Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von

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Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von
Jürgen Kriz
Die evolutionäre Perspektive
in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck1
Einführung in die Fragestellung und ihren Kontext2
Das Motto der 19. Wissenschaftlichen Arbeitstagung der GTA, 2014 in Parma,
lautete „Körper, Geist, Ausdruck“ („Body, Mind, Expression“). Die Thematik,
welche mit diesen drei Begriffen bzw. Konzepten sowie mit dem Zusammenwirken der entsprechenden Phänomene aufgespannt wird, spielt seit jeher in der
Gestalttheorie der Berliner Schule eine wesentliche Rolle. Entsprechend geht den
folgenden Ausführungen ein fast hundertjähriger Diskurs seitens der Gestalttheorie voraus. Im Zentrum stand und steht dabei immer schon die Dynamik des
ganzheitlich-strukturierten Zusammenwirkens aller Lebensvorgänge des Menschen in seiner aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.
Schon in den Anfängen der Gestalttheorie zeigte Wertheimer (1912) mit seiner
umfangreichen Arbeit „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung“
in Auseinandersetzung mit den zuvor in derselben Zeitschrift für Psychologie veröffentlichten Diskussionen über die Fragen des stroboskopischen Bewegungssehens
seitens Forschern wie Marbe, Dürr, Linke, Wundt, Wirth und Schumann, nicht
nur die ganzheitliche Organisation der visuellen Wahrnehmung. Vielmehr ging
es ihm in der Analyse von zahlreichen experimentellen sowie alltagsweltlichen
Phänomenen darum, Wahrnehmung als lediglich einen Teil im Gesamtprozess
des Organismus deutlich zu machen - der also nicht nur sensorisch sondern u.a.
auch sensomotorisch betrachtet werden müsse. So diskutiert er ausführlich das
„sich labil fühlen“, wenn durch großflächige Projektion eines Umwelt-Bildes in
Bewegung die stabil gefühlte Raumlage des Körpers dazu kontrastierenden Reizen ausgesetzt wird – etwas, was man ansatzweise auch im Alltagsleben erfahren
Überarbeiteter und erweiterter Vortrag anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der GTA, Parma
2015
2
Mein Dank gilt Gerhard Stemberger, der den Text nicht nur sorgfältig durchgesehen und kritisch kommentiert, sondern vor allem durch zahlreiche Hinweise aufgrund seiner fundierten Kenntnis der gestaltpsychologischen Literatur erheblich bereichert hat. In anregenden mail-Diskussionen haben wir Probleme aufgeworfen,
die hier teilweise nur implizit anklingen können und von mir keineswegs als gelöst angesehen werden. Es ist
aber vielleicht nicht der schlechteste Anlass, wenn offene Fragen und kontroverse Sichtweisen dazu weitere
Diskussionen anstoßen würden. Die große Zahl an Fußnoten verweist auf solche Probleme.
1
GESTALT THEORY
© 2015 (ISSN 0170-057 X)
Vol. 37, No.3, 305-336
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
kann, wenn man sich in einem stehenden Zug befindet und der Blick durchs
Fenster auf einen anfahrenden Zug am Nachbargleis fällt. Massiver ist dieser Eindruck bei der sog. „Hexenschaukel“ (Rohracher 1963, 181), bei dem eine Person
auf einem fest am Boden verankerten Stuhl sitzt und von einem kleinen, haus-artigen Karton umgeben ist, auf dessen Innenwänden Fenster und Einrichtungsgegenstände aufgemalt sind. Dieses „Haus“ ist an einer Achse befestigt, um die es
gedreht werden kann. Wenn nun das Haus in Bewegung gesetzt wird, ist die Erfahrung der eigenen Bewegung so zwingend, dass man sich krampfhaft festhalten
muss, um nicht von der Bank zu fallen – und dies auch dann, wenn man weiß,
dass sich der Stuhl, auf dem man sitzt, nicht bewegt. Die visuellen Teilprozesse
des Erlebens dominieren also hier die körperlichen. Doch es kann auch umgekehrt sein, wenn man dem Menschen Gelegenheit gibt, mit einer stabil gefühlten
Raumlage (vor allem durch eigene Bewegung) eine ggf. kontrastierende visuelle
Wahrnehmung anzupassen. So haben zahlreiche Experimente am Innsbrucker
psychologischen Institut (vgl. Kohler 1951) mit Prismen- oder gar Umkehr-Brillen gezeigt, dass eine optisch verzerrt dargebotene „Welt“ nach wenigen Tagen
wieder „wie gewohnt“ organisiert wird: Bei der Umkehrbrille waren beispielsweise „oben“ und „unten“ vertauscht – doch richtete sich die wahrgenommene
„Welt“ nach einigen Tagen wieder auf (wobei dann beim Abnehmen der Brille
umgekehrte Nacheffekte auftraten – wenn auch nur minutenlang).
