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BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik Siemens artsprogram kiss – Kultur in Schule und Studium kiss Kultur in Schule und Studium Kunst und aktuelle Medienkultur in der Schule: Com & Com, Dellbrügge & de Moll, Melhus, Piller, Rhode Kunst und aktuelle Medienkultur in der Schule Fünf Unterrichtseinheiten zu den Künstlern Com & Com Dellbrügge & de Moll Bjørn Melhus Peter Piller Robin Rhode Herausgegeben vom BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik und dem Siemens Arts Program Gefördert von der Robert Bosch Stiftung Inhalt Man playing piano, close-up (long exposure) Fotograf: Jahse, Kollektion: Taxi, © gettyimages 02 Das Projekt-Stipendien-Programm »kiss – Kultur in Schule und Studium« Beate Hentschel 04 Ein Foto von »kiss« Sara Burkhardt 06 Randgänge des Symbolischen – Kunst und aktuelle Medienkultur Torsten Meyer 16 Ceci n’est pas un mur Julia Dick 36 Aus Tönen werden Erlebnisse – Aktiver Umgang mit passivem Medienkonsum in der 6. Klasse einer Förderschule Sandra Hampe und Lisa Seebach 52 Auf der Suche nach dem perfekten Ort 50 Schüler machen sich ihre Stadt Britta Mertens 72 Durch das Wurmloch ins cc-space Theresa Rieß 96 Bedeutungsflächen im Kunstunterricht Das Vermittlungsprojekt »Bilder im Alltag finden … für den sechsten, siebten Blick« Julia Ziegenbein 122 Autoren 124 Impressum / Quellennachweis Das Projekt-Stipendien-Programm »kiss – Kultur in Schule und Studium« Nicht erst seit den alarmierenden PISA-Studien verlangt die Öffentlichkeit verstärkt, »in Bildung zu investieren«. Das Siemens Arts Program entwarf zu diesem Zweck ein kleines ambitioniertes Projekt, das sich auf ganz pragmatische Weise der Kunst- wie der Bildungsförderung gleichermaßen zuwendet: Bereits seit 2004 vergibt das Siemens Arts Program unter dem Titel »kiss – Kultur in Schule und Studium« Stipendien an Lehramtsstudenten der musisch-ästhetischen Fächer, um neue Vermittlungsformen zeitgenössischer Kunst zu etablieren, wobei sich renommierte Künstler als Mentoren engagieren, um den Stipendiaten die Gelegenheit zum lebendigen Austausch mit ihren zu vermittelnden Werken zu bieten. Ausgangsidee war dabei, diese wichtige Wissensund Inspirationsquelle der Vermittlung zeitgenössischer Kunst nicht ungenutzt zu lassen und dieses »authentische Kunstmaterial« zu erforschen, pädagogisch aufzubereiten und in einzelne Unterrichtseinheiten umzusetzen. Während sich »kiss« 2004 der zeitgenössischen Musik widmete, wofür namhafte Komponisten wie Pierre Boulez, Helmut Lachenmann, Wolfgang Rihm, Rebecca Saunders und Louis Andriessen gewonnen werden konnten, widmete sich das folgende »kiss«-Projekt ein Jahr später den Bereichen Film, Fotografie und Videokunst innerhalb der Bildenden Kunst. Es waren die Künstler Thomas Demand, Stan Douglas, Birgit Hein, Christian Jankowski und Asta Gröting, die in diesem Projekt die Stipendiaten als Mentoren begleiteten. 2006 wurden dann sechs Stipendien für Theater und neue Dramatik ausgeschrieben, für die sich angehende Deutschlehrer und Lehrer für Darstellendes Spiel bewerben konnten. Die Regisseure und Dramatiker Andrea Breth, Luk Perceval, René Pollesch, Falk Richter, Johan Simons und Dea Loher gaben den Stipendiaten Einblick in ihre Schaffenswelt und unterstützen sie bei der Erarbeitung einer Unterrichtseinheit, die sie anschließend Die Stipendiaten Julia Ziegenbein, Sandra Hampe, Julia Dick, Lisa Seebach, Theresa Rieß und Britta Mertens (v.l.n.r. im Uhrzeigersinn) während ihres Workshops an der Universität in Hamburg im Mai 2008 Foto: Alexandra Grieß im Schulunterricht praktisch umsetzten. Im Herbst 2008 bewarben sich interessierte Studenten der Kunstpädagogik für Stipendien zeitgenössischer Architektur und werden von den bekannten Architekten Prof. Peter Ebner vom Büro Ebner / Ullmann, Prof. Gunter Henn vom Büro Henn Architekten, Johannes Kuehn von KuehnMalvezzi und Jacob van Rijs von MVRDV betreut und auf ihre Unterrichtssequenzen vorbereitet. Bei jedem Stipendien-Programm werden die Unterrichtseinheiten in einer aufwändig gestalteten Publikation inklusive aller Arbeitsmaterialien dokumentiert. Sie sollen zur Nachahmung dienen und werden allen Lehrenden, die Interesse haben, Zeitgenössisches in ihrem Schulunterricht zu integrieren, kostenlos zur Verfügung gestellt. Für die Realisation eines solchen Projekts ist eine fruchtbare Kooperation unerlässlich. Mein Dank gilt daher allen Beteiligten, die durch ihre vielfältige Unterstützung zu »kiss« beigetragen haben, insbesondere dem Team des BDK, bestehend aus Sara Burkhardt, Torsten Meyer, Ernst Wagner und Bärbel Nordhaus, sowie Anna Mayrhuber und Gereon Wulftange, die im Projektbüro »kiss« tätig waren. Beate Hentschel Projektleiterin Contemporary Culture Siemens Arts Program 04 / 05 kiss Ein Foto von kiss Sara Burkhardt Vorwort Ein Foto von »kiss« Es gibt ein Foto, welches die »kiss«-Stipendiatin Julia Dick und den Künstler Robin Rhode zeigt (s. Seite 21). Sie stehen vor einer Wand, auf die sie gemeinsam mit Kreide geschrieben und gezeichnet haben. Ein Symbol für ein Gefängnis ist dort zu sehen und viele Pfeile, die die Worte »Erinnerung«, »Utopia«, »Imagination«, »Jugend« und »Performance« miteinander verbinden. Das Foto macht die Entwicklung ihrer Gedanken beim Zeichnen und Schreiben sichtbar: Julia Dick und Robin Rhode sprechen über Unterricht, entwerfen mögliche Handlungen, die Julia Dick anschließend mit einer Gruppe Jugendlicher in einem Gefängnis erprobt. Mit dieser Abbildung einer besonderen Situation kommt zugleich das Konzept von »kiss« zur Darstellung: Studierende der Kunstpädagogik treffen auf Künstlerinnen und Künstler, sie sprechen mit ihnen über Unterricht, erläutern ihre Ideen und kommen mitunter auf ganz neue Gedanken. Und sie erproben das Besprochene in der Praxis. Dabei zeigt sich vielleicht, dass es mehr Reibungen gibt als erwartet, dass die jeweilige (Bildungs-)Institution ihre eigenen Regeln besitzt und Schülerinnen und Schüler ihre eigene Vorstellung von Kunstunterricht haben. Es wird deutlich, dass Theorie der Erprobung in der Praxis bedarf wie umgekehrt jede Praxis eine theoretische Basis braucht. Seit 2008 ist der BDK e.V., der Fachverband für Kunstpädagogik, am Stipendienprogramm »kiss« beteiligt. Initiiert wurde das Programm von Beate Hentschel, der Projektleiterin für Zeit- und Kulturgeschichte beim Siemens Arts Program. Am ersten Durchgang Bildende Kunst 2005/2006 waren bereits Torsten Meyer und Ernst Wagner vom BDK als fachdidaktische Berater und Jurymitglieder beteiligt. Sie regten nach dem ersten Durchgang eine Fortsetzung des Programms an, woraufhin das Siemens Arts Program die anteilige Finanzierung und die konzeptionelle Mitarbeit für drei weitere Projekte zusagte. Als weiterer Partner wurde die Robert Bosch Stiftung gewonnen, womit die finanzielle Seite gesichert war. So konnte »kiss« 2007/08 fortgesetzt werden – mit einem erweiterten Team, bestehend aus Torsten Meyer, Ernst Wagner und Sara Burkhardt für den BDK, Beate Hentschel für das Siemens Arts Program, Anna Mayrhuber als freie Mitarbeiterin im Projektbüro »kiss« (inzwischen aufgrund ihres Eintritts ins Referendariat abgelöst von Gereon Wulftange) und Bärbel Nordhaus als hilfreiche Finanzmeisterin in der Geschäftsstelle des BDK. Im Rahmen der ersten Durchführung von »kiss« mit dem Schwerpunkt »Fotografie, Film, Video« arbeiteten Thomas Demand, Stan Douglas, Asta Gröting, Birgit Hein und Christian Jankowski mit den Stipendiaten zusammen. Für den Durchgang 2007/08 mit dem Schwerpunkt »Kunst und aktuelle Medienkultur« konnten die Künstler Com&Com, Dellbrügge & de Moll, Bjørn Melhus, Peter Piller und Robin Rhode als Mentoren gewonnen werden. Um für jeden der Künstler einen Stipendiaten zu finden, wurde ein Stipendium für Studierende der Kunstpädagogik ausgeschrieben. So setzten sich die Bewerberinnen bereits im Vorfeld mit einem der Künstler auseinander und formulierten eine erste Unterrichtsidee. Diese reichten sie zusammen mit ihrem Lebenslauf und Angaben zu ihren künstlerischen Schwerpunkten beim Leitungsteam von »kiss« ein. Dieses traf aus den 67 Bewerbungen eine erste Auswahl und lud 12 Kandidaten zu einer Jurysitzung in München ein. 2008 war die Jury neben dem Leitungsteam besetzt mit Anna Mayrhuber, Thomas Trummer (Projektleiter Bildende Kunst beim Siemens Arts Program) und Gila Kolb (Stipendiatin »kiss« 2005/06, inzwischen wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Kunsthochschule Kassel). Ausgewählt wurden die sechs Stipendiatinnen Julia Ziegenbein (Hochschule für Bildende Künste Hamburg/Universität Hamburg), Theresa Rieß (Kunsthochschule Kassel/Universität Kassel), das Team Sandra Hampe und Lisa Seebach (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig), Britta Mertens (Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd) und Julia Dick (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig). Die vorliegende Publikation stellt vor, was sich seit dieser Auswahl getan hat. Sie dokumentiert die Zusammentreffen der Stipendiatinnen mit den Künstlern und die von den Stipendiatinnen durchgeführten Unterrichtsprojekte. Schon bald nach Beginn der Arbeitsphase stellte sich heraus, dass sich dieser Durchgang durch mehrere Besonderheiten auszeichnen würde: Zwei Stipendiatinnen arbeiteten im Team und entwickelten ihr Projekt für eine Förderschulklasse, eine Stipendiatin plante Unterricht in einer Untersuchungshaft für jugendliche Straftäter; in einem Entwurf wurde die Konzeptkunst zum Ausgangspunkt für den Unterricht in einer Grundschule, zu einem anderen Projekt gehörte die Konstruktion einer komplexen virtuellen Plattform und eine Stipendiatin setzte ihren Entwurf an einer Schule mit besonderem Unterrichtskonzept um. Wenn diese Abweichungen vom Regelhaften auch manchmal zu Problemen führten, wurden sie doch von allen als Herausforderung und als Zeichen einer Vielfalt möglicher kunstpädagogischer Herangehensweisen empfunden. Das Konzept von »kiss« sieht zwei Workshops vor, diese fanden im Frühling und Sommer 2008 an der Universität Hamburg statt und wurden von Torsten Meyer geleitet, unterstützt von Sara Burkhardt, Anna Mayrhuber und Gereon Wulftange. Bei diesen Workshops wurden Fragen aufgeworfen wie: Was ist Sache der Lernenden, was der Lehrenden? Inwieweit kann ich die Schülerinnen und Schüler überfordern – wann kann dies gut sein? Wie formuliere ich Arbeitsaufträge präzise und erhalte trotzdem eine Offenheit in der Problemstellung? Welche Rolle spielen Texte oder Referate im Unterrichtsverlauf? Wann ist ein Arbeitsprozess abgeschlossen? Wie werden Medien und der Umgang mit ihnen thematisiert? Welcher Erkenntnisprozess findet bei den Schülerinnen und Schülern statt? Welche Rolle spielt der Künstler, falls er zu Besuch in die Klasse kommt? Immer wieder wurde deutlich, dass sich die Stipendiatinnen in einer besonderen Situation befanden. Dies wurde in den Gesprächen thematisiert. Sie waren noch keine »fertigen« Lehrerinnen, nahmen aber während ihres Praktikums die Lehrerrolle ein. Sie sammelten erste Unterrichtserfahrungen und konnten in Lehrsituationen nicht auf einen Fundus von Entscheidungsmöglichkeiten und Reaktionen zurückgreifen. Sie waren also zugleich in der Rolle des Lernenden und des Lehrenden. Gleichzeitig standen sie in engem Kontakt mit den Künstlern, deren Werke und Vorgehensweisen Ausgangspunkt oder Inhalt ihres Unterrichts waren. Diese Rollen sowie die Frage nach möglichen Freiräumen und notwendigen Rahmungen galt es zu klären. In der vorliegenden Publikation lässt sich nachlesen, was im Unterricht passiert ist. Die Stipendiatinnen erläutern ihre Vorüberlegungen, ihre Konzepte und Vorstellungen, die Abläufe im schulischen Rahmen und reflektieren die von ihnen gemachten Erfahrungen, zu denen auch Momente des Scheiterns gehören. Manches mag für Unterrichtsentwürfe anregend sein, manches besitzt aufgrund der Besonderheit der Situation Berichtcharakter und ermöglicht doch neuartige Perspektiven auf Unterricht. Es ist wie auf dem Foto von Julia Dick und Robin Rhode: Kreide reibt sich an der Wand, Personen verhalten sich zueinander, ein Prozess findet statt, Gedanken werden entwickelt und aufgezeichnet, es wird etwas ausprobiert. Und es bilden sich Erkenntnisse. Torsten Meyer Randgänge des Symbolischen – Kunst und aktuelle Medienkultur Foto: Alexandra Grieß Ob das Fach Kunst seinen Namen zu Recht trägt, steht immer mal wieder zur Debatte. Aktuell, so scheint es, relativ dringlich. Die aktuelle Dringlichkeit hängt einerseits zusammen mit den allgemeinen Veränderungen im Bildungssystem am Beginn des 21. Jahrhunderts, die neue Anforderungen an die Schule stellen, andere Formen von Rechenschaft und Evaluation verlangen und auch andere Formen der zeitlichen, räumlichen und curricularen Organisation mit sich bringen. Andererseits hängt die Dringlichkeit der Diskussion über den Namen des Fachs zusammen mit Veränderungen dessen, was – dem Namen nach – Gegenstand des Fachs ist. 08 / 09 kiss Torsten Meyer: Randgänge des Symbolischen – Kunst und aktuelle Medienkultur Was war Kunst? »Was war Kunst?« Das fragt sich etwa Wolfgang Ullrich,1 meint das zwar nicht ganz ernst, argumentiert dann aber immerhin für eine »Abrüstung« des Kunstbegriffs: »Tiefer hängen« – so sein Plädoyer für die Entlastung der Kunst von den überzogenen Ansprüchen, die den Begriff der Kunst in den vergangenen zwei Jahrhunderten zu einem »hypertrophen Gebilde« haben anschwellen lassen. Dieses Gebilde scheint nun zu kippen. Pauschal auf Kunst gerichtete Glücks- und Erlösungsprojektionen sind seltener und schwächer geworden, die Kunst hat – so Ullrich – als »Fluchtpunkt der größten Sehnsüchte« ausgedient. So ist durchaus denkbar, dass das Wort »Kunst« mit seiner »seltsamen und pompösen Geschichte« in ein paar Generationen nur noch für Ideenhistoriker interessant ist, weil es nicht mehr länger eine »notwendige und sinnvolle Bezeichnung [ist], um irgendwelche Dinge, Ereignisse oder Phänomene zu beschreiben.« Ullrich geht es darum, die »Depotenzierung« des Kunstbegriffs zum einen deutlich zu machen und entsprechend überzogene Ansprüche zu korrigieren, zum anderen will er eruieren, was diese Depotenzierungen im Weiteren bedeuten könnten: Wo gibt es Indizien einer Emanzipation? Wo Signale der Befreiung? Wo sind neue Perspektiven in Sicht? Bei dieser Suche nach anderen Perspektiven ist allerdings keineswegs sicher, dass ein »klar abgegrenztes Feld übrigbleibt, das als Kunst gelten wird.«2 Die Abrüstung des Kunstbegriffs zeitigt Folgen bei denen, die sich professionell mit Kunst beschäftigen. Künstler öffnen Grenzen und lassen sich nicht mehr nur darauf fixieren, Kunst zu machen. Sie finden es entspannend, nicht mehr dem Meisterwerk und der großen Erzählung verpflichtet zu sein, und setzen sich entsprechend auch mit anderen Lebens- und Bildwelten auseinander. In und an diesen Grenzbereichen arbeitet z.B. das im aktuellen «kiss«Durchgang kooperierende Künstler-Duo Com&Com: »Der institutionalisierte Kunstrahmen, der ist abgegrast. Der ist unspannend, für uns unspannend«, so Johannes M. Hedinger. Die Konsequenz wäre eigentlich, komplett aus dem Kunstkontext herauszugehen, aber: »Da wird es natürlich schizophren, auf der anderen Seite brauchen wir das. Wir brauchen diese Meta-Diskurs-Ebene. Und da sind wir außerdem eitel, wir wollen ja auch unsere Spuren hinterlassen im kunsthistorischen Sinn. Außerdem ist da noch die Finanzierbarkeit: Als Kulturprojekt kannst du das finanzieren, wenn du das als marktwirtschaftliches Projekt durchführen willst, hast du keine Chance. Und irgendwie verstehen wir uns schon als Künstler. Wir sind von da ausgegangen.«3 Neben Künstlern erweitern auch Kunsthistoriker die Zuständigkeit ihrer Profession um außerkünstlerische Phänomene und wählen zunehmend neutraler klingende Berufsbezeichnungen wie Kultur- oder Bildwissenschaftler. Und Kunstpädagogen? Die schreiben Polemiken »gegen die Kunstorientierung der Kunstpädagogik«.4 Ein Wort wie ein Ölgemälde Zu ähnlichen Ergebnissen wie Wolfgang Ullrich kommt aus anderer Perspektive auch der Mediologe Régis Debray in seiner »Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland«.5 Debray hat drei große, durch ihre medientechnologischen Prägungen unterscheidbare Epochen identifiziert, die er »Mediosphären« nennt und als kulturelle Makromilieus versteht: Mit »Logosphäre« bezeichnet er die durch mündliche Tradierung und handschriftliche Aufzeichnungen geprägte Mediosphäre, die bis zur Erfindung des Buchdrucks andauerte. »Vom 15. Jahrhundert bis gestern« prägte die Medientechnologie des Buchdrucks die »Graphosphäre«. Zurzeit umgibt uns gerade noch die »Videosphäre«, die aber rasant übergeht in »eine Art Hypersphäre, die sich hauptsächlich aus digitalen Signalen zusammensetzt.«6 Kunst ist vor diesem Hintergrund »kein unveränderlicher Bestandteil der conditio humana« und auch keine »transhistorische Substanz«, die sich als anthropologische Konstante unverändert durch die Mediosphären zieht. Kunst ist mediologisch betrachtet ein Symptom der Graphosphäre, ein erst spät im neuzeitlichen Abendland aufgetauchter Begriff, dessen Fortbestand nach Debray (im Einklang mit Ullrich) keineswegs gesichert ist: »Die drei mediologischen Zäsuren der Menschheitsgeschichte [...] lassen in der Geschichte der Bilder drei verschiedene Kontinente hervortreten: den des Idols, den der Kunst und den des Visuellen.« Jeder »Kontinent« hat sein eigenes Gesetz und ihre Verwechslung führt »nur zu unnötigen Problemen«.7 »kiss«-Workshop an der Universität Hamburg Fotos auf den Folgeseiten: Alexandra Grieß Paradigmenwechsel 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Mit Blick auf die Fachgeschichte der Kunstpädagogik zeigt sich hier ein recht hohes Verwechslungspotenzial: Die Idee, dass die Auseinandersetzung mit Kunst zur Bildung, zur »Ästhetischen Erziehung des Menschen« führt, stammt aus der Hochzeit graphosphärischen Welt-, Selbst- und Kunstverständnisses. Schillers Briefe bezogen sich auf eine Kunst, die es als anthropologische Konstante und »transhistorische Substanz« so nicht mehr gibt. Eine Kunstpädagogik, die sich im 21. Jahrhundert an einem graphosphärischen Verständnis von Kunst orientiert, scheint sich der eigenen blinden Flecken nicht bewusst und sitzt folglich jenen Verwechslungen auf, die laut Debray zu eigentlich »unnötigen Problemen« führen. Und sie zeigt sich damit selbst als Symptom einer längst vergangenen Mediosphäre. Für die Schule der Video-/Hypersphäre könnte dieser mediologische Blick bedeuten, dass das Fach, das sich mit dem Phänomen Bild beschäftigt, nicht in erster Linie auf eine Geschichte der Kunst als große, hochkulturelle Erzählung vergangener Zeiten rekurriert, sondern sich wesentlich beschäftigt mit dem »Kontinent« des Visuellen. Da geht es dann gerade nicht mehr um Kontemplation, um das Schöne, ums Gefallen, das Ikonische, das Meisterwerk, das Pathos, die Obsession, das Künstlergenie – und auch nicht mehr um die nach graphosphärischem Verständnis damit zusammenhängenden Bildungs- und Erziehungseffekte. Ullrich, Wolfgang: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2005. Ullrich, Wolfgang: Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin 2003, S. 9ff. Hedinger, Johannes M.; Meyer, Torsten: »Der Journalist ist unser Pinsel«, in: Kirschenmann, Johannes; Schulz, Frank; Sowa, Hubert (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006 (Kontext Kunstpädagogik 7), S. 638. Billmayer, Franz: Paradigmenwechsel übersehen. Eine Polemik gegen die Kunstorientierung der Kunstpädagogik, hg. von Pazzini, Karl-Josef et al., Hamburg 2008 (Kunstpädagogische Positionen 19). Debray, Régis: Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland, Rodenbach 1999. Vgl. dort (S. 149) auch die Zwischenüberschrift über diesem Abschnitt. Debray, Régis: Der Tod des Bildes erfordert eine neue Mediologie, in: Heidelberger e-Journal für Ritualwissenschaft, 2001/2002 (http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~es3/e-journal/fundstuecke/ debray.pdf). Debray 1999, S. 212. Billmayer, ebd., S. 28. Ebd., S. 5. Unter Kunstpädagogen mehren sich entsprechend Stimmen, die die Depotenzierung der Kunst zu be grüßen scheinen und entsprechende Konsequenzen für einen Kunst-Unterricht ziehen, der dann keiner mehr ist. »Der Kunstunterricht kann sich [...] endlich unverkrampft mit den Sachen befassen, die anstehen und die die Schülerinnen und Schüler brauchen, ohne sich noch auf die Kunst im Speziellen beziehen zu müssen«, schreibt zum Beispiel Franz Billmayer.8 Es geht ihm dabei um die Frage, wie Kinder und Jugendliche auf »die Welt der Bilder« vorbereitet werden und werden könnten. Zentrale These: »die Orientierung an Kunst behindert dieses Unternehmen eher.«9 10 / 11 kiss Torsten Meyer: Randgänge des Symbolischen – Kunst und aktuelle Medienkultur Substanz der Sache, die da als Kunst behauptet wird, nichts zu tun hat, wird – so Billmayer – in der Kunstpädagogik weiterhin verfahren, als wäre Kunst eine ästhetisch erfahrbare Eigenschaft des Werks. Und Schülerinnen und Schüler arbeiten im Sinne des ästhetischen Paradigmas weiterhin »künstlerisch« als sei nichts geschehen. »kiss«-Workshop mit Professor Torsten Meyer Dem institutionellen Paradigma zugehörig verstehen sich Dellbrügge & de Moll in der Rolle der Künstler als »exemplarisch Kommunizierende«.10 Sie arbeiten kontextbezogen und medienübergreifend an Schnittstellen von öffentlichen, digitalen und institutionellen Räumen. Zu der von ihnen als künstlerisch verstandenen Praxis gehört es, diskursive Plattformen zu schaffen, Printmedien herauszugeben, Videoprogramme und Ausstellungen zu konzipieren. Dellbrügge & de Moll gehen – in dieser Hinsicht ähnlich Com&Com – »den Möglichkeiten nach, aus dem Raum der Kunst heraus Veränderung zu initiieren.«11 Sie interessieren dabei »Modelle der Wahl, Situationen, in denen eine Entscheidung getroffen wird und die Kompetenz, über den Status Quo hinauszudenken.«12 Bezüglich des Paradigmenwechsels in der Kunst kann man diese Aussage interessanter-, aber auch verwirrenderweise zugleich auf das Ästhetische wie auf das Institutionelle beziehen. Es geht um Gestaltungsfragen, nämlich um die Gestaltung von Kommunikationsprozessen, die es ermöglichen, über den Status Quo hinauszudenken. Das ließe sich zwar nicht bildwissenschaftlich, wohl aber bildungstheoretisch ausbeuten. Wie Ullrich und Debray geht auch Billmayer aus von wesentlichen Veränderungen des Kunstbegriffs und -verständnisses in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus. Er spricht (mit Lars Vilks) in Anlehnung an Thomas S. Kuhn von einem »Paradigmenwechsel«. Der Wechsel vom »ästhetischen« zum »institutionellen Paradigma« wurde von der Kunstpädagogik bislang übersehen, falsch verstanden oder falsch gedeutet. Obwohl Kunst im aktuellen, d.h. »institutionellen Paradigma« nur eine Zuschreibung des Kunstsystems ist, die mit der Ausgehend von diesem Paradigmenwechsel im Verständnis von und im Umgang mit Kunst plädiert Franz Billmayer für eine Normalisierung des Fachs und eine damit zusammenhängende Entlastung von der »umfassenden Verantwortung für die ganze Welt.«13 So wie der Künstler aus dem Zwang zum Meisterwerk, der Verpflichtung auf die große Erzählung und von der Bürde des Genies befreit ist, so darf sich nun auch der Kunstpädagoge als ein Lehrer unter anderen sehen und »der Kunstunterricht als ein Schulfach [...] mit spezieller Zuständigkeit, aber keinen umfassenden Verantwortungen und Ansprüchen.«14 Bild-Unterricht Billmayer rekurriert auf eine offenbar schon gelebte Praxis eines Kunstunterrichts, der ohnehin schon keiner mehr ist: »KunstpädagogInnen betreiben eigentlich etwas anderes – etwa Bild- oder Medienunterricht – und nennen es nur irrtümlicherweise ›Kunst‹unterricht. [...] Im Unterricht werden Bilder gemacht, mediale und semiotische Erscheinungen untersucht und reflektiert, es werden Informationen gestaltet und Techniken vermittelt und erlernt« und, so schließt Billmayer im Einklang mit den neusten Bildungsstandards für das Fach Kunst: »Auch die Bilder der Kunst werden vor allem als Bilder behandelt.«15 10 Dellbrügge & de Moll: »Exemplarisch Kommunizierende. Ein Gespräch von Dieter Buchhardt«, in: Kunstforum International, Bd. 191, Juli-September 2006 (zitiert nach http://www.workworkwork. de/texte/buch.htm vom 21.11.2008). 11 http://www.goethe.de/INS/uz/tas/acv/bku/2007/de2571447v.htm vom 21.11.2008. 12 Dellbrügge & de Moll im eMail-Austausch im Rahmen des Projekts »kiss« 2008, vgl. den Beitrag von Britta Mertens in diesem Band. 13 Billmayer, S. 28. 14 Ebd., S. 25. 15 Ebd., S. 28; siehe dazu auch die aktuell vom BDK erarbeiteten »Bildungsstandards im Fach Kunst für den mittleren Schulabschluss«, in denen das Wort »Kunst« nur noch als Fachbezeichnung vorkommt (http://www.bdk-online.info/xmentor/media/8,1225705103.pdf). 16 Sachs-Hombach, Klaus: »Plädoyer für ein Schulfach ›Visuelle Medien‹«, in: IMAGE 2, Themenbeiheft: Filmforschung und Filmlehre, hg. von Eva Fritsch, Köln: Halem Verlag 2005 (http://www. bildwissenschaft.org/journal/content.php?function=fnArticle&showArticle=48 vom 21.11.2008). Damit scheint der Forderung nach einem neuen Schulfach für »Visuelle Medien« schon vorausgegriffen. Klaus Sachs-Hombach hatte im Bemühen um die Etablierung einer allgemeinen Bildwissenschaft für ein solches plädiert: Die »Dominanz des Visuellen« ist den hochgradig vernetzten Mediengesellschaften inhärent, weil die »scheinbar unmittelbare Verständlichkeit« von Bildern eine »Reduktion oder Kompensation der durch Vernetzung zunehmenden Komplexität« verspricht. Diese »unmittelbare Verständlichkeit« ist aber nur eine scheinbare. Deshalb ist die »Vermittlung der theoretischen Modelle mit den praktischen Erfordernissen« nötig und deshalb sollte nach Sachs-Hombach ein entsprechendes Schulfach eingeführt werden, in dem es um den Erwerb visueller Kompetenzen und die Einführung in die Bildwissenschaft geht.16 12 / 13 kiss Torsten Meyer: Randgänge des Symbolischen – Kunst und aktuelle Medienkultur Was war Bild? Eigentlich geht es also um ein neues, zusätzliches Schulfach für das, was am Phänomen Bild rational fassbar scheint und methodisch orientiert an der Bildwissenschaft begrifflich beschreibbar ist. Weil die Aussichten, in der gegenwärtigen finanziellen Verfassung des Bildungssystems ein neues Schulfach einzurichten, aber eher trübe scheinen, hatte Sachs-Hombach das Fach Kunst zur Verortung der Bildwissenschaft in der Schulpraxis vorgeschlagen. Dabei sollte es wegen der Breitenwirkung zwar hauptsächlich um das Bild in Film und Fernsehen und im Bereich der digitalen Medien (etwa Computerspiele) gehen, aber weil »ein Verständnis gestalterischer Prinzipien in besonderer Weise im Kontext ihrer historischen Entwicklung sinnvoll ist«, würden »Phänomene der Bildenden Kunst« auch – und wie an der Formulierung erkennbar, nur im Verständnis des ästhetischen Paradigmas – einen Beitrag liefern können.17 Es mag vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels in der Kunst und den mediologischen Revolutionen, die die neuen Medien des 20. und insbesondere 21. Jahrhunderts mit sich bringen, und auch in Bezug auf die veränderten Formen von Rechenschaft und Evaluation im Bildungssystem recht einleuchtend erscheinen, das Fach für »Visuelle Medien« als den »Kunstunterricht« für die Video-/Hypersphäre zu verstehen. Aber es besteht hier eine gewisse Gefahr, dass zugunsten des rational leichter fassbaren und rationeller zu unterrichtenden Gegenstands das Kind mit dem Bad ausgeschüttet wird (und nur noch eine leere und ebenso veraltete Wanne namens »Bild« übrig bleibt). Nicht nur das Verständnis und der Umgang mit Kunst, auch die Existenzform und das Wirkungsprinzip des Bildes verändern sich mit den mediolo- gischen Revolutionen. Das graphosphärische Bild war eine Sache, ein Objekt, ein Ding. Ein Ding, das ein anderes Ding zu sein vorgibt. In der Video-/ Hypersphäre ist das Bild hingegen nur noch Wahrnehmung, es ist virtuell, sein Wirkprinzip ist die Simulation. Auch hier führen Verwechslungen zu eigentlich »unnötigen Problemen«. Versuchen wir das in einem vermutlich angemessenen, weiteren zeitlichen Horizont zu denken:18 In der Logosphäre war das Bild etwas Lebendiges, ein Wesen. Die Reliquie ist dafür ein Beispiel. Der Knochen des Heiligen ist der Heilige. Das logosphärische Bild ist semiotisch gesehen ein IndexZeichen, Pars pro Toto. Sein Wirkungsprinzip ist die Präsenz, seine Beziehung zum Sein ist transzendent. Das graphosphärische Bild ist demgegenüber kein Wesen, sondern eine Sache. Aber eine andere Sache als die, die es abbildet. Es ist ein Ikon-Zeichen, ein Ding, das ein anderes Ding an dessen Stelle vertritt, ein Portrait des Heiligen zum Beispiel. Sein Wirkprinzip ist die Darstellung (Präsentation), seine Beziehung zum Sein ist illusorisch. Die Graphosphäre ist nicht allein durch die Medientechnologie des Buchdrucks gekennzeichnet, auch die Erfindung, Perfektionierung und letztlich Mechanisierung (Fotografie) der Abbildungstechnologie der Zentralperspektive fällt in diese Zeit.19 Das Bild der Video-/Hypersphäre ist nur noch Wahrnehmung. Es ist kein Ding mehr, es ist virtuell. Es ist symbolisch und digital, es hat im Gegensatz zum graphosphärischen Bild keine analoge Beziehung mehr zum Sein. Es basiert, wie alles Symbolische, auf Codes. Auf Codes, die man – im Gegensatz zum Wirkprinzip des Ikonischen – kennen und also gelernt haben muss. 17 Ebd. 18 Im Anschluss an Debray 1999, S. 218f. 19 Vgl. z.B. Panofsky, Erwin: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, hg. von Oberer, H.; Verheyen, E., Berlin 1927. 14 / 15 kiss Torsten Meyer: Randgänge des Symbolischen – Kunst und aktuelle Medienkultur Was Robin Rhode mit Bildern anstellt – man könnte das als »Bildumgangsspiele« 20 bezeichnen –, kann hier als Beispiel für die Problematisierung der analogen Beziehung des Bilds zum Sein gelten. René Magritte hatte darauf hingewiesen, dass die Pfeife, wenn sie auf der Leinwand abgebildet wird, keine ist. Das war ein typisch graphosphärisches Problem. Rhode zeigt nun, dass man diese Pfeife – trotz Magrittes Beteuerungen, es sei unmöglich21 – eben doch rauchen kann. Wenn Robin Rhode voller verzweifelter Wut einen Stein in die Scheibe des Autos wirft, das er zuvor mit extrem gekonnten, schnellen Strichen an die Wand gezeichnet hatte und dann mit einer Brechstange und fast rührendem Unvermögen aufzuhebeln versuchte, dann laboriert er nicht mehr nur (wie Magritte) an den Rändern des Ikonischen, der Ähnlichkeitsbeziehungen, am Verhältnis des Imaginären zum Sein. Robin Rhode arbeitet an den Rändern der Codes, die das Leben in der südafrikanischen Großstadt im Realen bestimmen, den sozialen Zuschreibungen und jugendkulturellen Selbstverständnissen in der postkolonialen Wirklichkeit, an den Beziehungen des Symbolischen zum Realen. Und, das ist auch nicht ganz unwichtig: Es ist kein dem Vergnügen dienendes Spiel mit Ähnlichkeitsbeziehungen mehr. Es ist Ernst, in gewisser Weise ein sehr radikaler Ernst. Bild im Plural Es geht hier nicht um die Opposition von »Hochkultur« und »Alltagsästhetik«. Es geht vielmehr darum, dass diese Unterscheidung zu Zeiten graphosphärischer Expertokratie sinnvoll erschien, unter den Gegebenheiten einer hypersphärischen Mediokratie aber nicht mehr. Auch das, was dem aktuellen medienkulturellen Apriori gemäß als »Kunst« fungiert, hat zu tun mit dem Bild als Wahrnehmung, mit dem Virtuellen und der Simulation, mit Information, mit Wirkprinzipien des Symbolischen, des Codes und des Digitalen. Und mit dem Bild vor allem im Plural. An den Arbeiten Peter Pillers wird deutlich: Die aktuelle Kunst betrachtet das Bild nicht mehr als Ziel der Kunst, sondern als deren Rohstoff und Material. Und sie produziert nicht mehr das eine Meisterwerk, sondern geht vor allem mit dem Plural von Bild um. Peter Pillers Archiv umfasst ca. 7000 Bilder. Es handelt sich um Bilder aus der lokalen Tagespresse, aus dem Internet, um Postkarten, Bilder aus Firmennachlässen (beispielsweise die Luftaufnahmen von Einfamilienhäusern) und auch, aber entgegen dem graphosphärischen Bild des Künstlers, um eigene Fotos. Aus diesem Fundus stellt er jene Auswahlen zusammen, die gerade erst durch den Plural jene eigenwilligen, neuen Kontexte erzeugen: »Auto berühren«, »in Löcher blicken«, »schießende Mädchen« usw. Die ästhetischen Qualitäten der einzelnen Bilder sind dabei irrelevant. Es geht gar nicht um das Bild als Ding und Objekt. Es geht um den symbolischen Umgang mit dem Bild, den medienkulturellen Gebrauch. Es geht nicht mehr um das Prinzip der Singularität (jedenfalls nicht auf dieser Ebene). Statt dessen wird eine Art Bildüberschuss inszeniert, der den Betrachter, der mit dem Anspruch, jedem Bild einzeln seine Aufmerksamkeit zu schenken, in eine Ausstellung geht, ebenso überfordert wie den Kunstpädagogen, der daran eine auf das Objekt im Singular bezogene und deshalb zu kurz verstandene Bildkompetenz entwickeln will. Auch die Arbeiten Bjørn Melhus’ lassen sich im Kontext des Bilds im Plural verstehen. Es geht dabei um Ver-Dichtungen der auf das Individuum in der aktuellen Medienkultur einfallenden Bilder. Ein Archiv im Kopf zunächst, aus dem heraus Geschichten entstehen: »Ich möchte Geschichten erzählen in erster Linie«, sagt Melhus, »die kommen aus mir heraus.« Diese Geschichten stehen in Zusammenhang mit »dem Individuum, das ich bin, zu dem, was eine Medienkultur produziert, und was wieder durch mich hindurch fließt.«22 Die (audio-)visuellen Ver-Dichtungen haben etwas zu tun mit dem Individuum Bjørn Melhus, aber auch mit der Gesellschaft, die dieses Individuum symbolisch umgibt: Es geht um die in die Struktur des inneren Archivs hinein vergessenen Bilder, die das Außen im Innen erzeugen. 20 Vgl. Busse, Klaus Peter: Bildumgangsspiele: Kunst unterrichten, Norderstedt 2004 (Dortmunder Schriften zur Kunst. Bd. 2). 21 Vgl. Magritte, René: Dies ist kein Buch. Polemik und Malerei, Hamburg 2. Aufl. 1995. 22 Zitiert nach Schortmann, Cécile: Bjørn Melhus, http://www.hronline.de/website/rubriken/kultur/index.jsp?rubrik=2057&key= standard_document_764877 vom 21.11.2008. 23 Vgl. z.B. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 1983. 24 Balkenhol, Berhard: »Kann Kunst helfen, etwas über die Welt zu erfahren?«, in: Documenta Dock – Questions about Art, Kunsthochschule Kassel 2008, http://www.documenta-dock.net/#p74q194 vom 21.11.2008. 25 Vgl. dazu Kokemohr, Rainer: »Bildung in interkultureller Kooperation«, in: Abeldt, Sönke et al. (Hg.): »... was es bedeutet, ein verletzbarer Mensch zu sein.« Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie. Helmut Peukert zum 65. Geburtstag, Mainz 2000, S. 421– 436. Kompliziert wird es erst im Plural. Mit dem Bild im Plural geht es potenziell auch immer um Perspektive im Plural. Das ist manchmal ebenso schwer zu ertragen wie die Vorstellung von Konsens im Plural. Vor dem Hintergrund kultureller Globalisierung und dem Weltweit-Werden der Kommunikation wird dieses Thema immer brisanter. Bernhard Balkenhol hat es in einem Video-Interview anlässlich der Documenta12 auf den Punkt gebracht: Aktuelle Kunst »ist immer nie die Perspektive des Betrachters. Und damit habe ich eben ein Gegenüber, wir sind sozusagen gegenüber der Welt, wenn man das so pathetisch als Außen bezeichnet, schon zu zweit. Und wenn man weiß, dass in der Kunst nicht nur eine, sondern eben sehr viele Perspektiven auf verschiedenen Ebenen angeboten werden, dann ist man meistens zu dritt, zu viert, zu fünft, zu sechst ...« 24 Aktuelle Kunst arbeitet an den Rändern des Kommunikationskonsensuellen, an den Rändern dessen, was eine Kultur als Interpretationsgemeinschaft zusammenhält. Am Rand des Konsensuellen Kultur als historisch übermittelter Komplex von Bedeutungen und Vorstellungen, der es Menschen ermöglicht, ihr Wissen über das Leben und ihre Einstellungen zur Welt einander mitzuteilen, zu erhalten und weiterzuentwickeln, basiert auf einem System gemeinsamer Symbole. Zu diesem System gemeinsamer Symbole zählen neben der Verbalsprache auch Rituale, Institutionen usw. – und Bilder. 23 Bild im Singular ist dabei immer so etwas wie die Vermutung von oder die Hoffnung auf Konsens – zumindest in der Version der Bildwissenschaft. Bild im Singular geht davon aus, dass es einen Konsens gibt oder geben kann, auf den sich Produzent und Rezipient des Bildes verständigen können, dass es einen Punkt gibt, an dem sich Produzent und Rezipient symbolisch treffen können (im Fall der Zentralperspektive der Augpunkt). Existiert so ein Konsens darüber, was ein Bild bedeutet, bilden Sender und Empfänger eine Interpretationsgemeinschaft und freuen sich über die geglückte triviale, weil komplexitätsreduzierende Kommunikation. Wenn die Kommunikation zwischen Produzent und Rezipient auf einem solch schmalen Grad im Übergang von (beiderseitigen) individuellen imaginären Idiolekten zu den symbolischen Normierungen des Kulturkollektivs läuft, entstehen leicht Krisensituationen für das fest geglaubte Verhältnis von Imaginärem und Symbolischem. Das sind hervorragende Anlässe für Bildung im Sinne von Lernprozessen höherer Ordnung, bei denen nicht nur neue Informationen aufgenommen werden, sondern der Modus der Informationsverarbeitung selbst, also die Funktionsweise des Denkorgans, des Medium der Auseinandersetzung von Ich und Welt, sich grundlegend ändert.25 Deshalb – und den gegenwärtigen Tendenzen zur Beschränkung auf den schlichten Erwerb von »Bildkompetenzen« zum Trotz: Das Projekt »kiss« ist ein Plädoyer für Bildung durch Kunst – aktuelle Kunst allerdings. Julia Dick Ceci n’est pas un mur Sehnsucht und Utopie bei Robin Rhode Robin Rhode kommt in eine Galerie, zeichnet mit schnellen, gekonnten Linien ein Auto an die Wand und versucht dann, es mit unterschiedlichen Werk zeugen aufzubrechen. Es gelingt ihm nicht. Weder Draht noch Brechstange helfen. Zornig wirft er einen Stein in die Fensterscheibe des Autos und flüchtet. Das gezeichnete Auto bleibt verschlossen. [B1] Es existieren zwei unvereinbare Räume in Rhodes Arbeit: zum einen der unendliche Raum des Möglichen der Zeichnung, zum anderen der begrenzte Raum der Alltagsrealität, in dem die Physis des Menschen einem etwaigen Scheitern ausgeliefert ist, wenn sie versucht, in den Raum der Zeichnung einzudringen. Diese beiden Räume sind getrennt durch die Wand, das Medium, die Barre, die Materie zwischen Zeichen und Bezeichnetem. In Rhodes Arbeit wird ein geeinter Raum hergestellt, eigentlich ein unmöglicher Raum: Die »Grenze« zwischen den beiden unvereinbaren Räumen versucht Robin Rhode zu überwinden. Der Versuch ist real. Durch die Vehemenz, mit der stets aufs Neue zur Überschreitung der Grenze angesetzt wird, kann er nicht abgetan werden. Er gelingt insofern, als vielleicht nicht das Auto aufgebrochen werden kann, dafür jedoch der Bildraum – denn der Versuch selbst findet im Bild statt. Rhode wird als Performer selbst zum Bild. Ein Auto anstelle einer Zeichnung wird vorstellbar, weil Robin Rhode in seinem Spiel das gezeichnete Auto ernst nimmt, es als wirkliches und nicht als Zeichnung behandelt. Foto: Alexandra Grieß 18 / 19 kiss Julia Dick / Robin Rhode Die Sehnsucht nach dem erfahrbaren Freiraum des Bildes als kunstpädagogischer Versuch Es existieren zwei unvereinbare Räume in Rhodes Arbeit: Jeder weiß, Rhode wird das Auto bzw. die Wand niemals aufbrechen können und Rhode schauspielert. Er ist nicht wirklich so naiv, zu denken, er könne in die Zeichenwelt eindringen. Er tut nur so als ob, tut so, als wäre er selbst ein Zeichen. Aber der Leib als Zeichen und Bezeichnendes der Performance fallen ineinander und befinden sich im Hier und Jetzt unserer Alltagsrealität. Und unsere Alltagsrealität und die der Zeichnung befinden sich nicht in ein und demselben Raum. Dies wird gerade in dem Moment explizit, in dem Robin Rhode in die Zeichnung einzudringen versucht: Die Differenz von Körper und schlichter Zeichnung wird im Nebeneinander offensichtlich, und so bleiben die beiden Räume doch geschieden. dialektisch. Sie stellt wie die Mauer des Gefängnisses einerseits eine physisch unüberwindbare Grenze dar, andererseits wird sie zum Bildträger und somit zur Schwelle, zum Fenster in die utopische Welt eines grenzenlosen Freiraums. Diesen Widerspruch in einem Gefängnis zu erproben, bedeutet, ihn größer zu machen, da in einem solchen Kontext Utopien noch unerreichbarer zu sein scheinen. Der Widerspruch in Rhodes Arbeiten wird also nicht untersucht, indem er rational analysiert, aufgelöst und erklärt wird, sondern indem er beibehalten und in gesteigerter Form erfahren wird. Es stellt sich die Frage, ob die Utopie eines Freiraums im Bild in einer harten und begrenzenden Realität wie der des Gefängnisses eine Relevanz oder Wirkung haben könnte. Die Rede vom geeinten Raum in Rhodes Arbeit lässt sich präzisieren: Der Leib als Zeichen und Bezeichnendes der Performance fallen zwar ineinander, aber erzählen doch von etwas – von dem Wunsch, das gezeichnete Auto aufbrechen zu können, und damit von der Sehnsucht, die Grenze zwischen Zeichnung und Bezeichnetem überwinden zu können. Der Leib im Hier und Jetzt wird auf einer weiteren Ebene wieder zu einem Zeichen für etwas und befindet sich deswegen doch auch wieder in einem Bild, welches sich der Betrachter von der Performance macht. Es entsteht ein neuer, gemeinsamer Bildraum – in Form einer Erzählung. Vergiss die Logik und denke beides zugleich! Die hier aufgezeigte Dialektik kann nicht aufgelöst werden. Viele Arbeiten Rhodes sind Vexierbilder. Sie erzählen von der Utopie eines aufbrechenden Bildraums. Hierdurch wird dem Künstler Rhode alles möglich. Dies zeigen seine Fotoserien und Animationen: Hier wird er zum Basketball- und Skateboardprofi, wird unsagbar stark, lässt durch sein Zutun surreale Landschaften wachsen. Die »Erfüllung« der Utopie ist zugleich durch die Differenz von Körper und Zeichnung mit dem Offenbarwerden ihrer »Unerreichbarkeit« verbunden – wird doch gerade durch Rhodes gestische Zeichnung in ihrem Anti-Illusionismus die Bild- bzw. Utopiekonstruktion stets mitgezeigt. Was sich durch den Versuch, eine derartige Utopie zu konstruieren, sie einerseits zu erreichen und doch andererseits daran zu scheitern, vermittelt, ist die Sehnsucht nach dieser Utopie. Der Sehnsucht ist eine ganz ähnliche Dialektik eigen wie den Bildern Robin Rhodes. Sehnsucht existiert nur, solange eine Utopie existiert. Sehnsucht existiert nur, solange sich die Utopie nicht erfüllt. Sehnsucht wird sicht- und greifbar durch den naiven Versuch, eine Utopie erreichen zu können. Sehnsucht wird sichtbar, solange die Utopie greif- und doch unerreichbar bleibt. So wird in Rhodes »super-naiven« Arbeiten vor allem spürbar: Sehnsucht. Für das Projekt wähle ich einen persönlichen Themenkomplex – es soll um die individuellen Wünsche und Sehnsüchte der Projektteilnehmer gehen. Diese Entscheidung geht von der Utopie aus, dass persönliche Wünsche und Sehnsüchte in Kombination mit einer vielleicht überwindbaren Grenze zwischen Alltags- und Bildraum einen fantas tischen Denkraum schaffen können, im Sinne von: »Unmögliche-Sachen-werden-mir-im-Bild-möglich«. Jugendliche können sich im Bild bei der »Erfüllung« ihrer Sehnsüchte selbst inszenieren, mittels der Zeichnung in Kombination mit ihrem eigenen Leib Bilder produzieren. Dabei gibt es keine Grenzen. Robin Rhode und Julia Dick entwickeln Ideen Fotos auf den Folgeseiten: Alexandra Grieß Ich folge Robin Rhodes Sehnsucht nach Utopie. Ich habe die Utopie, durch das Bild Wände als Freiräume umdefinieren zu können. Statt einer rationalen Vermittlung von Rhodes Arbeit wähle ich die Strategie der direkten Erfahrung. Die Vorgehensweise Rhodes soll direkt in einem Rahmen erprobt und überprüft werden, der Wunsch-Utopien eigentlich fern steht: Statt in eine Schule gehe ich in ein Gefängnis für jugendliche Straftäter in Untersuchungshaft, die Justizvollzugsanstalt Braunschweig. »Gleich der Phantasie, die ihren wesentlichen seelischen Ausdruck darstellt, ist der Bereich der Ästhetik vorzüglich ›unrealistisch‹, sie hat sich um den Preis, in der Realität wirkungslos zu sein, ihre Freiheit vom Realitätsprinzip bewahrt.« 1 Diejenigen Befriedigungen, Lüste und Bedürfnisse des Individuums, die entweder überhaupt nicht möglich oder ausgegrenzt werden, um das Zusammenleben der Gesellschaft zu gewährleisten, können im Bild aufgrund seiner »Wirkungslosigkeit in der Realität« durchexerziert und ausgelebt werden. Auf das Subjekt könnte dieses Im-BildAusleben aber vielleicht doch eine Wirkung haben: Im Gefängnis spielt die Wand, in ihrer physischen – vielleicht sogar auch mentalen Begrenzung – eine größere Rolle als »draußen«. Die Wand in Robin Rhodes Arbeit hingegen hat zwei Seiten, funktioniert 1 Marcuse, Herbert (1957): Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1979, S. 150. 20 / 21 kiss Julia Dick / Robin Rhode Julia Dick und Robin Rhode im Atelier die der Sublimierung. Zumindest erlebt sich das Subjekt in einer die Sehnsüchte als Potenzial umdeutenden, ausnutzenden und deswegen produktiven, schöpferischen Art und Weise. Es verharrt nicht bloß in einer konsumorientierten, passiven Sehnsuchtshaltung, wie es vielleicht für viele der Inhaftierten zumeist die Regel ist. In ein und derselben Aufgabenstellung wird somit der sich niemals erfüllenden Utopie die Praxis des aktiven Herstellens und Suchens gegenübergestellt – und dies mit ganz spartanischen Mitteln. Die hierin wurzelnde künstlerische Haltung der Kreativität, Aktivität wie Produktivität trotz begrenzter Möglichkeiten ist meines Erachtens eine sinnvolle Strategie – auch oder vielmehr gerade im Hinblick auf die Situation in einem Gefängnis. Aus kunstpädagogischer Sicht ist entscheidend, dass eine Utopie durch den Prozess der Veräußerlichung und Formwerdung reflektierbar wird: Das im Bild sich manifestierende »Ausleben« eines Bedürfnisses verweist indirekt zugleich auf den eigentlichen Ist- und Soll-Zustand der Alltagsrealität. Gerade eine etwaige Differenz zwischen Fantasie und Alltagsrealität, welche Rhodes Methode immer auch mitzeigt, wird reflektier- und begreifbar. Auch die Wahl eines persönlichen Zugangs über die eigenen Wünsche und Sehnsüchte führt zu einer Zentrierung des Subjekts. Damit geht einher, dass das Persönliche zu einem Bilder schaffenden Potenzial umgedeutet wird. Die Jugendlichen werden darin unterstützt, einen eigenen Ausdruck für individuelle Themen zu finden, auch jenseits der verbalen Sprache. So können sie intime, unaussprechliche, vielleicht sogar geheime Dinge, die sie beschäftigen, transformieren, veräußern und emporheben. Darüber mittels des eigenen Leibes zu erzählen und durch die Inszenierung für ein Publikum oder für eine Fotografie auch das Feedback durch eine Außenperspektive zu erhalten, kann ihnen bei der Selbstvergewisserung, Selbstreflexion und Identitätskonstitution helfen. Eine zweifelsfreie Garantie, ob und in welchem Maße ein solcher Prozess in Gang kommen kann bzw. zugelassen wird, ob eine Bewusstwerdung für ein Individuum hilfreich ist, kann es dabei nicht geben. Das Individuum ist in der Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern und dem eigenen Leib immer auch auf sich selbst zurückgeworfen und gehalten, eine Art »Autopädagogik« zu betreiben. Ich kann aber versuchen, ein günstiges Setting für die Initiierung solcher Prozesse herzustellen, ich biete den Anfangspunkt einer Strategie an. Diese Strategie zu entwickeln und ihr dann zu folgen, muss jedem Einzelnen selbst überlassen werden. Trotz vieler Ideen, wie sich das Projekt entwickeln und welche Richtung es nehmen könnte, habe ich vor Beginn keine allzu festen Pläne für die Umsetzung ausgearbeitet. Es erschien mir unrealistisch und darüber hinaus nicht gerechtfertigt, mit einem festen, durchgeplanten Konzept in eine mir völlig unbekannte Situation zu gehen. Anstelle einer langfristigen Planung hielt ich es für angemessener, für den Prozess offen zu bleiben, zu sehen, was da ist, was passiert, und darauf zu reagieren. Die vage und eher an formalen Kriterien orientierte Zielsetzung bestand darin, im Rahmen der Projektarbeit zusammen mit den Jugendlichen und ihren Ideen zu einem zeigbaren Ergebnis zu gelangen. Die Unterstützung Ich konnte Robin Rhode in sehr unterschiedlichen Situationen erleben und lernte: Er hat viele Gesichter. Atmosphärisch privat, in einem Café, war er zurückhaltend, ruhig und präzise; in einem Vortrag vor meiner Fachklasse, die ihn besuchte, war er wie ausgetauscht. Er wirkte präsent und quirlig und bombardierte sein Publikum geradezu mit immer neuen und weiteren Arbeiten. Dann, beim formloseren Herumhängen im Park, von seiner Zeit in Südafrika erzählend, wird sein noch sehr junges Alter offensichtlich, er wirkt wie einer meiner Kommilitonen – nur dass er bereits eine steile Karriere hinter sich hat und eine damit verbundene Professionalität an den Tag legt. Bei einem nächsten Treffen, wieder zu zweit, betont er zwar noch, er wolle sich nicht inszenieren, wenn die Fotografin kommt. Sobald sie jedoch da ist und zu fotografieren beginnt, dreht er auf und posiert mit immenser Begeisterung. Mir wird plötzlich klar, dass auf Grund dieser Freude am Inszenieren auch seine Fotos so sind, wie sie sind – die Wirkung der Fotos scheint ganz eng mit seinem Charakter zusammenzuhängen. Robin Rhode hat mich bei meinem Vorhaben sehr unterstützt, vor allem dadurch, dass er begeistert war von der Idee, mit Jugendlichen in einem Gefängnis zu arbeiten. Auch die Themenwahl »Wünsche und Sehnsüchte« leuchtete ihm ein. Er machte mir Mut, was wahrscheinlich für mich die wichtigste Motivation war. Er besprach mit mir meine Ideen, ergänzte sie durch eigene, stellte mir diverses Material zur Verfügung, war neugierig und interessiert. Er betonte aber auch, dass es mein Projekt sei. Da ich trotzdem im Team arbeiten wollte – auch, da es im Gefängnis keinen Kunstlehrer gab, der mich begleitete, fragte ich meinen Kommilitonen Johannes Hock, ob er mein Vorhaben durch seine Anwesenheit unterstützen könne. Er begleitete das Projekt, indem er beobachtete und reflektierte, die Situation von einer Außenposition spiegelte, mit mir die Unterrichtsplanung besprach und mir seine Überlegungen und Ideen mitteilte. 22 / 23 kiss Julia Dick / Robin Rhode Arbeitsergebnisse im Gefängnis Fotos auf den folgenden Seiten: Julia Dick Der Verlauf der Dinge Die leitende Frage ist: »Was fehlt dir im Gefängnis? Oder was willst du können, haben, benutzen, realisieren? Deine Wünsche, Utopien und die Verwirklichung deines Größenwahns sind per »beposebare« 2 Zeichnung möglich!« [M3] Jugendliche beim Posieren In der Untersuchungshaft Braunschweig arbeite ich mit einer in ihrer Zusammensetzung wechselnden Gruppe von ca. 10 männlichen Jugendlichen zusammen. Die Jungen sind zwischen 14 und 21 Jahre alt und sitzen wegen ganz unterschiedlicher, teilweise ungeklärter Delikte ein. Manche sind schon seit Monaten in Haft oder haben auch noch eine längere Zeit in einer Anstalt vor sich, andere sind nur für wenige Wochen hier. Der Austausch steht im Mittelpunkt der ersten Unterrichtseinheit. Ich zeige den neugierigen Jungen Dokumentationen meiner eigenen Performances, die den Grenzüberschritt thematisieren. Umgekehrt erzählen die Jungen der Reihe nach etwas von ihren eigenen Interessen. Es zeigt sich, dass sie sich für Dinge interessieren, die für viele Jugendliche dieses Alters typisch sind: Fußball, Basketball, Feiern, Gras rauchen, Rumhängen, Techno, Rap und ihre Freunde. In der Annahme, dass den Jugendlichen sportliche Posen gefallen und sie hierzu einen Zugang finden könnten, zeige ich ihnen Fotografien von Robin Rhode, in denen er sich auf der Zeichnung liegend inszeniert, als würde er Basketball spielen oder Skateboard fahren. [M1] Und tatsächlich ist es so, dass diese Arbeiten beim Großteil der Gruppe auf Akzeptanz stoßen und als »cool« eingestuft werden. Schließlich sollen die Jungen das von Rhode angewandte Prinzip in einer offenen, gemeinsamen Unterrichtssituation selbst ausprobieren. Sie sollen sich selbst auf dem Boden liegend inszenieren und dabei so posieren, als würden sie Skateboard fahren. Wir stellen uns auf den Tisch, fotografieren die Posen von oben und haben die Digitalkamera direkt mit einem Fernseher verbunden, so dass die Jungen sich und ihren Körper kontrollieren und das jeweils entstandene Bild sofort gemeinsam ansehen können. Eine eigene Dynamik kommt auf. Nachdem zwei Jugendliche auf dem Skateboard posiert haben, fangen andere an, neue Bildmotive zu zeichnen – eine Blutlache, eine Bong (Wasserpfeife), einen Boxsack. Bis auf den Boxsack werden diese Motive jedoch nicht bespielt. Mit den Zeichnungen fotografiert zu werden, sich selbst also wirklich in Bezug zu dem Objekt zu setzen und darüber zu definieren, stellt – wie zu erwarten – für die meisten Jungen ein Problem dar. wenn keine andere Maßnahme mehr greift. Sie werden zur Beruhigung und zum Schutz der anderen, aber auch vor sich selbst, in diesem leeren Raum sich selbst überlassen. Die Absonderung stellt eine Steigerung der Gefängnissituation dar. Während sich die Jugendlichen nun schweigend in diesem Raum aufhalten, sollen sie Dinge, die an diesem Ort fehlen, auf Zettel schreiben und diese dann an die Wand heften. Über die Benennung offensichtlich fehlender Dinge hinaus sind sie auch angehalten, sich ins Utopische zu steigern. Die zweite Gruppe hat die Aufgabe, eine Rede zu verfassen, in der ein imaginärer Politiker der »Knastpartei« Versprechungen darüber macht, was er demnächst alles Fantastisches anschaffen und einführen werde. Diese Gruppe ist nicht in der Lage, der Aufgabe nachzukommen. Sie ergeht sich darin, zu diskutieren. Einer der Häftlinge vertritt die Position, dass er sich lieber mit den gegebenen Umständen abfinden möchte, weil er noch drei Jahre im Gefängnis vor sich habe und glaubt, so das Gefängnis als solches »verdrängen« zu können. Die Aufgabenstellung, die den Ort mit seinen Gegebenheiten sogar noch auf spielerisch-ironische und somit distanzierende Art zum Thema mache, wühle ihn zu sehr auf. Für die zweite Einheit bereiten Johannes Hoch und ich zwei Aufgaben vor, zwischen denen die Teilnehmenden auswählen können. Beide Aufgaben haben zum Ziel, auf das Thema »Sehnsüchte und Wünsche« einzustimmen und entsprechende Bildmotive zu finden. Die eine Aufgabe verlangt Konzentration, die andere ist eher spielerisch. Wir gehen mit allen in die Absonderung, sehen uns hier die Ergebnisse der Gruppe an und kommen darüber ins Gespräch. Anschließend zeigen wir den Jugendlichen Performance-Dokumentationen und Filme von Robin Rhode [M2]. Die Jugendlichen bekommen per Arbeitsblatt die Aufgabe, aus den bisher gesammelten utopischen Begriffen ein Motiv zuerst in kleinem Format und dann in Originalgröße für eine Wandzeichnung zu entwickeln. Mit der Wandzeichnung sollen sie sich selbst für eine Fotografie inszenieren. Nachdem von den Jugendlichen jeweils eine Aufgabe ausgewählt wurde und sich so zwei Gruppen gebildet haben, begebe ich mich mit der einen Gruppe in die »Absonderung«. In dieser Zelle gibt es nichts außer einer Matratze, einer Decke, einem Klosett und einem Wasserhahn. Hier werden, wenn auch eher selten, Inhaftierte zur Bestrafung kurzfristig einzeln eingesperrt, 2 »Beposebar« ist eine eigene Wortschöpfung, die auf das Wort »Pose« zurückgeht. Gemeint ist, ein passives Ding bzw. in diesem Fall eine Zeichnung durch eine Pose zu beleben. Es tritt das Problem auf, dass die Jungen keine Ideen haben oder sie ihre Ideen nicht zeichnen, geschweige denn sie in Pose darstellen wollen. Das, was schließlich entsteht, sind Gewaltdarstellungen. Um ein Motiv leichter finden und auch zeichnen zu können, bringe ich in der nächsten Einheit diejenigen Begriffe, die in der Absonderung auf Papier gebracht worden sind, in Bildform mit. Hierfür google ich ohne zu zensieren alle Begriffe und suche zu jedem Begriff jeweils ein bis drei assoziativ passende Bilder aus. Die begehrten Dinge, die ich natürlich nicht als reale Gegenstände mitbringen dürfte, bringe ich in Form von Bildern ins Gefängnis. Die Jungen sind begeistert, gucken sich alle Bilder an, fangen an, Geschichten zu erzählen, die sie zu den abgebildeten Dingen assoziieren, und lassen ihre Lieblingsbilder verschwinden. Sie werden nun erneut vor die Aufgabe gestellt, Bildmotive für eine Performance zu entwerfen. Die meisten zeichnen mittels der 24 / 25 kiss Julia Dick / Robin Rhode Inspiration der mitgebrachten Bilder spezifische Gegenstände, mit denen sich Szenen spielen lassen: Playstation spielen, sich unter eine Palme legen, auf einen Boxsack boxen, Blumen gießen, Fußball spielen, Bong rauchen. Aber: Die Handlungen am Ende dieser Einheit vor den anderen vorzuführen, fällt den Jungen erneut schwer. In der nächsten Einheit versuchen wir, mit den Jugendlichen anhand inszenierter Zeichnungen eine Narration aufzubauen. Die zuvor gefundenen Bildmotive sollen ausgebaut werden. Vorweg zeigen wir Animationen von Robin Rhode, in denen kleine Geschichten, Prozesse und Verläufe dargestellt werden. [M4] Dann wird die Aufgabe erteilt, für eine eigene Animation mindestens drei Zeichnungen anzufertigen, auf denen sich das jeweilige Bildmotiv verändert. Ein Prozess soll dargestellt werden. Die Aufgabe: »Das Ding und ihr selbst sollt euch durch die Interaktion verändern.« links: Wandbild »Wünsche und Utopien« oben: Posierende Jugendliche Schließlich sehen wir uns auf dem Fernseher die entstandenen kurzen Animationen an. Eine andere Möglichkeit, ein gefundenes Motiv zu einer Narration auszubauen, wäre auf darstellerischer Ebene gegeben. Bisher mangelte es jedoch beim Bespielen der Bilder an Präsenz und Körperpräzision, vor allem aber an Spielfreude. Der Bezug zum eigenen Leib, und deswegen wohl auch zum eigenen Ich und zu den eigenen Sehnsüchten, scheint bei den meisten Jugendlichen der Gruppe schwierig zu sein. Deswegen erschien ein spielerisches Herangehen an den Körper, das motivieren sollte, sich selbst zu inszenieren, als nächster Schritt sinnvoll. [M5] Der zugespitzte Versuch hat deutlich gemacht, dass die Thematisierung und Offenbarwerdung der Illusion, welche durch das Bespielen der Bilder stattfindet, in der harten Alltagsrealität des Gefängnisses, der das Projekt in einem zu geringen Zeitraum entgegenzuwirken versucht, keinen weiteren Sinn macht. Sie wäre nur unter der Bedingung, dass von vornherein eine gewisse Spielfreude beim »So-Tun-als-ob« aufkommt, weiterhin sinnvoll gewesen. Nachdem wir den bisherigen Verlauf ausgewertet haben, [M6] weichen wir von der Methodik Robin Rhodes ab. Die ästhetischen Interessen der Jugendlichen rücken ins Zentrum. Wir fragen die Jungen, worauf sie Lust hätten und was sie interessieren würde. – Sie würden gerne ein Graffito sprühen. Das Markieren, das Hinterlassen von Spuren, das Posen und der Hauch von Coolness und Illegalität, der mit der Graffitikunst verbunden ist, zieht die Jungen an und scheint sie zu motivieren. Ein gemeinsames Graffito wird geplant. Das Thema »Wünsche und Utopien im Bild« wird aber beibehalten und nun auf diese Art weiter untersucht. Ziel ist die Darstellung einer surrealen Landschaft der Wünsche und Sehnsüchte, in der die bisher ent standenen Bildmotive vorkommen können, jedoch auch neue und übersteigerte Utopien Platz finden können. Für die nächsten beiden Unterrichtseinheiten übertrage ich diejenigen Motive, die bisher entstanden sind, einzeln auf Overheadfolie. Auf dem Projektor kann man diese Zeichnungen hin- und herschieben und so nach der richtigen Komposition der unter schiedlichen Bildmotive suchen. 3 Außerdem bringe ich surrealistische Landschaftsmalereien 3 Diese Methode geht auf eine Idee meiner Kommilitonin Corinna Kirchner zurück. mit, um den Jungen zu verdeutlichen, dass in einer Landschaft unterschiedliche Dinge nebeneinander stehen, die sich durch die Art ihrer Anordnung wechselseitig neuen Sinn zusprechen können. Zusätzlich bringe ich Bücher von Graffitikünstlern mit sowie ein YouTube-Video, [M7] das eine Gruppe von Graffitikünstlern in einer Unterführung beim Sprühen eines kollektiven Bildes zeigt. Der neue und vielseitige Input kommt gut bei den Jugendlichen an. 26 / 27 kiss Julia Dick / Robin Rhode Man schaffe sich die ungünstigsten Bedingungen, um zu lehren – und blicke auf die Schule mit anderen Augen Nach und nach entsteht eine gemeinsame Skizze. Trotz anfänglicher Motivation zum Sprühen arbeitet wieder nicht die gesamte Gruppe mit – viele geben einfach nach einem ersten Versuch auf. Um noch weitere Bildmotive zum Thema Sehnsüchte und Utopien zu finden, bekommen die Jungen den Auftrag, Texte zu folgender Aufgabe zu schreiben: »Morgens klingelt bei dir das Telefon, Gott ist dran und sagt, dass heute dein letzter Tag sei. Du fragst, kann man da nicht was machen? Gott sagt, sorry, aber es bleibt leider dabei. Aber, wenn du irgendwelche Wünsche für heute hast, sag einfach Bescheid, ich erfülle die dann … Wie sieht also dieser Tag aus?« [M8] Alle Jungen entwickeln Geschichten. Bei der Übertragung ins Bildnerische haben allerdings einige Probleme. Zum Abschluss vergrößern wir an einem Projekttag mit denjenigen, die sich aktiv eingebracht haben, die Skizze an der Wand und sprühen sie anschließend. Es entsteht ein über drei Wände verteiltes Bild, auf dem die Sehnsüchte und Wünsche der Jungen und ihre Assoziationen zum Thema gezeigt werden: Auf der mittleren Wand ist ein Strand mit einer Frau zu sehen, ein fliegendes, aggressives Herz und der Sternenhimmel. In dieser Welt gibt es auch fliegende Schweine. Die beiden gegenüberliegenden Wände erzählen gerade in ihrer Gegensätzlichkeit sehr viel über den Kontext Gefängnis: Auf der einen Wand ist eine bespielbare Gedankenblase entstanden, in der begehrte Dinge gezeigt werden: ein Hamburger, eine Flasche Cola, ein Spielautomat, ein Motorrad. Auf der gegenüberstehenden Wand befindet sich ein Opferaltar, vor dem jemand in opferbringender Geste kniet. Am Schluss entwickelt die Gruppe eine eigene Dynamik: Diejenigen, die mit größtem Engagement mitgearbeitet haben, wollen sich selbst mit ihren Bildern für Fotos inszenieren, so wie sie es vorweg in der Auseinandersetzung mit Robin Rhode kennen gelernt hatten. Es scheint so, als ob sie durch die arbeitsintensive Gestaltung des Bildes stolz und nun auch selbstbewusst genug geworden sind, vor ihren eigenen Bildern zu posieren. Hier zeigt sich, dass der Schmerz über das Fehlen der ersehnten Dinge unwichtig wird gegenüber dem Stolz über die eigene Produktion. Die Jungen haben sich als schöpferisch erlebt – eine positive und sehr wichtige Erfahrung. Ein weiteres Ergebnis fällt mir erst nach Beendigung des Projektes beim erneuten Durchschauen der Bilder, die ich ins Gefängnis gebracht hatte, in die Hände: Ein Formblatt des Gefängnisses, das die Inhaftierten ausfüllen müssen, um bestimmte Wünsche, wie z.B. einen Telefonanruf zu beantragen, wurde mir zwischen die Unterlagen geschoben. Darauf steht: »Hiermit beantrage ich ein Schloss.« Das Formblatt stellt einen Rahmen dar, den das Gefängnis setzt. Innerhalb des Rahmens wurde damit in utopischer Art und Weise gespielt. Der Rahmen wird dadurch verrückt. Ich sehe darin einen sehr reflektierten und kreativen Kommentar, sowohl auf mein Projekt als auch auf den Kontext Gefängnis. Die Jungen hatten keine Probleme, herauszufinden und zu benennen, was ihre Sehnsüchte und Wünsche waren. Mit Hilfestellung gelang ihnen auch die Darstellung in Form von Zeichnen und Sprühen. Über das Thema der Sehnsüchte und somit indirekt über den Kontext Gefängnis hat eine Auseinandersetzung stattgefunden. Die Selbstinszenierung im Hinblick auf die eigenen Wünsche fiel den Jungen aber von einigen Ausnahmen abgesehen sehr schwer. Klar ist indes auch, dass unter den gegebenen Umständen die aus Robin Rhodes Konzept übernommene Selbstinszenierung mit den gezeichneten Gegenständen neben einer »Erfüllung« vor allem gerade deren »Abwesenheit« thematisiert. Es bedürfte eines sich distanzierenden und spielerischen Umgangs damit. Dieses um seiner selbst willen gespielte Spiel mit den eigenen Sehnsüchten gelang den Jugendlichen allenfalls in Ansätzen. Insofern ist vielleicht ein Graffito, mit dem eine Welt der Sehnsüchte und Wünsche gezeigt wird, für sie die bessere Möglichkeit, um in der Situation des Gefängnisses einen potenziellen Freiraum des Bildes zu erleben: Hier wird die Zeichenhaftigkeit und somit die Abwesenheit der Dinge nicht explizit thematisiert. Die Projektion, das Fenster zur Utopie, der Freiraum des Bildes, werden nicht angetastet. Das Entlarven der Bildhaftigkeit, des Bildes als Bild, findet nicht statt. Dafür sorgt ohnehin bereits der Kontext, in dem das Bild gezeigt wird. In einem Gefängnis künstlerisch zu arbeiten, heißt, sich auf einen ständigen Kampf mit herrschenden Grenzen einzulassen. Als Leiterin des Projekts wurde ich selbst temporär physisch und gewissermaßen auch in den von mir erwünschten Möglichkeiten des Lehrens eingesperrt. Auch ich geriet in die Abhängigkeit der bestehenden Strukturen und zuständigen Beamten. Jeder winzig kleine und zumeist durch Anträge erkämpfte Freiraum, sei es eine Kamera oder Sprühdosen benutzen zu dürfen, bedeutete einen Erfolg. In einigen Punkten ist mir die Leitung entgegengekommen. In vielen Anliegen wurden die Sicherheitsmaßnahmen und Reglementierungen jedoch vorangestellt. So durften wir z.B. trotz wasserlöslicher Stifte nicht auf Wände zeichnen und es war uns z.B. nicht möglich, in einem größeren abgeschlossenen Raum zu arbeiten. Wir wichen in einen kleinen Seminarraum, auf den Hof oder auf die Flure aus. Gerade für die körperliche Arbeit wäre es aber unbedingt notwendig gewesen, einen größeren Raum zu bespielen, der Platz, Konzentration, aber vor allem auch Schutz, um sich selbst neu ausprobieren zu können, gewährleistet hätte. Schwierig waren auch Wechsel in der Gruppe und das Umgehen mit der stark schwankenden Motivation. Sicher werde ich in meiner beruflichen Zukunft nicht im Gefängnis arbeiten. Die Erfahrungen im Projekt wirken sich aber nachhaltig auf mein Denken und Handeln aus, zum Beispiel im Hinblick auf meine Vorstellung von kunstpädagogischer Praxis in der Normalschule. So ist mir deutlich geworden, dass die von mir zuvor oft wegen ihrer relativ engen und zum Teil starren institutionellen Rahmenbedingungen wie z.B. enger Stundentaktung kritisierte Schule ein vergleichsweise offener Rahmen ist, in dem es nicht nur um Erziehungsund Disziplinierungsprozesse geht, sondern in dem doch recht große Spielräume für Bildungsprozesse gegeben sind. Posieren vor dem Wandbild 28 / 29 kiss Julia Dick / Robin Rhode Idealerweise geht es im Kunstunterricht aber genau darum, eine der Schule sonst eher fernstehende Möglichkeit zu schaffen, die es den Schülern erlaubt, in einem gewissen Rahmen dem eigenen Lustprinzip zu folgen. Dieser Rahmen kann zum Beispiel der eines Bildes sein: dem eigenen Lustprinzip im Rahmen eines Bildes zu folgen, um dadurch dessen Verhältnis zur gesellschaftlichen Normierung beleuchten zu können. Geeignete Rahmen zu erfinden, die die Schüler wirklich interessieren und sie zugleich aber auch in diesem Sinne künstlerisch bilden, sehe ich als große und schwierige Aufgabe an. Der direkte wie indirekte Einblick ins Gefängnis erweitert vor allem den Blick auf die Wirklichkeit der Gesellschaft, auch auf deren unschöne Seiten. Trägt man Kunst und bildnerische Fragestellungen in diesen Kontext hinein, verändert sich rückwirkend auch die Perspektive auf Kunst. Kunst kann hier nicht wie in einer Kunsthochschule Selbstzweck sein. Sie braucht hier auf Grund des schwer erträglichen und zugleich unveränderbaren Umfeldes einen realen Sinn, etwas, was durch Kunst und trotz der Umstände etwa verändern kann – z.B. die Langeweile oder die Einstellung und Bereitschaft zur Reflektion oder das mangelnde Selbstbewusstsein. Der Eingriff der Kunst hat die Wahrnehmung innerhalb des Gefängnisses verändert. So haben sich die ansonsten links: Text eines Jugendlichen zum Wunsch-Tagesablauf rechts: Antragsformular kleine Abbildungen: Jugendliche beim Zeichnen und Posieren Eine überaus wichtige Erfahrung u.a. auch im Hinblick auf die Planung von Unterricht war die extreme Direktheit der Inhaftierten in ihren Rückmeldungen und ihrem Verhalten im Allgemeinen. Diese Jugendlichen sind ja, weil sie eben nicht gelernt haben, sich der Gesellschaft und den an sie gestellten Erwartungen anzupassen und statt dessen einem eigenen Lustprinzip folgten, überhaupt erst im Gefängnis gelandet. Eine solche durch Sozialisation hervorgebrachte Einstellung hat auch das Projekt geprägt. Mir wurde meist sehr unmittelbar gespiegelt, ob die, an die ich mich wendete, wirklich Lust auf meine Aufgabenstellungen hatten oder nicht. Die Frage der Legitimierung der Unterrichtsgegenstände und der Unterrichtsmethoden stellt sich hier deshalb erheblich deutlicher als in der Schule. In der Schule werde ich wegen der durch die Institution erfolgten Sozialisation der Schüler auf sehr viel weniger Widerstände stoßen und nur indirekt erfahren können, ob der Rahmen, den ich stecke, auch auf die Lust der Schüler trifft. permanent Stärke markierenden Jungen untereinander einmal von einer anderen Seite, einer träumerischen und verletzlichen Seite kennen gelernt. Für die Kollision der Kontexte ein Bewusstsein zu entwickeln und die Reibung, die hierdurch entsteht, wahrzunehmen, wertzuschätzen und Konsequenzen daraus zu ziehen, habe ich sicherlich aus dem Projekt mitgenommen. Auch für den Schulunterricht würde ich vergleichbare künstlerische Experimente suchen, in denen mit gesteigerter Bewusstheit die Unterschiedlichkeiten der Kontexte aufeinander bezogen, ineinander gespiegelt werden, sich gegenseitig durchleuchten. Ein grundlegendes Hinterfragen des Handelns und des Rahmens, in dem gehandelt wird, bedeutet ein gesteigertes Bewusstsein für diese Unterschiedlichkeit. In diesem Sinn sollte künstlerisches Arbeiten, Lehren und Lernen auch immer verstanden werden als das Wagen von Forschung am und Experiment mit dem Rahmen, in dem es stattfindet – den Rahmen also nicht auszublenden, sondern als verrückbar zu nutzen. Nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrenden, das Thema und auch die Schule an sich, sollten als bildbar, als veränderbar angesehen werden, indem sie ab und an gleichermaßen ins Experiment miteinbezogen werden. kiss Julia Dick / Unterrichtsmaterialien 30 / 31 Robin Rhode 1976 1998 2000 2000 2001 2003 2005 2006 2007 Geboren in Kapstadt, Südafrika National Diploma in Fine Art, Witwatersrand Technikon South African School of Film, Television and Dramatic Arts, Johannesburg Artist in Residence, South African National Gallery, Kapstadt Artist in Residence, Karl Hofer Gesellschaft (HDK) Berlin Artist in Residence, Gasworks Gallery, London Artist in Residence, Walker Art Center, Minneapolis Artist in Residence, The Rose Art Museum, Brandeis University, Waltham b. Boston Ars viva 05/06 Identität/identity, Award, Berlin Gewinner, ausgesucht von der W. South Beach Commission, Positionen der Art Basel Miami Beach, Miami Gewinner des Illy Prize, Art Brussels, Brüssel Robin Rhode: Einzelausstellungen (Auswahl) 2000 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Fresh, South African National Gallery, Kapstadt Living in Public, Market Theater Galleries, Johannesburg Robin Rhode, Perry Rubenstein Gallery, New York The Score, Artists Space, New York The Animators, The Rose Art Museum, Brandeis University, Waltham b. Boston Street Smart, Rubell Family Collection, Miami Robin Rhode, Shiseido Gallery, Tokyo The Storyteller, FRAC Champagne-Ardenne The Storyteller, carlier | gebauer, Berlin Empieza el Juego, Zaragoza, Madrid Walk Off, Haus der Kunst, München Who Saw Who, Hayward Gallery London Through the Gate, White Cube London Robin Rhode, Perry Rubenstein Gallery, New York Werke (Auswahl) 2002 2003 2004 2005 White Walls, Animation Catch Air, Fotoserie Car Theft, Performance Automatic Drowning, Performance-Fotoserie The Score, Performance Untitled (Air Guitar), Film Harvest, Animation Untitled (Hard Rain), Fotoserie Literatur Brohl, Christiane Displacement als kunstpädagogische Strategie: Vorschlag einer heterotopie- und kontextbezogenen ästhetischen Diskurspraxis des Lehrens und Lernens Norderstedt 2003 Ehmer, Hermann, Kämpf-Jansen, Helga (Hg.) Kunst im Knast 1980 – 1985. Dokumente ästhetischer und sozialer Erfahrung Gießen 1985 Henkel, Olivia; Domentat, Tamara; Westhoff, René (Hg.) Spray City. Graffiti in Berlin Berlin 1994 Iclodean, Mihaela Kreativität – Plädoyer für die Nutzlosigkeit aus psychoanalytischer und ästhetischer Sicht Hannover 2007 Josefsohn, Daniel Robin in the hood In: Monopol. Magazin für Kunst und Leben, hg. von Amélie Heydebreck und Florian Illies, Nr. 12/2007, S. 60 – 66 Literatur Filme (Auswahl) Linde, Almut Formen für Kunst in der Realität In: Maset, Pierangelo; Reuter, Rebecca; Steffel, Hagen (Hg.): Corporate Difference – Formate der Kunstvermittlung, Lüneburg 2006, S. 129 –149 Robin Rhode Untitled (Air Guitar), 2005, Film ©: Courtesy Robin Rhode and Perry Rubenstein Gallery New York Meyer, Kathrin Robin Rhodes Zeichengeschichten In: Wenke, Klaus (Hg.): Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen 2007, Bremen 2007, S. 32 – 37 Meyer, Torsten Interfaces, Medien, Bildung: Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie Bielefeld 2002 Radke, Dirk Gefängnistheater In: Koch, Gerd; Streisand, Marianne (Hg.): Wörterbuch der Theaterpädagogik Berlin 2003, S. 114 Rollig, Stella; Sturm, Eva (Hg.) Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum: Art, Education, Cultural Work, Communities Wien 2004 Rosenthal, Stephanie (Hg.) Robin Rhode. Walk Off; Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst, München, vom 07.10.2007 – 08.01.2008 Ostfildern-Ruit 2007 Spies, Werner (Hg.) Die surrealistische Revolution Ostfildern-Ruit 2002 Weber, Aleks RückwärtsSein. Bilder, Zeichnungen und Tagebuchskizzen aus dem Gefängnis. Mit Texten von Jürgen Wehren Zürich 1989 Robin Rhode Car Theft, 2003, Performance-Videodokumentation ©: Courtesy Robin Rhode and Perry Rubenstein Gallery New York Robin Rhode He Got Game, Fotoreihe ©: Courtesy Robin Rhode and Perry Rubenstein Gallery New York Robin Rhode Harvest, 2005, Animation ©: Courtesy Robin Rhode and Perry Rubenstein Gallery New York Robin Rhode White Walls, 2002, Animation ©: Courtesy Robin Rhode and Perry Rubenstein Gallery New York 32 / 33 kiss Julia Dick / Unterrichtsmaterialien Bildbeispiele B1 Robin Rhode Car Theft, 2003 Materialien B2 René Magritte Attempting the Impossible, 1928 Car Theft, 2003 Performance at the Walker Art Center, Minneapolis (selected still) Courtesy the artist and Perry Rubenstein Gallery, New York M1 Robin Rhode He Got Game, 2000 M2 Robin Rhode Untitled, Air Guitar, 2005 He Got Game, 2000 Sequence of 12 C-prints (detail from the photographic sequence) Courtesy the artist and Perry Rubenstein Gallery, New York René Magrittes Bild kann als Illustration der Sehnsucht des Künstlers verstanden werden, dass alle Zeichen in ein und demselben Raum lägen mit unserer Alltagsrealität. Alles würde möglich werden … René Magritte: »Tentative de l’impossible«/»Der Versuch des Unmöglichen«, Öl auf Leinwand, 105,6 x 81 cm, (1928), Galerie Christine und Isy Brachot, Brüssel, zitiert nach Meuris, Jacques: René Magritte. 1898–1967, Köln/Lissabon/New York et al. 1997, S. 82, © VG Bild-Kunst, Bonn Untitled, Air Guitar, 2005 Super 8mm film transferred to video (selected stills) Courtesy the artist, Perry Rubenstein Gallery, New York and Tucci Russo Studio per l‘Arte Contemporanea, Torre Pellice 34 / 35 kiss Julia Dick / Unterrichtsmaterialien Materialien M3 Aufgabenblatt Entwickle eine »beposebare«/bespielbare Zeichnung, in Anlehnung an die Methode von Robin Rhode. Das Thema: Was fehlt im Gefängnis? Oder: Was willst Du können, haben, benutzen, realisieren? Deine Wünsche, Utopien und die Verwirklichung Deines Größenwahns sind per »beposebarer« Zeichnung möglich! Vorgehensweise 1 Auswählen Wähle aus dem bisher in Worten Erarbeiteten ein Thema/Motiv aus, das Dir gefällt und das für Dich persönlich die Aufgabenstellung lösen kann. (Wenn sich unter dem bisher Erarbeiteten nichts befindet, was Dir zusagt, erfinde etwas Neues.) Wähle nach folgenden Gesichtspunkten aus: · Inwiefern lässt sich das Motiv zeichnen? · Wenn dies nicht möglich ist, inwiefern lässt sich für dieses Thema/ Motiv ein Symbol oder eine Vereinfachung finden? · Inwiefern lässt das Motiv Handlungen und Posen zu, die Du im Verhältnis zu diesem Bild einnehmen könntest? · Inwiefern lässt sich das Motiv nutzen? 2 Versuche das Zeichnen Bevor Du Dich ans Zeichnen Deines Motivs machst, probiere mit der Kohle auf Deinem Block ein bisschen herum: Versuche, dicke Striche, dünne, Schraffur, Kohle in Längsrichtung zu benutzen, sie in unterschiedlichen Winkeln aufzulegen, wende unterschiedliche Wisch- oder Wassertechniken an … 3 Motivzeichnen im kleinen Format: Versuche, Dein Motiv in kleinem Format auf dem Block zu zeichnen. Vielleicht lieber mit Bleistift. Welche Striche sind notwendig, um das Ding/das Motiv erkennbar zu machen? Es geht nicht darum, dass es ganz toll und perfekt aussieht. Am wichtigsten ist, dass man gut erkennen kann, worum es sich handelt! 4 Motivzeichnen im Großformat Zeichne großformatig, in Deiner Größe, so dass Du Deine Zeichnung nutzen und »beposen« kannst. M4 Animationen von Robin Rhode White Walls In einer Animation wechselt Robin Rhode begleitet von rhythmischer Musik die Reifen eines gezeichneten Autos. Hierbei hebt er das Auto mit leichter Hand einfach hoch, um die Reifen zu wechseln. Harvest In einer surrealen Animation streut Robin Rhode zu hypnotischer Musik gezeichnete Samen und begießt diese dann mit einer echten Gieskanne. Die Samen sprießen und es entsteht eine gezeichnete Wiese. Diese mäht Robin Rhode, über den abgemähten Pflanzen wächst ein Bett, in welches sich Robin Rhode hineinlegt. M5 Detaillierter Aufbau der Stunde für theaterpraktische Arbeit 5 In einer Reihe mit dem Rücken zum Publikum stehend, bekommt die Hälfte der Gruppe Begriffe zugerufen, welche jeder Einzelne per Mimik und Gestik spontan umsetzt, indem er sich umdreht und in ein Standbild übergeht. 6 Durch den Raum gehend nähert man sich einander in der Gangart an und verwandelt sich in die jeweiligen Figuren, welche die Bildmotive zuvor nahe gelegt haben: in einen Fußballer, einen Kiffer, einen Boxer, einen Playstation-Nerd, einen Urlauber … Die Schüler bekommen die Aufgabenstellung, die Bewegungen in Zeitlupe zu ertesten sowie in Posen zu gehen, die diese Figuren charakterisieren. Eine weitere Aufgabenstellung besteht darin, Bewegungen und Posen zu finden für das »Vor« der jeweiligen Wandaktion und jeweils für das »Danach«. Wobei die Wandaktion die jeweilige Figur verändern soll: Ein Sportler mit Lampenfieber verwandelt sich z.B. in einen Sieger, ein Kiffer auf Entzug verwandelt sich in einen im Rausch, etc. – Eine Annäherung an Figuren wird ermöglicht. 7 Die Gruppe wird in zwei Gruppen geteilt: Die eine Hälfte guckt zu, die andere performt; die einzelnen Posen und Bewegungsarten werden gegenseitig vorgeführt. M6 M7 Graffiti-Workshop Das Video ist unter folgendem Link einsehbar: http://www.goldmic.com/video/graffiti-workshop/6411 Anhand dieses Videos lassen sich grundlegende Sprühtechniken aufzeigen: · Gemeinschaftliches Arbeiten als gemeinsames und abgesprochenes Nebeneinander. · Sprühen bedarf des Mutes und des Schwungs. · Wenn Fehler gemacht werden, können sie jederzeit ausgebessert werden, indem einfach immer wieder neu übersprüht wird. Eine mögliche Vorgehensweise: 1 Zuerst eine Skizze in Kleinformat auf dem Papier anfertigen. 2 Die Skizze auf die Wand ins Großformat übertragen (per Bleistift und indem die »Outlines« gesprüht werden). 3 Danach die »Fill-Ins« (die Innenflächen) sprühen. 4 Eventuell müssen die Outlines erneut nachgezogen werden. Auswertungsbogen zum Projekt 1 Zur Aktivierung des Körpers: formales Warm-up (auf der Stelle, wenn es keinen Platz gibt, um sich im Raum zu bewegen): Hüpfen, Schulterkreisen, Armkreisen, Kicks Was ist Dir bei der Auseinandersetzung mit Bildern aufgefallen? Was ist ein Bild? 2 Um Gemeinsamkeit herzustellen: gemeinsames Singen mit Bewegungen, die das Lied unterstützen Was ermöglichen Bilder demjenigen, der sie macht? 3 Herstellung von Präsenz/Erzeugung von Aufmerksamkeit: Klatschkreis: Im Kreis wird ein Klatscher immer im Takt weitergegeben oder aber geblockt oder zurückgegeben. Wer einen Fehler macht, muss den Kreis verlassen. Was hat Dir an dem Projekt gefallen? 4 Scharade spielen: In zwei Gruppen werden Begriffe für einzelne Personen der Gegenpartei ausgedacht, diese müssen die einzelnen Personen für ihre Gruppe vormachen, welche versucht, die Begriffe zu erraten. Punkte werden gesammelt. Was denkst Du über Kunst? Was ermöglichen Bilder demjenigen, der sie anguckt? Was hat Dir nicht gefallen? Was hat die Auseinandersetzung mit Bildern in Dir ausgelöst? (z.B. Erinnerungen, Ideen, Frustration, Ablenkung, Abneigung …?) Wir kommen gerne vorbei, um Dich zu beraten! Hat sich etwas verändert durch das Projekt? Zudem ist es unbedingt notwendig, beim Sprühen unterschiedliche »Caps« (Sprühaufsätze) zu benutzen: »Fatcaps« verteilen die Farbe großflächig, »Skinnys« ermöglichen das feinere Sprühen von Linien. Da die Caps schnell verstopfen, ist es sinnvoll, gleich eine ganze Handvoll der billigen Aufsätze zu kaufen. Gummihandschuhe machen die Arbeit angenehmer. M8 Aufgabenstellung »Morgens klingelt bei Dir das Telefon, Gott ist dran und sagt, dass heute Dein letzter Tag sei. Du fragst, kann man da nicht was machen? Gott sagt, sorry, aber es bleibt leider dabei. Aber wenn du irgendwelche Wünsche für heute hast, sag einfach Bescheid, ich erfülle die dann … Wie sieht also dieser Tag aus? Beschreibe ihn.« Sandra Hampe, Lisa Seebach Aktiver Umgang mit passivem Medienkonsum in der 6. Klasse einer Förderschule Wer bestimmt hier wen? Die gegenseitige Beeinflussung von realer und medialer Wirklichkeit Aus Tönen werden Erlebnisse Foto: Alexandra Grieß Das in den frühen siebziger Jahren noch überschaubare Medienangebot, eine Welt der klassischen Spielfilme und TV-Serien wie »Fury« und »Bonanza«, war prägend für die Identität nahezu einer ganzen Generation, die als erste von Anfang an mit dem Fernseher aufwuchs, eine Generation, der auch der Videokünstler Bjørn Melhus angehört. Seine persönlichen Fernseherfahrungen und Erinnerungen fließen direkt in seine Arbeit ein und werden zu etwas Neuem verarbeitet. Er konstruiert Geschichten, in denen er stets alle Charaktere selbst darstellt. Mit einem für ihn typischen ironischen Unterton reflektiert er so die Identität in einer massenmedial geprägten Zeit, auf der Suche nach der Definition des Ichs vor dem Hintergrund der Frage nach seiner Beeinflussbarkeit und Neukonstruktion unter den medialen Bedingungen. 38 / 39 kiss Sandra Hampe, Lisa Seebach / Bjørn Melhus Betongänge in der Kunstakademie Kassel, mit dem Fahrstuhl in das Atelier Berlin Mitte »Die jeweilige Stimme bestimmt das Leben, die Artikulation und Identität.« 1 (Bjørn Melhus) In seinen Filmen, Videos und Installationen bedient sich Bjørn Melhus eines der Populärkultur entlehnten Materialfundus, dem er Originaltöne und -stimmen, die mit seiner eigenen Fernseherinnerung2 in Zusammenhang stehen, entnimmt.3 In einem komplexen Zusammenspiel von Fragmentierung, Überlagerung und Wiederholung dieser Töne wird ein neuer Sinnzusammenhang generiert. Die dadurch entstehende rhythmische Toncollage läuft dabei oft ins Absurde und scheinbar inhaltlich Leere. Durch ständige Wiederholung banaler Sätze wie »Ich rasiere mich«4 verlieren die Worte ihre Bedeutung, scheinen auf sich und ihr Medium zurückgeworfen und lassen die Charaktere innerhalb der Narration stetig um sich selbst kreisen. »Je est un autre.« (Rimbaud) – männlich oder weiblich, Schlumpf, Playmobilmännchen oder Cowboy.« 5 Bjørn Melhus, des Öfteren auch in multipler Ausführung anzutreffen, gibt vor der Kamera den Stimmen neue Körper und Kontexte. Keine Verwandlung ist unmöglich: Lippenstift wird aufgelegt, Verkleidungen werden angepasst, Haare gefärbt, wachsen gelassen oder inklusive der Gesichtsbehaarung abrasiert. Wie in einem fantasievollen Rollenspiel entwickelt er seine eigenen hybriden Bildwelten und schafft neue Existenzen, deren Sprache, Mimik und Gestik aus den Identifikationsangeboten der Massenmedien stammen. Durch diese Arbeitsweise legt er Verführung und Fremdbestimmung unserer medialisierten Welt offen – ein Appell an die Rezipienten, sich selbstbestimmt und reflektiert mit medialen Einflüssen auseinanderzusetzen? 1 2 3 4 5 6 Herzogenrath, Wulf: »›Das scheinbar Leichte und Unterhaltsame ist ein Trojanisches Pferd.‹ Bjørn Melhus im Gespräch mit Wulf Herzogenrath«, in: Herzogenrath, Wulf, Buschhoff, Anne (Hg.): Bjørn Melhus, Bremen 2002, S. 15. Wie beispielsweise die Stimmen von Schauspielerin Judy Garland (»The Wizard of Oz«) oder Sänger Stevie Wonder (»Ain’t No Sunshine«). Dieses Prinzip wird unter anderem im filmischen Kontext als »Found Footage« bezeichnet. Aus: »Das Zauberglas« (»The Magic Glass«), 1991, 6 min. Diese verschiedenen Rollen hat Melhus beispielsweise eingenommen in seinen Filmen »Das Zauberglas«; »Happy Rebirth«, 2004, 1’30 min.; »No Sunshine«, 1997, 6 min.; »Silver City«, 1999, 7 min. Wir danken Bjørn Melhus an dieser Stelle für die inspirierenden Gespräche über Kunst, deren Vermittlung und das Leben, die Bereitstellung zentraler Film- und Videoarbeiten und den für alle Beteiligten unvergesslichen Besuch in der Klasse. Die unterschiedlichen Begegnungen mit Bjørn Melhus konkretisierten für uns sowohl die inhaltlichen Hintergründe und Produktionsbedingungen seines Werks als auch sein Verständnis von Vermittlung als Professor der bildenden Kunst für »virtuelle Realitäten« an der Kunstakademie Kassel. In seinem Atelier, das als Aufnahmestudio für Videoproduktionen fungiert, sind Requisiten seiner Videos und Filme verstreut. An zwei großen Schreibtischen wird gearbeitet, nur das provisorische Bett auf Rollen lässt vermuten, dass auch ein Bjørn Melhus zwischendurch ruhen muss. Die Kirschblüte habe er dieses Jahr verpasst, sagt er bedauernd. Während unseres Gesprächs in Berlin surren die Computer und übertragen die Daten der Videoinstallation »Deadly Storms« nach Moskau. Die Timeline des in dem Videoschnittprogramm Final Cut geöffneten Projektes »Deadly Storms« lässt auf ein technisch komplexes Gebilde schließen. An dieser Arbeit verdeutlicht uns Bjørn Melhus beispielhaft sein konkretes Vorgehen von der Idee und dem in der Populärkultur gefundenen Tonmaterial ausgehend, über dessen Collagierung, hin zu den darauf folgenden Videoaufnahmen und ersten Entwürfen für 3D-Animationen bis zur exakten Planung der räumlichen Anordnung der Videoinstallation im spezifischen Ausstellungskontext. Der Einblick in den Entstehungsprozess, der »Blick hinter die Kulissen«, bildet damit eine spannende Ergänzung zur anschließenden Auseinandersetzung mit Literatur, Filmen und Videos und bietet uns die Möglichkeit eines tieferen Zugangs zu Melhus’ Werk. Durch seine unkomplizierte, kommunikative Art finden wir uns in kürzester Zeit inmitten von intensiven Gesprächen, die sich sowohl mit den Inhalten seiner Arbeiten, möglichen Vermittlungsstrategien seines Werkes in der Schule als auch mit unseren eigenen künstlerischen Ansätzen beschäftigen. Sandra Hampe und Lisa Seebach im Gespräch mit Bjørn Melhus Fotos auf den folgenden Seiten: Alexandra Grieß Gemeinsam wollen wir die Schwierigkeit meistern, die Vermittlung von Bjørn Melhus’ vielschichtigem Werk an die Lebenswelten und Möglichkeiten der Schüler anzupassen. Der entscheidende Impuls zu unserem Vermittlungskonzept geht dabei aus dem für Melhus charakteristischen Prinzip hervor, aus bereits bestehenden, der Medienwelt entlehnten Tönen, bewegte Bilder zu schaffen. Das Online-Portal YouTube spielt dabei eine zentrale Rolle. Nicht nur der Künstler selbst lässt sich durch zufällig dort gefundene oder gezielt gesuchte Clips inspirieren und nutzt es als Ressource für seine Arbeiten. Auch die Schülerinnen und Schüler kennen sich zum größten Teil mit der Oberfläche aus, nutzen YouTube im Alltag jedoch lediglich im konsumierenden Unterhaltungs-Kontext. Über das Medium lassen sich sowohl aktuell aufgezeichnete Fernsehsendungen ansehen als auch jegliche Art von »privaten« Home Videos. Repräsentativ für das World Wide Web sind nicht nur Clips jeglicher Nationalität abrufbar, sondern vor allem auch Aufzeichnungen aus der US-amerikanischen Medienwelt, deren Prinzipien und Strategien zunehmend in unserer medialen Umgebung vertreten sind. Mit dem Phänomen dieser Strategien und Mechanismen beschäftigt sich Bjørn Melhus in seinen Arbeiten. Das Projekt der Vermittlung ist somit eng mit den Inhalten von Melhus’ Werk verbunden und umfasst sowohl das Erkennen der eigenen Bedingtheit durch die Medienwelt als auch den Übergang von dieser bewussten Rezeption hin zu einem eigenverantwortlichen Umgang mit Medien.6 40 / 41 kiss Sandra Hampe, Lisa Seebach / Bjørn Melhus Vermittlung in der Schule Assoziationsbilder Früher waren es gemütliche Fernsehabende mit Freunden und Chipskrümeln auf dem Sofa, heutzutage bestimmen außerdem Videofunktionen von Handys, das Onlineportal YouTube und die Musiksender MTV und VIVA das mediale Umfeld von Jugendlichen. Bewegte Bilder bestimmen maßgeblich den Alltag und damit die Sozialisation der gegenwärtigen Schülerschaft. Die vermeintlichen Wirklichkeiten, an denen sie ihre Handlungen orientieren und mit den Protagonisten von Serie zu Serie »ihre« Erfahrungen sammeln, sind medial generierte, also von Medienkonzernen konstruierte virtuelle ScheinWirklichkeiten. Diese werden oft passiv konsumiert und nicht angemessen kritisch rezipiert. Im Alltag ziehen die Schüler und Schülerinnen die Videofunktionen der Handys wegen ihrer geringen Gerätegröße, der ständigen Verfügbarkeit und der leichten Handhabung den traditionellen Videokameras vor. Die Handys werden zu Datenträgern, mit denen Videos gedreht, per Bluetooth ausgetauscht und aus dem Internet heruntergeladen werden können. Damit steht auch das Onlineportal YouTube in Verbindung, welches dazu dient, Videos (gleichgültig ob diese von Privatpersonen selbst aufgenommen wurden oder ob es sich um aufgezeichnete Fernsehsendungen handelt) der Öffentlichkeit zugänglich und nach Belieben im Internet konsumierbar zu machen. MTV und VIVA, gefolgt von Daily Soaps, vervollständigen den Videokonsum im Schüleralltag. Durch die tägliche Nutzung der Medien wird ein erhebliches Maß an Zeit mit der gewohnheitsmäßigen, passiven Rezeption dieser Formate verbracht. Nach Produktionsbedingungen und Rezeptionsmöglichkeiten wird dabei in der Regel nicht gefragt. In unserem Projekt in der 6. Klasse greifen wir diese Verhaltensweisen auf, um im Ausgang von diesen Bedingungen eine Befragung von Medienwirklichkeiten zu initiieren. Im Zuge ästhetischer Prozesse soll einerseits der aktive Umgang mit der Technik der Videokamera erlernt werden. Die Fähigkeit zur selbstständigen Handlung soll darüber hinaus zu einem »Begreifen« der Kamera als Medium hinführen. Dieses Be- Bjørn Melhus im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern der 6. Klasse Soziale Synergien greifen beinhaltet das Wahrnehmen medialer Wirkungsmechanismen und die kritische Reflexion von medial konstruierten (Schein-)Realitäten – insbesondere im Hinblick auf Identitätsbildungsprozesse. Die Schülerinnen und Schüler sollen zu einem sensibleren, selbstverantworteten und kompetenten Umgang mit Medien befähigt werden. Konkret sollen die Schülerinnen und Schüler zu einem selbstständig experimentierenden Umgang mit den verschiedenen Formaten des Mediums Video angeregt werden. Durch die Erfahrung, das neu erworbene technische Know-How bei der Selbst-Inszenierung vor der Kamera anwenden zu können, wächst das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit und Kompetenz. Zudem stärken die sozialen Prozesse bei der ästhetisch-experimentierenden Projektarbeit den Gruppenzusammenhalt in der Klasse. Die Schüler lernen, ihre Ideen und Auffassungen in die Gruppe einzubringen und diese in der Diskussion sowohl zu verteidigen als auch Kompromisse einzugehen, um den gemeinsamen Arbeitsprozess weiterzubringen. 42 / 43 kiss Sandra Hampe, Lisa Seebach / Bjørn Melhus Handicap als Handicap? Besonderheit der Projektarbeit an der Förderschule Mein Freund die Flimmerkiste, technisches Know-How und Tagebuch in neuem Format Zum Ablauf des Projekts Verschiedene Formen von Beeinträchtigungen können sich negativ auf aktive Handlungsprozesse auswirken, da sie den Aktionsradius und somit bestimmte Möglichkeiten von Erfahrungen einschränken können. Zudem ist festzustellen, dass bei Schülern mit verringerten motorischen Erfahrungsmöglichkeiten der Medienkonsum teilweise als Ersatz für reale Erfahrungen fungiert. Daher ist es in diesem Fall besonders wichtig, ausgehend von der alltäglichen Lebenswelt der Schüler die Kompetenz zu vermitteln, die Funktionsweisen der Medien analysieren und deren Inhalte kritisieren und einordnen zu können. Auch der Ich-Stärkung kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Es soll erreicht werden, dass die Schülerinnen und Schüler sich trauen, ihre Ideen selbstbewusst in die Gruppe einzubringen, dass sie lernen, sich selbst zu inszenieren und als Experten eigenverantwortlich mit der Technik umzugehen. Vermittlung als Experiment Wir wählen für die Arbeit mit den Schülern eine Projektform, die den Anspruch erfüllt, einen orientierenden Rahmen zu bieten, der dennoch Freiraum für die Selbstbestimmung und Selbstorganisation der Schüler bietet. Wir möchten den Schülerinnen und Schülern sowohl die Möglichkeit von Erfahrungen in ästhetischen Prozessen (im Sinne Pierangelo Masets7) bieten als auch diese Erfahrungen durch die Schaf fung von spezifischen Rahmenbedingungen fördern. Das Experiment als offene Form, die auch das Scheitern als eine Lernform beinhaltet, hat dabei für uns einen großen Stellenwert. Diese Form der Kunstvermittlung dient dazu, sich ästhetisch-forschend Zugänge zu bestimmten Ebenen der künstlerischen Praxis zu erschließen, um auf je unterschiedliche Weise zu Ansätzen des Verstehens zu gelangen. »Dann haben wir ein Set aufgebaut und es hat Spaß gemacht.« (Anton, Videotagebuch) Auch weiterführende Experimente mit Video und Audio ermöglichen einen tieferen Einblick in den technischen Entstehungsprozess von Melhus’ Werk und bieten den Schülern eine Erweiterung ihres bereits erworbenen Wissens. Sie per fektionieren ihre Fähigkeiten beim Aufbau eines Videosets und der Bedienung der Videokamera. Zudem werden sie im Zuge ihres eigenen Handelns auf technische Charakteristika und Feinheiten bei der Produktion aufmerksam, die sie in einer anschließenden Besprechung von ausgewählten Videoarbeiten als Experten erkennen können. Gespräche und Diskussionen sowie das von mehreren Schülerinnen und Schülern täglich geführte Videotagebuch dienen der Reflexion und Festigung dieser Erfahrungen. Als zweiköpfiges Team haben wir die Möglichkeit, offene Projektformen gleichzeitig in unterschiedlichen Rollen zu begleiten. Zugleich können wir die Vermittlungsarbeit durch die Bildung von Kleingruppen differenzierter und intensiver gestalten. »Das ist halt anders als mit normalen Bildern und normalen Wasserfarben.« (Egzon) Ein Projekt zu Videokunst in einer 6. Klasse durchzuführen kann heißen, die bisherigen Vorstellungen der Schüler von Kunst durch ein für sie im künstlerischen Kontext bisher unbekanntes Ausdrucksmedium zu erweitern. Unser Ziel ist es, anhand der Arbeiten von Bjørn Melhus eine altersgerechte Annäherung an die Thematik der Rezeption medialer Wirklichkeitskonstruktionen und Bedingungen zu bieten. Dabei konzentrieren wir uns darauf, mit den Schülerinnen und Schülern in Form von Experimenten (nach dem Arbeitsprinzip von Bjørn Melhus vorgehend) zu einem in den Medien gefundenen Ton Videobilder entstehen zu lassen. Um einen Überblick über das Fernsehverhalten zu erhalten, füllen alle Schülerinnen und Schüler am Beginn des Projektes ein Arbeitsblatt aus, welches ihren persönlichen »Fernsehstundenplan« dokumentiert. [M1] Durch das Aufschreiben ihrer Lieblingsfilme und -serien können sie sich der Zeit bewusst werden, die sie pro Tag mit der Unterhaltung vor dem Fernseher verbringen. Dieser »Fernsehstundenplan« dient auch den Lehrenden als Grundlage für die Wahl der Tonfragmente aus den Lieblingsserien der Schüler, mit denen im weiteren Verlauf gearbeitet werden soll. Außerdem hilft er einzuordnen, welche Anknüpfungspunkte aus dem Alltag der Schüler in das Projekt aufgenommen werden können. In einer Gesprächsrunde stellen sich die Schüler mit eigenem Namen und der Nennung ihrer Lieblingssendung sowie ihrer Lieblingsfernsehfigur vor. Es ist beabsichtigt, dass sie dabei reflektieren, mit welchen virtuellen Lieblingscharakteren sie sich identifizieren und warum. Die Fernsehstundenpläne werden für alle Schüler sichtbar in der Klasse aufgehängt, so dass der Ausgangspunkt der eigenen Fernseher fahrungen im Verlauf des Projekts präsent bleibt. 7 Vgl. Maset, Pierangelo: Praxis, Kunst Pädagogik. Ästhetische Operationen in der Kunstpädagogik, Lüneburg 2001. Die Schüler sollen befähigt werden, sowohl die Videokamera in ihren Funktionen zu bedienen als auch den Aufbau eines Sets, bestehend aus Kamera, Stativ, Licht und Kontrollmonitor, und die damit verbundenen Handlungsabfolgen nachzuvollziehen, so dass sie in den nächsten Tagen in der Lage sind, in selbstständiger Teamarbeit alles zum Videodreh Benötigte aufzubauen. Dazu findet eine kurze Einführung in die Videotechnik und den Aufbau eines Videosets statt. Die Bedienung der Videokamera, d.h. das Einlegen der Kassette, verschiedene Kamerafunktionen und -einstellungen werden an zwei Gruppentischen besprochen und ausprobiert. Die Videosets jeder Gruppe werden mithilfe des Arbeitsblattes [M2] aufgebaut, einzelne Komponenten schriftlich benannt. Da das technische Vor wissen sehr unterschiedlich sein kann, werden die Erfahrungen der Schüler im filmischen oder dem verwandten fotografischen Bereich durch gezielte Fragen in den Prozess der Erkenntnisgewinnung miteinbezogen. Des Weiteren ist es uns wichtig, dass sich die Schüler so weit es geht untereinander helfen, bevor sie uns ansprechen. 44 / 45 kiss Sandra Hampe, Lisa Seebach / Bjørn Melhus »Heute fand ich es gut, dass wir so viel mit der Videokamera machen durften …« (Alex, Videotagebuch) »Das ist halt mein erstes Videotagebuch … Was soll ich denn sagen?« (Jan, Videotagebuch) Tonfragmente werden zu Videogeschichten »Wir drehen gerade so Videos, da machen wir Playback.« (Jan, Videotagebuch) Zum Erproben der gelernten Technik und zur Förderung der sozialen Bindungen in der Gruppe stellen sich die Schülerinnen und Schüler der jeweils anderen Gruppe mit filmischen Mitteln vor. Wie sie diese Aufgabe lösen, steht ihnen frei. So soll die Chance erhöht werden, dass in den Gruppen unterschiedliche Formen, Kameraeinstellungen oder Sprachen ausprobiert werden. Mit der Einführung eines Videotagebuchs soll den Schülern nach jedem Projekttag die Möglichkeit gegeben werden, Reflexionsprozesse festzuhalten und sich an bereits praktizierte Handlungsabläufe zu erinnern, die durch die Wiederholung gefestigt werden können. Außerdem wird hier Raum geboten, eigene Erfahrungen im Umgang mit der Kamera zu machen und die Selbstdarstellung und eigene Wirkung gleichzeitig im umgeklappten Display wie in einem Spiegel zu beobachten. Das »Verfassen« des Videotagebuchs sollte deshalb in einem geschlossenen, leeren und möglichst leisen Raum stattfinden, so dass die Schüler unbeobachtet Ruhe finden können, um über den Tag nachzudenken. Anhand von Beispielen gleichaltriger Jugendlicher, die bei YouTube herausgesucht wurden, wird das Format des Videotagebuchs im Unterricht vorgestellt. Jede Gruppe bekommt für die Arbeit einen CDPlayer mit einer CD, die mehrere Tonfragmente als einzeln abspielbare Tracks enthält. Diese Tonsequenzen sind zurückzuführen auf die Lieblingsserien der genannten »Fernsehstundenpläne« und können von den Schülerinnen und Schülern teils eindeutig, teils überhaupt nicht erkannt werden. Die Aufgabe besteht darin, dass jede Gruppe versuchen soll, sich zu den einzelnen Tracks kleine Szenen auszudenken. Von dem vorgespielten Ton ausgehend soll ein Video entwickelt werden, das unter den vor Ort gegebenen Bedingungen, also minimalistisch, realisiert werden soll. »Gestern haben wir einen Film über ein Handy gedreht und dann noch einen über ›Deutschland sucht den Superstar‹ und dann noch einen Film über einen Einbrecher und die Polizei …« (Egzon, Videotagebuch) »Was genau findet in der Szene statt? Wo findet es statt? Welche Figuren kommen vor? Welche Requisiten brauchen wir?« Diese schriftlich zu beantwortenden Fragen dienen dazu, die Gedanken der Schüler zu strukturieren, damit vor dem Dreh alles Nötige geplant werden kann. Nach der ersten Probe finden sich meist noch Verbesserungsvorschläge und dann heißt es Generalprobe und ›ACTION‹. Die Schüler arbeiten in dieser Projektphase selbstständig in den beiden eigenständig gebildeten Gruppen, wir fungieren als zurückhaltende Begleiterinnen. »Ein paar Aufnahmen sind nicht so geworden, wie wir sie geplant haben, weil wir als Gruppe so viel gelacht haben.« (Anton, Videotagebuch) Exkurs 1: Aus Tönen von YouTube werden Geschichten auf Papier Die Schüler durchstöbern das Internetportal YouTube nach für sie interessanten Tonfragmenten und nehmen mit der Videokamera ein kurzes Tonfragment auf, welches auch losgelöst von den Videobildern Sinn ergeben sollte. Jeder Schüler/ jede Schülerin schreibt/malt nach dem wiederholten Vorspielen des aufgenommenen Tons eine Geschichte dazu auf. Die schriftliche Fixierung soll dazu dienen, die Abstraktionsfähigkeit herauszufordern, da ja noch vor kurzem die »passenden« Bilder gleichzeitig mit dem Ton konsumiert wurden. Dieser Exkurs dient hauptsächlich der Erweiterung der vorangegangenen Projek tarbeit. Über die Reflexion von reproduzierten Handlungsund Situationsinhalten sollen die Schüler zu einem vom Ursprungsbild gelösten Umgang mit den Tonfragmenten gelangen. 46 / 47 kiss Sandra Hampe, Lisa Seebach / Bjørn Melhus »Ist das ein Zauberglas?« 8 »Heute Morgen haben wir erstmal besprochen, was Videokunst eigentlich ist […] das ist halt anders als so richtige Kunst, anders als Kunstmalerei wie mit Bildern, sondern das ist mit Videokamera.« (Egzon, Videotagebuch) Exkurs 2: Technische Finessen Wie ist es möglich, dass Bjørn Melhus in dem Video »Das Zauberglas« sowohl vor dem Fernseher als auch im Fernseher zu sehen ist und sozusagen mit sich selbst spricht? Das bleibt kein Geheimnis für die Schüler, die mit den technischen Möglichkeiten nun hinreichend vertraut sind, um selbst herauszufinden, wie das funktionieren könnte. Die theoretisch möglichen Erläuterungen hierzu werden von den Schülerinnen und Schülern mit der Videokamera experimentell erprobt. Neben dem hinterfragenden Verstehen der technischen Gegebenheiten besteht für den Schüler/die Schülerin zugleich die Möglichkeit, sich selbst bewusst und mit Abstand im Bildschirm wahrzunehmen. Im Gegensatz zu einer spiegelartigen Echtzeitübertragung des Bildes kann man sich und seine Körperbewegungen außerhalb dessen, was man gerade tut, betrachten, man kommuniziert mit seinem vergangenen Ich, d.h. mit seinen vergangenen Ichs – es kommt ganz darauf an, wie viele Ichs gerade »da« sind! Bevor wir Videos von Bjørn Melhus zeigen, führen wir zum Einstieg eine kleine Umfrage mit der ganzen Klasse am Gruppentisch zum Thema Kunst und Videokunst durch. Wir besprechen, welche Künstlerinnen und Künstler den Schülerinnen und Schülern bekannt sind, an welchen Orten und in welchen Situationen man Kunst begegnen kann, was Kunst sein kann, was der Unterschied zwischen einem Videobild und einem mit Ölfarbe gemalten Bild ist, und viele weitere Fragen, die von den Schülern selbst gestellt werden. »Ich fand alles eigentlich sehr schön, gestern und heute. Außer das Video ›Das Zauberglas‹, das war ein bisschen verrückt, ansonsten fand ich […] eigentlich alles toll.« (Florian, Videotagebuch) Gemeinsam werden die Arbeiten »Das Zauberglas«9 [B1], »No Sunshine«10 [B2] und »Happy Rebirth«11 [B3] von Bjørn Melhus angesehen und besprochen. Die Schülerinnen und Schüler stellen im Gespräch die besonderen, ihnen durch ihren eigenen Umgang mit dem Medium Video vertraut gewordenen Merkmale heraus: das Auftauchen von Elementen wie Verdopplung, Verkleidung, Wiederholungen der Tonfrequenzen, Playback etc. Offen bleibende Fragen, die sich auf die Arbeiten und auf die Künstlerpersönlichkeit beziehen, werden von den Schülern schriftlich festgehalten, damit sie Bjørn Melhus am folgenden Tag gestellt werden können. 