Jeder Atemzug ein Glücksmoment

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Jeder Atemzug ein Glücksmoment
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Samstag, 12. März 2016 —
Der kleine
Finale
O-Ton
«Vergangenheit
hört nicht auf;
sie überprüft
uns in der
Gegenwart.»
Siegfried Lenz
Kulturnotizen
Kunst I
Stillleben von Cuno Amiet
identifiziert
Das Berliner Kunsthaus Lempertz hat
ein verschollenes Gemälde des Schwei­
zer Künstlers Cuno Amiet identifiziert.
Das Blumenstillleben war lediglich mit
«CA» signiert, ein Team von Kunsthisto­
rikern hat es anhand des Werkverzeich­
nisses dem Maler zugeordnet. Im Früh­
jahr soll es versteigert werden. (klb)
Kunst II
Bundesamt zeichnet
drei Künstler aus
Mit dem Schweizer Grand Prix Kunst/
Prix Meret Oppenheim zeichnet das
Bundesamt für Kultur die Kuratorin
­Adelina von Fürstenberg, den Künstler
Christian Philipp Müller und den Archi­
tekten Martin Steinmann aus. Sie erhal­
ten je 40 000 Franken. (klb)
Literatur
Straelener Übersetzerpreis
für Brigitte Döbert
Brigitte Döbert erhält den Straelener
Übersetzerpreis für ihre deutsche Fas­
sung des Romans «Die Tutoren» des ser­
bischen Autors Bora Cosic. Er wird von
der Kunststiftung NRW vergeben und ist
mit 25 000 Euro dotiert. Der Roman galt
lange als unübersetzbar. (klb)
Film
«Die Kur» von Arno Camenisch
soll verfilmt werden
Die Zürcher Elite Filmproduktion si­
cherte sich die Verfilmungsrechte am
jüngsten Buch «des Bündner Autors
Arno Camenisch. In «Die Kur» verschlägt
ein Tombola-Gewinn ein älteres Ehe­
paar in ein Luxushotel im Engadin. Die
Dreharbeiten im Engadin sollen im
Herbst 2017 beginnen. (sda)
Jazz
Der Lausanner Jazzmusiker
Léon Francioli ist tot
Der Lausanner Jazzmusiker Léon
­Francioli ist am Mittwoch 69-jährig an
den Folgen einer Krebserkrankung ge­
storben. Er war Mitgründer der Rock­
gruppe Les Aiglons und wandte sich spä­
ter dem Jazz zu. Francioli spielte Gi­
tarre, Bass und Piano und schrieb auch
Filmmusik, etwa zu Yves Yersins «Les
petites fugues». (sda)
Am stärksten ist «But the Air Is Never Sweet Enough», wenn endlich mal am Stück getanzt wird. Foto: zvg
Jeder Atemzug ein Glücksmoment
Viele Zitate aus der Popkultur, aber wenig Zusammenhang: Der Berner Choreograf Michael Wälti
zeigt in der Dampfzentrale sein Tanzstück «But the Air Is Never Sweet Enough».
Lena Rittmeyer
So geht entspannen in der Yogastunde.
Dämmerlicht erfüllt den Raum, Beruhi­
gungsmusik mit Vogelgezwitscher er­
klingt, und mit jedem Atemzug heben
sich Arme und Brustkörbe gegen den
Himmel. Nur auf einer Matte steht nie­
mand im Turbinensaal der Dampfzen­
trale, und was wir sehen, ist auch kein
verlangsamter Sonnengruss. Es ist das
Stück «But the Air Is Never Sweet
Enough» des Berner Choreografen Mi­
chael Wälti, derzeit Associated Artist
der Dampfzentrale, und seiner Tanz­
compagnie Bite Bullet Dance.
Die Luft, sie muss tatsächlich delikat
sein, denn der rhythmische Atemfluss
des sechsköpfigen Ensembles ver­
schnellert sich, und der erste Trance­
zustand geht in den nächsten über. Wie
ein Herz pulst der tieffrequente Beat
(Musik: Gary Shepherd), während
Oberkörper kreisen wie im rituellen
Tanz und Brustbeine schnell rauf- und
runterspringen. Chest Pop heisst die
Bewegung im Hip-Hop-Fachjargon, und
es soll nicht die einzige Referenz an die
Popkultur bleiben.
Von Limbo bis Capoeira
Und das ist denn auch das Problem des
Stücks, das vorwiegend aus Zitaten be­
steht. Selbst der Titel ist in Wirklichkeit
eine Songzeile. Weiter schlimm ist das
nicht. Wenn Michael Wälti nur etwas
anzufangen wüsste mit all den tänzeri­
schen Versatzstücken. Ob Limbo, Ca­
poeira oder R ’n’ B, jeder Stil klingt an,
aber keiner richtig.
Wie nebenbei, aber ähnlich zufällig,
wechseln die Stimmungen mit den
Scheinwerfern (Licht: Jan Fedinger),
die den weissen Bühnenboden und Hin­
tergrund mal in gelbes, dann in blaues
und rotes Licht tauchen.
Und eine Erleuchtung
Ob Limbo, Capoeira
oder R’n’B, jeder
Stil klingt an, aber k
einer richtig.
Am stärksten ist «But the Air Is Never
Sweet Enough», wenn endlich mal am
Stück getanzt wird. Dann etwa, wenn
die Gruppe synchron, aber träge wie
Zombies ihre Choreografie durchexer­
ziert, oder bei Duetten, die zaghaft und
anzüglich zugleich sind. Nur dauert das
immer alles viel zu kurz. Jedenfalls da­
für, dass sich beim Publikum Hormone
ausschütten könnten, wie es sich Wälti
zum Ziel gesetzt hat.