Nun könnte man aus einer naiv-unreflektierten Weltsicht (Bischof 1966, 23)
heraus kritisch anführen, dass es bei den referierten Phänomenen um Fragen des
Eindrucks und gar nicht des Ausdrucks ginge. Doch ist eine solche strikte Unterscheidung fragwürdig, denn Eindruck und Ausdruck sind nur artifiziell, etwa
zu Untersuchungszwecken, zu trennen – im Gesamtvorgang sind beide wechselseitig voneinander abhängige Teilaspekte. So haben beispielsweise Experimente
von Heider (1944) die Wahrnehmung von „sozialen Gradienten“ gezeigt: Selbst
abstrakte geometrische Figuren, wie ein Kreis und ein Dreieck, die auf einer Fläche in bestimmter Weise zueinander bewegt werden, rufen beim Betrachter die
Wahrnehmung „sozialer Situationen“ hervor – z.B. „freundliche Annäherung“,
„argwöhnische Reaktion“ usw. Kein Betrachter ist, wie Kohler (1963, S. 96) betont, „fähig, ‚akademisch‘ dabeizusitzen und lediglich Änderungen von Entfernungen zu registrieren. Es lässt sich nicht vermeiden, dass ganze Szenen gesehen
werden.“ Wir kennen dies heute von Zeichentrickfilmen, die – besonders für
Kinder – durchaus manchmal ebenfalls nicht nur gezeichnete Personen oder Tiere und Pflanzen sondern abstrakte Formen verwenden.3
In der Gestaltpsychologie gibt es viele weitere Befunde dazu, wie bei der Organisierung der Reizvielfalt zu
Gestalten unserer Wahrnehmung eine sinnhafte, soziale und kausale Lebenswelt entsteht – etwa die „Kausalitätswahrnehmung“ von Michotte (1954), wo (ähnlich wie bei Heider) die bewegten Figuren „zwingend“ den
Eindruck von (mechanischen) Ursache-Wirkungsbezügen machen, oder das „Eigenrauschen“ von Gestalttendenzen bei Lorenz (1959), wo z.B. in einer Matrix mit, sagen wir, 10x10 Lampen jede einzelne über einen
3
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Noch immer könnte man bei diesen Beispielen auf dem Aspekt des „Eindrucks“
beharren - und mit „Ausdruck“ beispielsweise auf eine „ausdrucksstarke“ Geste
eines Schauspielers, verbunden ggf. mit bestimmter Mimik verweisen. So hat
bereits Kurt Lewin (1927), in seinem Beitrag „Kindlicher Ausdruck“ seiner Beschreibung und Analyse dieses Ausdrucks Fotos der Situationen hinzugefügt,
bzw. in einem gleichnamigen Filmbeitrag 1928 dies auch mit Filmen belegt
(Lewin 2009). Doch könnte man diese Szene statt „live“ ja auch im Film oder
im Fernsehen betrachten. Im Film könnte man alle fotografischen Einzelbilder
durch gezeichnete ersetzen, und dies im nächsten Schritt immer mehr abstrahieren und stilisieren. So käme man schrittweise von der realen oder gefilmten
Situation (also: „Ausdruck“) zu der Situation eines „soziale Gradienten“-Experiments (also „Eindruck“) – ohne dass für die jeweiligen Gesamtsituationen gesagt
werden könnte, in welcher es primär um „Ausdruck“ und in welcher es primär
um „Eindruck“ geht.
Konsequenterweise hat denn auch Rudolf Arnheim – der sich im Rahmen der
Gestaltpsychologie auch mit Fragen des Ausdrucks im Kontext von Ästhetik,
Kreativität und künstlerischer Gestaltung beschäftigte (Arnheim 1966, 1969,
1979, 2000) – bereits 1949 in seinem umfassenden Beitrag zur Gestaltpsychologie des Ausdrucks diesen als „integralen Teil der grundlegenden Prozesse der
Wahrnehmung“ gefasst. Indem er also „Ausdruck“ der phänomenalen Welt des
Wahrnehmenden zuordnet,4 kommt er zu der Aussage, dass auch den Stacheln
eines Igels, einer Trauerweide, einem Stuhl von Louis XV., der Wärme einer
dampfenden Teetasse oder den Farben des Sonnenuntergangs ebenso „Ausdruck“
zukommt – und zwar, ohne dass von einem unzulässigen Anthropomorphismus5
gesprochen werden sollte.6
Dies wird vielleicht durch die Figuren unterstrichen, die man im Internet abgebildet findet, wenn man z.B. in Google den englischen Begriff für Trauerweide –
nämlich „willow tree“ – eingibt: Neben einigen Hinweisen zu Bildern von Trauerweiden findet man eine Unzahl von „willow-tree“-Figuren.7 Es handelt sich
dabei um ca. 20cm hohe Skulpturen von Susan Lordi, die einzelne Menschen,
meist aber Paare und Familien, in sehr markanten Posen darstellen (Abb.1). Die
Zufallsgenerator angesteuert wird und daher völlig regellos aufleuchtet. Der Betrachter aber ist weit davon
entfernt, „zufällig aufblitzende Lichter“ zu sehen - was er statt dessen sieht, sind „bewegte Gebilde“ bzw. Gestalten (Scheffler 1959)
4
Unbeschadet des Aspekts des Ausdruckverhaltens, der sich auf eine andere Perspektive bezieht.
5
Hingegen wäre es natürlich „unzulässiger Anthropomorphismus“, bei der Teetasse von „menschlicher Wärme“
zu sprechen.
