er kann auch ihre Kultur auslöschen. Zudem waren Rösser bis in die Neuzeit hinein Kriegsgüter. Ein Pferd im Mittelalter ist wie ein Panzer im zweiten Weltkrieg. Hoch zu Ross wurden die niedrigen, feindlichen Soldaten mit scharfen Schwertern geköpft. Rösser, die auf dem Schlachtfeld starben, dienten den Überlebenden zudem als letzte eiweißhaltige Nahrung, wollte man sich nicht an seinen gefallenen Kameraden vergreifen. Während das menschliche Fleisch in wenigen 37 Tagen verwest, hält sich Pferdefleisch über Wochen. Es reift sogar noch und gewinnt an Aroma und Geschmack, bis hin zum Hautgout. Bis ins zwanzigste Jahrhundert war der Pferdeschlachter oftmals gleichzeitig der Abdecker oder gar der Henker. Pferdeschlachter gelten auch heute noch als Metzger zweiter Klasse. Ich kenne flüchtig nur den einen, der auf dem hiesigen Wochenmarkt Pferdefleisch feil bietet. Er wirkt auf mich linkisch und ärmlich. Ein Mann, der am Rande der Gesellschaft steht und die Geschichte drückend auf seinen Schultern spürt. Alma schiebt mir die warme Suppe über den Tresen. „Lecker, einfach lecker. Alma, Du bist die Göttin der Suppen“, lobe ich sie. Glatze schaut rüber. „Fuck. Immer wenn ich Wein saufe, bekomme ich Hunger. Und verdammt, das riecht beschissen gut. Hey Alma – beweg Deinen süßen Knackarsch in die Küche und schieb mir auch so ’nen Bottich rüber“, brüllt Glatze quer durch die Kneipe. 38 Ich hab Glatze schon oft beobachtet. Er ist kein Proll, liebt es aber, sich daneben zu benehmen. Er ist sich seiner sicher und seines Geldes bewusst. Nur wer gesellschaftlich höher steht, darf sich ohne Konsequenzen daneben benehmen. Einem Otto Normalverbraucher hingegen würde man ein derartiges Verhalten nicht durchgehen lassen. Hast Du Geld oder Titel oder beides, findet es die Masse sogar noch toll, wenn Du einen an der Waffel hast. „Schau an, er ist einer von uns“, würde ein Otto wohl sagen. Glatze schlürft seine Suppe und grinst mich breit an: „Mann, das hab ich aber gebraucht. Fuck, ist die gut.“ „Sag mal, Glatze, Du machst doch in Börse? Ich hab nach dem letzten Crash auf die Commerzbank gesetzt und 2.000 Eier gewonnen“, sage ich nicht ohne Stolz. Glatze lacht nur: „Was haste denn mit dem lächerlichen Trinkgeld gemacht? In Fotzen investiert?“ „Nee, ich bin Kopfschlächter und hab mir eine 39 original handgeschmiedete Schlachtaxt gekauft, ein echt geiles Teil. Liegt sauber in der Hand, für den gezielten Schlag auf den Kopf optimal austariert. Werden in einer kleinen spanischen Schmiede manuell hergestellt. Die beherrschen dort ihr Handwerk. Denn die wissen ganz genau, dass der erste Schlag beim Stier sitzen muss.“ Glatze reagiert nicht darauf, ist aber froh, dass sich einer mit ihm abgibt, zumal der Geldautomat heute nicht sein Freund zu sein scheint. „Das ist doch Kinderkacke. 2.000 Euro. Ich hab früher auch mit solchen Langweiler-Aktien und solchen Furz-Beträgen spekuliert. Aber das ist zehn Jahre her.“ Wir löffeln einträchtig unsere Suppe. „Weißt Du, wenn Du richtig Kohle machen willst, dann musst Du alle bescheißen. Wirklich alle. Denn merk Dir: Die Börse ist ein Haifischbecken. Der Große frisst den Kleinen. Der Clevere den Dummen. Und wir alle den Kleinanleger.“ Glatze lacht sich schlapp. 40 „Ich hab die Börse lange beobachtet und festgestellt, dass eigentlich immer dann Aktien auf den Markt kommen, wenn die Gesellschaft völlig gaga ist und alle im Rausch sind – berauscht von einer völlig unsinnigen Schnapsidee.“ Seine Suppe wird langsam kalt. „Schau Dir die großen Börsengänge der letzten Jahrzehnte an: Telekom oder Infineon. Unternehmen, die im Grunde platt und nicht das wert waren, was uns der Börsenkurs vorgaukelte. Die Masche ist immer dieselbe: Man steckt Unmengen Kohle in die Werbung, läuft lauthals schreiend durch die Lande und sagt allen immer wieder: Wir sind die Volksaktie. Wir sind die Volksaktie. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste das Volk nicht mal, dass es Aktien überhaupt gibt. Und dann haben die einen Idioten gefunden, der sich vor die Karre spannen ließ. Manfred Krug – kennst Du den noch?“ „Klar, war doch mal ’en Tatortkommissar.“ „Genau. Und der Witz dabei: Dieser Heini kommt aus dem Osten. Der versteht also was vom 41 Volk. Aber meinst Du, der versteht was von Aktien?