8 9 10 11 Zitat aus »Das Zauberglas«. »Das Zauberglas«, 1991, 6 min. »No Sunshine«, 1997, 6 min. »Happy Rebirth«, 2004, 1’30 min. »Bjørn« heißt »Bär« auf Norwegisch »Der kommt dann ja morgen und wir gucken unsere Aufnahmen dann an und ich würde euch viel Spaß wünschen!« (Alex, Videotagebuch) Am Tag der Präsentation der in den beiden Gruppen entstandenen Videos ist auch Bjørn Melhus zu Gast. Nachdem er sich der Klasse kurz vorgestellt hat, nutzen wir die Möglichkeit, ihm als Experten unsere Videos zu präsentieren und von der Projektwoche zu erzählen. »Am Anfang des Projektes haben wir uns einen Fernsehstundenplan aufgeschrieben. Dann haben wir ein Stativ mit einer Kamera aufgebaut. Dann haben wir uns einen Gruppennamen überlegt. Dann haben wir ein Videotagebuch gedreht. Das hat uns sehr viel Spaß gemacht. Und an den anderen Tagen haben wir mehr Videos gedreht. Z.B. ein Suppenvideo, ein Fußballspiel, einen Überfall, ein kaputtes Handy, ein DSDS-Video, wir haben ein Videotagebuch gedreht. Heute haben wir uns über Künstler unterhalten, was für Kunst die machen. Dann haben wir uns Filme von Bjørn Melhus angeguckt. Diese Filme waren komisch, weil der Titel nicht passte. Der Künstler hat sich immer wiederholt. Aber das war halt ein bisschen anders, die Kunst, die Bjørn Melhus macht, ist aber sehr cool und die Kunst von Björn Melhus ist ganz anders als normale Kunst. Seine Kunst ist sehr interessant und sehr cool. Bei dieser Kunst kann man sehr viel lernen.« (Egzon) Die Schüler stellen Bjørn Melhus Fragen, die im Verlauf des Projektes aufgekommen sind und sich sowohl spezifisch auf seine künstlerischen Arbeiten als auch auf die Technik und Produktionsbedingungen der Videos beziehen. »Wie kamen Sie auf die Idee, Künstler zu sein?« »Wie viele Leute arbeiten mit Ihnen an einem Video?« »Wie lange brauchen Sie, um ein Video fertig zu machen?« »Haben Sie eine Profi-Videoausrüstung?« »Wo stellen Sie überall aus?« »Warum haben Ihre Filme keine spanischen Untertitel, die verstehen die ja dann gar nicht!« Auch wollen die Kinder viel über den Künstler als Person erfahren. Wie alt er ist, ob er Kinder hat und ob er mit einem Privatjet zur Schule gekommen ist. Bjørn Melhus beantwortet bereitwillig alles, erklärt, dass »Bjørn« in seinem Herkunftsland Norwegen »Bär« heißt, dass er kein besonders großer Fußballfan ist und wo Honolulu liegt. Und verrät, dass auch er sich ohne Fernsehen manchmal einsam fühlen würde … Dank Ein großer Dank geht an Nadine Beilfuß, Esther Irle und Tina Ritterbecks, sowie die »WBS zur Verlach«. Außerdem möchte ich Notburga Karl und Prof. Dr. Petra Kathke für ihre »Verführungskünste« danken. kiss Sandra Hampe, Lisa Seebach / Unterrichtsmaterialien 48 / 49 Bjørn Melhus Einzelausstellungen Einzelausstellungen Geboren in Kirchheim/Teck Adolf-Lazi-Schule Stuttgart (Berufsfachschule für Fotografie und Audiovision) 1988–96 Studium der Freien Kunst an der HBK Braunschweig (Film/Video) 1996 EMARE-Programm Budapest (European Media Artists in Residence Exchange) 1996/97 Meisterschüler bei Prof. Birgit Hein, HBK Braunschweig 1997/98 DAAD-Jahresstipendium in Los Angeles, California Institute of the Arts 1998 Förderstipendium des Vereinigten Kloster & Studienfonds Braunschweig 1999 Gastlehrauftrag für den Bereich Video an der BauhausUniversität Weimar 1999–2001 Preis des Kunstvereins Hannover (Aufenthaltsstipendium) 2001/02 New York Stipendium des Landes Niedersachsen am ISCP (International Studio and Curatorial Program) Seit 2003 Professur an der Kunsthochschule Kassel (Bildende Kunst/ Virtuelle Realitäten) 2001 2006 1966 1985–87 2002 2003 Bjørn Melhus: Werke (Auswahl) 1991 1994 1995 1997 1997 1998 2001 2003 Das Zauberglas, Video, 6 min. Happy Rebirth, Video, 1 min. Weit Weit Weg, 16 mm Film, 39 min. No Sunshine, Video, 6 min. Blue Moon, Video, 6 min. Again and Again, Installation, 6 min. Weeping, Installation, 7 min. Still Men Out There, Installation, 10 min. Auto Center Drive, 16 mm Film, 25 min. 2004 2005 Einzelausstellungen 1999 ich bin du, Skulpturenmuseum Glaskasten, Marl (Katalog) 1999/2000 Galerie Anita Beckers, Frankfurt am Main 2000 again & again, Galerie Birner und Wittmann, Nürnberg Gute Freunde, Schloß Hardenberg, Velbert Gute Freunde, Art Association Wolfenbüttel 2001 Du bist nicht allein/you are not alone, Stadtgalerie Saarbrücken (Katalog) Du bist nicht allein/you are not alone, Kunsthalle Göppingen (Katalog) Primetime, Kunstverein Hannover (Katalog) Sivercity 1+2, Sprengel-Museum, Hannover Bjørn Melhus – Video, Kunsthalle Bremen (Katalog) Early Video Works, Goethe Institute, New York Primetime, Lothringer 13 / halle, München (Katalog) TWINS (with Christoph Girardet), The Garage, Stavanger Sometimes, Roebling Hall, Brooklyn, New York STILL MEN OUT THERE, Galerie Anita Beckers, Frankfurt am Main STILL MEN OUT THERE, Projektraum, Deutscher Künstlerbund, Berlin MediaScope, Museum of Modern Art, New York (Selected Retrospective Screenings) Retrospective, Goethe Institute, Kyoto Retrospective, Arsenal, Berlin The Magic Glass at the Metropolis Cinema, Berlin und Hamburg PRIMETIME, FACT, Liverpool Fighting The Forces Of Evil, Städtische Galerie Wolfsburg Gallery opening from Roebling Hall Gallery in Chelsea, New York Films, Orita. Sinclair Intl Frontroom Gallery, Singapur Galerie Bob van Orsouw, Zürich Bjørn Melhus, Selected Works, Kyoto Art Center, Kyoto Shows Auto Center Drive, CGAC, Santiago de Compostela No Sunshine 2005, Galeria Senda Espai, Barcelona No Sunshine, CAC. Centro de Arte Contemporáneo de Málaga, Málaga eastern_western_park, Spiral Garden, Tokyo BJOERN MELHUS: EASTERN WESTERN PARK, Honolulu Academy of Art, Honolulu 2007 2008 Bjørn Melhus, Viafarini, Mailand Bjørn Melhus, Fondazione Bevilacqua La Masa, Palazzetto Tito Dorsoduro, Venedig Bjørn Melhus, Galerie Anita Beckers, Frankfurt am Main Bjørn Melhus The Castle – The Meadow – The City, Roebling Hall, New York Seven Screens, OSRAM, München Deadly Storms, Gallery Marina Goncharenko, Moskau Captain/Deadly Storms, Denver Art Museum: FUSEBOX, Denver Videostills V1 Bjørn Melhus No Sunshine, 1997, Video, 6 min. loop Literatur Becker, Barbara; Schneider, Irmela (Hg.) Was vom Körper übrig bleibt, Körperlichkeit, Identität, Medien Frankfurt a.M. 2003 Herzogenrath, Wulf; Buschhoff, Anne (Hg.) Bjørn Melhus – Video Bremen 2002 Lukesch, Helmut Das Forschungsfeld »Mediensozialisation« – eine Übersicht In: Roters, Gunnar; Klingler, Walter; Gerhards, Maria (Hg.): Mediensozialisation und Medienverantwortung Baden Baden 1999, S. 59–83 Bjørn Melhus: Still aus: »No Sunshine« (1997), Video, 6 min. loop, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, © Bjørn Melhus/VG Bild-Kunst, Bonn V2 Bjørn Melhus Das Zauberglas (The Magic Glass), 1991, Video, 6 min. Maset, Pierangelo Zwischen Vermittlungskunst und Maschinengefüge: Ästhetische Bildung der Differenz In: Internationale Gesellschaft der Bildenden Künste, IGBK, Bonn; Kettel, Joachim (Hg.): Kunst lehren? Künstlerische Kompetenz und kunstpädagogische Prozesse – Neue subjektorientierte Ansätze in der Kunst und Kunstpädagogik in Deutschland und Europa Stuttgart 1998, S. 196–205 Schulz, Bernd (Hg.) DU BIST NICHT ALLEIN. Bjørn Melhus (Katalog zur Ausstellung Stadtgalerie Saarbrücken in der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Saarbrücken vom 17.02.–25.03.2001) Heidelberg 2001 Turkle, Sherry (1995) Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet Reinbek 1998 Still aus: »Das Zauberglas«/»The Magic Glass« (1991), Video, 6 min., mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, © Bjørn Melhus/VG BildKunst, Bonn 50 / 51 kiss Sandra Hampe, Lisa Seebach / Unterrichtsmaterialien Materialien M2 3 Kameras (eine für jede Gruppe und eine für das Videotagebuch) 3 Stative 2 Scheinwerfer für die Beleuchtung 2 Verlängerungskabel 2 Fernseher 2 CD-Player Arbeitsblatt zum Videosetaufbau Das Videoset Bitte schreibe die Bezeichnungen für die einzelnen Geräte des Sets auf die Linien im Bild und fülle die Lücken in dem Satz unten auf der Seite aus. Wenn das Set aufgebaut ist, lege ich Tonfragmente der Lieblingsserien der Schülerinnen und Schüler aus dem Internet (ca. 4 pro Gruppe) die ..................................... in die ..................................... ein und es geht los! Computerraum mit Internetzugang Einen freien Raum für das Videotagebuch (Im Idealfall hat auch jede Gruppe ihren eigenen Raum.) Papier und Stifte M1 Arbeitsblatt Fernsehstundenplan Fernsehstundenplan von: ..................................... Zeit Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Um wieviel Uhr schaue ich am meisten Fernsehen? ..................................... Meine Lieblings-Serie? ..................................... Meine Lieblings-Figur? ..................................... Freitag Samstag Sonntag Britta Mertens Auf der Suche nach dem perfekten Ort 50 Schüler machen sich ihre Stadt Bereits seit ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Kunstakademie Karlsruhe firmieren die Berliner Künstler Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll als »Dellbrügge & de Moll«. »Dellbrügge & de Moll arbeiten kontextbezogen und medienübergreifend an Schnittstellen von öffentlichen, digitalen und institutionellen Räumen. […] Seit Beginn ihrer Zusammenarbeit 1984 gehört es zu ihrer künstlerischen Praxis, diskursive Plattformen zu schaffen, Printmedien herauszugeben, Videoprogramme oder Ausstellungen zu konzipieren. Sie verstehen sich in der Rolle des Künstlers als ›exemplarisch Kommunizierende‹ und gehen den Möglichkeiten nach, aus dem Raum der Kunst heraus Veränderung zu initiieren.«1 1 Foto: Alexandra Grieß www.workworkwork.de 54 / 55 kiss Britta Mertens / Christiane Dellbrügge, Ralf de Moll Britta Mertens im Gespräch mit Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll in Berlin Fotos auf den Folgeseiten: Alexandra Grieß In ihrem Projekt »Hamburg Ersatz« (1997) geht es beispielsweise um die Möglichkeit der Veränderung und Erweiterung des städtischen Raumes, um Utopien. »Hamburg Ersatz« wurde im Rahmen des Hamburger Programms »Kunst im öffentlichen Raum« entwickelt und ist im Internet unter www.hamburg-ersatz.de zu betrachten. Der Austausch mit Dellbrügge & de Moll Die zunächst im Hamburger Bahnhof in Berlin realisierte Arbeit »Farbcodierte Kleidung für Museumspersonal« (2003) reflektiert das Museum als Institution des Kunstbetriebes: An den Farben der Uniform des Museumspersonals können die Museumsbesucher erkennen, welche Sprachen die Museumsmitarbeiter sprechen, ob sie Kunst studiert haben oder wie sie sich gegenüber Besuchern verhalten. Zum Beispiel steht die Farbe Schwarz für: »Ich bin Künstler/in« oder Violett für: »Ich spreche Besucher an«. Dellbrügge & de Moll ordnen sich dem Bereich der Kontextkunst zu. In ihren Arbeiten thematisieren sie den Ort und das institutionelle Umfeld der Kunst. Diese Kontexte werden für Dellbrügge & de Moll zum Auslöser für ihre Projekte, die Reflexion des Kunstbetriebes wird so zu einem zentralen Bestandteil ihrer Praxis. Ihre häufig interdisziplinären ortsspezifischen Vorgehensweisen zielen auf eine Neubestimmung der künstlerischen Produktion. Ihr jüngstes Projekt aus dem Jahr 2008 geht vom Ort Schule aus. Dieses Projekt war ein wichtiger Impuls für meinen Unterrichtsentwurf. Der Titel »Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen« [B1] lässt sich im Sinne einer Weiterentwicklung des erweiterten Kunstbegriffs von Beuys verstehen. Beuys’ Diktum »Jeder Mensch ein Künstler« zielt ja darauf ab, potenziell alle Mitglieder der Gesellschaft in den Prozess der gesellschaftlichen Veränderung einzubeziehen. der die Aussteiger der Stadt ihr eigenes System entwickelt und aus Fundstücken ihre individuellen Häuser errichtet haben. Die Gründung der Freistadt Christiania liegt mittlerweile fast zwei Generationen zurück. Als Entwurf eines »perfekten Ortes« ganz anderer Art wurde der Vergnügungspark Tivoli als Teil der aktuellen Stadtentwicklung zum Gegenstand ihrer Forschung. »Es ist eine 5-Kanal-Videoinstallation für das OSZ Holz technik, Glastechnik, Design und Bautechnik. 40 Schülerinnen und Schüler sprechen darüber, wie sie wohnen und arbeiten wollen, und entwerfen ihre Visionen einer Stadt. Die Videoporträts sind eine Momentaufnahme der Schülergeneration zum Zeitpunkt des Einzugs in das neue Schulgebäude. Wie eine Zeitkapsel konservieren sie politische Mentalitäten und psychische Befindlichkeiten.«2 einzelnen Schülerbeiträgen hergestellt, die bereits bestehende Stadtstrukturen zur Grundlage haben. Das Projekt von Dellbrügge & de Moll nimmt die Annahme ernst, dass Schülerinnen und Schüler potenziell in der Lage sind, durch ihre eigenen Ideen, Gedanken und noch bestehenden Utopien ihre Umwelt zu verändern. Vielleicht haben sie mit ihren Vorstellungen über ihre eigene Zukunft bereits etwas verändert, wenn auch erst im kleinen Kreis oder nur für sich selber. Dellbrügge & de Moll dienen als Katalysatoren, indem sie die Schülerinnen und Schüler bei der Umsetzung ihrer Ideen und Wünsche begleiten und zu potenziellen Veränderungen des Gegebenen anregen. Die Meinung des Einzelnen steht im Vordergrund und findet Platz in der Installation. Es werden neue Bezüge zwischen den Ein weiteres Projekt aus dem Jahre 2006 war für die Konzeption und Orientierung meines Unterrichts von grundlegender Bedeutung: »In quest of the perfect location« – eine Fotodokumentation, die als Buch erschienen ist [B2]. Über einen Zeitraum von zwei Monaten haben Dellbrügge & de Moll zwei Orte in Kopenhagen verglichen, die neben dem alltäglichen Stadtleben eigene, in sich geschlossene Welten bilden. Zum einen zeigen sie Christiania, eine alternative Wohngegend, in Wie kommen Dellbrügge & de Moll zur Entscheidung, bestimmte Orte – in diesem Falle Christiania und Tivoli – zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchung und Dokumentation zu machen? Was macht diese Orte für eine Konstellation und Dokumentation interessant? In einer E-Mail auf diese Fragen antworten mir die beiden, dass sie ein besonderes Interesse haben: · an »Modellen der Wahl« · an »Situationen, in denen eine Entscheidung getroffen wird« · an der» Kompetenz, über den Status Quo hinauszudenken« 2 Ebd. Ein direkter Austausch mit Dellbrügge & de Moll über ihre eigenen Arbeiten, die die Grundlage für meinen Unterrichtsentwurf bildeten, war äußerst fruchtbar: Nicht nur gelang es mir, einen direkteren Einblick in ihre konzeptuelle Vorgehensweise zu bekommen, als dies über Literatur möglich ist. Darüber hinaus wurde mir in unseren Gesprächen deutlich, dass für Dellbrügge & de Moll die Vermittlung ihrer eigenen Arbeiten nicht bloß als äußerliche »Zutat« zum »eigentlichen Werk« hinzukommt, sondern die Vermittlung selbst ein wesentliches Moment ihres künstlerischen Arbeitens bildet. Dies war ein enormer Vorteil im Prozess der Verdichtung meiner ersten Idee zu einem Unterrichtsprojekt. Wir nahmen zunächst eine Ortsbegehung zu ihrem aktuellen Projekt »Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen« vor. Wir besuchten die Marcel-Breuer-Schule, OSZ für Holztechnik, Glastechnik und Design, OSZ Bautechnik II in Berlin, in deren Gartenfoyer die 5-Kanal-Videoinstallation sich mittlerweile befindet. Es waren die ersten Teile der Arbeit zu sehen und wir konnten uns vor Ort mit den Schülerinnen und Schülern über ihre Arbeit auseinandersetzen. Die Grundideen zu dieser Arbeit flossen ebenso in mein Unterrichtskonzept ein wie unser Gespräch über »In quest of the perfect location«, woraus sich der Titel meiner Unterrichtseinheit abgeleitet hat: »Auf der Suche nach dem perfekten Ort«. 56 / 57 kiss Britta Mertens / Christiane Dellbrügge, Ralf de Moll Übersetzung: Die Vermittlung der Arbeitsweise von Dellbrügge & de Moll an einer Grundschule Bei der Konzeption meines Unterrichts ging es mir weniger darum, einzelne Bei der Konzeption meines Unterrichts ging es mir weniger darum, einzelne Arbeiten von Dellbrügge & de Moll mit den Schülerinnen und Schülern zu besprechen. Es ging nicht so sehr um bestimmte Inhalte im Einzelnen, sondern vielmehr darum, die Leitgedanken und vor allem die Strategien des Künstlerduos auf eine Unterrichtseinheit zu übertragen, in der die Kinder im Vordergrund stehen und ihre individuellen Stärken in einen gemeinsamen Arbeitsprozess einfließen lassen können. Es galt also, eine Übersetzung der Strategien von Dellbrügge & de Moll für die Verhältnisse an der Grundschule zu finden. Diese Überlegungen bildeten in Verbindung mit dem Konzept der »Ästhetischen Forschung« von Helga Kämpf-Jansen die Basis der Unterrichtseinheit. So waren die künstlerischen Strategien von Dellbrügge & de Moll der Orientierungsrahmen für das selbstbestimmte Handeln der Schülerinnen und Schüler. Diese forschten, um etwas selbst Entdecktes für andere sichtbar zu machen. 3 Die Schüler sollten sich zunächst mit ihrer Stadt vertraut machen. Dies haben sie anhand einer von mir gestellten Forschungsaufgabe,4 die verschiedene Ebenen berücksichtigte, getan. Auch wenn die Ausgangsfrage von mir gelenkt war, hatten die Schüler genügend Freiraum, um ihre eigenen Ideen einzubringen und so an der Herstellung ihrer »perfekten Orte« zu arbeiten. Schülerinnen und Schüler im Unterricht von Britta Mertens Folgendes sollte durch die Durchführung des Projekts erreicht werden In einem ersten Schritt ging es darum, die Sensibilität der Schülerinnen und Schüler für Situationen, in denen eine Entscheidung getroffen wird, zu schärfen. Es galt, diese Situationen wahrzunehmen und zu beschreiben. über den Status Quo hinauszudenken, die Meinung des Einzelnen zu beachten und das Potenzial der Veränderung zu erkennen. Dabei sollten die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt werden, die Schnittstellen zwischen privaten und öffentlichen bzw. institutionellen Räumen zu lokalisieren und für ein Projekt zu nutzen. Das Projekt von Dellbrügge & de Moll wurde mit Jugendlichen an einem Oberstufenzentrum durchgeführt. Wie lassen sich die dort praktizierten Arbeitsformen, die auf Veränderungen im öffentlichen Raum abzielen, in der Grundschule altersgerecht vermitteln? Kann man mit Kindern im Grundschulalter Fragen, die die Grenzen zwischen dem Einzelnen und dem Sozialen, mithin die Frage nach dem Politischen betreffen, bearbeiten? Die Erprobung, ob die Bearbeitung derartiger Fragen bei einer wesentlich jüngeren Altersgruppe initiiert werden könnte, war die Herausforderung dieser Unterrichtseinheit. Darin bestand das Experiment. Nach der gelungenen Durchführung dieser Einheit lässt sich zeigen, dass auch komplexe Formen zeitgenössischer Kunst nicht aus der Grundschule ferngehalten werden müssen – im Gegenteil: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Umstand, dass die Schüler in diesem Alter noch nicht so stark von einem Wissen darüber geprägt sind, was »Kunst« oder gar »gute Kunst« ist, sehr förderlich sein kann. Dadurch sind sie häufig noch offen für neue, eher ungewöhnliche Sichtweisen. Vor diesem Hintergrund war es durchaus möglich, mit ihnen eine Verständnisbasis für die Vorgehensweise von Dellbrügge & de Moll aufzubauen. Es war von Vorteil, dass die Schüler in dieser Altersgruppe nicht daran zweifeln, ob es sich tatsächlich um Kunst handelt, sondern neugierig sind auf das, was kommt. 3 Im zweiten Schritt sollten Strategien entwickelt werden, die es erlaubten, solche Situationen als Momente möglicher Veränderung aufzufassen. Anders formuliert: Ziel war die Bildung der Kompetenz, 4 Vgl. Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch den Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung, Köln 2000. S.u. im Abschnitt »Vor Ort: Die Durchführung des Projekts im Unterricht«. 58 / 59 kiss Britta Mertens / Christiane Dellbrügge, Ralf de Moll Vor Ort: Die Durchführung des Projekts im Unterricht Schülerinnen und Schüler bauen ihren »perfekten Ort« Zunächst galt es, einen eigenen, direkten Bezug zu den »Orten« herzustellen. Die Schüler gingen in die Stadt, um an folgender Aufgabe zu arbeiten: »Sucht euch euren Lieblingsort in der Stadt. Skizziert ihn kurz (schnelle Zeichnung), schreibt eine Begründung, warum dies euer Lieblingsort ist, und fotografiert ihn.« Hierfür bekamen die Schüler 30 Minuten Zeit, es wurden Gruppen von mindestens drei Schülerinnen und Schülern gebildet. Was heißt in diesem Zusammenhang »Ort«? Schülerinnen und Schüler beim Modellbau und beim Betrachten von Zwischenergebnissen Nach dem französischen Ethnologen und Anthropologen Marc Augé sind Orte nicht einfach »gegeben«, vielmehr gilt es zu differenzieren zwischen dem, was einen Ort ausmacht, und dem, was Augé mit »Nicht-Ort« bezeichnet: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.« 6 Der Unterricht fand an einer mir bereits länger bekannten Schule, der Wilhelm-Busch-Schule in Hilden, statt. Der vertraute Umgang mit den Lehrern und Klassen war für meine Vorbereitung von großem Vorteil. Konkret hatte ich es mit Schülerinnen und Schülern eines ersten und vierten Schuljahres zu tun, die zum Teil gemeinsam unterrichtet wurden. Insgesamt waren es 50 Schülerinnen und Schüler, die sich im Zuge des Projekts auf »die Suche nach dem perfekten Ort« begeben und sich so mit ihrer Stadt vertraut gemacht haben.5 In mehreren Teilschritten kamen die Schüler ihrem »perfekten Ort« näher. Skizzen, Texte und Modelle wurden angefertigt. Auf diesem Weg setzten sich die Schüler imaginierend und reflektierend mit ihrer Stadt auseinander. 5 6 7 An dieser Stelle ein großer Dank an: Esther Irle, Tina Ritterbecks, Nadine Beilfuß und »die WBS zur Verlach«. Augé, Marc (1992): Orte und Nicht-Orte, Frankfurt a.M. 1994, S. 92. Vgl. ebd. Zu Beginn der Unterrichtseinheit zeigte ich den Schülern Ausschnitte aus der aktuellen Videoarbeit von Dellbrügge & de Moll »Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen«. Für den Einstieg war es angebracht, die Arbeitsweise der beiden Künstler auf diese Weise anschaulich zu machen. Alternativ hätten auch Fotos der im Werk agierenden Schüler gezeigt und Ausschnitte der Transkriptionen vorgelesen werden können. [B1– B4] Mit einer kurzen reflektierenden Besprechung der Videoausschnitte fand eine Überleitung zum eigenen Projektvorhaben statt. Die Schüler würden sich ihre Stadt vertraut machen und neue, eigene Orte entwerfen. Die Schüler sollten in den kommenden Stunden ihre Stadt erkunden, bereits bestehende Orte fotografieren, skizzieren und auf dieser Basis ihre »perfekten Orte« entwerfen. Vor diesem Hintergrund ging es nicht darum, etwas Gegebenes durch ein anderes Gegebenes zu ersetzen, sondern im Prozess der Wahl der Orte und in der Diskussion um die Zerstörung und Errichtung von etwas Neuem wurden die »Orte« allererst hergestellt. Mit Augé gesprochen ging es in diesem Projekt um die Umwandlung des StadtRaumes in ein Geflecht aus Orten. Im Unterschied zum bloßen Raum ermöglicht der Ort das Erzählen von Geschichten und spielt damit eine wichtige Rolle in Identitätsbildungsprozessen.7 Die Schüler konnten Abbildungen oder andere Darstellungen der von ihnen ausgewählten Orte gemeinsam sammeln, damit ein breites Spek trum gegeben sein würde und sie sich nicht nur an Gebäuden orientierten. Mögliche Anhaltspunkte für die Auswahl bzw. Identifizierung der Orte konnten sein: Häuser, in denen man sich wohl fühlt, ein Schwimmbad mit Rutsche, dort wo Boden ist, der Himmel, wo man Spaß haben kann, die Berge, die Natur, der Abenteuerspielplatz, das Zuckerwatteland, der Streichelzoo und die Reithalle. Wie die Schüler auf diese Orte kamen bzw. wie das Auffinden der Orte initiiert wurde, wird später erläutert. Die Bearbeitung der Aufgaben erfolgte in einem kleinen Projektbuch, das die Schüler während der gesamten Arbeit mit sich führten und für alle Aufgaben und Ideen nutzen konnten. Zurück am vereinbarten Treffpunkt fand eine kurze Reflexion statt, einzelne Schüler präsentierten ihre Ergebnisse und machten die anderen Schüler auf besondere Orte in der Stadt aufmerksam. Anschließend wurde eine formal ähnliche Aufgabe gestellt – nun sollte allerdings ein Ort gewählt werden, den die Schülerinnen und Schüler von Grund auf verändern würden, um dort ihren »perfekten Ort« entstehen zu lassen. Wieder galt es, den Ort zu dokumentieren. Auch im Anschluss an diese Arbeit fand eine Reflexion statt, bei der erste Diskussionen in der Gruppe über die geplanten »Abrissvorhaben« entstanden. Durch die Einbeziehung ihrer eigenen Empfindungen zu einem Ort war das persönliche Interesse der Schülerinnen und Schüler am Projekt geweckt. Orte bekamen für sie eine Bedeutung und sie waren emotional am Geschehen beteiligt. Als Hausaufgabe haben die Schüler leere Schachteln, Klopapierrollen und Kisten gesammelt und mit zur Schule gebracht. Zur Steigerung der Neugier wurde der Verwendungszweck dieses Materials zunächst nicht erläutert. 60 / 61 kiss Britta Mertens / Christiane Dellbrügge, Ralf de Moll In der folgenden Stunde stellten einige Schüler ihre Ergebnisse vor. Wichtig war dabei die jeweilige Begründung der Wahl des Ortes: So blieb es nicht nur bei einer willkürlichen Nennung und Aufzählung, sondern die Kinder waren gehalten, sich konkrete Gedanken über die von ihnen gewählten Orte zu machen und einen subjektiven Bezug zum Gesehenen herzustellen. Darüber hinaus hatte die Versprachlichung des Gesehenen die wichtige Funktion, der Gefahr des Verharrens in der Identifizierung mit den Bildern vorzubeugen. Im Verlauf der Verbalisierung konnten sich die Kinder vom Gesehenen lösen. So blieb es nicht bei der bloßen Reproduktion der Bilder. Insofern war das Gespräch notwendig für den Übergang in das eigenständige Arbeiten. In der nächsten Stunde erstellten die Kinder Plakate: Zum einen wurden hier die Fotos der Orte, die sie verändern wollten, gezeigt, zum anderen sollte die Begründung für den Wunsch, diese Orte zu zerstören, zur Darstellung kommen. Die Plakate wurden im Flur aufgehängt und alle Schülerinnen und Schüler der Schule hatten im Laufe des Tages Zeit, jeweils mit zwei Stimmen in Form von Klebepunkten anzugeben, welche Orte sie anders gestalten würden. So entschieden nicht nur die zwei unmittelbar mit dem Projekt befassten Klassen darüber, welche Orte verändert werden sollten, sondern die gesamte Schule. Die Abstimmung fungierte als Regulativ: Nicht bloß einige wenige Schüler sollten für eine Veränderung im öffentlichen Raum verantwortlich sein, sondern es sollten nur diejenigen Orte verändert werden, die den meisten Schülerinnen und Schülern nicht mehr gefielen. [M1] Zur Initiierung der Imagination schauten sich die Schülerinnen und Schüler gemeinsam den Anfang (die ersten 35 Minuten) einer Verfilmung von »Alice im Wunderland« an.8 Hier werden viele verschiedene Orte gezeigt, die auf ganz unterschiedliche Weise zugänglich gemacht werden. Es handelt sich nicht um gewöhnliche Orte, sondern um das »Buchhaus« eines Kaninchens, einen Baum, den Wald der »Grinsekatze« oder ähnliche fiktionale Orte. Für die Rezeption des Films hatten die Schüler die Aufgabe: »Merkt euch möglichst viele Orte und ihre Besonderheiten!« In den Vorgesprächen wurde deutlich, dass die Kinder bei dem Begriff »Ort« anfangs lediglich an real existierende Orte dachten. Es fiel ihnen schwer, sich auch ganz andere Arten von Orten vorzustellen. »Alice im Wunderland« sollte zunächst eine Vorstellung davon vermitteln, was möglich ist. Im Anschluss an die Vorführung des Filmausschnitts wurde auf der Tafel eine gemeinsame Sammlung der Orte angefertigt. Nun sollte jedes Kind die Frage beantworten: »Welcher Ort hat dir am besten gefallen und warum?« In einem nächsten Schritt sollten die Anregungen des Films von den Kindern auf ihre eigenen Vorhaben übertragen und erweitert werden. 8 9 Regie: Nick Willing, WVG Medien GmbH, 1999. Vgl. Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung, a.a.O. In einer nächsten Phase übertrugen die Schüler ihre Beobachtungen aus dem Film auf ihre eigene Vorstellung vom perfekten Ort. Mit einem dicken Buntstift fertigten sie eine Skizze von ihrem imaginierten perfekten Ort an. Diese musste sich noch nicht auf den konkreten Ort in der Stadt beziehen. Damit sie nur eine grobe Skizze anfertigten und sich auf die wesentlichen Punkte beschränkten, erhielten die Schüler keine weiteren Farbstifte. Zu dieser Skizze schrieben sie einen Text, in dem der Ort beschrieben wurde und seine Besonderheiten genannt wurden. Diese Einzelarbeit diente zur Vorbereitung der anschließenden Gruppenarbeit. So hatte sich jede/r Einzelne intensiv mit der Frage auseinandergesetzt und ging mit einer eigenen Idee vom »perfekten Ort« in die gemeinsame Arbeit. Wären die ersten Ideen erst innerhalb der Gruppe entstanden, hätte diese Phase vermutlich sehr viel Zeit gekostet und es wäre womöglich verhindert worden, dass wirklich die Ideen aller in den Prozess einfließen konnten. Häufig kommt es bei arbeitsteiligen Gruppenprozessen vor, dass besonders leistungsstarke Schüler »das Ruder übernehmen« und schwächere Schüler keine Ideen einbringen können. Bei diesem Ablauf war gewährleistet, dass jede/r bereits eine Idee mit in die Gruppe bringen würde und somit vorbereitet auf die anderen treffen würde. [M2] Parallel zu diesen Vorgängen war auch die Abstimmung der gesamten Schülerschaft über die Auswahl der vier zu verändernden Orte vollzogen worden. Nun konnten vier Gruppen gebildet werden, wobei eine Gruppe jeweils für die Veränderung eines Ortes verantwortlich war. Dabei ist es wichtig, dass bei der Einteilung der Gruppen dem Interesse der Schülerinnen und Schüler Rechnung getragen wird, dass sich die Schüler also für den Ort, den sie verändern möchten, selbst entscheiden. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Kinder sich der Sache und ihrer Erforschung mit echtem Interesse hingeben.9 Aus organisatorischen Gründen wurde die Gruppeneinteilung jedoch in der 1. und 4. Klasse getrennt vorgenommen. 62 / 63 kiss Britta Mertens / Christiane Dellbrügge, Ralf de Moll Der rote Faden Die Hausaufgabe für diese Phase lautete: »Beschreibt euren perfekten Ort, den ihr gemeinsam in der Gruppe entworfen habt, möglichst genau, damit die anderen Kinder euer Vorhaben verstehen können.« um die Verbindungen für den Betrachter zu verdeutlichen. Die einzelnen Gruppen stellten ihre neuen Orte vor und gingen dabei auf die Besonderheiten ein. Bei der Präsentation waren alle vier Klassen anwesend, so haben die beiden anderen Klassen auch erfahren, was aus ihrer Abstimmung geworden war. [M6 und M7] Durch das Feedback wurden die Schülerinnen und Schüler positiv bestärkt und erlebten einen gelungenen Abschluss ihres Projekts. Diese Präsentation der Projektergebnisse war ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts. Es konnten Diskussionen und eine Auseinandersetzung mit anderen über die Arbeiten entstehen und die Spuren und Ergebnisse der ästhetischen Prozesse blieben nicht im Klassenzimmer eingeschlossen.10 Innerhalb der Klassen wurden in einem letzten Schritt die eigenen Arbeiten zu den Videos aus dem Projekt »Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen« von Dellbrügge & de Moll in Bezug gesetzt. Die Schüler konnten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Projekte erkennen und beschreiben. Sie waren darüber hinaus sichtlich stolz auf ihre gelungene Ausstellung.11 In einer Gruppe von sieben Schülern der 1. Klasse arbeiteten sehr leistungsstarke Schüler mit leistungsschwächeren Schülern zusammen. Dabei profitierte jeder von dem individuellen Können der anderen und es war wichtig, dass sich jeder Einzelne bei der Planung und dem Bau des Modells einbrachte. So konnten auch leistungsschwächere Schüler ein Erfolgserlebnis in der Schule verspüren. [M3] Die Schüler entwarfen gemeinsam eine Skizze für die Neugestaltung, die an der Stelle eines bestehenden Ortes in der Stadt Hilden vollzogen werden sollte. Gruppenarbeit ist nicht immer einfach, hier wurde von den Kindern ein hohes Maß an sozialer Kompetenz gefordert. Sie mussten in der Lage sein, sich zurückzunehmen und die Ideen der anderen mit ihren eigenen zu verbinden und zu verhandeln. Die fertigen Skizzen wurden der Klasse präsentiert, damit alle über die Vorhaben der anderen Gruppen informiert waren und jede Gruppe in einer Art Rückkopplungseffekt noch Tipps der anderen in ihre eigene Arbeit einfließen lassen konnte. [M4 und M5] 10 Vgl. ebd. 11 Um sich eine genaue Vorstellung der perfekten Orte der Schüler machen zu können, kann man eine Vorstellung des Projekts und seines Verlaufs einsehen unter: www.brittamertens.de Für die Umsetzung der Orte in Modelle hatten die Schüler vier Schulstunden Zeit. Im Zuge der Zusammenarbeit mit Dellbrügge & de Moll erhielten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, in Zeiten des Leerlaufs Fragen an die Künstler zu formulieren. Erst durch das Aufzeichnen dieser Fragen wurde mir bewusst, welche Vorstellung Kinder von Künstlern haben und wie wichtig es ist, das Leben und Werk einzelner Künstler kennen zu lernen. Hier eine Auflistung ihrer Fragen: Es sollten Orte für Schwimmbäder, Spielplätze, Erlebnishotels, Tierhäuser oder sogar Kombinationen von unterschiedlichen Orten entstehen. Diese Ideen entstanden in den einzelnen Gruppen und wurden eigenständig von den Kindern entwickelt. Für die Anfertigung der Modelle standen den Kindern ihre zuvor gesammelten Schachteln, Draht, Kordel, Zahnstocher, Schaschlikspieße sowie schwar ze und weiße Farbe zur Verfügung. Die reduzierte Auswahl der Materialien ließ eine Konzentration auf die wesentlichen Merkmale des Ortes zu. In diesen vier Stunden arbeiteten die Schülerinnen und Schüler sehr konzentriert. Sie entwickelten Befestigungsmöglichkeiten der einzelnen Elemente, bauten Leitern für Rutschen und waren nicht auf die Hilfe der Lehrerin angewiesen. Es fand eine sehr intensive und sozial starke Arbeit in den einzelnen Gruppen statt. Die Meinungen jedes Einzelnen wurden berücksichtigt und die Gruppen wuchsen immer stärker zusammen. Den Schülerinnen und Schülern wurde bewusst, dass sie an ihrem Werk arbeiteten und dass ihre persönlichen Ideen wirklich zählten. Verdient Verdient ihr Geld? ihr Geld? Wo arbeitet Wo arbeitet ihr? ihr? Wie seid Wieihr seid eigentlich ihr eigentlich Künstler Künstler geworden? geworden? Wie habt Wieihr habt so ihr schnell so schnell so tolle soBilder tolle Bilder erfunden? erfunden? Wollten Wollten sie alssie Kind alsauch Kind Künstler/in auch Künstler/in werden? werden? Wo kann Wo man kannsich mandie sich Bilder die Bilder anschauen? anschauen? Zum Abschluss des Projekts wurde eine Präsentation im Schulgebäude organisiert, zu der alle Lehrerinnen, Lehrer, Schülerinnen und Schüler eingeladen wurden. Die Gruppen verorteten die neu gestalteten Orte auf der Bühne, eine Stadt war im Entstehen. Die Abstimmungsplakate wurden neben den Skizzen der neuen Orte aufgehängt. Über einen roten Faden wurden die fertigen Modelle mit den Skizzen verbunden, Dellbrügge & de Moll haben auf diese Fragen geantwortet – die Schülerinnen und Schüler waren sehr stolz darauf, Kontakt zu »echten« Künstlern zu haben. 