6
Gleichwohl ist bemerkenswert, dass in der o.a. Publikation von Wertheimer rund zweihundertmal „Eindruck“, aber nie „Ausdruck“ vorkommt, während bei Arnheim rund hundertzwanzigmal „expression“, aber nie
„impression“ vorkommt – was vielleicht nicht nur dem unterschiedlichen Thema, sondern der Veränderung in
den gestaltpsychologischen Diskursen geschuldet ist.
7
Jedenfalls beim Zugriff aufs Internet Frühjahr und Herbst 2015
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Köpfe zeigen keine Gesichtsdetails, was den Fokus auf den Ausdruck der modellierten Körper zueinander fördert. In der therapeutischen Skulpturarbeit (z.B.
Satir 1977) würde man das wohl als Wunsch-Skulpturen von „heilen“ Familien
bzw. Paaren „a la Hollywood“ bezeichnen und als Klischees bzw. Kitsch bewerten. Doch egal ob Kitsch oder Kunst: in unserem Kontext ist relevant, dass die
große Verbreitung der Skulpturen und die offenkundig hohe Nachfrage danach
darauf hindeuten, dass diese in ihrem Ausdruck etwas ansprechen, was für viele
Menschen etwas von ihrem Inneren ausdrückt, so dass sie sich das hinstellen oder
verschenken (ähnlich wie die „süßen“ Teddybären oder Stofftiere, mit Merkmalen des „Kindchen-Schemas“: gedrungener Köper, kurze Extremitäten, großer
Kopf mit großen Augen, etc.). Im Gegensatz zum Ausdruck einer Trauerweide
hat hier jemand, nämlich Susan Lordi, den Ausdruck des Holzes gezielt so gestaltet, dass ein gewünschter Ausdruck entsteht8 – bei Ihr, beim Betrachter und
damit auch in der Holzskulptur.9
Fig. 1 Willow-tree-Figuren (Internet-Seiten von „Baur-Versand“ und „amazon“).
Entsprechend heißt es denn auch auf ihrer Webseite: “Susan Lordi‘s art reflects our relationships with people
and the world around us. Her keen observation of the human form is further inspired by dance, art history,
nature, and personal experiences with family and friends. These influences are revealed in her Willow Tree®
sculptures, from which emotion is communicated through gestures only.”
9
Gestaltpsychologisch ist damit die Veränderung in der transphänomenalen Welt gemeint.
8
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An diesen Skulpturen wird auch deutlich, warum Arnheim auch beim Ausdruck
materieller Objekte es für nicht sinnvoll hält, von einem Anthropomorphismus
zu sprechen. Denn die Skulpturen sollen ja gerade menschliche Beziehungsqualitäten ausdrücken, so und dafür sind sie gemacht. Man würde ja bei einem Foto
oder Film eines Schauspielers auch nicht von einem „Anthropomorphismus“
sprechen, wenn man sich über den Ausdruck des Schauspielers unterhält, nur
weil dieser nicht in Fleisch und Blut anwesend ist. Andersherum stellt die „Persona“ – die Maske eines Schauspielers im antiken griechischen Drama – ebenfalls einen materiell fixierten typischen Ausdruck dar. Wobei typisierte Masken
in vielen Kulturen und bei vielen Ritualen verwendet werden: Hier soll etwas
Bestimmtes ausgedrückt und angesprochen werden.
Im Gegensatz zu den Farben eines Sonnenuntergangs oder den Stacheln eines
Igels handelt es sich bei diesen Skulpturen und Masken also um Objekte, deren
Ausdruck funktionell in einem Kommunikationsprozess verwendet wird.10 Daher sieht Arnheim im „menschlichem Ausdruck“ (in der live-Situation) einen
speziellen Fall eines allgemeineren Problems von Ausdruck bei der Gestaltbildung
im phänomenalen Feld.
Für unsere Fragestellung ist nun besonders die Argumentation von Arnheim interessant, dass „menschlicher Ausdruck“ durch ähnliche Strukturen der phänomenalen Welt und der ihnen zugrunde liegenden neuronalen Korrelate von den
beteiligten Personen vermittelt und verstanden werden kann. Das bedeutet, dass
bei einer Person, bei der ich z.B. eine „ausdrucksvolle Geste“ wahrnehme, bei der
Hervorbringung dieser Geste in Teilen ihres phänomenalen Feldes (und damit in
Teilaspekten der neuronalen Korrelate) Ähnlichkeiten mit meinem phänomenalen
Feld als Wahrnehmendem vorliegen. Auch wenn man Arnheims 1949 noch recht
unhinterfragt verwendeten psychophysischen Isomorphismus außeracht lässt (dessen genaue Bedeutung und Tragweite hier umfangreicher Erörterungen bedürfte),
ist für unser Thema der Hinweis auf funktional gleichartige phänomenale Welten
beim Beobachter und beim Beobachteten für das unmittelbare Verstehen von dessen Ausdruck bedeutsam, denen eine ähnliche organismische Basis zugrunde liegt.