Sedierend wirkt hingegen die sektie­
rerische Zusammenkunft mit einem im
wahrsten Wortsinne erleuchteten
Guru. Oder ist es ein Meditationskurs?
Sicherlich etwas mit Achtsamkeit, und
hier läge das Potenzial des Stücks. Die
tiefen Atemzüge wirken mitunter wie
sexuelle Höhepunkte, nur stimuliert
wird niemand. Glücksgefühle erzeugt
nur das eigene Bewusstsein. Spielt das
Stück auf unsere spirituelle Verarmung
an, die wir durch fragwürdige LifestyleEsoterik kompensieren? Kann man so
sehen. Zumindest bis zur nächsten
Szene.
Weitere Vorstellungen: Heute, 20 Uhr, in
der Dampfzentrale
Tagestipp Jazzfestival Bern
Bonbons & Granaten Güzin Kar
Schwuler Papa abzugeben
Kaum ist man einen Schritt weiter in
Sachen Stiefkinderadoption durch
Schwule und Lesben, geht das Relati­
vieren und Lavieren schon wieder los:
Kinder sollen ein
Widerrufsrecht
erhalten. Also eine
Rückgabegarantie,
für den Fall, dass
der Elternteil nicht
ganz den Vorstel­
lungen des Kindes
genügt. Denn ums Kindeswohl geht es
angeblich bei diesem politischen
Vorschlag, der ernst gemeint ist, aber
wie der dürftige Plot einer dieser
Hollywoodkomödien aus den 90ern
klingt, in denen die zweite Gilde der
Schauspieler auftrat oder die alternde
erste Gilde, wenn sie probeweise vom
Actionfach in die Familienkiste wech­
seln wollte.
Im Film wäre es lustig, einen schwu­
len Arnie zu retournieren, weil er die
leibliche Rotzgöre seines Freundes
schlecht bekocht. Natürlich merkt die
Rotzgöre kurz darauf, dass ihr Stiefpapi
nicht nur verkochte Nudeln konnte,
sondern auch spielen, zuhören und
singen, was sie jetzt alles schmerzlich
vermisst, weshalb sie ihn im grossen
­Finale mit jenem Lied zurückholt, das
er ihr immer dann vorsang, wenn sie
traurig war, weil der leibliche Papi mal
wieder lieber arbeitete, als ihre kaputte
Spieluhr zu reparieren und dabei mit
ihr über das Leben zu philosophieren.
Wer ist bei euch beiden die Frau?
Warum hab ich kein Mami wie andere
Kinder? Warum lachen die anderen
Kinder, wenn ihr mich von der Schule
abholt? Wer ist bei euch beiden die
Frau? Das ergibt anrührende Szenen.
Im Sequel des Filmes, in dem es um ein
Mütterpaar ginge, kämen vielleicht
noch: «Warum kann Mami 2 nicht im
Stehen pinkeln?» und «Wieso könnt ihr
nicht wenigstens Jodie Foster sein,
wenn ihr schon lesbisch seid?» dazu.
In der Realität ist die Idee eines
Widerrufsrechts weniger lustig, denn
es geht nicht ums Kindeswohl, son­
dern darum, die eigenen Ängste zu
bewirtschaften und eine rückständige
Familienpolitik zu betreiben, die
sich auf ein hinterwäldlerisches
Naturkonzept abstützt. Denn natürlich
wird zu keinem Zeitpunkt die Rück­
gabegarantie für den biologischen
Elternteil diskutiert, da dieser einem
ja per Darwin, Gott, einem gerissenen
Kondom oder einer anderen nicht zu
hinterfragenden Autorität zugeteilt
wurde.
Dabei wäre es an sich gar nicht so
schlecht, die Elternschaft aus der
Sicht des Kindes zu sehen und sich zu
fragen, ob jenes mit Erreichen eines
bestimmten Alters von seinen Eltern
zurücktreten dürfen sollte, egal, ob
adoptiert oder nicht. Ich bin sicher,
dass nicht wenige davon Gebrauch
machen würden. Besonders in der
Pubertät dürfte der Elternkunden­
dienst regen Zuspruch finden.
Vielleicht gäbe es sogar Tausch­
börsen, wo jemand liebend gern die
­gebrauchten lesbischen Eltern eines
Kollegen nähme, um ihm im Gegen­
zug zwei Erzheteros zu
überlassen.
«Verpeilte Künstler abzugeben»
Vielleicht würden Kinder auch gar
nicht nach der sexuellen Orientierung
ihrer Eltern gehen, sondern eher
Temperamente, Berufe und Charak­
tereigenschaften tauschen: «Verpeilte
Künstler abzugeben, tausche gegen
Militarist.» Oder: «Heavy-Metal-Fan
tauscht seine 2 netten, aber empfindli­
chen Eltern gegen 2 Schwerhörige,
Alter egal.» Oder auch nur: «Lust auf
was Neues? Lass uns Wohnung und
Eltern tauschen!» Ich bin jedenfalls
sicher, dass, wer Eltern nur auf deren
sexuelle Veranlagung reduziert, Kinder
und deren Bedürfnisse gehörig unter­
schätzt.
Gala Night mit
Joshua Redman
Wo immer er auf der Bühne ist, sorgt er
für Begeisterungsstürme: der amerikani­
sche Saxofonist Joshua Redman. Am 41.
Internationalen Jazzfestival Bern, das
heute beginnt und bis 21. Mai dauert, tritt
er an der Gala Night zusammen mit dem
Swiss Jazz Orchestra auf, eine der gefrag­
testen Big Bands der Schweiz. (klb)
Kursaal Bern, heute Samstag, 19.30 Uhr

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