2:1 – aber kein Ehekrach im Hause Baldursdóttir

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2:1 – aber kein Ehekrach im Hause Baldursdóttir
SPORT 19
M IT T W OC H , 29 . JUNI 20 16
PRESSESTIMMEN
England erleidet die ultimative
Demütigung durch eine beschämende Niederlage gegen den
kleinsten Fisch im Turnier. Geschlagen von Island – einem
Land mit der Einwohnerzahl in
der Größe von Leicester. Geschlagen von Island – einem Team mit
einem Teilzeit-Coach und einer
Teilzeit-Fußballkultur.
Daily Mail, England
Nach 959 Spielen war das die demütigendste Niederlage in Englands Geschichte – gegen ein
Land von 330.000 Einwohnern,
trainiert von einem Zahnarzt.
England hat letzte Nacht aufgehört ein Fußballteam zu sein und
ist nur noch eine Lachnummer.
Das war hirntoter Fußball, voll
von Individuen in Panik.
Times, England
Das Abenteuer geht weiter. Unser
Nationalteam hat dem isländischen Fußball die bisher größte
Errungenschaft in der Geschichte beschert, als es bei der EMEndrunde in Frankreich England
in Nizza mit 2:1 aus den letzten
sechzehn Mannschaften hinausschoss.
Morgunblaðið, Island
Island 2 – 1 England – Wo endet
das? Die isländische Nationalmannschaft hat mit ihren Erfolgen in den vergangenen Wochen
und Monaten bereits seit Längerem für weltweite Aufmerksamkeit gesorgt. Und jetzt haben
unsere Burschen für den heimischen Fußball alldem eine Spitze
draufgesetzt. Man kann nicht
ignorieren, dass die Leistung der
Burschen einer der größten Momente unserer Nation ist.“
Fréttablaðið, Island
Islands Abwehr ist eine Art
Wikingerschiff, solide gebaut,
schwer zu entern, erst recht,
wenn die Besatzung ihr Schiff
nicht mehr verlassen muss.
Süddeutsche, Deutschland
Schon wieder OUTsch! England
auch bei der EM raus . . . Unglaublich, wie dämlich sich
England dabei anstellt.
Bild, Deutschland
Es ist nicht nur die größte Sensation dieser EURO, es ist wohl eine
der unglaublichsten Geschichten
der Fußball-Historie.
Neue Zürcher Zeitung, Schweiz
2:1 – aber kein Ehekrach
im Hause Baldursdóttir
Er lebte lange Jahre in England und ist ein glühender Fan der Three Lions. Sie ist
Isländerin und seine Frau. Und dies ist die Geschichte eines besonderen Fernsehabends.
HEINZ BAYER
SALZBURG.
Man traut sich ja wirklich kaum zu fragen. Am Tag danach. Aber es führt kein Weg daran
vorbei. Also: „Wie gehts Ihnen
denn, Herr Arnesen?“ Die Antwort
kommt mit rauchiger Stimme und
prompt: „Schlecht. Eigentlich so
schlecht wie nie.“ Verstehe. Der
Mann hat ja auch einen wirklich
verstörenden Abend hinter sich.
Der wunderbare Musiker mit
Salzburger Wurzeln arbeitete vor
der Pensionierung als Lehrender
am Mozarteum. Er trällerte in sorglos-jungen Jahren mit den Rubettes
(„Suger Baby Love“). Und als 1970 in
Seattle das Musical „Hair“ entstand,
war er dabei. Mit Graham Nash und
den Hollies ging der damalige Studiomusiker auf Welttournee. Und
immer, immer, in all diesen langen
Nach dem Elfer dachte
ich: Hilfe, sie werden
geschlachtet.
Rósa Kristín Baldursdóttir
Rósa Kristín in Siegespose. Peter Arnesen mit Träne und schwarzer Krawatte.
Jahren, war er ein glühender, oft
auch leidender Fan der englischen
Fußballnationalmannschaft. Denn
schließlich lebte er mehr als 13 Jahre auf der Insel.
Und jetzt das! Island schlägt bei
der EURO die Three Lions mit 2:1
und kickt Rooney & Co. aus dem Bewerb. Akkurat! Denn Peters Frau,
Rósa Kristín Baldursdóttir, Sängerin
und Lehrende am Mozarteum Salzburg, ist leidenschaftliche Isländerin. Und sie liebt den Fußball.
Die beiden sind in einem Haus in
Salzburg daheim. In zwei getrennten Wohnungen. Sie sahen deshalb
das Spiel konsequenterweise in getrennten Räumen. Rósa Kristín:
„Ich habe in seiner Wohnung gefeiert. Weil er hat ja einen großen
Fernseher.“ Peter sah das Spiel in
ihrer Wohnung. Dort steht ein von
Rósa Kristíns Freundin geliehenes
Mini-TV-Gerät. Rósa Kristín, die
sich in diesen Tagen „ganz hervorragend fühlt“, sagt: „Ich bin immer
für die Engländer gewesen. Aber
jetzt war ganz klar, für wen mein
Herz schlägt.“
Und weiter: „Ich bin auf den Balkon hinaus und habe vor Freude in
den Innenhof hinuntergeschrien
und gesungen vor Freude.“ Gesungen und ausgeflippt sind auch die
isländischen Fans. „Es waren nur
10.000. Mehr Karten gab es für uns
nicht.“ Aber es klang nach viel
mehr. Jetzt hat ein riesiger Run auf
Tickets für das Spiel gegen Frankreich eingesetzt. „Ganz Island will
dorthin.“ Was Rósa Kristín besonders gefiel: „Im Stade de Nice waren
beide isländischen Präsidenten dabei. Der neue, Guðni Jóhannesson,
saß mit seiner Frau bei den Fans.