Die etwas schwammigen Begriffe „gleichartig“, „ähnlich“ und „zugrunde liegen“
verweisen darauf, dass weder gesamtorganismisch, noch neuronal, noch phänomenal Übereinstimmung postuliert wird, noch zu erwarten ist: Physisch-objektive
organismische Zustände und phänomenale Welten werden durch viele situationsbedingte weitere (Teil-)Dynamiken jeweils mitbestimmt. Gleichwohl gibt es eben
Wobei übrigens die willow-tree-Figuren eher archetypisch-monosemantischen Ausdruck vermitteln – und
sich daher eher als statische Ruhebereiche des phänomenalen Feldes anbieten - während „Kunst“ nach gängiger
Auffassung in unserer Kultur eher polysemantische Offenheit haben sollte, also adaptiv zur schwankenden
Dynamik des phänomenalen Feldes in dessen Auseinandersetzung mit den sich ändernden Erfordernissen der
Umwelt zur Deutungsvielfalt einladen oder dies sogar anregen sollte.
10
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Strukturgleichheiten in Bereichen der phänomenalen Welten bei der Person, die
einen Ausdruck hervorbringt, und der Person, die diesen wahrnimmt. Und dies
wiederum ist zumindest auch mit auf die gemeinsame evolutionäre Wurzel der
Menschen insgesamt sowie Erfahrungen in einer gemeinsamen Kultur zurückzuführen, wie noch näher ausgeführt werden soll.
Eigentlich ist das gar nicht so verwunderlich. So hat z.B. Stemberger (2015) auf
die moderne angewandte Forschung zur Steuerung von Prothesen „mit Gedankenkraft“ über ein „Gehirn-Computer-Interface“ verwiesen und die Übereinstimmung des zugrunde liegenden Verständnisses mit gestalttheoretischen Kernkonzepten diskutiert: Sowohl der physische Arm beim Gesunden als auch die
mechanische Prothese mit dem Interface werden durch die neuronalen Korrelate
der phänomenalen Handbewegung gesteuert (vgl. Abb. 3).
Fig 2 Gehirn-Computer-Interface (aus Grabianowski 2007).
Insbesondere erinnert Stemberger (2015, 21f ) aber daran, dass bereits 1964
Wolfgang Metzger (unter Verweis auf J. Pikler 1917) „anlässlich eines Vortrags
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bei einem Kybernetik-Symposium … folgendes Beispiel für die Steuerungsfunktion der phänomenalen Welt gewählt (hatte): ‚Was geschieht, wenn wir einen
Arm bewegen, etwa, um nach einem Gegenstand zu greifen‘? (Metzger 1965/1986,
264).“ Und, mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen dem von der Person gespürten, gesehenen und bewegten Arm in der phänomenalen Welt einerseits sowie dem objektiv-physischen Arm andererseits, betont bereits Metzger
das „Auseinanderklaffen des ‚Angriffspunkts‘ des ‚Willens‘, der klar in der Hand
liegt, die ich bewegen will“ – also die phänomenale Hand im phänomenalen
Wahrnehmungsfeld – „und der Angriffspunkte der zugehörigen Innervationen,
die sich ebenso gewiss z.B. in der Oberarm- und Schultermuskulatur befinden.“
(Metzger 1965, 265 – vgl. die Diskussion dazu in Stemberger 2015). Metzger
(1969/1986) spricht denn auch von der phänomenalen Welt als „zentralem Steuerungsorgan“.11
Wenn diese zentrale Steuerungsinstanz bei einem Balletttänzer die Prozesse für
das Hervorbringen jener „anmutigen Geste“ organisiert und die zentrale Steuerungsinstanz des Zuschauers die Prozesse für die Wahrnehmung dieser Geste
entsprechend organisiert und er sich von diesem Ausdruck gar berühren lässt,
so treffen zwei phänomenalen Welten in einer gemeinsamen „Gesamtwelt“ im
guten Sinne einer „Begegnung“12 zusammen. Dies hat gewiss auch etwas mit der
gemeinsamen Ko-Evolution menschlicher Gehirne in einer gemeinsamen Welt
zu tun, in der gerade diese Aspekte von Ko-Evolution besonders wichtig waren
(wie noch ausgeführt wird).
Die Bedeutsamkeit der phänomenalen Welt bzw. der „zentralen Steuerungsinstanz“ für das Hervorbringen komplexer – also z.B. auch „ausdruckstarker“ Bewegungen oder Körperhaltungen wurde in jüngerer Zeit von Mechsner et al.
(2001) überzeugend dargelegt: Seit langem ist bekannt und wurde vielfach untersucht, dass oftmals körpersymmetrische Bewegungen gegenüber anderen bevorzugt sind – etwa die Bewegung beider Hände und Unterarme oder auch nur die
beider Zeigefinger symmetrisch aufeinander zu statt parallel gleichzeitig in einer
links-rechts, rechts-links Bewegung (s. Abb. 3)
Ich schlage vor, besser von „zentraler Steuerungsinstanz“ zu sprechen, um biologistische Fehldeutungen von
„Organ“ zu vermeiden bzw. die phänomenale Welt nicht mit Teilen des physischen Organismus zu konfundieren.
12
Der wichtige Begriff der humanistischen Psychologie „Begegnung“, der auf Moreno zurückgeht, wird hier
keineswegs zufällig gewählt – vgl. Kriz 2014b.
11
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Fig. 3 Symmetrische (a) bzw. parallele (b) Bewegung von Zeigefingern (aus Mechsner et al.
2001).