64 / 65 kiss Britta Mertens / Unterrichtsmaterialien Dellbrügge & de Moll Literatur Ausstellungen (Auswahl) Christiane Dellbrügge geboren in Moline/USA. Ralf de Moll geboren in Saarlouis Studium an der Akademie der Bildenden Künste, Karlsruhe Seit 1984 Zusammenarbeit 1988 Arbeitsstipendium Kunststiftung Baden-Württemberg; Arbeitsstipendium Kunstfonds Bonn 1988/89 Artists in Residence, Künstlerhaus Bethanien, Berlin 1992 Arbeitsstipendium Centre National des Arts Plastiques, Paris 1993 Artists in Residence ZKM, Karlsruhe 1993/94 Artists in Residence Kunst-Werke, Berlin 1995 Auslandsstipendium des Berliner Senats für das Institute of Contemporary Art, Moskau 1996 Kunstpreis Villa Romana, Florenz 2002 EMARE – European Media Artists in Residence, Dundee; Kunstpreis Berlin, Förderpreis Bildende Kunst 2006 DIVA, Danish International Visual Art Exchange Program; CRiR, Christiania Researcher in Residence, Kopenhagen Kämpf-Jansen, Helga Ästhetische Forschung. Wege durch den Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung Köln 2000 1991 Ein Leben für die Kunst, Museum für Neue Kunst, Freiburg (Einzelausstellung) 1993 Parlare d’arte, AOC F58, Rom (Einzelausstellung) 1994 Kunstkonsumentenprofile, Contemporary Art Center, Moskau (Einzelausstellung) 1996 Substitute@ICA, Institute of Contemporary Art, Moskau (Einzelausstellung) T-Salon, Kunstraum München (Einzelausstellung) 1998 Modell, Haus am Waldsee Berlin; k3 Hamburg (Einzelausstellung) 1999 Der Kunst im öffentlichen Raum gehört die Zukunft, Galerie SIMA, Nürnberg (Einzelausstellung) 2000 log.in – netz | kunst | werke, greater Nürnberg, Fürth, Erlangen, Schwabach Models of Resistance, Overgaden, Kopenhagen ein | räumen, Hamburger Kunsthalle cITy Daten zur Stadt, ZKM Karlsruhe Pilot. The Audience from a Distance, Museum van Bommel van Dam, Venlo, Niederlande 2001 Plug-In. Einheit und Mobilität, Westfälisches Landesmuseum, Münster Space and Time in Megalopolis, Mestská knihovna, Prag 2002 Kunstwerke 93 – Sparwasser HQ 02, Sparwasser HQ Berlin (Einzelausstellung) How do you feel?, Visual Research Centre Dundee, GB (Einzelausstellung) 2004 Trotzmodell, Kunsthaus Baselland (Einzelausstellung) Sommerfrische, Hamburger Kunsthalle Berlin North, Hamburger Bahnhof, Berlin 2005 Science + Fiction – Zwischen Nanowelt und globaler Kultur, Miraikan Museum Tokyo, Sprengel Museum Hannover, ZKM Karlsruhe et al. Wittgenstein in New York, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin Artrónica III Muestra Internacional de Artes Electrónicas, Bogotá, Kolumbien City Rumble, Overgaden, Institute of Contemporary Art, Kopenhagen, DK X Wohnungen, HAU – Hebbel am Ufer et al., Märkisches Viertel, Berlin 2006 Artist Migration Berlin, Kunstverein Heidelberg (Einzelausstellung) 40jahrevideokunst.de, K21 Kunstsammlung NordrheinWestfalen, Düsseldorf DESTROYED WORLDS and the Utopia of Reconstruction, Århus Kunstbygning, Århus, DK 2007 New Harmony, Künstlerhaus Bethanien, Berlin (Einzelausstellung) 1961 Peez, Georg Einführung in die Kunstpädagogik Stuttgart 2005 Internetquellen Dellbrügge und de Moll www.workworkwork.de Lehrer-Online www.lehrer-online.de/kontextkunst.php Veröffentlichungen Dellbrügge & de Moll Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen Berlin 2008 Dellbrügge & de Moll In Quest of the Perfect Location Kopenhagen 2007 Dellbrügge & de Moll New Harmony Berlin 2007 Dellbrügge & de Moll Artist Migration Berlin Heidelberg 2006 Dellbrügge & de Moll Morse by Horse. Manual Stuttgart/Berlin 2006 Dellbrügge & de Moll Morse by Horse. Mit Texten von Dieter Daniels, Stefan Münker, Claudia Emmert, Ulrich Mellitzer Stuttgart /Berlin 2006 Prestel www.prestel-kuenstlerlexikon.de/search.php? type=detail&id=1366&searchkey=Kontextkunst 66 / 67 kiss Britta Mertens / Unterrichtsmaterialien Materialien M1 Hermine, Lisa und Lisanne M2 Schmetterling- und Marienkäferland Angelina, Lia, Maryam, Maside, Milena und Vanessa M3 Jaguarbad Lisa, Hermine, Lisanne, Phil, Eric, Can, Felix M4 Skizze Jaguar Bad (Lisa, Hermine, Lisanne, Phil, Eric, Can, Felix) M5 Skizze Der Zoo für Menschen und für Tiere (Jonas, Merve, Sabri und Souhaila) M6 Präsentation M7 Präsentation 68 / 69 kiss Britta Mertens / Unterrichtsmaterialien Bildbeispiele B1 Dellbrügge & de Moll Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen 2008 B2 Dellbrügge & de Moll Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen 2008 5-Kanal-Video Installation und Wandbeschriftung, Kunst am Bau, Marcel-Breuer-Schule, OSZ für Holztechnik, Glastechnik und Design, OSZ Bautechnik II, Berlin, mit freundlicher Genehmigung der Künstler, © Dellbrügge & de Moll /VG Bild-Kunst 70 / 71 kiss Britta Mertens / Unterrichtsmaterialien Materialien B3 Anna Belinda »Ich würde meiner Stadt keinen Namen geben. Ich finde, das sollte eine Gemeinschaftsentscheidung sein zwischen allen Leuten, die da wohnen. Das sollte abgestimmt werden. Jeder kann einen Vorschlag machen. Aber ich bin der Sheriff – also, ich entscheide das nicht, aber ich bin trotzdem der Sheriff. Im Großen und Ganzen ist meine Stadt rund, weil das eine schöne geschlossene Form ist. Es gibt einen Stadtkern, der ist auch rund. Das ist ein großer Marktplatz und von da aus gehen ein paar Straßen ab, wo Wohnblöcke sind, aber alles relativ überschaubar. Man kennt die Nachbarn. Die Einkaufssituation wird so sein: Es gibt nur kleine Tante-Emma-Läden, es gibt keine Einkaufszentren oder so. Es ist ein bisschen selbstversorgermäßig. Vielleicht gibt es auch außerhalb Felder, wo man selber was anpflanzt. Gärten gibt es, richtig, Bäume, ganz viele. Am Stadtrand ist ein Wald mit einem See. Der Rhein oder irgendein anderer schöner Fluss fließt einmal durch die Stadt durch, am Stadtkern vorbei. Das ist sehr wichtig, damit man auf dem Marktplatz sitzen kann, am Rhein oder am Fluss und einen Tee trinken kann. Das finde ich sehr gut. Dieser Stadtkern – da kann jeder, der will, kommen und es gibt immer was zu feiern. Es gibt immer ein Fest. Es soll sehr sozial sein. Leute, die zum Beispiel zu viel gekocht haben, können das zum Marktplatz bringen und Leute, die ein bisschen knapp bei Kasse sind, Studenten auch gerne, können das dann essen. Die Energieversorgung: Also, es gibt auch einen Industrieteil. Der ist aber außerhalb, weil man ja doch ein bisschen industriellen Kram braucht. Man kann ja nicht alles nur aus Gras herstellen oder Bäumen, das geht ja nicht! Ich setze auf Wasser und Wind. Da wir einen Fluss haben, der durch die Stadt fließt, können wir da Mühlräder dran machen und Energie gewinnen und auch Windräder aufstellen. Wir haben auch bestimmt den einen oder anderen Berg, wo man die draufsetzen könnte. Ansonsten – es wird ein sehr angenehmes Miteinander, hoffe ich. Das ist meine Stadt. – Ah! Es gibt keine Autos! Es gibt keine Autos in der Stadt, weil wir die auch nicht brauchen und die Straßen viel zu eng sind. Es gibt nur Fahrräder. Wenn man wirklich dringend nach außerhalb muss, gibt es vielleicht einen Bus oder so etwas wie eine Mitfahrgelegenheit. Vielleicht haben so drei Leute im Dorf ein Auto, dann kann man sich das leihen. Aber in der Stadt gibt es keine.« »Ich hätte gerne ein Haus mit verschiedenen Türen. Die Haustür sollte immer in die Stadt führen, die man sich ausgesucht hat, und die nächste Tür möchte ich gerne nach Spanien haben, weil da ein Großteil meiner Familie lebt, damit ich einfach mehr Kontakt zu haben kann. Dann sollte eine Tür ins Rheinland führen, ganz klar, weil ich da her- kommen tu und es schön ist da. Und Vater Rhein – ist ja auch immer wieder nett, da spazieren zu gehen und auch da wohnt ein Teil meiner Familie. Die nächste Tür sollte irgendwo hinführen, wozu man gerade Lust hat. Vielleicht, dass man das vorher eintippt: ›Brasilien‹ und dann: Dingdingdiding! Wäre vielleicht gut. Ich mag gerne alte Sachen, die müssen nicht immer gerade und glatt und perfekt sein, sondern können auch ruhig kaputt sein und runzelig und mit abgeblättertem Lack oder so. Das macht nichts. Ich bin nicht so dieser Beton-Glas-Typ. Das ist einfach nicht meine Materie. Deswegen bin ich auch Tischler und nicht Glaser. Zurzeit wohne ich mit zwei anderen Leuten zusammen. Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, mit mehr Leuten zusammen zu wohnen. Wir sind jetzt zu dritt in der Wohnung und das reicht mir. Man hat zwei Bezugspersonen, dann ist es auch noch sehr persönlich. Ich glaube, je größer eine WG wird, desto unpersönlicher wird es wieder. Es sind so viele Leute und dann kann man ja nicht auf jeden eingehen. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass ich meine Unterkunft teile und dass es eine Gemeinschaft gibt, so eine Gruppe praktisch. Ich bin nicht gerne alleine, ich bin eher so ein gesellschaftlicher Typ. Ich mag gerne Leute um mich haben, ich mag gerne nach Hause kommen und ein Echo hören, wenn ich schreie: ›HALLO!‹, und dann kommt es irgendwie zurück – wäre super!« »Zum Leben brauche ich Luft, Essen, Zigaretten und jemanden, mit dem ich quatschen kann, vielleicht Freunde – wäre nicht schlecht. Verzichten kann ich sehr gut auf Luxusartikel, auf ein Auto zum Beispiel, das brauche ich nicht. Wenn ich ein Fahrrad habe – super! Ich bin eher der bescheidene Typ, ich brauche nicht viel, um klarzukommen oder um mich wohl zu fühlen. Es reichen ein paar Kleinigkeiten und wenn es nur das Lieblingskissen ist oder ein schönes Buch. Dann geht es schon. Ich bin zwar schon eher der bescheidene Typ, nichtsdestotrotz habe ich trotzdem nie Geld. Und sparen ist da einfach nicht drin. Ich verdiene ja auch nicht viel.« »Wenn ich mir meine Arbeitszeit selber einteilen könnte, würde ich um acht anfangen zu arbeiten bis, sagen wir, halb drei. Das wäre klasse! Weil, morgens muss man früh aufstehen. Vor der Arbeit macht man eh’ nix mehr, aber wenn man früh aufsteht, dann hat man mehr vom Tag. Wenn man bis halb drei arbeitet, hat man noch voll viel Zeit, um einkaufen zu gehen und Wäsche zu waschen oder einfach im Park zu liegen. Man hat was vom Tag, wo die Sonne noch scheint. Schon gut, das wäre super! Ich finde, ein Chef ist schon nicht schlecht, weil man nämlich alles auf den abschieben kann: Der ist schuld! Was mir wichtig ist bei der Arbeit, ist einfach ein Team. Mir ist Teamwork total wichtig, weil ich das ganz gut kann und weil es dann auch viel mehr Spaß macht, wenn man zur Arbeit geht und ein Team hat und jeder macht irgendwas, und zusammen baut man dann einen Schrank oder so. Dann macht das einfach mehr Spaß, es passiert einfach was. Ja, Teamwork ist gut!« Aus: Dellbrügge & de Moll: Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen, Berlin 2008, S. 9–11 B4 Martin »Wenn ich die einmalige Chance bekommen würde, eine Stadt zu errichten, dann würde ich mir die besten Ingenieure der ganzen Welt zusammensuchen und mir Vorschläge machen lassen für die kreativsten Gebäude überhaupt. Die würde ich mir dann raussuchen und zusammenwürfeln und zu einer Stadt machen. Das wäre das Verrückteste, was es je gegeben hat, aber mir würde es gefallen. Ganz sicher.« »Ich werde ein mobiles Haus errichten, das man einpacken kann und auspacken kann. Irgendwo aufbauen und wieder einpacken. Egal wann, egal wo. Mein mobiles Haus ist genauso wie ein ganz normales Haus, wie es sich jeder vorstellt: Ziegel, Klinker, Dachziegel, Warmwasserleitung, alles dabei, und mit einem Knopfdruck kann man das ganze Ding zusammenpacken, auf den Sattelschlepper, raus und los. Wenn ich unterwegs merke: ›Wow, hier sieht’s total toll aus, hier bleibe ich‹, dann drücke ich wieder auf den Knopf, packe das Ding wieder aus und bleibe da stehen. Mein mobiles Haus soll mal eine ganz große Geschichte werden. Es soll über die ganze Welt vermarktet werden, damit jeder was davon hat. Ich sehe bloß ein Problem: Wie wird die Energieversorgung gespeist? Eine Idee wäre zum Beispiel mit einem Akku. Das Ding hat im Keller oder im Dachboden, je nachdem, einen riesengroßen Akku, der sich immer wieder auflädt durch Solarenergie oder durch Windräder, die man aufs Dach setzt. So wird das eine ganz coole Geschichte.« »Mich in meiner Arbeit selbst zu verwirklichen, bedeutet mir, dass andere Menschen an meinen Phantasien, Ideen und Kreativität teilhaben können, dass meine Auffassungen von anderen Leuten geteilt werden, die entweder ähnliche Ansichten haben oder sogar auf einen anderen Trichter kommen durch mich.« Aus: Dellbrügge & de Moll: Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen, Berlin 2008, S. 33 Theresa Rieß Durch das Wurmloch ins cc-space Foto: Alexandra Grieß 74 / 75 kiss Theresa Rieß / Com&Com Com&Com und die Kunst »Wir wollen ein Markenartikel werden, so wie Coca Cola oder die Spice Girls!« 1 … Mit diesem Interview-Zitat ließe sich die Geschichte vom Ursprung der Künstlergruppe Com&Com einleiten. Die Köpfe hinter diesem »Markenartikel« sind die beiden Schweizer Künstler Johannes M. Hedinger (*1971) und Marcus Gossolt (*1969). Den leiser werdenden Song im Ohr widmen wir uns einem anderen Projekt des Künstlerduos, dem mittlerweile älter gewordenen »GugusDADA« Baby mit Namen Dada. [B2] Unter dem 1997 gegründeten Label Com&Com (Commercial Communications) produzieren sie Musik, Filme, Theater, Denkmäler und, oder auch, und auch und sowie auch Kunst. Im Herbst 2004 schalteten Com&Com Anzeigen mit folgendem Inhalt: »Wir schenken ihrem Baby CHF 10.000,–, wenn sie ihm den Namen DADA geben.« 7 Gezielt nutzen und erforschen sie die Wege der Vermarktung, von Dingen, von Kunst. Sie bewegen sich in der Sphäre der alltäglichen Kommunikation und pflegen einen professionellen Umgang mit den neuen Medien und Medienverbünden. Es bleibt allerdings nicht bei der routinierten Anwendung der bestehenden Kommunikationssysteme: Ziel von Com&Com ist es, an bestimmten Punkten anzusetzen, um Störungen zu streuen und auf diese Weise unvorhersehbare Prozesse freizusetzen. Es werden Fragen wie die nach kollektiven Identitäten oder die Frage nach dem Kunstbegriff selbst thematisiert. In ihren Aktionen verschiebt sich das Verhältnis von High und Low Culture, von Kunst und aktuellen Medien: Einerseits gehen Com&Com offensiv mit den Medien und alltäglichen Formen der kommerziellen Kommunikation um, zugleich bewegen sie sich damit jedoch im Feld der Kunst. Dabei ist »der Journalist [ihr] Pinsel«2; das Feld der Kunst fungiert als notwendige »MetaDiskurs-Ebene«.3 Der Hintergrund des Projekts: Anlässlich der Wiedereröffnung des Cabaret Voltaire 8 im September 2004 wurde ein Baby gesucht, welches im Sinne einer »Wiedergeburt des Dadaismus« als »Botschafter« des Club Voltaire fungieren sollte. Dada wurde am 6.2.2005 geboren und kann als das erste menschliche Readymade der Kunstgeschichte bezeichnet werden.9 Im ersten Lebensjahr wird Dada von den Künstlern begleitet; alles, was er tut, wird medial dokumentiert, archiviert und auch veröffentlicht. Dada ist Mensch und Kunstwerk zugleich. Wie gehen Com&Com konkret bei ihrer Arbeit vor? Um besser mit dem Duo vertraut zu werden, zunächst eine kurze Vorstellung einiger ihrer Projekte, die auch in der Unterrichtseinheit thematisiert werden: Das Herzstück des Projekts »Side by Side« (2002) [B1] ist ein stylischer Musik Clip, der in den Schweizer Charts in den Top 10 landete. In diesem Musikvideo werden Versatzstücke moderner Mythenbildung zu einer Erzählung montiert: Zwei erfolgreiche Schweizer Rennfahrer (Hedinger und Gossolt) siegen beim Grand American Road Racing für ihr Land und ihren Rennstallbesitzer. Ein solcher Sieg wird gebührend und standesgemäß gefeiert: mit Champagnerduschen und Boxenludern, mit Pathos und Ruhm »… side by side we stand – sons of Swizerland – in God unite – stand up and fight – for our faith and right …«4 Doch bei allem Vertrauen in sich selbst und Gott, das Heimatland und den Partner lässt sich der Einbruch des tragischen Schicksals nicht abwenden. Ein früher Unfalltod bei einem der Rennen setzt dem Rennfahrerleben ein jähes Ende. Der Beginn einer Legende: »… because our life is the race – and the race is our life …«5 Die Schweiz trauert um ihre Helden, die großen Rennfahrer Hedinger und Gossolt, die fortan in der Legende weiterleben. Im Sinne von: »… We, we are the best to entertain – You try to imitate, it’s a shame, It’s our game, our fame …«6 [M1] An diesem Projekt, das auf ungeahnte Weise in die Realität eingreift, spalten sich die Meinungen. Es wird viel diskutiert, niemand kann sich der Stellungnahme entziehen. Unterdessen wächst Dada heran, langsam legt sich der Rummel, geht über in eine Geschichte, die auf einer wahren Begebenheit beruht. Vielleicht wird er einmal zurücksehen und sein erstes Lebensjahr betrachten. Vielleicht aber auch nicht. Theresa Rieß im Gespräch mit Johannes M. Hedinger von Com&Com in Berlin Fotos auf den Folgeseiten: Alexandra Grieß 1 Baumann, Daniel: »Interview. Daniel Baumann im Gespräch mit COM&COM«, in: Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.): The Book of COM&COM. Zürich 2000, S. 30. 2 Hedinger, Johannes M.; Meyer, Torsten: »Der Journalist ist unser Pinsel«, in: Kirschenmann, Johannes; Schulz, Frank; Sowa, Hubert (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006, S. 638. 3 Ebd., S. 640. 4 Songtext zu »Side by Side«, unter www.side-by-side.ch vom 15.11.2008. Siehe auch Materialteil. 5 Ebd., siehe auch Materialteil. 6 Ebd., siehe auch Materialteil. 7 Slogan zum Projekt »GugusDADA«, um Eltern zu finden, die bereit sind, ihr Kind DADA zu nennen. 8 Das Cabaret Voltaire wurde 1916 als Kunstsalon in der Züricher Altstadt eröffnet. Als »Kritik am Wahnsinn der Zeit« wurde die Idee von Hugo Ball weiterentwickelt und ein Ort für Künstler des Dadaismus gegründet. Sie wendeten sich mit sogenannter Anti-Kunst gegen bürgerliche Normen, trugen Laut- und Lärm-Gedichte vor, beschimpften das Publikum und wurden unerlässlich für die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst. 9 Vgl. http://www.gugusdada.ch/?q=News&from=20 vom 15.11.2008. 10 Com&Com in ihrem Dossier zu GugusDADA, nachzulesen unter www.gugusdada.ch vom 15.11.2008, Dossier als PDF. »Der Künstler muss wieder vermehrt die Verantwortung für Manipulation und Verführung übernehmen: Kunst muss eine ebenso große politische Wirkung haben wie die Unterhaltungsindustrie, der Film, die Popmusik und die Werbung. Es gab eine Zeit, da brauchten Künstler nur in das Ohr des Königs oder des Papstes zu flüstern, um politische Wirkung zu haben. Heute müssen sie in die Ohren von Millionen Menschen flüstern. Da muss man halt auch die Form und das Medium anpassen.« 10 76 / 77 kiss Theresa Rieß / Com&Com Ein Fischerjunge namens Roman lebt in einem Städtchen am Bodensee. Sein einziger Freund ist Mocmoc, ein pokémonartig aussehendes Seeungeheuer mit großen Augen und einem Horn an der Stirn. Jeden Morgen, wenn Roman mit dem Boot zum Fischen auf den See fährt, hält er mit Mocmoc Zwiesprache. Eines Morgens bricht im Ort ein Feuer aus. Nur durch eine Tat, durch die er seinen einzigen Freund Mocmoc verlieren wird, kann Roman den Ort vor der Feuersbrunst retten: Er bricht das Horn des Ungeheuers ab und bläst hindurch. Der Klang des Horns weckt die Ortschaft. Mocmoc jedoch muss für die nächsten 100 Jahre in die Tiefe hinabsteigen und so lange dort unten verweilen, bis ihm ein neues Horn gewachsen ist. Roman ist also vor die Wahl gestellt, sich entweder für die Freundschaft zu einem Einzelnen oder für die Menschen im Ort zu entscheiden. »...entschlossen legte Roman das Horn an seine Lippen, atmete tief durch und blies mit aller Kraft hinein…«11 Fortan nennen die Bewohner ihm zu Ehren ihren Ort Romanshorn. [M2] … Eine Möglichkeit dieser Anpassung besteht im Erfinden von Legenden. So geschehen im Projekt »Mocmoc«, [B3] welches im Jahr 2001 mit der Einladung der Gemeinde Romanshorn an Com&Com zur Beteiligung an einem Wettbewerb für die künstlerische Gestaltung des neuen Bahnhofsplatzes seinen Ausgang nahm. Zentraler Bestandteil des Projekts ist das Konstrukt der Legende vom Seeungeheuer aus dem Bodensee: 11 Guggenheim, Gilgi; Tschirky, Marius: »Die Legende von MocMoc«, in: Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.): Kunst, öffentlicher Raum, Identität. Mocmoc, das ungeliebte Denkmal, Sulgen/ Zürich 2004, S. 276. 12 Ebd. 13 Hawking, Stephen; Leonard Mlodinow: Wurmlöcher, in: Dies.: Die kürzeste Geschichte der Zeit, Reinbek 2005, S. 122–137, S. 129. 14 Zur Einstein-Rosen-Theorie in der Physik vgl. ebd., S. 130. Von den Einwohnern von Romanshorn wird die vermeintlich zufällig im Stadtarchiv zutage beförderte Gründerlegende des Städtchens zunächst begeistert aufgenommen, die einsetzenden Mechanismen des Merchandisings und Marketings verschaffen dem Ort eine bisher nicht gekannte Aufmerksamkeit und versprechen Profit. Kurz nach der feierlichen Enthüllung des Mocmoc-Denkmals auf dem Bahnhofsplatz im September 2003 findet jedoch eine weitere Enthüllung statt: Das St. Gallener Tagblatt, in dem zuvor das Manuskript der Legende abgedruckt worden war, deckt nun die näheren Umstände des Legendenkonstrukts auf, Mocmoc ist nun leicht als Anagramm von Com&Com zu dechiffrieren. Ein Sturm der Entrüstung bricht los, ein Politikum ist entstanden. Schließlich münden die erhitzten Debatten um die fingierte Legende, die zu ganz realen parteipolitischen Konsequenzen führen, in eine Abstimmung. Mit knapper Mehrheit entscheiden sich die Bürger am 16.5.2004 für das Denkmal und somit für die öffentliche Weiterarbeit an und mit der Gründungslegende. Vielleicht wird man von der Gemeinde Romanshorn dereinst sagen: »am Ufer von Romanshorn sitzt manchmal eines ihrer Ururenkelkinder und isst einen Apfel. Und wenn es genau hinschaut, sieht es weit draussen im See etwas Gelbes hervorblitzen.«12 Wurmlöcher – in der Schule, in der Kunst, bei Com&Com Ein Ansatz zum Entwurf einer Unterrichtseinheit Beim Versuch, die Vorgehensweise der beiden Künstler in eigenen Worten und Begriffen zu fassen, drängte sich mir der Gedanke an ein Phänomen auf, das aus der theoretischen Physik und aus der Science Fiction stammt: Das Wurmloch. Wie sich herausstellte, erwies sich die Entfaltung und Ausarbeitung dieser Metapher als fruchtbare Denkfigur für den Unterrichtsentwurf. Wurmloch: Ein wundersames Gebilde, welches die verschiedensten Assoziationen anregt. Kann man dort hindurch schlüpfen? Was erwartet einen dann? Wo findet man ein solches? Wissenschaftlich lassen sich solche Fragen nicht beantworten. Wissenschaftlich gesprochen ist das Wurmloch ein aus der Einstein’schen Theorie entwickeltes mathematisches Konstrukt, »… eine dünne Röhre, ein schmaler Gang in der Raumzeit, der zwei weit auseinander liegende, nahezu flache Regionen verbinden kann.«13 Fänden wir ein solches Wurmloch und begäben wir uns dorthinein, so würden wir mit Sicherheit niemals hindurchtauchen. Denn Wurmlöcher existieren nur für einen winzigsten Bruchteil eines Moments; das bedeutet, wir müssten schneller als Licht reisen.14 Wer wären wir dann? Und wie wären wir dann? – Immateriell? Anders sieht es mit der Vorstellung von Wurmlöchern aus, wenn wir uns im Feld der Kunst bewegen. Insofern die Herstellung von unmöglichen Verbindungen und die Arbeit an ihnen genuiner Bestandteil künstlerischen Arbeitens ist, treffen wir hier auf Wurmlöcher jeglicher Art. Wurmlöcher, die einen oftmals unvorhersehbaren Übergang an einen nicht nur topografisch, sondern auch topologisch ganz anderen Ort ermöglichen, finden sich oftmals gerade dort, wo man sie am wenigsten vermutet hätte, an ganz alltäglichen Orten, deren Funktion fraglos geworden zu sein scheint. 78 / 79 kiss Theresa Rieß / Com&Com Die besondere Schule Reformschule Kassel Künstler sind besonders sensibel für das Aufspüren und Nutzen von Wurmlöchern. Für Com&Com ist ein solches Wurmloch das Fehlen einer Gründungserzählung um den Stadtnamen Romanshorn. Wie ein Wurmloch einen einfängt, wenn man in seine Nähe kommt, so verselbständigte sich die Legende um den Ortsnamen. Ob man diese nun liebt oder hasst, von der Legende kommt »… in Romanshorn kaum mehr einer los. Was einmal in der Welt ist, kann man nur formal negieren. Und die Negation, die macht es stark, vielleicht sogar stärker als ohne Negation, ohne den Willen, es wieder weg haben zu wollen; lädt es mit Energie auf. Unausweichliches Schicksal der Gemeinde Romanshorn.«15 Betrachtet man das System Schule als ein weitgehend geschlossenes System,16 welches nach außen allenfalls semi-durchlässig ist, so eröffnen sich durch das Finden, Erforschen und Anwenden von Wurmlöchern bisher nicht gekannte Möglichkeiten. Doch wie findet man ein Wurmloch? Das Finden ereignet sich nicht in einem Augenblick, sondern ist das Resultat eines Prozesses, der zunächst auf genauem Beobachten der Schüler, der anderen Lehrer, der Umgebung und der Schule beruht. Hier gilt es, kleinste Risse im System ausfindig zu machen: seien es gehypte Videos, skurrile Sounds oder andere Dinge, die die Schüler aus ihrer medialen Alltagswelt mit in die Schule »herübernehmen«. Bei genauerer Betrachtung kann man Risse und winzige Wurmlöcher entdecken. Diese möchten nun kultiviert, erforscht und gepflegt werden, um schließlich theoretisch durchzuspielen, was möglich wäre, wenn man sich durch diese Löcher hindurchbewegen würde. Die bloße Negation von Rissen im System schien weder sinnvoll noch produktiv. Die Aufmerksamkeit für und die Arbeit an Wurmlöchern versprach die Möglichkeit, einer anderen, ungewohnten Art des Denkens Einlass in das System Schule zu gewähren. An diesem Punkt setzte der Unterrichtsentwurf an. 15 Pazzini, Karl-Josef: »Das zu Lesende«, in: Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.): Kunst, öffentlicher Raum, Identität, a.a.O., S. 42. 16 Vgl. z.B. Meyer, Torsten: Interfaces,Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie, Bielefeld 2002, S. 217. 17 Weitere Informationen unter: www.reformschule.de vom 15.11.2008. 18 Pazzini, Karl-Josef: »Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte«, in: Thesis. Tatort Kunsterziehung, Nr. 2, 2000, S. 8–17. cc-space Eine Anwendung der Wurmlochtheorie Die Reformschule Kassel zeichnet sich durch jahrgangsgemischten und fächerverbindenden Unterricht aus. Drei Jahrgänge werden in einer Klasse von ca. 24 Schülerinnen und Schülern zusammengefasst. Es wird die Verbindung unterschiedlicher Schultypen und Modelle wie Ganztagsschule, Projektunterricht oder die Möglichkeit der Einschulung mit 5 Jahren erprobt. In einer Gruppe werden jeweils sieben Schüler aus drei Jahrgängen unterrichtet. An der Unterrichtseinheit im Rahmen des »kiss«-Projektes nimmt die Gruppe 3B, die sich aus den Jahrgängen sechs bis acht (die Altersgruppe der 10- bis 16-Jährigen) zusammensetzt, teil. Dieser für eine aus drei Jahrgängen zusammengesetzte Gruppe immer noch enorme Altersunterschied ergibt sich dadurch, dass sich nicht allein Schüler verschiedener Schularten (Haupt-, Real- und Gymnasialschule), sondern darüber hinaus auch Hochbegabte und Integrationsschüler in der Gruppe befinden. Was auf den ersten Blick als ungewohnte Herausforderung erscheint, wird für mich in kürzester Zeit zum Alltag. Die ungewöhnliche Zusammensetzung der Lerngruppen, vor allem aber das gewachsene Vertrauen der Schülerinnen und Schüler untereinander, birgt zugleich ein großes Repertoire an Möglichkeiten des Lernens. Der Unterricht findet kaum in der klassischen Form statt; beim fächerverbindenden Unterricht (wie zum Beispiel dem Laborunterricht) wären klassische Muster auch gar nicht anwendbar. Die Selbstständigkeit der Schüler ist hoch und es herrscht eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens. Von besonderer Bedeutung für den Schulalltag ist der Projektunterricht. Dieser nimmt einen großen Teil der Schulwoche ein und die Schüler arbeiten oftmals völlig selbstständig an teils selbstgestellten Themen. Der Lehrende muss sich ständig auf neue Situationen einlassen, in sehr unterschiedliche Themen einarbeiten und zwischen verschiedenen Rollen wechseln. Für die einen ist man Berater, bei einer anderen Arbeitsgruppe Streitschlichter, die nächsten Schüler haben Wissensfragen und eine andere Gruppe braucht einen Zuhörer, um eine Präsentation einzuüben.17 Schülerinnen und Schüler im Gespräch mit Theresa Rieß und Johannes M. Hedinger in der Ausstellung cc-space Wie bei einem Geflecht verdichten sich nun die Stränge, die zuvor zwischen Kunst, Anwendung18 und Schule aufgespannt wurden, zu einer Unterrichtseinheit. Die erste Verwebung entsteht beim ersten Treffen mit Marcus Gossolt und Johannes M. Hedinger in Zürich. Bei anregenden Gesprächen lernen wir uns gegenseitig kennen und schätzen. Mein Vergleich ihrer Vorgehensweise mit der Denkfigur des Wurmlochs weckt bei beiden reges Interesse. Ebenso werde ich bei der Entfaltung dieses Vergleichs und der Ausarbeitung zu einem Konzept für den Unterricht an der Reformschule Kassel denk- und tatkräftig von Com&Com unterstützt. Zunächst geht es für mich darum, im schulischen Alltag auf diejenigen Bruch- und Schnittstellen aufmerksam zu werden, die in einem weiteren Schritt als Wurmlöcher produktiv gemacht werden können. Die Beobachtung des schulischen Alltags führt zu der Vermutung, dass ein solches Wurmloch im permanenten Austausch über die Social Networking Plattform SchülerVZ lokalisiert werden könnte: Virulent kreisen die Gespräche der Schülerinnen 80 / 81 kiss Theresa Rieß / Com&Com Linolschnitt, Bleistift, Ölmalerei, Stempeltechnik und ccspace: eine Technik im Kunstunterricht und Schüler um die außerschulische Kommunikation. Immer wieder wird die Selbstdarstellung im virtuellen Raum thematisiert. Sätze wie: »Auf dem Foto siehst du aber nicht aus wie in echt!« oder »Geh’ mal wieder ins SchülerVZ, ich hab dir was geschrieben«, sind im Alltag der Schüler sehr präsent. (Was spricht in diesem Augenblick dagegen, die Frage »in echt« zu stellen und eine direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht zu beginnen?) In der Diskussion dieses Ansatzpunktes mit Com&Com entsteht die Idee, eine virtuelle Community als Möglichkeitsraum zu schaffen. Als experimentelles Feld – mit realen und fiktiven Personen, mit realen und fiktiven Gesprächen und Kommunikation. Im weiteren Verlauf des Gesprächs findet sich ein Name für das Projekt: cc-space. C&C-space: »Com&Com«-space oder cc-space: »cool-community«-space: Anfänglich wird den Schülerinnen und Schülern das Projekt nur unter dem zuletzt genannten Namen vorgestellt. Der Titel dieses Webspace ist nicht bloß eine äußerlich-formale Annäherung an Com&Com, es wird nicht nur der Name und der Aspekt der Corporate Identity (Typografie/die Farbe Pink) geteilt, sondern das Projekt impliziert auch die Aktivität von Com&Com im virtuellen Raum. Die Künstler haben ebenfalls die Möglichkeit, zu »spielen« und mit Fake-Identitäten zu agieren. Ebenso gut können sie aber auch in ihrer Identität als Künstler in dieser Community auftreten. [M3] Doch bis es so weit ist, muss viel geschehen. Zunächst gilt es, die Schülerinnen und Schüler zu sensibilisieren, der Webspace muss erst noch gebaut werden. Und viele Fragen sind noch offen. Schon bald kristallisierte sich aus den Treffen mit Com&Com heraus, dass ein Möglichkeitsraum in Form einer Social Community für die Schüler vorhanden sein muss. Dieser sollte dem den Schülern bekannten SchülerVZ ähneln und ein abgeschlossener Raum in der virtuellen Welt sein. cc-space sollte nur für die am Projekt beteiligten Schüler zugänglich sein! Für die Umsetzung lag es zunächst nahe, mit einem Content Management System (CMS) wie Drupal oder Joomla zu arbeiten. Da hier durch Erweiterungen (Packages) relativ einfach verschiedenste Optionen hinzugefügt werden können und es relativ einfach ist, eine Social Community zu erstellen, ohne auf einer Code-Ebene agieren zu müssen. Durch diese Bedingung kam eine Nutzung einer bestehenden und offenen Community (z.B.: SchülerVZ), auch innerhalb einer Gruppe, nicht in Frage. Die Schüler hätten hier die Möglichkeit, mit ihren gefakten Identitäten auch außerhalb dieser Benutzergruppe zu agieren, was nicht im Sinne der Communities ist. Denn es ist nicht erlaubt, Personen zu »erfinden«. Somit fielen die bestehenden Social Communities weg, da hier das Problem der Öffentlichkeit und Zugänglichkeit gegenüber dem Vorhaben, einen geschützten Versuchsraum zu haben, bestand. Hierbei ergab sich aber das Problem der Verantwortung gegenüber den Schülern und das Problem, dass diese Communities erst nach einigem Umbau für das Projekt geeignet gewesen wären: Auch hätte man die sichtbare Oberfläche komplett nach eigenen Wünschen umbauen müssen. Aus diesen Gründen wurde für das Projekt cc-space eine neue Community erstellt. Die zu Grunde liegende Datenbank ist nun eine mySQL Datenbank mit einer PHP5 Oberfläche, deren Erscheinungsbild die Corporate Identity von cc-space bildet. Diese entstand in Anlehnung an Com&Com und SchülerVZ, um den Zugang für die Schüler zu erleichtern. Das ganze Projekt wurde auf einem privaten Server gehostet. Somit musste eine eigene Social Community, nur für dieses Projekt, entstehen. Die elementaren Funktionen sollten sein: Neue Benutzer anmelden, Sicherheitsabfrage (damit nur autorisierte Personen einen Benutzer erschaffen können); ein Schüler/eine Schülerin kann sich auch mit mehreren Benutzernamen anmelden; Benutzer haben ein Profil (Name, Ort, Alter, Hobbys, Lieblingsfächer etc.); Benutzer können die Profile gegenseitig betrachten; Benutzer können ein Bild zu ihrem Profil hinzufügen/ändern; Benutzer können sich gegenseitig Nachrichten auf einer Pinnwand hinterlassen (die innerhalb dieser Community öffentlich ist); Benutzer können sich gegenseitig als Freunde hinzufügen (mit Einverständnis des Angefragten); Benutzer können nicht-öffentliche Nachrichten an einen anderen schicken. Neben diesen Basis-Funktionen wären noch weitere Funktionen bzw. Möglichkeiten interessant gewesen. Wie »Petz-Funktion«, »Hitlisten«, »SuperUser«, »Gruppen eröffnen« oder andere bereits aus Social Communities bekannte Funktionen. Diese konnten aber aus Zeitmangel nicht realisiert werden. Hat man eine Community erstellt, muss diese noch für alle Nutzer zugänglich sein. Hierzu benötigt man einen Host, in diesem Fall einen Host, der auch eine Datenbank zulässt. If you try this at home ... Vorsicht! Es ist nicht ganz einfach, sich so weit hineinzufuchsen, aber auch als Kunstlehrerin ist dies machbar. Vielleicht gibt es auch jemanden, der helfen kann und einen bei einem solchen Projekt unterstützt. Aber man sollte immer die »Gefahren« im Auge behalten, damit sich das Ganze nicht verselbstständigt und unkontrollierbar wird. Dies kann von technischer Seite her passieren (Bsp.: Andere Leute kommen durch die Sicherheitsabfrage und agieren in der Community), aber eben auch durch die Benutzer (Bsp.: Schüler fangen an, sich zu mobben und zu beleidigen). In diesen Fällen muss einem die Verantwortung bewusst sein, und man kann nicht einfach abschalten und so tun, als ob nichts gewesen wäre. 82 / 83 kiss Theresa Rieß / Com&Com Unterricht »Er hat nur Bier, Würstchen, Senf, eine Zeitung und kein Benzin in der Tankstelle gekauft. Also muss dieser Mann, der sich gerade auf die Stelle eines Grundschullehrers bewirbt, ein geselliger und alleinstehender Typ sein, der gerne Freunde einlädt, aber kein Auto hat.