Beide trugen sie Island-Trikots. Der
alte Präsident saß mit seiner milliardenschweren Gattin unter den
noblen Leuten.“ Das sei neben dem
grandiosen Sieg auch ein Zeichen
für einen Neuanfang in Island gewesen.
Wie erklärt sich eigentlich die
Stärke des Teams? Waren da isländische Elfen im Spiel? „Unsere
Mannschaft hat einen unbändigen
Optimismus und diese spürbare
Freude. Niemand erwartete von ihnen, dass sie bei der EURO derart
gut sind.“ Die Entschlossenheit der
Wikinger, sie sei gegen England besonders zu spüren gewesen: „Nach
dem Elfmeter in der vierten Minute
BILD: SN/MARCO RIEBLER
dachte ich: Hilfe, sie werden geschlachtet. Es war für mich das
Größte, dass sie die Niederlage
nicht angenommen haben.“ Einer
fiel besonders auf. Kolbeinn Sigthórsson. Was für eine Symbolik:
Siegtor durch Sigthórsson. Der
Name, was heißt das eigentlich?
„Sig steht für Sieg und Thórsson für
Thor, den Donnergott“, erklärt Rósa
Kristín. Und welchen Tipp hat sie
gegen Frankreich? „Frankreich hat
den Druck. Nicht wir.“
Bis zum Spiel bleibt Zeit für Musik. Rósa Kristín und Peter spielen
mit Bene Halus in der Jazzformation
Úngút. Dieses isländische Wort bedeutet so viel wie etwas ausbrüten
oder aushecken. Ob Frankreichs
Team, „Les Bleus“, das als eine Art
Warnung verstehen muss?
Im Finale war König Ottos Glück perfekt
Griechenlands Europameistertitel von 2004 war die größte Sensation in der Turniergeschichte.
Es hätte den Portugiesen schon
nach dem Eröffnungsspiel ihrer
Heim-Europameisterschaft 2004
dämmern müssen: Mit diesen Griechen ist nicht zu spaßen. Nach dem
2:1 gegen den Gastgeber wäre dann
aber schon fast das erwartete Aus
für die Hellenen unter Trainer Otto
EM-SCHATZTRUHE
Europameisterschaft 2004
Rehhagel gekommen. Ein Gegentor
mehr beim 1:2 im letzten Gruppenspiel gegen Russland, und kein
Hahn hätte mehr nach ihnen gekräht.
So aber begann das Fußballwunder in der K.-o.-Phase erst so richtig.
Als Erste mussten im Viertelfinale
Unmögliches möglich machte Trainer Otto Rehhagel.
BILD: SN/SCHAADFOTO/ULMER
die Franzosen dran glauben: Angelos Charisteas versetzte dem Titelverteidiger mit seinem Kopftor den
entscheidenden Schlag. Weiter ging
es im Halbfinale gegen Mitfavorit
Tschechien. Nicht Pavel Nedvěd,
Tomáš Rosický und Jan Koller jubelten, sondern wieder die Griechen.
Abwehrrecke Traianos Dellas war
in der 105. Minute zur Stelle – er erzielte das einzige „Silver Goal“ der
EM-Geschichte, natürlich per Kopf.
Im Finale in Lissabon wollten die
Portugiesen die Verhältnisse gegen
die Griechen mit ihrem veralteten
Spielsystem mit Libero wieder geraderücken. Doch die Abwehrmauer
hielt wieder, und erneut war Charisteas mit dem Kopf zum 1:0 zur
Stelle – die größte Sensation der
EM-Geschichte war perfekt.
England – Island
1:2
(1 : 2)
Achtelfinale
Tore: 1:0 ( 4.) Rooney (Foulelfmeter), 1:1 ( 6.)
R. Sigurdsson, 1:2 (18.) Sigthorsson
England: Hart – Walker, Cahill, Smalling, Rose
– Alli, Dier (46. Wilshere), Rooney (87. Rashford)
– Sturridge, Kane, Sterling (60. Vardy)
Island: Halldorsson – Saevarsson, Arnason,
R. Sigurdsson, Skulason – Gudmundsson, G.
Sigurdsson, Gunnarsson, B. Bjarnason – Sigthorsson (77. T. Bjarnason), Bödvarsson (89.
Traustason)
Gelbe Karten: Sturridge bzw. G. Sigurdsson,
Gunnarsson
Nizza, Stade de Nice, SR Damir Skomina (SLO)