Diese Bevorzugung lässt sich feststellen, indem man mit den Bewegungen langsam beginnt und dann zunehmend beschleunigt: Beide Bewegungsformen, auch
die zunächst parallel durchgeführte, enden in einer symmetrischen Bewegung (a,
in Fig. 3). Gleiches gilt, wenn man mit den Fingern auf dem Tisch pseudo-„Klavier spielt“: Wieder lässt sich feststellen, dass Symmetrie – Zeigefinger-Zeigefinger und Mittelfinger-Mittelfinger – in der Abfolge stabil gegenüber Beschleunigung bleibt, während die Parallelbewegung – Zeigefinger li.- Mittelfinger re. und
Zeigefinger re.- Mittelfinger li. – bei Beschleunigung in die Symmetrie kippt.
Lange Zeit hat man für die symmetrische Bevorzugung die symmetrische Anordnung der Motorneuronen in beiden Hirnhälften verantwortlich gemacht. Mechsner konnte nun aber zeigen, dass die Bevorzugung der Symmetrie auch dann gilt,
wenn man eine Hand einfach umdreht, d.h. wenn physisch die Bewegung genau
andersherum läuft. Dasselbe gilt, wenn man bei einer der beiden Hände statt
Zeige- und Mittelfinger nun Mittel- und Ringfinger nimmt. Obwohl doch – von
den Muskeln und Neuronen her gedacht – nun eigentlich weiterhin die beiden
Mittelfinger bevorzugt gleichzeitig bewegt werden sollten, was eine Parallelbewegung hervorbrächte, bleibt eine Symmetrie in der wahrgenommenen Bewegung
als dominant bestehen. Das übrigens auch, wenn man die Augen schließt – es
geht also nicht einfach um visuelle Kontrolle oder visuelles Feedback (allerdings
dürften zumindest unbewusst ablaufende propriozeptiv-taktile Feedbacks erforderlich sein). Offenbar geht es also insgesamt bei diesen Experimenten und den
Bewegungen nicht um die real-körperliche Symmetrie der Gliedmaßen, sondern
um die Symmetrie der Bewegungen im phänomenalen Feld. Und dies sogar
zwingend: Ohne ausführliches Training gelingt es nicht, bei der Beschleunigung
der Bewegungen die Symmetrie der physisch-körperlichen Gliedmaßen durchzuhalten; sie kippen in die phänomenale Symmetrie, und die Motorneuronen
und Muskeln folgen einfach - ohne, dass man weiß, wie das geschieht – dieser
phänomenalen Ordnung.
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Auf dieser Basis unternahmen Mechsner et al. (2001) weitere Experimente, in
denen sie zeigten, dass auch sehr komplizierte Bewegungen von untrainierten
Versuchspersonen dann ausgeführt werden konnten, wenn die Wahrnehmungsgestalt (mithilfe komplizierter Apparate zur Übersetzung der Bewegung) einfach
und bevorzugt symmetrisch war. Allerdings funktionierte dies nur, wenn die Versuchspersonen nicht bewusst auf die Bewegung ihre Hände achteten. Mit Mechsner können wir dies so interpretieren, dass eine phänomenale Bewegungsgestalt
top-down dann die nötigen Abläufe für die Muskeln unbewusst und unwillentlich koordiniert (siehe auch Mechsner 2004).
Die eben referierten Aspekte aus den Arbeiten von Arnheim, Mechsner, Metzger
und Stemberger lassen sich im Hinblick auf unser Thema „Körper, Geist, Ausdruck“ sehr schön mit einer Beobachtung zusammenführen, die Mechsner im
Anschluss an einen Vortrag über seine o.a. Forschungsergebnisse berichtete:13 Er
befragte nämlich professionelle Marionetten-Spieler, wie sie die komplizierten
Bewegungen des Steuerkreuzes und den vielen Fäden bewerkstelligen (manchmal
sogar mit einer Puppe von der linken und einer anderen von der rechten Hand
gesteuert). Die Antworten liefen darauf hinaus, dass die Puppenspieler (sicher
auf der Basis bzw. unter Einsatz elementar gelernter Techniken zu grundlegenden
Steuerbewegungen), sich „in die Puppe, bzw. in die Szene hinein versetzen.“ Das
heißt, dass die Bewegungen der Gliedmaßen der Puppe in ihrem phänomenalen
Feld repräsentiert sind und von dieser imaginierten Anschauung14 her – denn es
geht ja um die Bewegungen, die ein Zuschauer objektiv von vorn sieht, während
sie selbst objektiv von schräg oben hinunterblicken - die Handbewegungen im
obigen Sinne steuern. Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man sagen, dass sie
sich mit ihrem Geist (als aufmerksamkeitsfokussiertem Bereich der phänomenalen Welt) ganz in den (phänomenalen) Körper der Puppe versenken, um etwas
für die Zuschauer auszudrücken. Wenn dies für den Zuschauer gelingt, dieser
also in seiner phänomenalen Wahrnehmung den Ausdruck der Bewegung bzw.
der Szene so „versteht“, ist es sinnvoll davon auszugehen, dass die beiden phänomenalen Felder von Akteur und Zuschauer in wesentlichen Bereichen Strukturgleichheiten aufweisen. Das genau ist auch Arnheims oben referierte Position
hinsichtlich der Vermittlung von Ausdruck.