« Die Unterrichtseinheit cc-space verläuft in drei Abschnitten: 1 Heranführung an die Thematik der Identität und Fiktion. Diese Auseinandersetzung könnte auch zu einer eigenständigen Unterrichtseinheit ausgebaut werden, wobei hier der fiktive Möglichkeitsraum nicht in einem virtuellen Raum im digitalen Sinne endet. 2 Die Phase des experimentellen Agierens im virtuellen Raum cc-space.de und parallel dazu die Reflexion der Kommunikationsformen und der Generierung von Identitäten. 3 Schließlich die Präsentation des Projekts in einer Ausstellung sowie der persönliche Kontakt mit den Künstlern. In ersten Teil der Unterrichtseinheit erfinden die Schülerinnen und Schüler fiktive Personen, die in der Folge miteinander in Kontakt treten. Diese Figuren und die Formen ihres jeweiligen Umgangs miteinander werden im Anschluss visualisiert. Schließlich werden die fiktiven Personen durch Muster beschrieben und analysiert. Den Einstieg bildet die Erschaffung von fiktiven Personen in Gruppenarbeit. Jedes Team bekommt einen Umschlag mit verschiedenen »Ausgangsmaterialien«. In einem Umschlag befinden sich etwa eine Zugkarte, eine Parfum-Probe, ein Einkaufszettel und eine Stellenausschreibung zum Bibliothekar. In einem anderen ein Gutschein für ein Fitness-Studio, eine Fußballeintrittskarte und ein Zugticket. In einem dritten Umschlag befinden sich Informationen zur DADA-Bewegung etc. Zu diesem Zeitpunkt wird noch keine Verbindung zu Com& Com und zum Feld der Kunst hergestellt, dies wird erst im späteren Verlauf der Unterrichtseinheit thematisiert. Aus diesen zur Verfügung gestellten Materialien »erfinden« die Schülerinnen und Schüler nun eine Person und versehen diese mit Bildern aus den Printmedien. Solche und ähnliche Schlussfolgerungen werden am Ende der Stunde vorgestellt und durch das Zusammenwirken der Bilder und der Beschreibungen entsteht ein detailliertes Bild zu den fiktiven Personen. So auch zu den eingeflochtenen Elementen über DADA: »Das ist ein Kind. Mit einem Schnuller, der Dada heißt. Dieses Kind muss so 3 Jahre alt sein. Es ist echt moppelig.« Im nächsten Schritt wird per Losverfahren eine Zuordnung der fiktiven Figuren zu den einzelnen Schülern vorgenommen. Jeder kennt die nun »anwesenden« Personen. Über das Zusammentreffen zweier Personen werden Geschichten und Dialoge erfunden. Diese werden schriftlich festgehalten und den anderen Schülerinnen und Schülern vorgestellt. Plötzlich passiert es, dass auf einmal Robert seine alte Freundin Almut trifft: »Was machst du so? – Ich bewerbe mich hier an der Uni als Professor. – Ahaaa – Und du? – Ach ich bin auf der Durchreise.« [M4] Alles ist möglich. So könnte das Kind mit dem Schnuller namens Dada bereits erwachsen geworden sein. 84 / 85 kiss Theresa Rieß / Com&Com einheit. Durch die Kommunikation zwischen Fiktionen kann eine Hinterfragung der eigenen Identitätskonstrukte in Gang kommen. Derart können statische, festgeschriebene Identitäten gelockert werden; es kann zu Verschiebungen und Erweiterungen der Identitätskonzepte kommen. Konkret lautet die Frage: Was macht eine Person aus? Setzt sie sich aus realen genauso wie aus fiktiven Anteilen zusammen? Was muss man über eine Person wissen, um in fantastischen Welten ein Eigenleben zu haben? Den Namen? Das Alter? Gemeinsam werden Kriterien erarbeitet und Steckbriefe entworfen. So bereiten die Schülerinnen und Schüler sich auf den Eintritt in den virtuellen Raum vor. Der zweite Teil der Unterrichtseinheit beginnt. Den vorangegangenen Part haben die Schülerinnen und Schüler als Sensibilisierung, als Trockenübung im Hinterkopf. An diesem Punkt der Auseinandersetzung mit den bereitgestellten Materialien werden die Schülerinnen und Schüler mit Com&Com und deren Projekt »GugusDADA« bekannt gemacht. Durch den entstandenen Bezug zu dieser kleinen Figur, die als fiktive Person bereits ein Eigenleben führt, entsteht reges Interesse an der Kunst von Com&Com. gebaut. Sie erhalten den Arbeitsauftrag, den wichtigsten und treffendsten Moment der Dialoge der durch das Losverfahren zugeteilten Geschichten zu finden. Dieser Moment soll mit einem Foto dokumentiert werden. Als es darum geht, die Personen und Szenen »in Szene« zu setzen und mit einer Digitalkamera zu fotografieren, wird es turbulent. [M5] Die Schülerinnen und Schüler beschaffen sich Kleidung zum Verkleiden, proben, agieren, beziehen Litfasssäulen mit ein, ein parkendes Auto wird zum Hintergrund, kurzerhand wird ein Fahrkartenautomat In der nächsten Stunde herrscht gespannte Erwartungsstimmung. Wie sind die ausgedruckten Fotos geworden? Welches ist am besten? Welches bringt die Geschichte genau auf den Punkt? Wer spielte am überzeugendsten Ben, Almut, Mischa, Katerina? Die fotografierten Szenen der Schülerinnen und Schüler werden nun, einem Realitätsbeweis gleich, an Schnüren zwischen den Plakaten der einzelnen Personen befestigt. Dadurch entsteht ein visualisiertes Kommunikationsnetz. Durch diese materialisierte Form der Vernetzung werden die zunächst im Kopf produzierten Bilder und Vorstellungen gleichsam veräußerlicht. Es wird möglich, die Grenze zwischen Realität und Fiktion und das Medium der Fotografie zu reflektieren. Der Beschäftigung der Schülerinnen und Schüler mit ihren eigenen Fotos wird die Auseinanderset- Fragen, die auf die Überprüfung und Reflexion der Herstellung der eigenen Identität abzielen, sind ein zentrales Moment der Unterrichts- 19 Vgl. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen, 4. überarbeitete Auflage 1989 (European Photography). 20 Beim Anmelden werden mehrere Sicherheitsabfragen zur Überprüfung der Authentizität gestellt, denn es ist sehr wichtig, die Sicherheit zu haben, dass die Gruppe tatsächlich nur aus den bekannten »Mitspielern« besteht und keine unbekannten Personen dabei sind. zung mit einer Arbeit von Com&Com vorangestellt. Wir schauen uns einige Videostills aus dem Projekt »Side by Side« an. Aus dem Umgang mit den Stills entstehen eigene Fiktionen, die der von Com&Com erzählten Geschichte sehr ähneln. Ein Foto als Realitätsversprechen?19 Im cc-space haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, sich in einer virtuellen Community zu bewegen. Die Social Community im cc-space ist nur den am Projekt beteiligten Schülerinnen und Schülern zugänglich.20 In diesem virtuellen Raum können sie Dinge in einer Art »(noch-)NichtSchwimmerbecken« ausprobieren, ohne dass dies zu unangenehmen Konsequenzen führt. Sie können Möglichkeiten und Grenzen erfahren, haben dabei aber die Sicherheit, dass es einen regulierenden Mechanismus im Hintergrund gibt, der zur Not eingreifen und Probleme thematisieren kann. Nun liegt es an den Schülern, ob sie diesen Möglichkeitsraum mit ihrer Präsenz füllen. Um das anzuregen, wird der Webspace in einem ansprechenden Design präsentiert. Mit aufforderndem Pink leuchtet dieser Raum in die Welt der Schülerinnen und Schüler hinein. Die Gestaltung weist zwar Ähnlichkeiten mit SchülerVZ auf, der Raum ist jedoch viel stärker personalisiert. Der Arbeitsauftrag besteht darin, sich auf ein Spiel einzulassen, sich auf einen geheimen Pakt einzulassen. Es kommt durchaus ein Moment der Verführung zum Einsatz: 86 / 87 kiss Theresa Rieß / Com&Com In einer Ecke des Ausstellungsraumes, den die Schülerinnen und Schüler in grellem Pink mit einem großen Logo des cc-space gestrichen haben, steht ein Computer, auf dem die »eingefrorene« Plattform cc-space mit Navigationsmöglichkeiten präsentiert wird. Die Nachrichten, die dort verschickt werden können, erreichen nur »den großen Anderen«23 – auch wenn sie an einen direkten Adressaten geschickt werden, denn diesen werden sie nie erreichen. Denn das Kennzeichen des der Öffentlichkeit präsentierten »eingefrorenen« Systems ist, dass es keine Verbindung nach außen unterhält. »Ihr sollt euch selbst mit einem Profil anmelden. Zudem sollt ihr eine oder mehrere ›gefakte‹ Personen erschaffen, entweder in Teams oder alleine!« [M6] [M7] Es besteht die Möglichkeit nachzufragen, Hilfestellung zu bekommen, in einem provisorischen Fotostudio gestellte Fotos von sich bzw. den »erfundenen« Personen zu machen, für Realitätsbeweise im cc-space. Auf Anfrage der Schülerinnen und Schüler melden sich Com&Com als nun greifbarer gewordene Künstler an. Doch was die Schülerinnen und Schüler noch nicht wissen: Auch Com&Com spielen das gleiche Spiel. Während ich mit dem Abfassen dieses Textes befasst bin, befindet sich das Ausstellungsteam, welches mit der Präsentation der Unterrichtseinheit betraut ist, noch in der Planungsphase. Da bis zum jetzigen Zeitpunkt, vor der öffentlichen Ausstellung, nicht klar ist, wer wer ist im virtuellen Raum, und hierüber viele Vermutungen kursieren, liegt es nahe, im Rahmen der öffentlichen Präsentation eine »Enthüllung« der Identitäten vorzunehmen. Die Schülerinnen und Schüler veranstalten eine Performance, in der sie sich den fiktiven Profilen zuordnen. Viele Schülerinnen und Schüler haben mehrere fiktive Identitäten betreut. Sie entscheiden sich, bei der Ausstellung nicht alle, sondern nur bestimmte Profile zu zeigen. Der Möglichkeitsraum cc-space öffnet sich und ein sehr komplexes System beginnt, sich selbst zu generieren, eine Eigendynamik zu entwickeln, die von keinem Einzelnen mehr steuerbar ist. Es ist ein Raum eröffnet, der sich nach eigenen Gesetzen ordnet und wächst. Ähnlich verhält es sich im Mocmoc-Projekt. Mit dem »zufälligen Finden« der Legende wurde zunächst ein Möglichkeitsraum eröffnet. Was sich daraus entwickelt, war vor-zu-überlegen. Es gab Vorstellungen von dem, was passieren könnte, was passieren müsste und was man evozieren könnte. Aber der ganz konkrete Verlauf war offen, nicht planbar. In dieser Phase des Projekts wird den Schülerinnen und Schülern eine Einführung in das MocmocProjekt 21 von Com&Com gegeben. Die Legende wird vorgetragen und davon ausgehend entwerfen sie einen möglichen Verlauf, eine Schilderung, wie es nach dem Finden der Geschichte weitergehen könnte. Sie tragen diese Fiktion in die Reflexion über Mocmoc und seine Geschichte hinein. Umgekehrt verschaffen sie Mocmoc Zugang zu ihrer eigenen Lebenswelt. Wie die Kinder von Romanshorn. Fiktion ist kinderleicht!22 Die Schülerinnen und Schüler suchen den Kontakt mit Com&Com im cc-space. Es werden Fragen formuliert wie: »Wie ist es Künstler zu sein? Bist du wirklich der von Com&Com?« Der virtuelle Raum wird angenommen und besetzt. Nach kurzer Zeit tummeln sich dort ca. 70 Identitäten. In der Ausstellung werden jeweils ein Ausdruck des virtuellen Profils und ein leerer Stuhl darunter zu sehen sein, für einen kurzen Moment wird diese Leerstelle besetzt. Was aber bleibt? – Nur der Realitätsbeweis durch ein Foto? Oder doch mehr? Wer ist wer? Wer ist »echt«? Mit wem spreche ich? Kann ich sicher sein, dass sich hinter einem in der »realen« Gruppe existierenden Namen auch die »reale« Person verbirgt? Wer spricht hier? Diese Fragen werden virulent, aber der Pakt wird weiterhin eingehalten: Die Teilnehmer verraten ihr geheimes Double nicht. »Wer bist du?« – Und dadurch auch: »Wer bin ich, wenn ich nicht du bin?« Den Abschluss der Unterrichtseinheit bildet eine Präsentation des Projekts im Kunstraum »Stellwerk«. Bei dieser Präsentation werden Com& Com »ganz echt«, in Real Life, anwesend sein. Stühle stehen in einem Raum – Platzhalter für Personen. Darüber hängen Profile aus dem ccspace. Dort ist zu lesen, was Ebbie (Spitzname Ebb) als Lieblingsfach hat, was ihr Lieblingsbuch ist, welche Hobbys sie hat. Doch wer steckt hinter Ebbie? Die Künstler? Eine Schülerin, ein Schüler oder ein Team aus Schülerinnen und Schülern? Bevor die Präsentation der Öffentlichkeit zugänglich wird, treten Com&Com mit den Schülerinnen und Schülern in einen direkten Kontakt. Im gemeinsamen Gespräch geben Com&Com den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zur Reflexion der bisherigen Unternehmungen auf einer Metaebene. Auch die Einbindung der beiden Künstler in den cc-space tritt zutage. Die Erkundung der Wurmlöcher zeigt Folgen: Die Schülerinnen und Schüler und Com&Com befinden sich für einen Moment lang im selben Raum. Die Besucher können kommen … 24 stolze Schülerinnen und Schüler zeigen ihr »Werk«. 21 Siehe Vorstellung der Arbeiten von Com&Com im ersten Teil: Mocmoc. 22 Vgl. Pazzini, Karl-Josef: »Das zu Lesende«, a.a.O. 23 Vgl. hierzu Lacan, Jacques (1966): »Das Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«, in: Ders.: Schriften I, Olten/ Freiburg i.Br. 1973, S. 7–60. 88 / 89 kiss Theresa Rieß / Unterrichtsmaterialien Com&Com Monografische Kataloge Literatur Johannes M. Hedinger 1971 Geboren in St. Gallen Studium der Kunst an der Hochschule der Künste Zürich sowie der University of California Los Angeles; Studium der Kunstgeschichte/Cultural Studies/Filmwissenschaft/Deutsche Sprachwissensenschaft an der Universität Zürich und an der Humboldt Universität Berlin Seit 2006 Dozent an der Hochschule der Künste Zürich ZHdK Seit 2007 Dissertation an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.) TELL STAR Luzern 2002 Pazzini, Karl-Josef Das zu Lesende In: Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.): Kunst, öffentlicher Raum, Identität. Mocmoc, das ungeliebte Denkmal, Sulgen/Zürich 2004, S. 42–46 Marcus Gossolt 1969 Geboren in St. Gallen Studium der Architektur und Kunst an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel; Studium der Kunst- und Medienwissenschaften an der Kunsthochschule für Medien Köln Seit 2005 Projektagentur Alltag für visuelle und strategische Kommunikation Literatur Werke (Auswahl) 2002 Projekt »Side By Side«, www.side-by-side.ch seit 2003 Projekt »Mocmoc«, www.mocmoc.ch 2004 –2006 Projekt »GugusDADA«, www.gugusdada.ch Monografische Kataloge Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.) Die Odysee Zürich 1998 Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.) THE BOOK OF COM & COM Zürich 1999/2000 Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus Com&Com. C-Files: Tell Saga Zürich 2001 Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.): WE LOVE YOU Zürich Fink 2002 Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.) Kunst, öffentlicher Raum, Identität. Mocmoc, das ungeliebte Denkmal Sulgen/Zürich 2004 Baumann, Daniel Interview. Daniel Baumann im Gespräch mit COM&COM In: Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.): COM&COM. the artists formerly known as Marcus Gossolt and Johannes M. Hedinger. Nr. 3, Zürich 2000 Flusser, Vilém Eine Philosophie der Fotographie Göttingen, 4., überarbeitete Auflage 1989 (European Photography) Bildbeispiele B1 Side by Side Die beiden Rennfahrer, Videostill Pazzini, Karl-Josef Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte In: Thesis. Tatort Kunsterziehung, Nr. 2, 2000, S. 8–17 Žižek, Slavoj Lacan. Eine Einführung Frankfurt a.M. 2008 Internetquellen Reformschule Kassel www.reformschule.de COM&COM www.com-com.ch Still aus dem Videoclip »Side by Side« aus dem gleichnamigen Projekt (2002) Zitiert nach: http://www.side-by-side.ch/index3. php vom 14.10.2008, mit freundlicher Genehmigung von Com&Com © Com&Com B2 Der kleine Dada Guggenheim, Gilgi; Tschirky, Marius Die Legende von MocMoc In: Hedinger, Johannes M.; Gossolt, Marcus (Hg.): Kunst, öffentlicher Raum, Identität. Mocmoc, das ungeliebte Denkmal, Sulgen/Zürich 2004 Hedinger, Johannes M. Mocmoc – Kann man Mythen fälschen? In: Kirschenmann, Johannes; Schulz, Frank; Sowa, Hubert (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006 Hedinger, Johannes M.; Meyer, Torsten Der Journalist ist unser Pinsel In: Kirschenmann, Johannes; Schulz, Frank; Sowa, Hubert (Hg.): Kunstpädagogik im Projekt der allgemeinen Bildung, München 2006 Meyer, Torsten Interfaces,Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie Bielefeld 2002 Foto aus der Galerie der Homepage zum Projekt »GugusDADA« (2004–2006): »dada pk3« Zitiert nach: http://www.gugusdada.ch/?q=node/ view/124 vom 14.10.2008, mit freundlicher Genehmigung von Com&Com © Com&Com 90 / 91 kiss Theresa Rieß / Unterrichtsmaterialien Bildbeispiele B3 Mocmoc Das Mocmoc-Denkmal vor dem Bahnhof in Romanshorn Materialien Refrain Side by side we stand Sons of Switzerland. In god unite Stand up and fight For our faith and right. Vers 2 We are chilling at the bar Girls close, fat ladies far Better close your jaw. We, we are just top of the line We are the best at the time Wanna try, stand behind. Bestandteil des Projekts »Mocmoc« (seit 2003) Zitiert nach: http://www.com-com.ch/arbeiten/22 vom 14.10.2008, mit freundlicher Genehmigung von Com&Com © Com&Com Materialien M1 Pre-Refrain Again we’re standing face to face With danger – it’s another race To fight and win’s our only choice Together we’ll sing at one voice … Performed by Com&Com, featurig Dieter Meier Text: Johannes M. Hedinger / Mike Moling / Sergio Fertitta / Leeshy Delle Torre / Dieter Meier Musik: Manuel Stangars / Johannes M Hedinger / Sergio Fertita Audiofile zum Anhören unter www.side-by-side.ch Com&Com Songtext zu »Side by Side« Intro For the glory of my country Switzerland We are ready to give everything Because our life is the race And the race is our life. Vers1 We, we are what we are Crazy people in a big fat car Shining like a star. We, we are the best to entertain you try to imitate, it’s a shame, it‘s our game, our fame. Pre-Refrain Again we’re standing face to face With danger – it’s another race To fight and win’s our only choice Together we’ll sing at one voice: M2 Die Legende vom Mocmoc Vor langer Zeit, als die Menschen noch mit Zwergen und Elfen sprechen konnten, lebte in einem Dorf am Bodensee ein Fischerjunge. Er hiess Roman. Jeden Morgen, bevor die Vögel erwachten und die Eule von ihrer Jagd zurückflog, ruderte Roman in seinem Boot zu den Fischen hinaus. Seinen Fang tauschte er jeweils im Dorf gegen Brot und Äpfel ein. Roman sprach wenig. Da er beim Sprechen stotterte, nannten ihn die Dorfbewohner »Staggerlrömeli«. So sagte er nur noch dann etwas, wenn es ihm ganz wichtig war. Und besonders wichtig war im Babeth. Sie lachte ihn nie aus, wenn er mit ihr sprach. Ihr langes rotes Harr flocht sie jeden Tag zu Zöpfen. Ihre Augen leuchteten braunorange wie ein Sonnenaufgang über dem See. Roman hatte Babeth sehr gern. Aber es fehlte ihm der Mut, es ihr zu sagen. Er dachte, Babeth würde einen solch schüchternen Jungen bestimmt nicht mögen. Eines Tages, als Roman draussen auf dem See war, hing im Dunkel der Morgendämmerung kein einziger Nebelfetzen. Es sollte ein schöner Morgen werden. Gross und schwer und warm kam die Sonne über das Wasser. Roman mochte Sonnenaufgänge – da bekam er immer Sehnsucht nach Babeth. Wie so oft wünschte er sich, er wäre ein Fisch. Dann müsste er nie mehr sprechen und hätte trotzdem einen Schwarm Freunde. Als er dies dachte, fühlte sich Roman so sehr einsam, dass ihm der Hunger verging und er seinen angebissenen Znüniapfel ins Wasser warf. Er beugte sich über den Bootsrand und betrachtete den Apfel wie er zwischen den Ringen seiner Tränen schwankte. In den Stahlen der Sonne waren Romans Tränen besonders schwer und dick. Sie perlten wie die ersten Tropfen eines Sommergewitters auf dem ruhigen See. War da nicht soeben etwas unter seinem Boot vorbeigehuscht? Eine Forelle war es nicht. Roman hörte unmittelbar zu schluchzen auf. Da! Noch einmal … War er nicht alleine? Langsam tauchte ein schwarzes, leicht gekrümmtes Horn aus dem Wasser auf. Das kann keine Kuh sein, dachte sich Roman, denn die hätte zwei Hörner. Ausserdem können Kühe nicht schwimmen – das wusste er ganz genau! Nach und nach erschien an der Wasseroberfläche der Körper eines gelben Wesens, das nicht viel grösser war als der Fischerjunge selbst. Und während Roman wie versteinert in seinem Boot sass, verzehrte dieses gelbe Wesen genüsslich seinen Apfel! »Mmokmogg …?«, lächelte es und seine spitzen kleinen Zähnchen kamen zum Vorschein. »Mmokmogg …?«, sagte es wieder und winkte ihm freundlich mit einer Flosse zu. Der Fischerjunge räusperte sich: »Roman … ich bin Roman!« »Warum bist du so traurig?«, fragte das lustige Wassertier. Roman fühlte ganz fest, dass es ihm wohlgesonnen war, und begann zu erzählen. Er sprach vom Dorf und seinen Bewohnern, vom Fischen, vom Sonnenaufgang – und natürlich von Babeth. »Mocmoc«, wie Roman das Wasserwesen inzwischen nannte,schaute ihm mit grossen Augen an und hörte aufmerksam zu. Darauf stillte Mocmoc Romans Neugier, indem es ihm verriet, dass es schon seit Urzeiten im See lebte. Mit seinem Horn habe es schon manches Unheil von den Fischern fern gehalten – und Äpfel habe es zum Fressen gern. Von diesem Tag an trafen sich die beiden jeden Morgen und immer teilte Roman mit Mocmoc seinen Znüniapfel. Niemand wusste, dass Roman einen neuen Freund hatte, doch alle wunderten sich über Romans Lächeln. Die warme Jahreszeit kehrte ein. Dieser Sommer sollte ein ganz besonderer werden. Seit Wochen füllte kein Regentropfen mehr den See und der Wind trocknete jedes feuchte Fleckchen aus. Keine Schnecke wagte sich aus ihrem Häuschen, und wenn man genau hinhörte, konnte man die Blumen seufzen hören, so groß war ihr Durst. In einer solchen Morgennacht waren die beiden Freunde wieder weit draußen auf dem See. Plötzlich zuckte Roman erschrocken zusammen. Er sah etwas Schreckliches: ein helles Feuer am Ufer. Es brannte im Dorf! Um diese Tageszeit schliefen ja noch alle. Jemand musste sie warnen! Roman ruderte so schnell er konnte. Mocmoc half mit, indem es mit seinem Horn das Boot stieß, doch sie waren zu langsam. Die Flammenzungen frassen sich von einem Baum zu nächsten, und schon brannte die erste Scheune. »Babeth, Babeth«, rief Roman so laut er konnte, doch niemand konnte ihn hören. Sie waren viel zu weit vom Ufer entfernt. Da wandte sich Mocmoc mit ernster Stimme an Roman: »Nimm mein Horn und blase hinein! Alle werden aufwachen und sich vor dem Feuer in Sicherheit bringen.« – Roman zögerte. – »Fürchte dich nicht«, sagte Mocmoc ruhig, »es wird mir nicht weh tun, doch werde ich in die Tiefe des Wassers zurückkehren müssen. Erst in hundert Jahren darf ich wieder kommen. Dann wird mir ein neues Horn nachgewachsen sein.« – »Ja, aber – dann können wir uns nicht mehr sehen! Wir sind doch Freunde!«, erwiderte Roman ganz verzweifelt. »Ich werde immer dein Freund bleiben. Ich werde jeden Tag mit meinen Gedanken bei dir sein. Du musst es jetzt tun, Roman, sonst ist es zu spät!« Behutsam und traurig brach Roman das Horn ab. In diesem Augenblick erhellte die Sonne den See zu einem goldenen Teppich. Mocmoc entschwand in die Tiefen des Sees. Nun aber galt es keine Zeit mehr zu verlieren. Entschlossen legte Roman das Horn an seine Lippen, atmete tief durch und blies mit aller Kraft hinein. Es erklang ein lautes Seufzen, gewaltiger als der mächtigste Donner den See je hatte erzittern lassen. Roman weckte auf einen Schlag das ganze Dorf. Die Stille des Morgens war gebrochen. 92 / 93 kiss Theresa Rieß / Unterrichtsmaterialien Materialien Sofort wurde die Gefahr erkannt und jeder Eimer mit Wasser gefüllt, um das Feuer zu bannen. Als Roman das Ufer erreichte, war die letzte Flamme gelöscht und niemand wurde verletzt. Die Menschen versammelten sich auf dem Dorfplatz. Kinder, Frauen und Männer sprachen wild durcheinander. Sie fragten sich, woher wohl dieser fremde Ton gekommen war, der sie gerettet hat. Babeth sah Roman als Erste. Erschöpft stapfte er auf den Dorfplatz zu. In der Hand hielt er das Horn. Ein Horn, wie es nicht einmal der älteste Dorfbewohner je gesehen hatte. »Roman!«, rief Babeth, »Roman hat uns gerettet!« Alle liefen auf Roman zu. Voller Freude hielten sie ihn in die Höhe. Sie feierten ihn wie einen König, denn sie wussten: ohne Romans Horn wäre ihr Dorf am Bodensee niedergebrannt. »Romans Horn hat uns gerettet!«, riefen alle im Chor und jubelten: »Romans Horn! Romans Horn!« Und erst im Morgengrauen verstummten die letzten Rufe. M3 Das cc-space-Logo M5 Katerina hilft Olga Realitätsbeweis zum Treffen der fiktiven Personen? M6 Profil einer fiktiven Person aus dem cc-space SchülerInnen der Reformschule Kassel Mai/Juni 2008 © Theresa Rieß und Com&Com M4 Almut trifft Robert Das Aufeinandertreffen der fiktiven Personen Das niedergebrannte Dach der Scheune wurde wieder aufgebaut. Mit Ziegeln wurde darauf in großen Buchstaben »Romans Horn« geschrieben, um immer an jenen Sommermorgen zu erinnern. Die Geschichte sprach sich weit herum und schon bald wurde das Dorf von allen »Romanshorn« genannt. Das Geheimnis von Mocmocs Horn verriet Roman aber nur seiner besten Freundin Babeth. Bald darauf heirateten sie. Es gab ein wunderbares Fest mitten auf dem Bodensee auf einem großen Schiff, geschmückt mit Apfelblüten. Apfelsaft wurde ausgeschenkt, Lieder wurden gesungen und rote Äpfel in den See geworfen. Ihren Kindern erzählten Babeth und Roman die Geschichte vom Mocmoc, und diese erzählten es wiederum ihren Kindern weiter. Am Ufer von Romanshorn sitzt manchmal eines ihrer Ururenkelkinder und isst einen Apfel. Und wenn es ganz genau hinschaut sieht es weit draußen im See etwas Gelbes hervorblitzen … Hermine, Lisa und Lisanne Nach einer Idee von Johannes M. Hedinger und Marcus Gossolt / Kindergeschichte von Gilgi Guggenheim und Marius Tschirky. Mocmoc © 2003, Com&Com Quelle: http://www.mocmoc.ch/mocmoc.html vom 17.10.2008 Dialog von Schülern der Reformschule Kassel im Mai 2008, © Theresa Rieß © Theresa Rieß 94 / 95 kiss Theresa Rieß / Unterrichtsmaterialien Materialien M7 Profil einer fiktiven Person aus dem cc-space Schüler der Reformschule Kassel Mai/Juni 2008 Glossar M8 Gefakte Identität Johannes M. Hedinger im cc-space Aus dem Gespräch zwischen Com&Com und den Schülern: (O-Töne) »Neue Community ist spannend.« »Erst sinnlos, dann spannend …« »Jemand hat sich unter meinem echten Namen angemeldet.« »Ein zweites Ich, man konnte alles machen.« Social Network Soziales Netzwerk, bestehend aus Freunden und Freundesfreunden. Soziale Felder, in denen sich ein Individuum bewegt. In der digitalen Welt kann dieses weltumspannend sein. Community Eine digitale Form der Vernetzung. Hier treffen sich Benutzer mit gleichen Interessen zum Austausch. In einer Community muss man sich zunächst anmelden, um Zugang zu bekommen. Hat man dies einmal getan, ist man Mitglied einer digitalen Gemeinschaft. SchülerVZ Schüler Verzeichnis. Beispiel einer Community, die nur für den Austausch unter Schülerinnen und Schülern konzipiert ist. Pinnwand Ein Freiraum, meist auf der Profilseite eines Benutzers. Hier können öffentliche Nachrichten hinterlassen werden, die von allen Benutzern eingesehen werden können. Mitteilung/Message Mitteilungen werden entweder an eine oder mehrere Personen geschickt. Diese Mitteilungen sind personengebunden und können nur vom jeweiligen Empfänger gelesen werden. Sozusagen ein digitaler Brief innerhalb der Community, in der man sich bewegt. © Theresa Rieß © Com&Com Profil Früher hätte man dazu Steckbrief gesagt. In einer Community beschreibt ein Profil die sich dahinter verbergende Person. Hier werden Angaben wie Name, Wohnort, Spitznamen, Hobbys, Lieblingsessen … versammelt. Die anderen Benutzer können anhand des Profils eine Vorstellung der Person gewinnen bzw. imaginieren, wer »hinter« dem Profil steckt. Julia Ziegenbein Bedeutungsflächen im Kunstunterricht Das Vermittlungsprojekt »Bilder im Alltag finden … für den sechsten, siebten Blick« Nichts als Linien Über Peter Piller Foto: Alexandra Grieß Peter Piller (*1968) war ab Mitte der neunziger Jahre elf Jahre in einer großen Hamburger Medienagentur nebenberuflich als Belegkontrolleur tätig. Seine tägliche Aufgabe bestand darin, in über 100 Regionalzeitungen zu überprüfen, ob geschaltete Inserate auch wirklich abgedruckt worden waren. Diese Tätigkeit wurde Anlass für Pillers künstlerische Arbeit, aus der inzwischen das »Archiv Peter Piller« hervorgegangen ist, denn hierbei fielen ihm immer wieder abgedruckte Amateuraufnahmen von auf den ersten Blick absurden und zugleich sensationell gewöhnlichen Situationen ins Auge. Nach Motiven und Textunterschriften unterteilt, fasste er nunmehr Tag für Tag, insgesamt siebentausend Bilder in einer subjektiven, bald 100 Sammelgebiete umfassenden Systematik zusammen. 98 / 99 kiss Julia Ziegenbein / Peter Piller Ein Beispiel findet sich im zehnten Band der Reihe »Archiv Peter Piller«, welcher 2006 unter dem Titel »Bedeutungsflächen (Da ist es)« beim Revolver Verlag veröffentlicht wurde: Hier zeigt der Künstler eine Zusammenstellung von Regionalzeitungsfotos, auf denen jeweils eine am linken oder rechten Bildrand stehende Person mit ausgestrecktem Zeigefinger auf eine Brachfläche deutet [B1 A–D]. Wenn Eva Sturm schreibt: »Künstlerinnen […] stellen aus, was gewöhnlich ›nur‹ Medium ist, zeigen auf den Zeigefinger«,1 so präsentiert Piller in dieser Arbeit etwas, das auf den zusammengestellten Amateurfotos stets wie aus Versehen mit abgebildet wird. Auch im Falle seiner »Bürozeichnungen« arbeitet Peter Piller mit den vor Ort gegebenen Materialien: Er zeichnet direkt auf dem verfügbaren Papier besagter Medienagentur und gewährt Einsichten in die systematisierte Alltagswelt der Büroangestellten, »dieser zusammengewürfelten Individuen, die dennoch fünf Tage in der Woche, eine nicht unbeträchtliche Zeit miteinander verbringen, deren ›wirkliches Leben‹ sich jedoch […] an einem anderen Ort […] abspielt«.7 Betrachtet man Pillers Beobachtungen vom Teddybären der Kollegin, der an den Computer der Arbeitskollegin gelehnt dasitzt,8 seine Sammlungen von abwegigen Dialogen unter Kollegen9 oder auch die Aufzeichnung der Kante seines Schreibtisches, wenn er 15 Jahre früher angestellt worden wäre,10 so wird auch hier das Randständige, von dem er in all seinen Arbeiten ausgeht, zum »Zentrum des Systems und der Ort selbst zu dessen Grenze oder Rand«.11 Im Zentrum eines jeden Bildes dieser Serie ist weniger das Bedeutete zu finden als vielmehr der bedeutende Zeigefinger der zeigenden Person. Anders gesagt: Im Mittelpunkt des gezeigten Bildes zeigt sich das Mittel des Zeigens selbst. Damit geht es bei dieser Arbeit im Grunde »um die Kamera und nicht um das, was sie abbildet«.2 In einem Interview der taz sagt Piller: Mit diesen Angeboten zur Verlagerung der Aufmerksamkeit von fertigen Aussagen hin zu Optionen von Welt, die etwa bislang unter der Oberfläche der Kommunikationsmedien der Gesellschaft verborgen waren oder im unmittelbaren Arbeitsalltag nicht sichtbar erschienen, erinnern nicht zuletzt auch Pillers »Büroregeln« wie z.B. »Kollegialen Berührungen entgehen«12 an den Forschungsstil des Soziologen Erving Goffman (1922–1982). In dessen Strategie der »Kontraste und des Fremden«13 bilden nämlich, ähnlich wie bei Piller, gerade »die Ausnahmesituation, der missglückte Moment, der Witz, die extreme Abweichung, die Krise, das Anormale […] eine Brücke zum Normalen und der Verstoß macht die Regelhaftigkeit des Alltags wahrnehmbar«.14 »Ich kann bloß zeigen, wie was aussieht. Darauf hinweisen, woran das Aussehen erinnert. Darauf hinweisen, dass ein zweiter Blick oft lohnend ist.«3 Für diese weniger suchende als vielmehr für Piller typische Tätigkeit des zufälligen Vor findens von seltsam fremden und dennoch vertrauten Alltagsphänomenen erwiesen sich zudem Bilderquellen wie das Internet, professionelle Fotonachlässe oder auch der Fundus einer Firma zur Beseitigung von Blindgängern als ergiebig. Während die seit Jahren wachsende und wuchernde Sammlung als Ganzes nicht ausgestellt wird, sondern jeweils eine unsichtbare Station in einem Durchgang (und damit Sache des Künstlers) bleibt, zeigt Piller ausgewählte Bilderserien, in denen feinsinnige Komik mit kritischer Distanz gepaart ist. Stets aus ihrem funktionalen Entstehungskontext herausgelöst, neu betitelt und nicht selten von der Originalgröße abweichend, werden die Bilder zu Motivgruppen verdichtet und in Form von Bilderflies-Installationen und/oder in Künstlerbüchern in die Gesellschaft zurückgeführt. Mindestens. Wenn nämlich die Fotografie als alltägliches Massenmedium, zum Beispiel in Form von Agenturbildern überregionaler Zeitungen, in ihrem Aussagewert vornehmlich standardisiert und gleichgeschaltet daherkommt, und damit allererst jene Situationen hervorruft, in denen Personen Einweihungsbänder durchschneiden,4 Autos berühren, in Löcher blicken oder Rätselgewinner Geld zeigen,5 besteht Pillers Kunst gerade in der besonderen Aufmerksamkeit, die er den fotografischen Abbildungen jener Situationen beimisst. Denn seine Arbeit – nicht als Kritik, sondern als Hommage an amateurhafte Fotografie gelesen – besteht nicht in dem, was gesammelt, sondern in dem, was daraus gemacht wird.6 So verändern Pillers Titelsetzungen in Kombination mit dem Mittel der Serie insofern die Sehweise der/des Blickenden, als nun überhaupt erst seltsame, Bedeutung tragende fotografische »Verfehlungen« auf dem vorgefundenen Bildmaterial wahrgenommen werden können. Das ins Bild Geratene, eher randständig Gemeinte, das zunächst absurd und fremd Erscheinende gerät in den Blick, wird als das Besondere im Allgemeinen erkennbar. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 Sturm, Eva: »Kunst-Vermittlung ist nicht Kunst-Pädagogik und umgekehrt«, in: Kirschenmann, Johannes; Wenrich, Rainer; Zacharias, Wolfgang (Hg.): Kunstpädagogisches Generationengespräch. Zukunft braucht Herkunft, München 2004, S. 176–182, hier S. 178. Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M. 1980, S. 10. Droschke, Martin: »›Es geht nicht um die Wahrheit.‹ Peter Piller im Interview mit Martin Droschke anlässlich seiner Werkschau bei Barbara Wien in Berlin«, in: taz vom 06.07.2004: www.taz.de/ index.php?id=archivseite&dig= 2004/07/06/a0233 vom 14.10.2008. Piller, Peter: »›Durchschnittene Einweihungsbänder‹. Archiv, Zeichnungen, Photos, Publikationen«. Website des Hamburger Künstlers Peter Piller: www.peterpiller.de vom 17.10.2008. Vgl. ebd.: »Auto berühren«; »In Löcher Blicken«; »Geld Zeigen«. Droschke, Martin: »›Es geht nicht um die Wahrheit.‹ …«, a.a.O. Vgl. Schmidt, Eva: »Das Imaginäre des Büros und die Effizienz von Peter Piller«, in: Piller, Peter (Hg.): Vorzüge der Absichtslosigkeit. Ausstellungskatalog anlässlich der 5. Verleihung des Förderpreises zum Rubenspreis der Stadt Siegen an Peter Piller, Frankfurt a.M. 2004, S. 9–11, hier S. 11. Vgl. Piller, Peter: Vorzüge der Absichtslosigkeit, a.a.O. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Smithson, Robert (1979), S. 177 zit. n. Berg, Stephan: »Im Labyrinth der Kartografie«, in: Berg, Stephan; Engler, Martin u.a. (Hg.): Die Sehnsucht des Kartografen. Ausstellungskatalog Kunstverein Hannover 2004, S. 4–7, hier S. 7. Vgl. Piller, Peter: »Büroregel«, in: Vorzüge der Absichtslosigkeit, a.a.O. Erving Goffman »greift zur Untersuchung des Normalen auch das Gegenteilige auf und wendet sich dem Anormalen zu«, s. Heil, Christine: Kartierende Auseinandersetzung mit aktueller Kunst. Erfinden und Erforschen von Vermittlungssituationen, München 2007, S. 75. »Indem er sich als ›Außenstehender‹ mit der zu erforschenden Sozial- und Sinnwelt vertraut macht, erfährt er deren Besonderheit als Ensemble von Differenzen zu seinen eigenen Selbstverständlichkeiten«, Herbert Willems 2004, S. 44 zit. n. ebd. Heil, a.a.O., S. 82. Vgl. ebd., S. 27. Die Kartografie ist hingegen »die Wissenschaft und Technik der Herstellung von Land- und Seekarten. In diesem Bereich wird das Kartieren das Vermessen einer Landschaft und ihre Darstellung auf einer Karte verstanden. Kartieren heißt auch «in eine Kartei einordnen«, d.h. etwas wird in eine bestehende Ordnung einsortiert […] Eine Kartierung kann demnach als eine Form der Bestandaufnahme und der Einordnung angesehen werden […] in Wirtschaftszusammenhängen meint ›mapping‹ […] auch das Entschlüsseln. Das deutet darauf hin, dass Kartierungen Erkenntnisfunktion haben«, ebd., S. 25. Vgl. Küng, Max: »In Ordnung! Künstler Peter Piller kriegt alles auf die Reihe«, in: Das Magazin 2007/37, Artikel vom 16.09.2007 unter http://dasmagazin.ch/index.php/in-ordnung/ vom 11.10.2008. Vgl. Berg, Stephan: »Im Labyrinth der Kartografie«, in: Berg, Stephan; Engler, Martin u.a. (Hg.): Die Sehnsucht des Kartografen. Ausstellungskatalog Kunstverein Hannover 2004, S. 4–7, hier S. 5. Julia Ziegenbein im Gespräch mit Peter Piller in seiner Hamburger Wohnung Fotos auf den Folgeseiten: Alexandra Grieß Vor diesem Hintergrund kann Peter Pillers Arbeitsweise insgesamt als soziologisch-künstlerische Kartierung des Randständigen im Alltag bezeichnet werden. So umfasst der Begriff der Kartierung nach Christine Heil »Vorgehensweisen des Beobachtens, Sammelns, Kommunizierens und Aufzeichnens«15 – all diese Vorgehensweisen sind auch bei Peter Piller zu finden. Ein weiteres wichtiges Beispiel hierfür ist die Arbeit »Peripherienwanderung Bonn«. Hier umrundete Peter Piller das Stadtgebiet entlang der Besiedlungsgrenzen und der angrenzenden Natur. Sein Blick richtete sich stets auf einen Bereich, wo die Dinge aufhören, bevor andere wieder anfangen. Zeichnend, fotografierend, schreibend, entstanden vom Rande aus Bilder, deren Sinn »sich nicht nach dem ersten Blick erschliessen sollte […] Und auch nicht nach dem zweiten.«16 Mit jedem Medienwechsel stellt er sich der Tatsache, »dass jede Karte […] ein Text ist, der nicht nur informiert, sondern auch desinformiert, nicht nur eine Fülle von Sachverhalten verdichtet enthält, sondern auch eine Fülle ver weigert«.17 Stets ist das Ergebnis »ein Bild«, wie er sagt, »für den sechsten, siebten Blick […], auf dem niemand 100 / 101 kiss Julia Ziegenbein / Peter Piller Durchgangsstation Die Begegnungen mit Peter Piller mehr sehen kann, worum es eigentlich geht«18 – außer eben um »die vagen begrenzungen der gärten, die hausflure als braves niemandsland, die übergänge von nutzland zur brache, die ratlosigkeit der jugendlichen über spuckeseen an endhaltestellen«.19 [B2, B3 A–C] Doch Peter Piller bewegt sich nicht nur bei Bonn, dem Ruhrgebiet, Hamburg oder anderswo strukturell ambivalent an der Peripherie zwischen der Sehnsucht des Kartografen nach Zusammenhang, Ordnung und Sinn und dem Wissen um die damit gleichzeitig einhergehende Unmöglichkeit eines Ineinanderfallens von Zeichen und Bezeichnetem. Jede seiner Arbeiten erinnert an die von Gilles Deleuze und Félix Guattari entworfene Figur des Rhizoms als netzförmige Weltkarte, in der es keine Punkte oder Positionen gibt, sondern nichts als Linien. Die rhizomatische Karte ist wie die Piller’sche offen, »sie kann in allen ihren Dimensionen verbunden, demontiert oder umgekehrt werden, sie ist ständig modifizierbar«.20 [B4] Wenn Eva Sturm in ihrem Entwurf einer rhizomatischen Kunstvermittlung resümiert, dass auch »ein Lehrer oder ein Vermittler ›mit dem arbeiten [solle], was sich zeigt‹, um Anschlussstellen an das wachsende rhizomatische Netz zu finden«,21 sind Pillers Kartierungen in diesem 18 Vgl. Küng, a.a.O. 19 Vgl. Piller, Peter: Materialien (B) Peripherienwanderung Bonn, Bonn: Beethovenstiftung, Frankfurt a.M. 2007. 20 Vgl. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1976): Rhizom, Berlin 1977, S. 21. 21 Vgl. Sturm, Eva: Mythos rhizomatische Kunstvermittlung? Zum Beispiel das Projekt what>. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Kunstpädagogische Positionen. Mythos Widerstand?« an der Universität Hamburg, FB Erziehungswissenschaft, gehalten am 19.06.2006, zit. n. Heil, a.a.O., S. 339. 22 Vgl. Berg, Stefan: »Im Labyrinth der Kartografie«, in: Berg, Stephan; Engler, Martin u.a. (Hg.): Die Sehnsucht des Kartografen. Ausstellungskatalog Kunstverein Hannover, Hannover 2004, S. 4–7, hier S. 7f. die Unterrichtseinheit auf Interesse stießen und dass meine erste Vorlage viele Anknüpfungspunkte für eine weitere Ausarbeitung in Kooperation mit Peter Piller bereithielt. Zusammenhang insbesondere für die Kunstvermittlung an Schulen interessant. Wird nämlich im Kontext Schule mit Stephan Berg von einem Individuum ausgegangen, »das sich aufgrund seiner historischen Entwicklung selbst in einer Randsituation erlebt, […] selbst fragil und disparat geworden […] nicht mehr souverän über eine teleologisch geordnete Wirklichkeit [verfügt]«,22 geben Peter Pillers vom Rand ausgehende Kartierungen bereits Bezugsräume und Vermittlungsstrukturen vor, die für die Lebensrealitäten der Schülerinnen und Schüler relevant sind. Zur Überarbeitung meines ersten Unterrichtsentwurfes vereinbarten wir ein Treffen in Peter Pillers Hamburger Wohnung, deren Schnitt an sein Archiv erinnert. Sie ist in erster Linie strukturiert durch einen Durchgang: Ein Flur trennt den Bereich der »Arbeit« – den kleinen Raum mit all den gesammelten Bildern am einen Ende – von dem des »Lebens« – dem Wohnzimmer am anderen Ende. Mein erster Eindruck in diesem fremden Zwischenraum: »Ich habe wirklich Glück gehabt.« Vielleicht habe ich das Glück einer absichtslosen Suche, wie sie Peter Piller zueigen ist, verspürt, denn eine genaue Vorstellung, wie dieses Treffen sein würde, hatte ich mir bis zu dieser ersten Station nicht gemacht. Ich sollte Glück behalten, denn nicht nur das erste, sondern auch das zweite und dritte Treffen zeigten mir, dass meine Überlegungen für Gemeinsam gingen wir Schritt für Schritt meinen Entwurf durch, wobei zu erwähnen ist, dass Peter Piller etwa alle fünf Minuten mit den Worten »Kennst du den schon?«, »Kennst du die Künstlerin?«, oder »Da hab ich noch was, warte kurz«, am anderen Ende des Raumes einen Katalog nach dem anderen aus seiner umfangreichen Büchersammlung hervorholte. So stapelte sich eine be achtliche Sammlung an künstlerischen Verwandtschaf ten, theoretischen Referenzen und auch persönlichen Favoriten von Peter Piller nach und nach neben mir auf dem Tisch. Darüber hinaus überreichte er mir eine CD mit sämtlichen Powerpoint-Präsentationen seiner Vorträge und die Kataloge »Vorzüge der Absichtslosigkeit«, »Materialien (B) – Peripheriewanderung Bonn«, und »Nijverdal/Hellendoorn«. Nach meinen Begegnungen mit Peter Piller hatte ich den Eindruck, nicht nur Ansätze hinsichtlich des Unterrichtsprojektes gesammelt, sondern auch wertvolle Tipps für mein eigenes künstlerisches Arbeiten erhalten zu haben. Auf diesem Wege nochmals herzlichen Dank für die Zusammenarbeit. 102 / 103 kiss Julia Ziegenbein / Peter Piller Produktives Verirren Vermittlung der Arbeiten Peter Pillers in der Schule Galerie in Form eines Bilderpools zusammengefasst.23 Dieser Pool ist, ungeachtet der ursprünglichen Autorschaft, für alle Schülerinnen und Schüler sowohl jederzeit als auch (möglichst) vielerorts zugänglich und ermöglicht die Erprobung des Sammelns und Zusammenstellens von selbst gewählten Motivgruppen. Die Präsentation der entstandenen Kartierungen an einem außerschulischen Ort stellt den abschließenden Höhepunkt des Projekts dar. Während dieser ungewohnte Einstieg die Schülerinnen und Schüler zunächst vor die besondere Herausforderung stellt, »aufmerksam [zu] sein und auch [zu] ertragen, erst mal nicht zu wissen, was man damit überhaupt anfangen soll«,24 zielt dieses Projekt in seinem weiteren Verlauf darauf ab, dass die Schüler durch die wiederholte Verschiebung ihrer Wahrnehmung des Fremden eigene Seh- und Lerngewohnheiten aktiv zu hinterfragen lernen. Indem sie sich in einer Wirklichkeit, die ohnehin kein Zentrum mehr bietet, auf das Verfahren der bewussten, produk tiven Verirrung einlassen, wird Randständigkeit nicht mehr nur als Bedrohung erfahren, sondern kann als relevante Möglichkeit anerkannt werden. Wenn Peter Piller anmerkt »das hält doch in unserer zweckgerichteten Verwertungsgesellschaft kaum mehr einer aus – und die Spielräume werden immer enger«,25 geht es mir bei meinem Projekt darum, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, in ihrem Alltag selbst wieder Spielräume eröffnen zu können. Die Einladung Pillers zum genaueren Hinsehen als Spielmöglichkeit zu erproben heißt genauer: zu lernen, die umgebende Welt nicht als objektiv und unveränderbar gegeben anzusehen, sondern sich ihrer als perspektivische Projektion, die je nach Standpunkt ihr Gesicht wechseln kann, bewusst zu werden und damit auch den Anspruch der alltäglichen Massenmedien, vollständige Welthaltigkeit abzubilden, durch den eigenen reflexiven Umgang mit denselben als Konstrukt zu erkennen. Julia Ziegenbein unterrichtet Schülerinnen und Schüler der Max-Brauer-Gesamtschule in Hamburg Fotos auf den Folgeseiten: Alexandra Grieß Das Vermittlungsprojekt »Bilder im Alltag finden […] für den sechsten, siebten Blick« zum Thema »Kunst und aktuelle Medienkultur« ist auf Schülerinnen und Schüler ab der Vorstufe der gymnasialen Oberstufe ausgerichtet. Ausgangspunkt zur Erprobung von Peter Pillers künstlerischer Verfahrensweise des absichtslosen Suchens und rhizomatischen Kartierens von erst auf den »zweiten« oder gar »sechsten, siebten Blick« zu entschlüsselnden Phänomenen des Alltags sollen Erkundungen in der realen Peripherie der Umgebung zwischen dem »Arbeitsort« Schule und dem »Wohnort« zu Hause sein. Hierbei geht es zunächst um das Erstellen eigener Kartierungen mittels Zeichnung und Digitalfotografie, wobei im alltäglichen »Durchgang« – dem Schul-/Heimweg – Randständiges in den Mittelpunkt der Aufzeichnungen rücken soll. In einer anschließenden Phase bildet die archivierende Aneignung von vorgefundenem, bereits medial vermitteltem Bildmaterial den Schwerpunkt des Projekts. Hierfür werden sämtliche auf den Schul- und Heimwegen aufgenommenen Fotografien aller Schülerinnen und Schüler zunächst in einer eigens eingerichteten Online- 23 24 25 26 Zur Einrichtung einer Web-Galerie s. unter »Materialien« T1. Droschke, a.a.O. Ebd. Vgl. Busse, Klaus-Peter: Vom Bild zum Ort. Mapping Lernen. Dortmunder Schriften zur Kunst, Norderstedt/Köln 2007 (Studien zur Kunstdidaktik, Band 3), S. 238. 27 Vgl. Meyer, Torsten: Interfaces, Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie. Bielefeld 2002, S. 125. 28 Vgl. Busse, Klaus-Peter: »Tracks, Spots, Maps. Vor der ›kartierenden Auseinandersetzung mit aktueller Kunst‹ von Christine Heil«, in: Heil, Christine: Kartierende Auseinandersetzung mit aktueller Kunst, a.a.O., S. 7–12, hier S. 8. Damit folge ich zum einen der von Christine Heil vorgeschlagenen Vermittlungsform der »kartierenden Auseinandersetzung mit aktueller Kunst« sowie dem kunstdidaktischen Ansatz des »Mapping-Lernens« nach Klaus-Peter Busse. Hier werden Kartografie und Mapping als Methoden bzw. Lernformen kultureller Praxis verstanden, die es möglich machen, Lebensräume zu erkunden, in denen »sich Erfahrungen entwickeln können, die im Umgang mit Kunst ganz wesentlich von Entkonventionalisierung geprägt sind, also von der Bereitschaft und Fähigkeit, aus gewohnten Blickweisen herauszutreten, das Bekannte anders zu sehen und Neues zu entdecken«.26 Dass es angesichts neuer Medientechnologien, die das moderne Verständnis von Subjekt, Bildung und Gesellschaft grundlegend in Frage stellen, in der Schule vor allem auch eines »Heraustretens« aus gewohnten Lehr-Lern-Situationen bedarf, ist bei genauerer Betrachtung nichts grundlegend Neues. Denn die Pädagogik hat, Torsten Meyer zufolge, spätestens seitdem sie institutionell betrieben wird, grundsätzlich mit dem »Ausgang« zu tun.27 Zugegeben, dass der paidagogos (gr. Pais »Kind«, agein »führen«) im antiken Griechenland zunächst ein Sklave war, der die Kinder aus dem Haus der Eltern zum gymnasion führte, und dass nicht zuletzt Platons paideia auf den Ausgang aus der Höhle zielte, zählt heute vielleicht nicht mehr unmittelbar zu »Bekanntem«. Aber die Wiederentdeckung dieses historischen Hintergrundes und die Neubetrachtung desselben im Zusammenhang mit aktuellen Auseinandersetzungen mit Begriffen wie Medium und Medialität können zu einer zeitgemäßen Auffassung vom Raum der Schule führen. Denn wenn dieser von seinem Ausgang aus, zwischen dem Zuhause und der Schule, und damit von seinen sich ständig verschiebenden Rändern her begriffen wird, kann er als temporäre Konstellation erfahrbar werden, »als offenes System, in dem Grenzen kollaborieren und der sich immer neu konfiguriert, vor allem wenn künstlerisches Mapping auf ihn zugreift«.28 104 / 105 kiss Julia Ziegenbein / Peter Piller Vielfalt ist Reichtum35 Die besondere Schule im Allgemeinen zulassen«.33 Dies trifft auch auf die von den Schülerinnen und Schülern zu erstellenden Aufzeichnungen und Fotografien zu. Bevor im Folgenden von der Durchführung des Projekts in einem Leistungskurs des zwölften Jahrganges berichtet wird, soll der Ort der Projektdurchführung, die Max-Brauer-Gesamtschule in Hamburg-Ottensen, als ein bereits bestehendes Beispiel für eine zeitgemäße Reaktion auf einen Zustand in der Schullandschaft vorgestellt werden, den bereits Gunter Otto als wachsende »Distanz zwischen dem ›konkreten‹ Leben und der Schule« beschrieben hat, in dem »bis zum heutigen Tag der Ausgangspunkt für die Forderung nach Projekten« liegt.34 Die Vermittlung von Peter Pillers Vorgehensweise des Kar tierens kann somit das Verständnis der Relevanz von Erkundungen im realen Raum außerhalb der Schule erweitern und als Anlass zu einer notwendigen Hinterfragung konventioneller Lehr-Lern-Situationen dienen. Daher wird im vorliegenden Unterrichtsentwurf »Bildung« auch nicht als ein zu erreichendes Ziel, sondern nach Rainer Kokemohr eher als ein »Verarbeitungsmodus von Welt- und Selbsterfahrungen«29 gedacht, der das Herstellen von unablässig neuen Bezügen und Lesarten von Welt- und Selbstbildern ermöglichen soll. Das Vermittlungskonzept orientiert sich insbesondere an Kokemohrs Text »Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden«, in dem der hier übernommene Bildungsbegriff in Bezug auf die Fremderfahrung30 differenziert wird. So ist »das Fremde« nach Kokemohr eine Erfahrung, die in die vertrauten Welt- und Selbstverhältnisse einbricht und sich einer Zuordnung zu Strukturen eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widersetzt. 31 Die Initiation eines zunächst als »fremd« empfundenen Vermittlungsprozesses, d.h. »einer grundlegenden Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen dort, wo auf neue Problemer fahrungen in schon erworbenen Orientierungen nicht mehr angemessen geant wortet werden kann«,32 ist mir ein wichtiges Anliegen. Hinsichtlich des von den Schülerinnen und Schülern angewandten Verfahrens der Kartierung lässt sich eine Parallele zu Andrea Sabischs Ausführungen zur »Inszenierung der Suche« ziehen, man könnte von einer »grafierenden Kartierung« sprechen. Denn Grafien können, so Andrea Sabisch, als »Instrumente des Antwortens bezeichnet [werden], die auf verschiedene mediale, materielle und zeitliche Erfahrungen, Erfahrungswege und Erfahrungsräume verweisen und das Fremde 29 Kokemohr, Rainer: »Bildung in interkultureller Kooperation«, in: Abeldt, Sönke; Bauer, Walter (Hg.): »… was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein«. Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie. Helmut Peukert zum 65. Geburtstag, Mainz 2000, S. 421–436, hier S. 421. 30 So wie sie Bernhard Waldenfels im Anschluss an Edmund Husserl thematisiert hat. 31 Kokemohr, Rainer: »Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden«, in: Koller, Hans-Christoph; Marotzki, Winfried; Sanders, Olaf (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007, S. 13–68, hier S. 23. 32 Kokemohr, Rainer: »Bildung in interkultureller Kooperation«, a.a.O., S. 421. 33 Vgl. Sabisch, Andrea: Inszenierung der Suche. Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung, Bielefeld 2007, S. 219. 34 Otto, Gunter: »Projektunterricht als besondere Unterrichtsform«, in: Bastian, Johannes; Gudjons, Herbert; Schnack, Jochen u.a. (Hg.): Theorie des Projektunterrichts, Hamburg 2004, S.187–198, hier S. 189. 35 Vgl. www.maxbrauerschule.de vom 11.10.2008. 36 Vgl. Duncker, Ludwig: »Projektlernen: Neue Rollen für die Schüler. Eine schultheoretische Ortsbestimmung«, in: Bastian, Johannes; Gudjons, Herbert (Hg.): Das Projektbuch II. Über die Projektwoche hinaus – Projektlernen im Fachunterricht, Hamburg 1998. S. 65–80, hier S. 71. 37 Vgl. Bastian, Johannes; Combe, Arno: »Lehrer und Schüler im Projektunterricht. Zur Theorie einer neuen Balance zwischen der Verantwortung des Lehrenden und der Selbstverantwortung der Lernenden«, in: Bastian; Gudjons; Schnack, a.a.O., S. 245–257, hier S. 245. 38 Gerstenmaier, Jochen; Mandl, Heinz: Wissenserwerb aus konstruktivistischer Perspektive, in: Z.f.Päd., H. 6/1995, S. 867–888, hier S. 881. 39 Ebd. 40 Heil, a.a.O., S. 17. Heil bezieht sich hier auf: Peters, Maria: Blick – Wort – Berührung. Differenzen als ästhetisches Potential in der Rezeption plastischer Werke von Arp – Maillol – F.E. Walther, München 1996 und Sturm, Eva: Von Kunst aus bilden, in: Landesverband der Kunstschulen Niedersachen e.V. (Hg.): bilden mit kunst, Bielefeld 2004, S. 135–147. 41 Vgl. Sturm, Eva: Mythos rhizomatische Kunstvermittlung?, a.a.O. dies nach Ludwig Duncker, »daß Schüler nicht zu Rezipienten und ›Objekten‹ einer vorab fertigen Sache bestimmt sind, sondern als Subjekte des Lerngeschehens beansprucht werden«.36 Damit einhergehend wurde an dieser Schule das Planungs-, Organisations-, Informationsbeschaffungs-, Kontroll- und Bewertungsmonopol der Lehrenden aufgegeben, so dass die Schülerinnen und Schüler inzwischen auch an genuin didaktischen Aufgaben beteiligt werden.37 In diesem Sinne werden selbstbestimmtes und fächerübergreifendes Arbeiten, das Lernen in Kleingruppen, sowie erfahrungsbezogener Unterricht mit Lebenspraxis- und Gesellschaftsbezug in besonderem Maße gefördert. Vermittlungssituationen also auch für Schüler als »aktiven Prozeß«38 zu initiieren, bedeutet nach Herbert Gudjons, »daß Lernen einen ›rich context‹ braucht, also ein Höchstmaß an Situiertheit […], und zwar gerade auch außerhalb des Klassenzimmers«. 39 [B5] Da sich gerade im Feld (zeitgenössischer) Kunst »der Raum zwischen Subjekt und Werk […] nur symbolisch oder performativ, beispielsweise sprachlich, in medialen Übergängen und in Inszenierungen« vermittelt,40 ist das Heraustreten aus konventionellen Lehr-Lern-Situationen einmal mehr als Herausforderung zur Mündigkeit der Lernenden zu verstehen. Die im Jahre 2006 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete MaxBrauer-Schule in Hamburg ist eine Reformschule mit gymnasialer Profiloberstufe, die von etwa 1200 Schülerinnen und Schülern aus über 30 Nationen besucht wird. Damit es den Schülerinnen und Schülern möglich wird, einen Umgang mit dieser Vielfalt zu erlernen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sie als selbstverständlich zu akzeptieren, hat sich die Schule auf handlungsorientierten Projektunterricht spezialisiert, der im Unterschied zu anderen deutschen Gesamtschulen auf die übliche Zuweisung der Schüler zu Kursen mit unterschiedlichem Lernanspruch verzichtet. Herzstück der hier praktizierten Projektidee ist die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler. Für ein »neues« Verständnis von Unterricht heißt In ähnlicher Weise wie Peter Piller den Mythos des alleinig schöpfenden Künstlergenies zugunsten der Einbeziehung der Betrachter in Frage stellt, indem er Kategorien wie Autorschaft und Originalität als unbewusste, die Kunsterfahrung steuernde Anteile entlarvt, und wie auch Eva Sturm deutlich macht, dass schon »in der Vermittlung […] die Mitte [steckt], das Dazwischen«, steht auch an der Max-Brauer-Schule der/die Lehrende als uneindeutige Ver-Mittlerin im Wechselspiel mit den Schülern »in der Mitte, am Rand, im Weg, dabei und daneben, anwesend-abwesend, zwischen aktiv und passiv, ist ›Medium‹«.41 106 / 107 kiss Julia Ziegenbein / Peter Piller Nicht zu fassen Kartierende Auseinandersetzung mit Peter Pillers Kunst im Projektunterricht Übergang Planung des Unplanbaren Das in diesem Fall vier Wochen umfassende Projekt besteht aus wöchentlich fünf Stunden und ist an den fünf Phasen des Projektunterrichts 42 orientiert, innerhalb derer versucht wurde, die hier vorgestellten Aspekte in Peter Pillers Arbeit zu berücksichtigen und diese wiederum mit der Idee des Projektunterrichts in einer sich gegenseitig erhellenden Weise zu verbinden. anonymen Raum, das bisher nicht aufgefallen war, möglichst spontan in Form von Digital-/Handyfotos festgehalten. Dies können Gegenstände, Situationen, Konstellationen o.Ä. sein, die – im Gegensatz zu der allseits sichtbaren Identität der Orte – die Aufmerksamkeit der Schüler insofern herausfordern, als sie diese nicht sofort einordnen oder eine unmittelbare Erklärung hierfür finden können.43 Ausgang Grafierendes Kartieren im realen Raum Um den Alltag als Möglichkeitsraum für die Erprobung der zunächst fremden Handlungsform des künstlerischen Kartierens zu eröffnen, erhalten die Schülerinnen und Schüler in der ersten Sitzung der Einstiegsphase einen Arbeitsauftrag mit dem Titel »Die Unsichtbarkeit der Dinge in meinem Alltag«. [M1] Ausgestattet mit Zeichenmaterial und einer Digitalkamera oder dem eigenen fotofähigen Handy, geht es darum, sich die Zeit zu nehmen, das alltägliche Ritual Schulweg/Heimweg an seiner Peripherie grafierend zu dokumentieren. Zunächst erfahren die Schülerinnen und Schüler sich als alleinige Autoren der gezeichneten und fotografierten Originale. Während die Zeichnung in erster Linie ermöglicht, dieses Ritual als Durchgang zwischen den Orten ernst zu nehmen und sich allererst zu vergegenwärtigen, wird Randständiges in diesem In der folgenden Sitzung werden die so entstandenen Dokumente von jedem Schüler im Kurs präsentiert und Überlegungen für das weitere Vorgehen angestellt. Der Arbeitsauftrag wird anschließend bis zur nächsten Stunde wiederholt, um die jeweiligen Ideen zur Durchführung des Auftrages zu vertiefen.44 Zusätzlich zu dieser Wiederholung des Arbeitsauftrages verteile ich Stephan Bergs Artikel »Im Labyrinth der Kartografie«, [M2] der dem Katalog der Ausstellung »Die Sehnsucht des Kartografen« entnommen ist, die 2004 unter Teilnahme Peter Pillers im Kunstverein Hannover stattfand. Die praktische Arbeit der Schüler begleitend, dient dieser das Verwandtschaftsverhältnis kartografischer und künstlerischer Praxis in Geschichte und Gegenwart untersuchende Text als Ausgangspunkt für die Reflexion des eigenen Tuns in der nächsten Stunde. 42 Vgl. Ehmer, Wolfgang; Lenzen, Dieter: »Methoden des Projektunterrichts«, in: Bastian, Johannes; Gudjons, Herbert; Schnack, Jochen u.a. (Hg.): Theorie des Projektunterrichts, a.a.O., S. 213–230. 43 Je nach Verfahren sind beliebig viele Zeichnungen möglich. Der Richtwert für die Fotografien liegt bei etwa 30 Stück. 44 Erfahrungsgemäß ist es ratsam, den Schülerinnen und Schülern bei dieser Aufgabe möglichst viel Zeit zum Experimentieren einzuräumen und daher von Anbeginn mehr Zeit als ggf. benötigt einzuplanen. 45 Vgl. entsprechende Verweise in Berg, Stephan: »Im Labyrinth der Kartografie«, a.a.O. 46 Es ist wichtig, die Vorstellung der Arbeiten Pillers nach der Einstiegsphase vorzunehmen. Hierbei sollten nicht nur Pillers Aneignungen von vorgefundenem Bildmaterial vorgestellt werden, sondern vor allem auch seine Zeichnungen und eigenen Fotografien. 47 Es ist sinnvoll, die Bilder jedes Schülers auf CDs einzusammeln, denn die Übertragung von einem USB-Stick dauert erfahrungsgemäß zu lange, um alle Bilder auf den Laptop der Lehrkraft zu »ziehen«. Im Übergang zur Planungsphase geht es zunächst um das Verständnis des Textes »Im Labyrinth der Kartografie«. Als ergänzende Visualisierung über den Beamer dienen neben exemplarischen Bildmaterialien aus der Kunstgeschichte45 auch aktuelle Beispiele aus den täglichen Massenmedien. So habe ich z.B. Screenshots aus Google Maps verwendet, die eigentlich den Eiffelturm zeigen sollen, aber durch sämtliche Detailfotografien von Touristen diesen nahezu vollkommen überdecken. Darüber hinaus bot sich ein WahlkampfFoto von Barack Obama an, auf dem zu beobachten ist, dass die meisten Personen im Publikum nicht auf den Kandidaten, sondern in die auf sie gerichteten Kameras sowie auf die Großbildmonitore, auf denen sie sich zum Teil selbst zuwinken, schauen. Im Zuge des Austauschs über die eigenen Zwischenergebnisse findet eine kurze Diskussion über den Zusammenhang zwischen der Textaussage und dem Arbeitsauftrag statt. Kurz darauf haben wir die Ehre, Peter Piller selbst in der Schule begrüßen zu dürfen. Gemeinsam mit mir stellt er wie geplant erst zu diesem Zeitpunkt Auszüge aus seiner Arbeit vor und stellt sich den interessierten Fragen der Schülerinnen und Schüler.46 Im Gegenzug präsentierten diese dem Künstler ihre Zwischenergebnisse aus der Wiederholung des Arbeitsauftrages »Die Unsichtbarkeit der Dinge in meinem Alltag«. Nach diesem interessanten und anregenden Besuch Peter Pillers wird mit der Planung der nun folgenden Gruppenprojekte zur Erprobung der kar tierenden Aneignung von vorgefundenem Bildmaterial begonnen. Um in Kleingruppen von etwa vier Personen selbstorganisiertes Arbeiten an eigens gewählten Lernorten oder ggf. auch von zu Hause aus zu ermöglichen, habe ich im Vorwege die dafür notwendige passwortgesicherte Online-Galerie47 eingerichtet. [T1] Darin habe ich sämtliche von den Schülerinnen und Schülern erstellten Fotografien in einem ca. 250 Einzelbilder umfassenden Bilderpool zusammengefasst. 108 / 109 kiss Julia Ziegenbein / Peter Piller Zugang Über kartierende Aneignung von vorgefundenem Bildmaterial Einblick Ausstellung Gerade die kooperative Arbeit in der Gruppe birgt die Möglichkeit, eigene Erwartungshaltungen an Bilder im Allgemeinen, aber auch an Kunst im Besonderen zu hinterfragen, insofern Überlegungen darüber angestellt werden, was eigentlich passiert, wenn ein einzelner Autor eines vorgefundenen Bildes bzw. der gemeinsam erstellten Serie nicht mehr auszumachen ist. Rückblick »Türen schliessen selbsttätig.«51 Mit Beginn der nächsten Sitzung präsentieren die Schülerinnen und Schüler die gemeinsam erstellten Fotoserien und dazugehörigen Titel unter Verwendung des Beamers. In jeweils begleitenden Gesprächen wird gemeinsam darüber verhandelt und abgestimmt, ob Manipulationen an Größe, Farbe, Material und Medium vorgenommen werden sollen und in welcher Größe Abzüge zu erstellen sind oder ob die Bilderserien in der geplanten Ausstellung wiederum mit dem Beamer präsentiert werden sollen. Ausblick Anschlüsse finden und vermitteln Die Durchführungsphase der Gruppenprojekte beginnt genau genommen bereits nach Unterrichtsschluss, wobei den Schülerinnen und Schülern der Großteil der Unterrichtszeit zur Ent wicklung, Realisation und Produktion ihrer Kartierungen eingeräumt wird. Denn die Aufgabe besteht in dieser Phase darin, in den gebildeten Gruppen die in der Online-Galerie gesammelten Bilder nach neuen, selbst gewählten Ordnungskriterien und Sinnzusammenhängen zu Serien zu ordnen.48 Überlegungen zum Arbeitstitel sind dabei ebenso wichtig wie die Auswahl der Bilder, wobei Paradoxien und Ungereimtheiten alles andere als unerwünscht sind. 48 Die Bilder können in der Webgallery einzeln angeklickt werden, um sie zu vergrößern und anschließend auf einem angelegten Archivordner auf dem genutzten Rechner zu speichern. Dabei geht es nicht darum, durch eine Menge an Bildern zu beeindrucken, sondern ein Archiv als eine Sammlung zu verstehen, die keine Anhäufung ist. 49 Vgl. http://www.myspace.com/diebeduerfnisanstalt vom 17.10.2008. 50 Die in den Projektprozessen entstandenen Einzel- und Gruppenarbeiten können beispielsweise in einer Installation, in der die Bilder und Betrachter in einen offenen Dialog treten, präsentiert werden. 51 Vgl. Piller, Peter: »Büroregel«, a.a.O. Zur kontextuellen Einbettung des bisher Erlernten, aber auch um Anschlüsse für die Zeit nach dem Projekt zu eröffnen, werden beim letzten Treffen vor der öffentlichen Projektpräsentation Kurzreferate in den bereits bestehenden Kleingruppen gehalten. Gemeinsam mit Peter Piller habe ich eine Liste ausgewählter künstlerischer Positionen zusammengestellt, bei denen es ebenfalls um die Aneignung von vorgefundenem Fotomaterial geht und die ihm im Laufe seines eigenen künstlerischen Schaffens sehr wichtig geworden sind. [M3] Es bietet sich an, jeweils zwei zeitgenössische Künstler aus dieser Liste bzw. jeweils eine bis zwei exemplarische Arbeiten aus deren Werk auswählen und diese in den bestehenden Arbeitsgruppen unter Einbezug eigener Recherchen bis zur nächsten Stunde erarbeiten zu lassen. Für die insgesamt vier etwa zehnminütigen Kurzreferate besteht die Aufgabe darin, die jeweiligen Verfahrensweisen der Künstlerinnen und Künstler kurz zu erläutern, miteinander zu vergleichen und im Verlauf einer gemeinsamen abschließenden Diskussion in Bezug zu Peter Pillers Arbeit und zu den eigenen Projekten zu setzen. [B6, B7, B8] Um die entstandenen Kartierungen für den sechsten, siebten Blick in Form einer Ausstellung in die Öffentlichkeit zurückzuführen, fällt in der Präsentationsphase unsere Wahl auf einen Ort in Ottensen, der jahrelang als unterirdische, öffentliche Toilette (als »Bedürfnisanstalt«) mit oberirdischer Wartehalle gedient hatte, anschließend eine Zeit lang leer und ebenfalls randständig blieb, inzwischen jedoch selbst zu einem bedeutungstragenden Ort geworden ist: als Galerie mit dem Namen »Die Bedürfnisanstalt, das kleine Örtchen, wo die Ideen zu Hause sind«.49 [B9] Dort treffen sich die Schülerinnen und Schüler einen Tag vor der Ausstellung, um gemeinsam ein Konzept für die sich über zwei Etagen erstreckende Ausstellung zu erarbeiten50 und den Aufbau vorzunehmen. [B10] So kann in der Arbeitsphase die Galerie zu einem Möglichkeitsraum werden – die Schülerinnen und Schüler können die Erfahrung machen, dass Kunst und Vermittlung aus mehr bestehen als aus dem »Werk« an der Wand und den »Inhalten« an der Tafel. Im oberen Stockwerk wird eine Auswahl der Zeichnungen jedes Schülers und der Fotoserien aus der Gruppenarbeit gezeigt, während im unteren Stockwerk eine Art Blackbox für die Präsentation weiterer Fotoserien über einen Beamer eingerichtet wird. [optional B11–B21 C] In der Erfahrung zeigt sich jedoch, dass Kunst und Vermittlung nicht von objektiven Maßstäben abhängen, sondern von jedem/jeder Einzelnen geschaffen werden, indem einem Ort Lebenszeit zuteil wird. Damit entstehen Kunst und ihre Vermittlung nicht nur aus einer »Mitte« heraus, sondern ereignen sich unter Beteiligung der Ränder, der Peripherie und sogar der unsichtbaren Dinge auf (Um-)Wegen, die einfach nicht zu fassen sind. In der Auswertungsphase machen Einzel- und Gruppenresultate nur einen Teil der Leistung aus, da gerade im Verlauf von Prozessen vielerlei Optionen entstehen, welche die Ergebnisse mit beeinflussen. Meines Erachtens ist daher ein das Projekt begleitendes Tagebuch in Form eines Arbeitsprozessberichtes, [M4] der zur selbstständigen Einschät zung der eigenen Kompetenzen sowie zur Beurteilung der Gruppenleistungen dient und bei der Bewertung durch den Lehrenden maßgeblich berücksichtigt wird, von großer Bedeutung. Der Bericht kann beispielsweise in das eingangs genutzte Zeichenheft integriert werden, Zeichnungen und Notizen ergänzen und damit auch eine eigene ästhetische Qualität entfalten. [B22] 110 / 111 kiss Julia Ziegenbein / Unterrichtsmaterialien Peter Piller Ausstellungen (Auswahl) Literatur Geboren in Fritzlar 1968 1993–2000 Studium der Geografie, Germanistik, Kunstpädagogik, 1. Staatsexamen, Universität Hamburg / HfBK Hamburg; Diplom Freie Kunst bei Prof. Franz Erhard Walther, HfBK Hamburg 2005 Gastprofessur, HfBK Hamburg seit 2006 Professur für Fotografie im Feld zeitgenössischer Kunst, HGB Leipzig 1999 Berg, Stephan Im Labyrinth der Kartografie In: Berg, Stephan; Engler, Martin u.a. (Hg.): Die Sehnsucht des Kartografen. Ausstellungskatalog Kunstverein Hannover, Hannover 2004, S. 4–7 Publikationen (Auswahl) 2001 2002 2003 2004 2006 2007 Bilder: Berühren, Fundstücke aus der Regionalpresse, in: Mittelweg 36, Institut für Sozialforschung, Heft 2/01, Hamburg, S. 2–7. In der Reihe »Archiv Peter Piller«, Berlin/Frankfurt am Main: Band 1, durchsucht und versiegelt, Tatorthäuser Band 2, diese Unbekannten, Täter Band 3, Die Verantwortlichen sind einstimmig, Ortsbesichtigungen Band 4, Noch ist nichts zu sehen, Bauerwartungsflächen Unangenehme Nachbarn, Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Revolver, Frankfurt am Main In der Reihe »Archiv Peter Piller«, Berlin/Frankfurt am Main: Band 5, Stein des Anstoßes Band 6, Schandfleck/Schmuckstück Von Erde schöner, Vice Versa, Berlin; Revolver, Frankfurt am Main Vorzüge der Absichtslosigkeit, Museum für Gegenwartskunst Siegen; Revolver, Frankfurt am Main I. d. Reihe »Archiv Peter Piller«, Vice Versa, Berlin; Revolver, Frankfurt am Main: Band 7, Regionales Leuchten Band 8, Auto berühren I. d. Reihe »Archiv Peter Piller«, Vice Versa, Berlin; Revolver, Frankfurt am Main: Band 9, (Pfeil) Band 10, Bedeutungsflächen Peter Piller nimmt Schaden, Christoph Keller Editions published by JRP Ringier Peter Piller Zeitung, Christoph Keller Editions published by JRP Ringier Peter Piller Nijverdal/ Hellendoorn, Christoph Keller Editions published by JRP Ringier Peter Piller Teilzeitkraft, Christoph Keller Editions published by JRP Ringier 2000 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 Wohin kein Auge reicht (G), Deichtorhallen Hamburg Deep Distance (G), Kunsthalle Basel Bürozeichnungen (E), Galerie Frehrking Wiesehöfer Köln Die Sehnsucht des Kartografen (G), Kunstverein Hannover Vorzüge der Absichtslosigkeit (E), Museum für Gegenwartskunst Siegen Hamburg Group Show (G), Museum Of Contemporary Photography Chicago Archiev Peter Piller (E), Witte de With Rotterdam Contrabando (G), Galeria Luisa Strina Sao Paulo Just Off Focus (G), Andrew Kreps Gallery New York First the artist defines meaning (G), Camera Austria Kunsthaus Graz Ästhetik und Langeweile (E), Kunsthaus Glarus Archive Peter Piller (E), Andrew Kreps Gallery New York Vertrautes Terrain. Aktuelle Kunst in und über Deutschland (G), ZKM Karlsruhe The Order Of Things (G), Muhka Antwerpen Literatur Bastian, Johannes, Combe, Arno; Gudjons, Herbert; Herzmann, Petra; Rabenstein, Kerstin (Hg.) Profile in der Oberstufe. Fächerübergreifender Projektunterricht in der Max-Brauer-Schule Hamburg, Hamburg 2000 Bastian, Johannes; Combe, Arno Lehrer und Schüler im Projektunterricht. Zur Theorie einer neuen Balance zwischen der Verantwortung des Lehrenden und der Selbstverantwortung der Lernenden In: Bastian, Johannes; Gudjons, Herbert; Schnack, Jochen; Speth, Martin (Hg.): Theorie des Projektunterrichts, Hamburg 2004, S. 245–257 Busse, Klaus-Peter Vom Bild zum Ort: Mapping Lernen Dortmunder Schriften zur Kunst, Norderstedt/Köln 2007 (Studien zur Kunstdidaktik Band 3) Busse, Klaus-Peter Tracks, Spots, Maps. Vor der »kartierenden Auseinandersetzung mit aktueller Kunst« von Christine Heil In: Heil, Christine: Kartierende Auseinandersetzung mit aktueller Kunst. Erfinden und Erforschen von Vermittlungssituationen, München 2007, S. 7–12, hier. S. 8 Duncker, Ludwig Projektlernen: Neue Rollen für die Schüler. Eine schultheoretische Ortsbestimmung In: Bastian, Johannes; Gudjons, Herbert (Hg.): Das Projektbuch II. Über die Projektwoche hinaus – Projektlernen im Fachunterricht, Hamburg 1998, S. 65–80 Ehmer, Wolfgang; Lenzen, Dieter Methoden des Projektunterrichts In: Bastian, Johannes; Gudjons, Herbert; Schnack, Jochen; Speth, Martin (Hg.): Theorie des Projektunterrichts, Hamburg 2004, S. 213–230 Gudjons Herbert Lernen – Denken – Handeln. Lern-, kognitions- und handlungspsychologische Aspekte zur Begründung des Projektunterrichts In: Bastian, Johannes; Gudjons, Herbert; Schnack, Jochen; Speth, Martin (Hg.): Theorie des Projektunterrichts, Hamburg 2004, S. 111–150 Heil, Christine Kartierende Auseinandersetzung mit aktueller Kunst. Erfinden und Erforschen von Vermittlungssituationen München 2007 Kokemohr, Rainer Bildung in interkultureller Kooperation In: Abeldt, Sönke; Bauer, Walter (Hg.): »… was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein«, Mainz 2000, S. 421–436 Kokemohr, Rainer Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden In: Koller, Hans-Christoph; Marotzki, Winfried; Sanders, Olaf (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007, S. 13–68 Meyer, Torsten Interfaces, Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie Bielefeld 2002 Otto, Gunther Projektunterricht als besondere Unterrichtsform In: Bastian, Johannes; u.a (Hg.): Theorie des Projektunterrichts, Hamburg 2004, S. 187–198 Piller, Peter Materialien (B) Peripheriewanderung Bonn Bonn: Beethovenstiftung, Frankfurt am Main 2007 Sabisch, Andrea Inszenierung der Suche. Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung Bielefeld 2007 Schmidt, Eva Das Imaginäre des Büros und die Effizienz von Peter Piller In: Piller, Peter (Hg.): Vorzüge der Absichtslosigkeit. Museum für Gegenwartskunst Siegen. Ausstellungskatalog anlässlich der 5. Verleihung des Förderpreises zum Rubenspreis der Stadt Siegen an Peter Piller, Frankfurt am Main 2004, S. 9–11 112 / 113 kiss Julia Ziegenbein / Unterrichtsmaterialien Internetquellen Droschke, Martin Es geht nicht um die Wahrheit. Peter Piller im Interview mit Martin Droschke anlässlich seiner Werkschau bei Barbara Wien in Berlin In: taz vom 06.07.2004 www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2004/07/06/a0233 vom 14.10.2008 Bildbeispiele B1A–D Peter Piller Bedeutungsflächen (Da ist es). (Auszug) A B2 Peter Piller Materialien (B). Peripheriewanderung Bonn. (Auszug) 6. Peripheriewanderung. Bus 615 Bad Godesberg Fähre – Bus 622 Niederholtorf Mitte, 1. September 2006 Küng, Max In Ordnung! Künstler Peter Piller kriegt alles auf die Reihe In: Das Magazin 2007/37, Artikel vom 16.09.2007 http://dasmagazin.ch/index.php/in-ordnung vom 11.10.2008 Piller, Peter Archiv, Zeichnungen, Photos, Publikationen Website des Hamburger Künstlers Peter Piller www.peterpiller.de vom 17.10.2009 B C B In: Keller, Christoph (Hg.): Archiv Peter Piller, Bonn, Frankfurt am Main 2007. © Peter Piller; Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt; Beethovenstiftung, Bonn Ziegenbein, Julia Bilder im Alltag finden … für den sechsten, siebten Blick www.bedeutungsflaechen.de vom 20.11.2008 B3 A–C C Peter Piller Materialien (B). Peripheriewanderung Bonn. (Auszug) A In: Keller, Christoph (Hg.): Archiv Peter Piller. Bonn, Frankfurt am Main 2007. © Peter Piller; Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt; Beethovenstiftung, Bonn B4 Rhizom von Convallaria multiflora D In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. 16. Band. Plaketten bis Rinteln, Leipzig / Wien 1907, S. 879 In: Archiv Peter Piller, Bd. 10. Berlin, Frankfurt am Main 2006. © Peter Piller; Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt am Main; Vice Versa 114 / 115 kiss Julia Ziegenbein / Unterrichtsmaterialien Bildbeispiele B5 Bild vor dem Eingang zum Lehrerzimmer der MaxBrauer-Schule, im Durchgang zwischen Schulhof und Aufgang zu den Klassenräumen B7 © Pascal Schoenmakers, Christopher Bokeloh; Julia Ziegenbein B10 © Vanessa Carroccia, Hannah Hildebrandt, Yvonne Eisele; Julia Ziegenbein B13 © Christopher Bokeloh, Jeronimo Molkenthin, Pascal Schoenmakers; Julia Ziegenbein © Julia Ziegenbein B6 B8 © Hannah Hildebrandt; Julia Ziegenbein B9 B11 © Julia Ziegenbein B12 B14 © Vanessa Carroccia; Julia Ziegenbein B15 A B © Inka Fischer; Julia Ziegenbein © Julia Ziegenbein © Julia Ziegenbein Kugel in Acrylfarbe getaucht auf Papier. Aus dem Arbeitsauftrag: »Die Unsichtbarkeit der Dinge in meinem Alltag« (Auszug) © Hannah Hildebrandt; Julia Ziegenbein 116 / 117 kiss Julia Ziegenbein / Unterrichtsmaterialien Bildbeispiele Textbeispiele B16 c B20 A–C zurückgeblieben A Weg nach Hause. Rad fahrend B21 A–C Hinter Gittern A © Yvonne Eisele, Inka Fischer, Hannah Hildebrandt; Julia Ziegenbein Kugelschreiber auf Papier. Aus dem Arbeitsauftrag: »Die Unsichtbarkeit der Dinge in meinem Alltag« (Auszug) © Yvonne Eisele; Julia Ziegenbein B B19 A–C Geheime Zeichen A B17 B Im Bus. Bei jeder Station Farbe abgewechselt C B Filzstift auf Papier. Aus dem Arbeitsauftrag: »Die Unsichtbarkeit der Dinge in meinem Alltag« (Auszug) © Nadine Moritz; Julia Ziegenbein B18 A–C Sinnfrei A C © Yvonne Eisele, Inka Fischer, Hannah Hildebrandt; Julia Ziegenbein B22 C Prozessheft B © Yvonne Eisele, Inka Fischer, Hannah Hildebrandt; Julia Ziegenbein © Yvonne Eisele, Inka Fischer, Hannah Hildebrandt; Julia Ziegenbein © Vanessa Carroccia, Julia Ziegenbein 118 / 119 kiss Julia Ziegenbein / Unterrichtsmaterialien Materialien Textbeispiele Folgende Materialen werden für einen Kurs von ca. 16 Schülern benötigt: · Pro Schüler eine Digitalkamera oder ein Mobiltelefon mit integrierter Kamera · Pro Schüler ein Zeichenblock oder Heft, Zeichenstifte · Pro Schüler eine Mappe oder ein Heft, in dem sämtliche Materialen gesammelt, und der Projektprozess in Tagebuchform dokumentiert werden · Pro Schüler ein Speichermedium, z.B. ein USB-Stick · Ein Rechner und ein Beamer in der Klasse · Pro Gruppe ein Rechner mit einem installierten Fotobearbeitungsprogramm · CD-Rohlinge nach Bedarf Zusätzliche Literaturempfehlungen zur Vorbereitung für Lehrende Buchloh, Benjamin H.D. Gerhard Richters Atlas. Das anomische Archiv In: Wolf, Herta (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2002, S. 399–427 Daniels, Dieter Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne Köln 1992 Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1976) Rhizom Berlin 1977 Flam, Jack; Smithson, Robert (Hg.) Robert Smithson: The Collected Writings Berkeley 1996 (Documents of Twentieth Century Art) Foucault, Michel (1966) Die Ordnung der Dinge Frankfurt a.M. 1974 Gombrich, Ernst H. Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie Frankfurt a.M. 1984 Malraux, André Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum Reinbek 1957 Fichte, Hubert Die Palette Reinbek 1968 M1 Die Unsichtbarkeit der Dinge in meinem Alltag Seit einiger Zeit, wenn nicht sogar beinahe seit zwölf Jahren, gehst du montags bis freitags jeden Morgen zur Schule und nachmittags wieder zurück nach Hause. Eine vertraute Strecke. Aber hast du wirklich schon alles entdeckt? Gibt es auf dieser Strecke vielleicht Dinge, die sich deinem Blick bisher verschlossen haben? Ideen, Probleme, Lösungsversuche … Bringe bitte deine Zeichnungen in dieser Mappe/diesem Heft und ca. 30 Fotos (Richtwert) auf einem Speichermedium zur nächsten Stunde mit in den Kurs, damit du deine Ergebnisse kurz vorstellen kannst. Viel Spaß beim Finden! M2 Hausaufgabe Bitte nimm dir dafür einen Zeichenblock oder ein Zeichenheft, einen Stift und eine Digitalkamera oder ein fotofähiges Handy sowie etwas mehr Zeit als sonst für deine tägliche Route. Zeichne dabei aus der Bewegung heraus, d.h. im Gehen, im Bus, in der Bahn … Berg, Stephan Im Labyrinth der Kartografie In: Berg, Stephan; Engler, Martin u.a. (Hg.): Die Sehnsucht des Kartografen. Katalog zur Ausstellung vom 13.12.2003–01.02.2004 im Kunstverein Hannover, Hannover 2004, S. 4–7 Gruppe 3: Marianne Wex – Richard Prince Bildmaterial · Wex, Marianne (Hg.): »Weibliche« und »männliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse, Hamburg 1980 · Prince, Richard: Girlfriends, Rotterdam 1993 Textmaterial · Groys, Boris: Medien und Mediatoren. In: Carl Haenlein (Hg.): Richard Prince – Photographien/ Photographs 1977–1993, Hannover 1994, S. 9–19 · Wex, Marianne: Vorwort. In: Wex, Marianne (Hg.): »Weibliche« und »männliche« Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse, Hamburg 1980, S. 5–10 Gruppe 4: Gerhard Richter – Christian Boltanski Hinweis: Dabei geht es nicht darum, eine detailgetreue, realistische Zeichnung von Einzelheiten zu machen, sondern darum, möglichst spontan den gesamten Weg zeichnerisch zu erfassen. Findest du während dieses Verfahrens einen Gegenstand, eine Situation oder ein Phänomen vor, der/die/das dir rätselhaft, seltsam oder auch komisch vorkommt, dann fotografiere ihn/sie oder was immer es ist, mit deiner Digitalkamera. Hast du ein Foto geschossen, so setze deine Zeichnung bis zum nächsten Foto fort. Und so weiter, bis du an deinem Wegziel angekommen bist. Zeichne und fotografiere jeden Tag bis zur nächsten Unterrichtsstunde auf deinem Hin- und Rückweg zwischen zu Hause und der Schule bzw. auch umgekehrt. Hinweis: Ganz wichtig ist hierbei, dass das von dir gefundene Bildmotiv deine Aufmerksamkeit insofern weckt, als du es nicht sofort einordnen oder dir unmittelbar erklären kannst. Denn das Ziel ist, Bilder aufzuspüren, die erst auf den sechsten oder siebten Blick etwas sichtbar machen, auf denen vielleicht ein/e Dritte/r nicht sofort sieht, worum es eigentlich geht. Bitte lege dir eine Mappe oder ein Heft an, in der/dem du deine Zeichnungen und sämtliche Projektmaterialen sammelst, dir Notizen machst und deinen Arbeitsprozess täglich, wie in einem Tagebuch, dokumentierst. Notiere auch Fragen, M3 Text- und Bildmaterial zur Vorbereitung auf die Kurzreferate Gruppe 1: Hannah Höch – Luis Jacob Bildmaterial · Luyken, Gunda (Hg.): Hannah Höch. Album, Ostfildern-Ruit 2004 · Jacob, Luis: Album III. Image Bank by Luis Jacob, Köln 2007 Textmaterial · Gunda, Luyken: Das Album von Hannah Höch. Materialsammlung, Skizzenbuch oder Konzeptkunst?, In: Luyken, Gunda (Hg.): Hannah Höch. Album, Ostfildern-Ruit 2004, o.S. · www.documenta12.de/uebersichtsdetails, vom 30.06.2008 · www.regiowiki.hna.de/Luis_Jacob, vom 30.06.2008 Gruppe 2: Hans-Peter Feldmann – Isa Genzken Bildmaterial · Feldmann, Hans-Peter: Der Überfall, Köln 1975 · Genzken, Isa: Der Spiegel 1989–91, Köln 2003 Textmaterial: · Kern, Hermann: Bilder von Feldmann. In: Kunstraum München e.V. (Hg.): Hans-Peter Feldmann – Bilder Pictures, München 1975. · Loers, Veit: Spiegel-Serien. In: Genzken, Isa: Isa Genzken, Köln 1992, S. 50f. Bildmaterial · Jahn, Fred (Hg.): Gerhard Richter. Atlas. München: Städtische Galerie im Lenbachhaus 1989/Köln: Museum Ludwig 1990, Köln 1990 · Metken, Günter; Museum für Moderne Kunst (Hg.): Christian Boltanski – Les Suisses Morts, Frankfurt am Main 1991 Textmaterial · Zweite, Armin: Gerhard Richter Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen. In: Jahn, Fred (Hg.): Gerhard Richter. Atlas. München: Städtische Galerie im Lenbachhaus 1989/Köln: Museum Ludwig, 1990, Köln 1990, S. 7–20 · Metken, Günter: Christian Boltanski. Memento mori und Schattenspiel. In: Metken, Günter; Museum für Moderne Kunst (Hg.): Christian Boltanski – Les Suisses Morts, Frankfurt am Main 1991, S. 5–12 120 / 121 kiss Julia Ziegenbein / Unterrichtsmaterialien Materialien Textbeispiele Technikglossar M4 T1 Mögliche Kriterien für den Arbeitsprozessbericht A Darstellung und Reflexion der Schwierigkeiten und Erfolge im Arbeitsprozess · Was habe ich gelernt? · Was hat mir dabei Schwierigkeiten bereitet? · Was möchte ich noch lernen? · Was hat mir gefehlt? B Selbsteinschätzung der selbstständigen Einzelleistung · Warum habe ich mein spezielles zeichnerisches Verfahren gewählt? · Warum halte ich folgende drei Fotografien von mir für besonders gelungen? · Warum halte ich folgende drei Fotografien von mir für weniger gelungen? C Selbsteinschätzung des eigenen Arbeitsanteils in der Kleingruppe · Wie schätze ich meinen Arbeitsanteil bei der Erstellung der Bilderserien ein? … bei der Vorbereitung und der Durchführung des Kurzreferates …? … beim Auf- und Abbau der Abschlusspräsentation …? D Selbsteinschätzung des entstandenen Produktes in der Kleingruppe · Warum halte ich folgende Fotoserie von unserer Gruppe für besonders gelungen? · Warum halte ich folgende Fotoserie von unserer Gruppe für weniger gelungen? · Wie schätze ich die Wahl des Ausstellungsortes ein? · Wie schätze ich die Präsentationsform ein? E Vergleich zum »Regelunterricht« (Im Falle einer Durchführung an Regelschulen): · Welche Besonderheiten (Vor-/Nachteile) kann ich im Vergleich zum »normalen« Unterricht benennen? Einrichten einer Webgallery Um eine kostengünstige, aber funktionale OnlineGalerie als geschütztes Experimentierfeld mit Passwortsicherung zu erstellen, ohne über Programmierkenntnisse verfügen zu müssen, wird zunächst eine Internetadresse benötigt. Diese registrieren Sie bei einem Internetdienstanbieter, wie z.B. www.goneo.de (Kosten ca. 1,25 €/ Monat). Diese Domain kann, wie in dem vorliegenden Fall, für die Einrichtung einer Projektwebsite genutzt werden. Darüber hinaus benötigen Sie mindestens einen Speicherplatz von 500 MB und einen PHP-fähigen Server, den Ihnen Ihr Provider zur Verfügung stellt, sowie eine Software, die die Bilder automatisch in die Internetseite hinein lädt. Ich habe die PHP Mini Gallery verwendet, die Sie z.B. unter www.shredzone.net/go/minigallery downloaden können. Die PHP Mini Gallery kommt ohne gesonderte Datenbank aus und läuft auf jedem Server, der PHP ausführen kann. Wenn Sie die Software heruntergeladen haben, entpacken Sie den Zip-Ordner. Dieser enthält mindestens zwei Dateien: »index.php« und »template.php«. Benennen Sie nun den Ordner mit dem Namen »bilder«. Um die Dateien »index.php« und »template.php« von einem lokalen Rechner auf den Webspace zu übertragen, wird ein kostenloses FTP-Programm wie z.B. ws_FTP (für Windows, unter www.vollversion.de/download/ws_ftp _pro_1800.html) oder Cyberduck (für Mac, z.B. unter www.softonic.de/s/cyberduck:mac ) benötigt. Laden Sie das Programm herunter, starten Sie es und klicken Sie auf »neue Verbindung erstellen«. Tragen Sie hierfür Ihre Zugangsdaten, die Sie von Ihrem Provider bekommen haben, ein. Wurde die Verbindung erfolgreich hergestellt, sehen Sie sämtliche auf dem Server befindliche Dateien. Übertragen Sie nun Ihre Daten auf den Server, wählen Sie hierzu das Stammverzeichnis1 aus und klicken Sie in Ihrem FTP-Client auf »Upload«. Wählen Sie über das Dialogfenster den Ordner »bilder« auf Ihrem Desktop aus und bestätigen Sie mit »Ok« den Upload. Nun werden die Daten auf den Server übertragen.2 Beide Dateien legen Sie in das zu schützende Verzeichnis (»bilder«) mittels ihrem FTP-Client auf dem Server ab.8 Nun können sich die Schüler mit dem festgelegten Benutzernamen und Passwort in das Bilderverzeichnis einloggen. Im nächsten Schritt übertragen Sie die Fotos der Schüler in den Ordner »bilder« auf dem Server.3 Das Skript, welches die Galerie steuert, erzeugt dann automatisch die Vorschaubilder4 und legt diese auch mit in dem Verzeichnis ab. 1 Die Bilder müssen im JPG-Format, Farbmodus RGB vorliegen! Da von den Bildern Fotoabzüge erstellt werden, müssen sie eine Auflösung von mindestens 200 dpi haben. Wir haben alle Bilder auf 200 dpi und auf eine Breite von 1200 Pixel verkleinert. Soll ein Bild aus der Galerie entfernt werden, muss auch das entsprechende Vorschaubild entfernt werden.5 Werden neue Bilder in die Galerie gespielt, ist darauf zu achten, dass die Dateien nicht namensgleich mit den bereits vorhandenen Bildern sind, da diese sonst überschrieben werden. Um den Bilderordner vor unerlaubten Zugriffen zu schützen, öffnen Sie den auf jedem Rechner standardmäßig installierten Editor, der bei einem Windowsrechner unter Zubehör zu finden ist. Schreiben Sie in diese Datei Folgendes hinein: AuthName »Demo« AuthType Basic AuthUserFile /home/projekte/www/htdocs/kiss/bilder/.htpasswd //6 <Limit GET POST> require valid-user </Limit> Diese Datei wird mit folgendem Namen auf dem Desktop unter dem Namen ».htaccess« abgespeichert. Die zweite Datei ist die eigentliche Passwortdatei, die unter dem Namen ».htpasswd« abgespeichert wird und in die Sie Folgendes schreiben:7 »benutzername:passwort«. 2 3 4 5 6 7 8 Üblicherweise ist »htdocs« das Stammverzeichnis. Dieses kann jedoch von Anbieter zu Anbieter unterschiedlich sein. Informieren Sie sich hierzu bei Ihrem Provider Hilfe zum Einrichten des FTP-Clients finden Sie üblicherweise in den Hilfedateien Ihres Providers Der Upload der Bilder funktioniert genauso wie eben beschrieben. Dieses Mal wählen Sie jedoch als Zielverzeichnis das Verzeichnis »bilder« Diese dürfen nicht gelöscht werden! Heißt das Bild beispielsweise »picture1.jpg«, hat die Galerie das dazugehörige Bild mit »th_picture1.jpg« benannt Hier ist der Pfad zu der Passwortdatei anzugeben Hilfe zu dem beschriebenen Vorgang finden Sie z.B. unter http://de.wikipedia.org/wiki/htaccess Upload wie oben beschrieben 122 / 123 kiss Autoren Autoren Sara Burkhardt Sara Burkhardt, geboren 1970, Dr. phil., Studium der Anglistik und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, der TU Braunschweig und am Trinity College Dublin, Studium der Kunst und Kunstpädagogik an der HBK Braunschweig, anschließend Studienrätin an einem Hamburger Gymnasium, Promotion zum Thema Netz Kunst Unterricht. Künstlerische Strategien im Netz und kunstpädagogisches Handeln an der HBK Braunschweig. Seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Fach Kunst im Institut für Ästhetisch-Kulturelle Bildung an der Universität Flensburg. Stellvertretende Vorsitzende des BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik. Näheres siehe www.kunst-flensburg.de Julia Dick Julia Dick wurde 1981 in Bielefeld geboren. Seit 2003 studiert sie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig Darstellendes Spiel und Kunstpädagogik bei Dorothea Hilliger, David Reuter und Reimar Stielow. In den Fachklassen der freien Kunst studiert sie bei Else Gabriel, Shimabuko und Candice Breitz. Im Herbst 2006 absolvierte sie ein Praktikum an der Laborschule Bielefeld, welches mit einer Hospitanz beim internationalen Schultheaterprojekt »EUROPA« verbunden war. Im Winter 2006 bis zum Sommer 2007 arbeitete sie als Tutorin von Prof. Hilliger zur wissenschaftlichen und organisatorischen Begleitung des Videotriadischenklangfigurinenexperimentes. Im Frühjahr 2008 hospitierte sie bei der Performance- und Theatergruppe Forced Entertainment bei der Entwicklung des Stückes Spectacular in Sheffield und in Essen. Seit Winter 2007 leitet sie die Theater-AG an der Comeniusschule. Ihre künstlerische Arbeit zeigte sie 2005 in der Gruppenausstellung plattform im Kunstverein Hannover, 2007 auf dem Kunstrundgang Kunst 8 – Temporäre Heimat in Braunschweig, sowie im Rahmen von Kunst … hierundjetzt in der Malerkapelle Königslutter, 2008 in der Ausstellung Parasit im Satellit/Galerie Anita Beckers in Frankfurt, dem Zoom! – Performancefestival in Hildesheim sowie im Rahmen des Festivals StadtMachtKunst in Hannover. Seit Sommer 2007 arbeitet sie mit der Tänzerin und Performance-Künstlerin Katharina Sandner zusammen und gründet mit ihr das Duo katze und krieg. Seit Winter 2007 ist sie zudem Mitglied des neu gegründeten Performancelabors Braunschweig. Sandra Hampe Sandra Hampe wurde 1985 geboren. Nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in den USA machte sie ihr Abitur am Friedrich-von-Bodelschwingh Gymnasium Bethel, Bielefeld. Danach begann sie das Studium der Kunstgeschichte und Philosophie an der Kunsthochschule Kassel. 2007 wechselte sie den Studiengang, um an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig das Studium der Kunstvermittlung und Kunstwissenschaft aufzunehmen. Das Grundstudium der Freien Kunst absolvierte sie bei Prof. Anna Gollwitzer. Zurzeit studiert sie in der Klasse von Prof. John Armleder. Torsten Meyer Torsten Meyer, geboren 1965, Dr. phil., 1989 Studium der Erziehungswissenschaft der Universität Lüneburg, 1992 Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Philosophie und Kunst an der Universität Hamburg und Hochschule für Bildende Künste Hamburg. 1996 – 1999 DFG-Graduiertenkolleg Ästhetische Bildung, Universität Hamburg, Promotion zum Thema Interfaces, Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie. Seit 2004 Juniorprofessor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Forschung und Lehre im Bereich Multimedia mit einem Schwerpunkt in der Didaktik der Bildenden Kunst, Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft. Näheres siehe http://mms.uni-hamburg.de/meyer Britta Mertens Britta Mertens wurde 1984 in Tönisvorst geboren. Nach dem Abitur absolvierte sie ein halbjähriges Praktikum an der Wilhelm-Busch-Grundschule in Hilden und begann 2005 ihr Studium für Grundund Hauptschullehramt, Schwerpunkt Grundschule an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd mit den Fächern Kunst, Deutsch und evangelische Theologie. Seit 2007 ist sie Tutorin im Fach Kunst bei Notburga Karl und Prof. Dr. Petra Kathke. Von September 2007 bis August 2008 erhielt sie ein Atelierstipendium der Eduard-Dietenberger-Stiftung in Schwäbisch Gmünd. Während des Studiums beteiligte sie sich an diversen Ausstellungen des Faches Kunst: Buchobjekte, beDINGungen (Video-Performance) und Schatten. Außerdem ist sie an der Reliefgestaltung des Besinnungsweges beteiligt, einem Projekt der Stadt Schwäbisch Gmünd in Kooperation mit Kunststudenten der PH Schwäbisch Gmünd. Im September 2008 erhielt sie mit ihren beiden Klassen aus dem »kiss«-Projekt einen der beiden ersten Preise beim Schülerwettbewerb im ZKM zum Thema: WIR + HIER = VERTRAUTES TERRAIN? Im November 2008 absolvierte sie ihr erstes Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Theresa A. Rieß Theresa A. Rieß wurde 1984 in Nürnberg geboren. Nach dem Abitur nahm sie das Studium der Kunstpädagogik und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien, der Kunstwissenschaft sowie der bildenden Kunst an der Kunsthochschule und der Universität Kassel auf (Studium der Kunstpädagogik bei Bernhard Balkenhold und Prof. Dr. Tanja Wetzel, Studium der bildenden Kunst bei Prof. Feldmann und Prof. Stoya; kunstwissenschaftliches Studium vor allem bei Prof. Dr. Ursula PanhansBühler). Im Vorfeld der documenta12 arbeitete sie im Projekt documenta-dock.de, einer Plattform zu aktuellen Fragen zur Kunst und der documenta12, mit. Im Rahmen dieses Projektes nahm sie im März 2007 an einem Austauschprogramm mit der Parsons New School in New York teil. Ebenfalls 2007 absolvierte sie ein Praktikum bei dem Projekt der Vermittlung der d12, Die Welt bewohnen – Schülerinnen und Schüler führen Erwachsene über die documenta12. In diesem Kontext erarbeitete sie mit den Schülern eine Führung speziell für Blinde und Sehbehinderte und führte zudem selbst Besucher. Darüber hinaus entwickelte Theresa Rieß ein Programm für das Vermittlungsprogramm aushecken, welches sie mit Kindern und ihren Großeltern durchführte. An der Reformschule Kassel betreute sie im Schuljahr 2007/2008 eine Lerntrainingsschülerin (Schulpraktikum). Seit 2008 ist sie Teil des Teams im Stellwerk, einem selbstverwalteten studentischen Ausstellungsraum im Kulturbahnhof Kassel. Bei diversen Workshops (u.a. für den Denkmalschutzbund) sammelte sie außerhalb der Schule Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Lisa Seebach Lisa Seebach wurde 1981 in Köln geboren. Nach dem Abitur leistete sie einen Europäischen Freiwilligendienst (EVS) in Spanien ab und nahm im Anschluss das Studium für Lehramt Sonderschulpädagogik mit dem Fach Kunst- und Medienwissenschaften an der Universität Oldenburg auf. Dieses Studium begleiteten verschiedene Fachpraktika in sonderpädagogischen Bildungsinstitutionen und sozialen Einrichtungen im künstlerischen Bereich in Deutschland und Südamerika. 2005/06 studierte sie im Rahmen eines Austauschprogramms im Bereich Freie Kunst an der Universidad de Bellas Artes in Granada. 2007 begann sie nach dem Ersten Staatsexamen ein Studium der Freien Kunst an der Hochschule für Bildende Künste, Braunschweig. Dort absolvierte sie das Studium bei Prof. Anna Gollwitzer und studiert derzeit in den Klassen von Prof. Raimund Kummer und als Gast bei Prof. Candice Breitz mit dem Schwerpunkt auf Skulptur, Videoinstallation und Performance. Seit 2008 leitet sie als wissenschaftliche Hilfskraft zusammen mit Sylvia Franzmann das studentische Projektbüro FÜRundMIT der HBK Braunschweig. In diesem Zusammenhang führt sie Beratungen von Studierenden durch, setzt sich für den Aufbau von Strukturen für die interdisziplinäre Vernetzung zwischen den Studiengängen ein und arbeitet in kuratorischer Funktion im Stadtraum Braunschweigs. Seit 2003 nimmt sie regelmäßig an künstlerischen Projekten und Ausstellungen im In- und Ausland teil. Julia Ziegenbein Julia Ziegenbein wurde 1982 in Hamburg geboren. Nach dem Abitur 2002 nahm sie das Studium der Pädagogik, Germanistik und der Romanistik an der Universität Hamburg für das Lehramt Oberstufe/Allgemeinbildende Schulen auf. Nach einem Fachbereichswechsel begann sie 2004 das Studium der Kunstpädagogik an der Hochschule für bildende Künste Hamburg in der Grundklasse bei Achim Hoops und setzte ihr Lehramtsstudium in der Fächerkombination Deutsch und Bildende Kunst fort. Ihr Schwerpunktstudium absolvierte sie in der Fachklasse für zeitbezogene Medien bei Prof. Michaela Mélian, sowie u.a. bei Prof. Dr. Matthias Lehnhardt und Prof. Michael Lingner. Im Fachbereich Kunstdidaktik an der Universität Hamburg studierte sie bei Dr. Eva Sturm, Ulrich Schötker und Prof. Dr. Karl-Josef Pazzini und im Fachbereich Schulpädagogik bei Prof. Dr. Johannes Bastian. Von 2004 bis 2006 war sie freie Mitarbeiterin in der privaten Kunstschule dasKunstlabor in Hamburg-Eimsbüttel. 2007 nahm sie am Vermittlungsprojekt der documenta12 in Kassel unter der Leitung von Ulrich Schötker teil. Neben der Erarbeitung und Erprobung von alternativen Vermittlungsformaten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene war sie Mit-Initiatorin des Projekts Sprechen über Kunst auf der documenta12. Darüber hinaus leitete sie einen Workshop für Schüler der Sozialpädagogik im Rahmen des Kinder- und Jugendlichenprogramms aushecken. Seither war sie bis 2008 unter der Leitung von Carmen Mörsch im Rahmen der Begleitforschung zur Vermittlung auf der documenta12 an einer Publikation beteiligt. Seit 2008 arbeitet Julia Ziegenbein als selbstständige Kunstvermittlerin in der Sammlung Falckenberg in HamburgHarburg. Zudem leitet sie zwei Werkstätten mit künstlerischem Schwerpunkt für die Klassen fünf und sechs an der Max-Brauer-Schule und setzt ihr Studium an der HFBK Hamburg fort. Im Rahmen des von Prof. Michael Lingner angebotenen Seminars »Kunstvermittlung als künstlerische Aufgabe? Möglichkeiten, die Erfahr- und Verstehbarkeit von Kunst wahrscheinlicher zu machen« erarbeitet und erprobt sie zur Zeit künstlerische Vermittlungsformate für das 2009 stattfindende Off-Kunst-Festival subvision. 124 kiss Impressum / Quellennachweis Impressum kiss – Kultur in Schule und Studium / Stipendien für Studierende der Kunstpädagogik wird vom BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik und dem Siemens Arts Program zur Förderung der Vermittlung zeitgenössischer Kultur in der Schule ausgeschrieben. Das Vorhaben wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert. Die hier vorliegenden Unterrichtseinheiten sind Ergebnisse des 2008 durchgeführten Stipendienprogramms und widmen sich dem Kunstunterricht mit dem Schwerpunkt »Kunst und aktuelle Medienkultur«. Herausgegeben vom BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik und vom Siemens Arts Program Projektleitung: Dr. Sara Burkhardt, Dr. Beate Hentschel, Prof. Dr. Torsten Meyer, Dr. Ernst Wagner Projektbüro: Anna Mayrhuber, Gereon Wulftange Stipendiatinnen Julia Dick, Sandra Hampe und Lisa Seebach, Britta Mertens, Theresa Rieß, Julia Ziegenbein Betreuende Künstler Com & Com, Dellbrügge & de Moll, Bjørn Melhus, Peter Piller, Robin Rhode Jury Dr. Sara Burkhardt, Dr. Beate Hentschel, Gila Kolb, Anna Mayrhuber, Prof. Dr. Torsten Meyer, Thomas Trummer, Dr. Ernst Wagner Lektorat Adrienne van Wickevoort Crommelin Redaktion Dr. Alexander Müller Gestaltung Surface Gesellschaft für Gestaltung mbH, www.surface.de Oliver Kuntsche Druck Mediahaus Biering GmbH, München Abbildungsnachweise / Copyrights Umschlaginnenseite Foto: Alexandra Grieß Beitrag Julia Ziegenbein Vier Bilder (a–d): Peter Piller: »Bedeutungsflächen (Da ist es)«. (Auszug) In: Archiv Peter Piller, Bd. 10. Berlin, Frankfurt a.M. 2006. Peter Piller; Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt; Vice Versa. © Peter Piller/VG Bild-Kunst Bonn, 2009 Peter Piller: »Materialien (B). Peripheriewanderung Bonn«. (Auszug) 6. Peripheriewanderung. Bus 615 Bad Godesberg Fähre – Bus 622 Niederholtorf Mitte, 1. September 2006 In: Keller, Christoph (Hg.): Archiv Peter Piller, Bonn, Frankfurt a.M. 2007. Peter Piller; Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt a.M.; Beethovenstiftung, Bonn. © Peter Piller/VG Bild-Kunst Bonn, 2009 Drei Bilder (a–c) Peter Piller: »Materialien (B). Peripheriewanderung Bonn«. (Auszug) In: Keller, Christoph (Hg.): Archiv Peter Piller. Bonn, Frankfurt a.M. 2007. Peter Piller; Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, Frankfurt a.M.; Beethovenstiftung, Bonn. © Peter Piller/VG Bild-Kunst Bonn, 2009 Rhizom von Convallaria multiflora In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. 16. Band. Plaketten bis Rinteln, Leipzig / Wien 1907, S. 879 © 2009 für alle nicht gesondert aufgeführten Abbildungen beim BDK Textnachweis / Copyright Beitrag Britta Mertens Textabdruck aus Dellbrügge, Christiane; de Moll; Ralf: »Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen«, Berlin 2008, S. 9–11. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Künstler Wir danken den Schülern und Lehrern der beteiligten Schulen und Institutionen für die engagierte Unterstützung des Projekts Julia Dick: Justizvollzugsanstalt Braunschweig (U-Haft) Beitrag Julia Dick Robin Rhode: Still aus der Performance »Car Theft« (2003), mit freundlicher Genehmigung von Robin Rhode. © Robin Rhode/Perry Rubenstein Gallery New York Britta Mertens: Wilhelm-Busch-Schule, Städtische Gemeinschaftsgrundschule Hilden René Magritte: »Tentative de l’impossible«/»Der Versuch des Unmöglichen«, Öl auf Leinwand, 105,6 x 81 cm, (1928). © VG Bild-Kunst, Bonn 2009 Theresa Rieß: Reformschule Kassel Robin Rhode: Fotografien von »He Got Game« (2000), mit freundlicher Genehmigung von Robin Rhode. © Robin Rhode/Perry Rubenstein Gallery New York Lisa Seebach und Sandra Hampe: Frida-Kahlo-Schule, (LVR-Förderschule St. Augustin, Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung) Robin Rhode: Fotografien von »He Got Game« (2000), mit freundlicher Genehmigung von Robin Rhode. © Robin Rhode/Perry Rubenstein Gallery New York Robin Rhode: Stills aus »Untitled (Air Guitar)« (2005), mit freundlicher Genehmigung von Robin Rhode. © Robin Rhode/Perry Rubenstein Gallery New York Beitrag Sandra Hampe und Lisa Seebach Bjørn Melhus: Still aus »No Sunshine« (1997), Video, 6 min. loop, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. © Bjørn Melhus/VG Bild-Kunst, Bonn 2009 Bjørn Melhus: Still aus »Das Zauberglas«/»The Magic Glass« (1991), Video, 6 min., mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. © Bjørn Melhus/VG Bild-Kunst, Bonn 2009 Beitrag Britta Mertens Dellbrügge, Christiane; de Moll, Ralf: »Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen« (vier Bilder 2008), 5-Kanal-Video Installation und Wandbeschriftung, Kunst am Bau MarcelBreuer-Schule, OSZ für Holztechnik, Glastechnik und Design OSZ Bautechnik II, Berlin, mit freundlicher Genehmigung der Künstler. © Dellbrügge & de Moll/VG Bild-Kunst, Bonn 2009 Beitrag Theresa Rieß Still aus dem Videoclip »Side by Side« aus dem gleichnamigen Projekt (2002). Zitiert nach: http://www.side-by-side.ch/index3.php vom 14.10.2008, mit freundlicher Genehmigung von Com&Com. © Com&Com Foto aus der Galerie der Homepage zum Projekt GUGUSDADA (2004–2006): »dada pk3« Zitiert nach: http://www.gugusdada.ch/?q=node/view/124 vom 14.10.2008, mit freundlicher Genehmigung von Com&Com. © Com&Com Mocmoc-Denkmal vor dem Bahnhof in Romanshorn, Bestandteil des Projekts »Mocmoc« (seit 2003). Zitiert nach: http://www.com-com.ch/arbeiten/22 vom 14.10.2008, mit freundlicher Genehmigung von Com&Com. © Com&Com Das cc-space-Logo. © Theresa Rieß/Com&Com. Gefakte Identität von Johannes M. Hedinger im cc-space mit freundlicher Genehmigung von Com&Com. © Com&Com Julia Ziegenbein: Max-Brauer-Schule, Staatliche Gesamtschule in der Freien und Hansestadt Hamburg Trotz Bemühungen war es nicht in allen Fällen möglich, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche bitten wir den Herausgebern zu melden. Bei der Bezeichnung von Personen oder Personengruppen sind zur sprachlichen Vereinfachung und besseren Lesbarkeit im gesamten Heft Personen beiderlei Geschlechts gemeint. © 2009 für alle nicht gesondert aufgeführten Abbildungen beim BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik und Siemens Arts Program, Siemens AG, München © 2009 BDK e.V. Fachverband für Kunstpädagogik Jakobistr. 40 30163 Hannover [email protected] www.bdk-online.info Siemens AG, München Siemens Arts Program Machtlfinger Str. 1 81379 München [email protected] www.siemensartsprogram.de