“ Glatze prustet vor Lachen. „Aber die Aktie ging ab wie Schmitz‘ Katze. Genauso wie kurz darauf Infineon. Alle kaufen und kaufen und jeder will dabei sein. Im Grunde wissen die aber gar nicht, was sie kaufen. Die, denen der Laden gehört, und den ganzen Schrott auf den Markt kippen, lachen sich ins Fäustchen: ‚Jetzt kommt mal endlich wieder Sommer, ein Sommer, wie‘s ihn früher niemals gab’, so haben die bei der Telekom im Vorstand gesungen. Wegen Ron Sommer, verstehst Du? Ich finde seine Ausführungen sehr spannend, auch wenn ich nicht so ganz folgen kann. Ron Sommer? – Egal. Glatze steigert sich: „Bei Siemens sind die wichsend mit ihren Ständern durch die Werkshallen gelaufen und haben gejubelt, dass die ihre Pleitesparte mit hohem Profit an die BörsenLemminge verkauft haben. Die Börse ist ein Moloch. Scheinbare Seriosität unter der Aufsicht der Banken und dem 42 Deckmantel der Wirtschaft. Der legale Betrug. Schau Dir doch die Cargolifter-Story an. Die wollten riesige Zeppeline für den Gütertransport bauen. Was für ein Schwachsinn! Im wahrsten Sinne des Wortes Luftschlösser. 250 Millionen haben die von den Anlegern kassiert. Und was kam dann? Nichts! Absolut fucking gar nichts! Dazu wurden noch Fördergelder vom Staat gezockt und irgendwo in Ossiland eine riesige Halle gebaut, wo die nach dem Konkurs ein Freizeitbad mit Tropenlandschaft draus gemacht haben. Wie geil ist das denn? Die Jungs wollten die fette Kohle machen und in die Karibik. Und wenn sie es dorthin nicht schaffen, dann kommen Sonne, Strand und Meer einfach nach Dunkeldeutschland. Du siehst: Je bescheuerter die Story, desto bester läuft es!“ „Da flackert es am Spielautomaten“, werfe ich ein. Glatze winkt ab: „Gutes Stichwort. – Alma, gib mir noch ’n Wein und Hartmut ’n Kölsch“. Glatze und ich prosten uns zu und zischen erstmal die 43 Gläser leer. Ich das ordinäre Bier, Glatze den teuren Vino. „So, Kopfschlächter, jetzt verrate ich Dir mal das Geheimnis meines Erfolges! Du musst wissen: Ich spiele das Spiel der Spiele. Ich bringe Unternehmen an die Börse. Das, was die Banken im Großen machen, mache ich im Kleinen. Ich suche Idioten, die sich vor die Karre spannen lassen und verticke die Idee in kleinen Scheiben. Es muss eine gute Idee sein. Ein Thema, das jeden interessiert. Greif auf, was die Medien beherrscht und reite den Gaul, bis er tot umfällt! Energie ist das Mega-Thema, das derzeit die Welt bewegt. Such‘ nach pfiffigen Ingenieuren oder kleinen Firmen, die sich damit beschäftigen. Aktuell läuft jedes Unternehmen, das in Sonne, Wind und Energieeffizienz macht! Achte darauf, dass es nicht die Forschungsdeppen sind, sondern solche, die eine Persönlichkeit haben, aber andererseits auch wieder so beschränkt sind, dass sie Börsengeschäfte nicht durchschauen. Jetzt hast Du schon mal das Ass im Ärmel! Versprich ihnen fünf 44 Millionen Euro und sie verkaufen Dir ihre Seele. Du finanzierst ihre Träume. Träume und Ideen, die weder Banken noch der Staat finanzieren. Und doch müssen es Ideen sein, die die Menschheit voran bringen könnten“, redet sich Glatze in Rage. „Und jetzt geht es zum König! Du brauchst Grund und Boden. Die Ländereien sind die Aktien. Sieh‘ zu, dass Du das Land möglichst billig einkaufst, so dass Du Abermillionen von kleinen Parzellen hast, die Du einzeln verkaufen kannst. Am besten geht das aktuell mit Aktiengesellschaften, die in der Schweiz gelistet sind. Zum einen hat die Schweiz ein lasches Börsenrecht, zum anderen klingt ‚Schweiz‘ in den Ohren der Anleger nach Seriosität, Geld und Profit ohne Ende. Das sind die Faktoren, mit denen Du die dummen, geldgierigen Kleinanleger lockst und abzockst. Ist der Nominalwert einer Aktie sehr klein, kannst Du mit dem gezeichneten Kapital Unmengen an Aktien produzieren.“ Ich höre andächtig zu. „Du musst Dir das so vorstellen: Wenn Du in der 45 Schweiz eine AG gründest, musst Du mindestens 100.000 Euro Stammkapital einlegen. Beträgt der Nominalwert der Aktie dann nur vier Cent – dann hast Du wie viele Aktien, mein Freund?“ …. 46 Alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind in den Formaten Taschenbuch und Taschenbuch mit extra großer Schrift sowie als eBook erhältlich. Bestellen Sie bequem und deutschlandweit versandkostenfrei über unsere Website: www.aavaa.de Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren Sie gern über unser ständig wachsendes Sortiment. Einige unserer Bücher wurden vertont. Die Hörbücher finden Sie unter www.talkingbooks.de 47 www.aavaa-verlag.com 48 Inhaltsverzeichnis Superbia: Von Rindern und Kälbern Avaritia: Von Pferden und Hunden 49 4 4 32 32