Es sei hier zumindest der Hinweis angebracht, dass die kurze - aber wegen ihrer psychologischen, kunstpädagogischen, philosophischen und theologischen Tiefe viel
beachtete – Erzählung von Heinrich von Kleist „Über das Marionettentheater“ (v.
Anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Metzgang-Preises 2002 (2.Preis), auf der 13. Wissenschaftlichen
Arbeitstagung der GTA in Karlsruhe 2003 (s. Mechsner 2003).
14
Das Thema hat Stemberger (2009) in einem Beitrag zum Mehr-Felder-Ansatz behandelt: es geht demnach
beim Puppenspieler um die Ausgliederung eines zweiten Ich (des Marionetten-Ichs) in einer zweiten phänomenalen Welt.
13
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Kleist 1810/2013) zu ähnlichen Ergebnissen gelangt15. Kleist erzählt darin u.a., wie
ein junger Mann, der zufällig und intuitiv eine Pose voller Anmut eingenommen
hatte, diese Stellung nicht wiederholen konnte, als er darauf aufmerksam gemacht
worden war – ja, wie der Ausdruck mehr und mehr verkrampft und lächerlich wirkte, je mehr er versuchte, diese Haltung durch bewusste Kontrolle seiner Muskeln
herzzustellen. Das Bemühen, bewusst und intentional über eine muskulär-motorische Steuerung und Kontrolle der Bewegungen ein Greifen nach etwas (s. Metzger), eine komplexe Bewegung (s. Mechsner), oder gar anmutigen Ausdruck (s.
Arnheim, v. Kleist) hervorbringen zu wollen, lässt dies eher scheitern. Auch Stemberger (2015, 20f.) weist darauf hin, dass Stottern „in der Regel mit einer spezifischen Störung der Ganzbeziehungen in der phänomenalen Welt verbunden (ist):
Das flüssige Sprechen setzt voraus, dass der Aufmerksamkeitsschwerpunkt beim
Gegenüber und der Beziehung zu ihm liegt und nicht auf dem Sprechvorgang oder
gar auf den Sprechorganen.“ Und die breite Palette pragmatischer Paradoxien, die
in vielen Psychotherapie-Ansätzen eine Rolle spielen zeigt, wie stark das bewusste
Erreichen-Wollen autonomer Funktionen oft Probleme erst schafft, verstärkt oder
aufrecht erhält: Der eigene Versuch oder das Befolgen der Aufforderung „spontan
zu sein“, die angstvolle Aufregung, vor einem wichtigen Termin am Morgen nicht
einschlafen zu können usw. sind solche pragmatischen Paradoxien.
Zur Vermeidung von Missverständnissen soll bemerkt werden, dass die Betonung
der phänomenalen Welt als „zentrale Steuerungsinstanz“ keineswegs im Widerspruch dazu steht, dass Puppen- oder Geigenspieler, Tänzer, Schauspieler etc.
diese Steuerungen nur auf der Basis von erlernten und geübten „Techniken“ ausüben können. Im Gegensatz zu Mechsners kompliziert-komplexen Bewegungen,
die dann spontan und ungeübt ausgeführt werden können, wenn die phänomenale Bewegungsgestalt einfach ist, reicht zum guten Violinspiel eben nicht einfach
nur eine entsprechende Bewegungsgestalt (ergänzt ggf. um eine Musikgestalt)
zum ausdrucksvollen Spiel einer bestimmten Passage, sondern diese Bewegungsgestalt muss auch realisiert werden können, wozu grundlegende Techniken und
konkretes Üben gehören. Gleichwohl darf man andersherum sagen, dass letzteres
allein eben auch nicht ausreicht – bzw. selbst von Laien ein solches Unterfangen
an einem vielleicht „technisch einwandfreien“ aber „seelenlosen“ Spiel erkannt
werden kann. Dies steht auch im Einklang mit den Befunden, welche gestalttheoretische Sportpsychologen wie Paul Tholey (1977), Kurt Kohl (1980) oder
Tiziano Agostini (Murgia et al. 2014) über die enge Wechselwirkung zwischen
der Bewegung des phänomenalen und des physischen Körpers erforscht und für
die Anwendung nutzbar gemacht haben. Auch Turi-Ostheim (2014) hat sich
kürzlich in dieser Zeitschrift mit gestalttheoretischen Aspekten der Schauspielkunst auseinandergesetzt.
15
Auch Metzger (1962) bezieht übrigens sich in seinem Werk „Schöpferische Freiheit“ mehrfach auf v.Kleist.
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Mit diesen Hinweisen kommen wir nun zu einem interessanten Verhältnis zwischen Teilen des phänomenalen Feldes - nämlich einerseits dem Selbst-Bewusstsein,
insbesondere dem Befindlichkeits-Bewusstsein als Bewusstsein dessen, wie es einem
im Augenblick geht, und anderen Bereichen. Denn gerade, weil bisher vielfach von
einem „unmittelbaren“, „intuitiven“ - ja, „zwingenden“ - Erfassen von Ausdruck
die Rede war, dem auf der anderen Seite ein ebenso „unbefangenes“ Hervorbringen
eines (besonders als „stimmig“ einzuschätzenden) Ausdrucks in der interpersonalen
Kommunikation entspricht, stellt sich die Frage nach der Rolle des für den Menschen so wichtigen „reflexiven Bewusstseins“, mit dem der Mensch in der Lage ist,
quasi auf andere Bereiche seines anschaulichen Erlebens zu blicken und dies beispielsweise über Verwendung von Sprache anderen, aber auch sich selbst, über den
nonverbalen Ausdruck hinaus verständlich zu machen.
