Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
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Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Von Silvio Peritore Fast vier Jahrzehnte hat es gedauert, bis eine deutsche Regierung im Jahr 1982 den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma politisch anerkannt hat. Während dieser Zeit wurde die NS-Vernichtungspolitik gegenüber dieser Minderheit in Geschichtsschreibung und Gedenkstättenarbeit weitgehend ausgeklammert. Vorrangiges Ziel des Dokumentations - und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg war und ist es, hier ein Umdenken zu bewirken. Mit Unterstützung der Stadt Heidelberg konnte das Zentrum zu Beginn der 90er Jahre in der Heidelberger Altstadt eingerichtet werden. Es ist eine europaweit einzigartige, durch die Bundesregierung und das Land Baden-Württemberg institutionell geförderte Einrichtung. Nach mehrjährigen Baumaßnahmen wurde der Gebäudekomplex mit der weltweit ersten Dauerausstellung zum NS-Völkermord an den Sinti und Roma am 16. März 1997 eröffnet. Ein Gebäudeteil wird als Verwaltung des Zentrums und des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma genutzt. Das Zentrum versteht sich als Museum zur Zeitgeschichte sowie als Ort der Erinnerung, der Begegnung, des Dialogs und der kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichpolitischen Fragestellungen. Einen Kernbereich bildet das Thema Menschenrechte. Als ein Forum auch für andere Minderheiten sollen hier diejenigen eine Stimme erhalten, die Opfer von Diskriminierung und rassistischer Gewalt sind. Das Zentrum veranstaltet Wechselausstellungen, Vorträge, Konzerte, Filmvorführungen und Workshops. Den Schwerpunkt der Einrichtung bilden vier Referate mit unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten: Das Referat Dokumentation befasst sich mit der Geschichte der Sinti und Roma. Bislang steht die wissenschaftliche Aufarbeitung des NS-Völkermords im Vordergrund. Das Zentrum hat eine Sammlung historischer Privat- und Familienfotos zusammengetragen, die in ihrer Art einzigartig ist. Seit seiner Gründung arbeitet es eng mit anderen Facheinrichtungen, insbesondere Gedenkstätten, zusammen. Für zahlreiche externe Ausstellungen wurden Materialien aus dem hauseigenen Archiv und Opferbiografien bereitgestellt. Inzwischen sind an über hundert Orten Stätten der Erinnerung entstanden, an denen der im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Sinti und Roma gedacht wird; diesen lokalen Gedenkorten ist eine eigene Datenbank auf der Internetseite des Zentrums gewidmet. Ein weiterer Untersuchungsgegenstand ist die historische Entwicklung stereotyper „Zigeuner“-Bilder, etwa in der Fotografie und Kunst. Das Referat Dialog zeichnet verantwortlich für die pädagogische Betreuung der ständigen Ausstellung. Es bietet differenzierte Angebote an, die von Ausstellungserkundungen über Workshops bis hin zu Seminaren und Exkursionen reichen. Ein aktives „entdeckendes Lernen“ steht dabei methodisch im Vordergrund. Das Referat koordiniert zudem Projekte und Kooperationen der nationalen und internationalen Sinti- und Roma-Jugendarbeit. Darüber hinaus dokumentiert das Referat die kulturellen Beiträge der Sinti und Roma auf den Gebieten Literatur, Film, bildende Kunst und Musik, um vorhandene Klischees überwinden zu helfen. Bisherige Forschungsschwerpunkte waren die Bedeutung der Musik der Sinti und Roma für die Entwicklung des Jazz und des Flamenco sowie der Wiener Klassik. Das Referat Bildung beschäftigt sich mit der schulischen Aus- und Weiterbildung sowie mit Förderprogrammen und Stipendien. Es führt Lehrerseminare durch und erarbeitet unterrichtsbegleitende Materialien, die allgemein über die Minderheit informieren. Auf dem Fachbereich Gedenkstättenarbeit www.gedenkstaetten-bw.de Schulbuchsektor und in schulpolitischen Fragen engagiert es sich für eine größere Beachtung der Sinti und Roma und für den Abbau von Vorurteilen. Weiterer Schwerpunkt ist die Bewahrung der Sprache des deutschen Romanes im Sinne der europäischen Charta für Regional - oder Minderheitensprachen. Das Referat Beratung unterstützt Holocaust-Überlebende in Entschädigungsangelegenheiten, nachdem Sinti und Roma auch in diesem Bereich jahrzehntelang systematisch ausgegrenzt wurden. Dies schließt die Vertretung der Individualansprüche gegenüber den Wiedergutmachungsbehörden sowie den Gerichten mit ein, um Renten für verfolgungsbedingte Schäden durchzusetzen. Die Beratungsstelle wendet sich konsequent gegen konkrete Fälle von Diskriminierungen und führt Gedenkfahrten für die Überlebenden an die historischen Orte durch. Ein wichtiger Themenschwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit den tief verwurzelten Vorurteilsst rukturen, die auch eine wesentliche Grundlage des aktuellen, gegen Sinti und Roma gerichteten Rassismus sind. Sinti und Roma Sinti und Roma sind Begriffe aus der Minderheitensprache Romanes. Dabei bezeichnet Sinti die in Mitteleuropa seit dem Spätmittelalter beheimateten Angehörigen der Minderheit, Roma diejenigen südosteuropäischer Herkunft. Außerhalb des deutschen Sprachraumes wird Roma (= Mensch) auch als übergreifende Bezeichnung für die gesamte Minderheit verwendet. In den Sinti und Roma Familien ist das Romanes neben der jeweiligen Landessprache die zweite Muttersprache und damit ein wesentlicher Teil ihrer kulturellen Identität. Das Romanes ist mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt, was auf Indien als ursprüngliches Herkunftsland der Si nti und Roma hinweist. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich in den jeweiligen europäischen Heimatländern eigene Romanes-Sprachen. Der Begriff „Zigeuner“ ist hingegen eine Fremdbezeichnung durch die Mehrheitsbevölkerung, der von vielen Sinti und Roma als diskriminierend abgelehnt wird. Benutzt man im Kontext historischer Quellen die Bezeichnung „Zigeuner“, so sind die hinter diesem Begriff stehenden Klischees und Vorurteile stets zu mit zu reflektieren. Ständige Ausstellungen Die ständige Ausstellung zum NS-Völkermord an den Sinti und Roma in Heidelberg zeigt auf fast 700 Quadratmetern die Verfolgungsgeschichte von 1933 bis 1945. Der erste Teil dokumentiert die stufenweise Ausgrenzung und Entrechtung im Deutschen Reich bis zu den ersten Deportatione n ins besetzte Polen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der zweite Teil setzt mit dem Überfall auf die Sowjetunion ein und behandelt die systematische Vernichtung der Sinti und Roma im besetzten Europa. Den Abschluss der Ausstellung bildet ein Gedenksteg. Einzelne Ländertafeln erinnern an den Völkermord in den von NS-Deutschland besetzten oder mit ihm verbündeten Staaten. Auf eine Namenswand wird an die 21.000 Sinti und Roma erinnert, die fast alle in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Das Heidelberger Zentrum hat darüber hinaus im Jahr 2001 im Staatlichen Museum Auschwitz, im Block 13 des ehemaligen Stammlagers, eine ständige Ausstellung zum NS-Völkermord an den Sinti und Roma realisiert. Die Ausstellung dokumentiert drei inhaltliche Bereiche: die Ausgrenzung und Entrechtung der deutschen Sinti und Roma von 1933 bis 1940, den Völkermord im besetzten Europa und die Geschichte im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die Ausstellung in Heidelberg wird durch Videos mit Dokumentarfilmen und Aussagen von Überlebenden ergänzt, die individuell abrufbar sind. Für größere Gruppen steht ein Vorführraum zur Verfügung, in dem Filme zu verschiedenen Themen gezeigt werden. Für ausländische Besucher wird ein Audioführungssystem in den Sprachen Englisch, Französisch, Japanisch und Spanisch bereitgehalten. Besuchergruppen werden nach vorheriger Anmeldung Führungen mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten angeboten. Wichtigste Adressaten der Ausstellung sind Schulklassen und Studierende. Dabei werden auch aktuelle Fragen zu Gefahren des Rassismus und Rechtsextremismus diskutiert. Bildungsangebote Weiterhin bietet das Heidelberger Zentrum Lern- und Projekttage (auch als Teil von Aus- und Fortbildungen), Projektberatung und -begleitung, Stadterkundungen zur Zeitgeschichte und „Spurensuche“, Lehrerfortbildungen, Fachtagungen, die Vermittlung von Fachreferenten sowie die Organisation von Exkursionen an. Im Januar 2006 wurde die Ausstellung des Dokumentationszentrums „The Holocaust against the Roma and Sinti and present day racism in Europe“ im Europäischen Parlament in Straßburg unter der Schirmherrschaft von Parlamentspräsident Josep Borrell der Öffentlichkeit übergeben. Die siebzig laufende Meter umfassende Ausstellung wurde in der Folge in zahlreichen europäischen Städten gezeigt, darunter in Budapest, Pécs (Fünfkirchen), Prag, Brünn, Warschau, Kiew und in der Gedenkstätte Westerbork (Niederlande). Dr. Silvio Peritore, geboren 1961 in Karlsruhe, ist Leiter des Referats Dokumentation im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg und außerdem stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Er ist Mitglied in zahlreichen Beiräten und Fachgremien. Publikationen (Auswahl) Anita Awosusi, Andreas Pflock: Sinti und Roma im KZ Natzweiler-Struthof. Anregungen für einen Gedenkstättenbesuch, Heidelberg 2006. Michaela Baetz, Heike Herzog, Oliver von Mengersen: Die Rezeption des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, Heidelberg 2007. Martin Holler: Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma in der besetzten Sowjetunion (1941–1944). Heidelberg 2009. (http://www.sintiundroma.de/uploads/media/GutachtenMartinHoller.pdf) Romani Rose (Hrsg.): „Den Rauch hatten wir täglich vor Augen“. Katalog sowie CD-ROM zur ständigen Ausstellung, Heidelberg 1999 bzw. 2010. Silvio Peritore, Frank Reuter (Hrsg.): Inszenierung des Fremden. Fotografische Darstellung von Sinti und Roma im Kontext der historischen Bildforschung, Heidelberg 2011. Markus End: Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014. Filme „Auf Wiedersehen im Himmel.“ Die Sinti-Kinder von der St. Josefspflege (DVD), 1994.