Diese Differenzierung ist wichtig, weil folgende Aspekte nicht konfundiert werden
sollten:
a) Ich nehme wahr, wie mich ein gefährlich kläffender Hund anspringen
will – und weiche zurück.
b) Ich mache mir bewusst, dass ich das Tier für einen „Hund“, sein Verhalten als „drohendes Anspringen“ und diese Konstellation für „gefährlich“
halte. Und ich nehme meine Gefühle als „Furcht“ wahr, sowie meine
Reaktion als „Zurückweichen“.
c) Ich erkläre mir, warum ich einen solchen Hund für gefährlich halte und
warum ich zurückweiche – und denke vielleicht über Alternativen beim
nächsten Mal nach.
In (a) nehmen wir Bezug auf das unmittelbare Wahrnehmungserlebnis und die
ebenso unmittelbare Reaktion. Beides spielt sich für mich vor allem16 im phänomenalen Feld ab (vielleicht war es tatsächlich gar kein Hund, vielleicht war er nicht
gefährlich. Vielleicht habe ich das sogar nur geträumt – dann würde ich, üblicherweise, nur meinen phänomenalen, nicht meinen physischen Körper bewegt
haben). Mein reflexives Bewusstsein spielt in diesem Augenblick kaum eine Rolle.
In (b) mache ich von meiner Fähigkeit zur Symbolisierung17 Gebrauch. Mein
Selbst-Bewusstsein richtet sich auf (Teile) meines Erlebens und Verhaltens. In
dieser phänomenalen Gefahren-Situation wird (b) wohl eher zeitlich nach (a)
sein – ich richte mein Selbst-Bewusstsein auf das hier und jetzt Erinnerte. Allerdings gibt es weniger akut bedrohliche Situationen, wo ich mir meine Gefühle
und mein Verhalten im Hier und Jetzt symbolisieren kann – etwa: „ich fühle
mich jetzt traurig“, „ich bin jetzt erschöpft“ „ich würde gern weggehen, bin aber
wie erstarrt“ etc.
16
17
Natürlich reagiert auch mein Organismus auf die objektive Gegebenheit dessen, was mir als Hund erscheint.
„Symbolisierung“ ist eines der zentralen Konzepte im personzentrierten Ansatz von C. Rogers (1993).
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In (c) verwende ich zusätzlich zu den selbst-empathischen Symbolisierungen
meines Erlebens und Verhaltens (Furcht, Bedrohungsgefühl, Fluchttendenz)
nun auch noch Beschreibungs- und Erklärungsprinzipien zum (umfassenderen)
Verständnis des Geschehens, zur (weiteren) sinnorientierten Einordnung der
Geschehnisse. Ein solches weitergehendes „Verstehen“ ist für Menschen ebenso
typisch wie notwendig, wie z.B. salutogenetische Forschungen zeigen (z.B. Antonowsky 1997).
Natürlich lässt sich in der Welt auch ohne (b) und (c) trefflich leben: Wolfgang
Köhler (1921/1963) hat mit seiner Primatenforschung gezeigt, dass Menschenaffen durchaus in der Lage sind, Probleme zu lösen und z.B. ohne wesentliche
Versuch-Irrtum-Schleifen behavioraler Versuchsanordnungen eine Banane durch
Zusammenstecken von Stöcken zielgerichtet zu erreichen. Wozu – im Sinne von
(a) - nicht nur ein phänomenales Feld mit entsprechenden Figur-Grund-Gliederungen etc. notwendig ist, sondern auch dessen dynamische Umstrukturierung
zur Erreichung des Zieles. Aber es darf bezweifelt werden, dass diese zu (b) und
(c) fähig sind (obwohl wir das natürlich nicht sicher wissen können): Dazu fehlen
ihnen zum einen genau jene Entwicklungsbedingungen, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen, zum anderen ist unklar, was mit „Symbolisierung“
gemeint sein könnte (die angebliche Verwendung von Sprache bei manchen Primaten scheint jedenfalls eher auf Dressur zurückzugehen – vergl. Fischer 2002).
Wie gut sich in einer Welt ohne (b) und (c) leben lässt, hat aus einer ganz anderen Perspektive der kanadische Bewusstseinsforscher Julian Jaynes (1993) dargestellt. Jaynes nimmt an, dass sich das, was wir reflexives Bewusstsein nennen, in
der Menschheitsgeschichte überhaupt erst vor rund 3000 Jahren (also nur 1000
Jahre B.C.) entwickelt hat. Gleich, ob man seiner These folgen mag oder nicht:
Sehr eindrücklich hat er gezeigt, wie die großartigen Kulturleistungen z.B. der
Ägypter, Inder oder Chinesen, die sehr viel älter als 3000 Jahre sind, auch ohne
reflexives Bewusstsein möglich sind.
Für den heutigen Menschen, mit seinen komplexen Gesellschaftsformen, materiell sowie medial strukturierten objektiven Welten und den entsprechenden
Anforderungen sind (b) und (c) essentielle Aspekte seines Lebens.18 Das, was
wir „psychisch krank“ nennen und was Menschen somit z.B. in Psychotherapie
führt, hat ja meistens und wesentlich damit zu tun, dass Teile des Erlebens oder
Verhaltens selbst miss- oder gar nicht verstanden werden (und sich der Mensch
dann „über sich“ in typisch wiederkehrenden Situationen selbst wundert und
sich hierin selbst fremd ist), oder sogar für (b) und (c) gar nicht zugänglich sind.
Z.B. fehlt dann trotz massiven Körperausdrucks von „angespannter Wut“ und
„tränenreicher Traurigkeit“ der symbolisierende Zugang zu den eigenen Gefüh18
Wobei ich hier die herausfordernde Frage über das Leben schwer geistig Behinderter ausklammere.
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Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
len – obwohl diese sehr gut von anderen als solche wahrgenommen (und sprachlich mentalisiert - vgl. Asen & Fonagy 2014) werden.
Diese inadäquate oder mangelnde Symbolisierungsfähigkeit von (a) in (b) und
(c) bezeichnet Rogers (1993) mit „Inkongruenz“ – diese stellt das wesentliche
Moment der psychischen Krankheitslehre in seinem personzentrierten Ansatz
dar. Die alltäglichere, nicht-krankheitswertig-kategorisierte Form hat Metzger (1952/1986, 245) bereits mit den Worten skizziert: „Seit Nietsche, Klages
und Freud dürfte es auch keinen Streit mehr darüber geben, dass es Persönlichkeits-Eigenschaften gibt, die dem Blick des Mitmenschen zugänglicher sind als
dem Selbstbewusstsein.“ Andersherum kommt es in der interpersonellen Kommunikation gar nicht so selten vor, dass auch ein stimmiger, kongruenter Ausdruck von Person A dann von Person B miss- oder nicht verstanden wird (was
wohl oft daran liegen dürfte, dass die Wahrnehmungs-Strukturierungen im phänomenalen Feld von B nicht so sehr auf A gerichtet sind, sondern wirkungsvoll
von Valenzen aus den eigenen (b) und (c) beeinflusst werden).
Wenn wir diese Betrachtungen nun im Hinblick auf die Frage zusammenführen,
wie es möglich ist, dass der von Person A hervorgebrachte, ja intendierte, Ausdruck mehr oder weniger erfolgreich für die Kommunikation von B „verstanden“
werden kann, so müssen wir zwei Analyseebenen in die Betrachtungen mit einbeziehen, die von Psychologen bei ihrem Fokus auf psychische und interpersonelle
Dynamiken oft nicht im Blickwinkel sind:
Die eine Analyseebene ist die evolutionäre Entwicklung des menschlichen Körpers, speziell auch seines Gehirns. Wenn wir mit Arnheim nochmals auf die
weitgehende Ähnlichkeit der (hierfür gerade in Betracht kommenden Teile der)
phänomenalen Welt als „zentraler Steuerungsinstanz bei A und B verweisen, so
ist dafür auf der histologisch-physiologischen Ebene eine gewisse gemeinsame
Struktur als eine wichtige gemeinsame Grundlage zu sehen. Wegen der überaus
großen Plastizität gerade des menschlichen Gehirns gegenüber dem stark instinktgesteuerter Tiere hat man diese evolutionäre Grundlage lange Zeit mehr unterschätzt, als es Befunde und Argumente aus den jüngeren Diskursen angebracht
erscheinen lassen.
Die andere Analyseebene ist die Kultur – als eine über viele Generationen in
einer Sozialgemeinschaft gemeinsam geschaffene Symbolwelt aus Sprache, Erklärungsprinzipien, Metaphern usw., einschließlich sozialer Strukturen. So wie
es Sinn macht, von einer materiellen trans-phänomenalen Welt außerhalb unserer phänomenalen Welt auszugehen, deren Ordnungen und Regelmäßigkeiten
wir mit Konzepten der Physik beschreiben (auch wenn diese Beschreibungen
zweifellos der phänomenalen Welt zuzurechnen sind), macht es nicht nur ebenso
Sinn, von einer trans-phänomenalen Welt zu sprechen, deren Ordnungen und
317
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
Regelmäßigkeiten wir mit Konzepten der Biologie beschreiben, sondern auch
von einer trans-phänomenalen Welt, deren Ordnungen und Regelmäßigkeiten
wir mit Konzepten der Soziologie oder der Semiotik beschreiben.19
Dies wird schon aus der Einwirkung unserer Handlungen in die transphänomenale Welt deutlich: Wenn Metzger (1969/1986, 278) hierzu betont, man könne „heute in der Einsamkeit einen Steg bauen, den ein anderer ein Jahr später
in meiner Abwesenheit vorfindet und hinüberschreitet“, so gilt dies natürlich
analog für einen Hammer und anderes Werkzeug. Dann gilt dies aber auch für
ein Buch – und nicht nur als physikalischer Gegenstand mit „black marks on
white“, sondern auch für die Geschichte in diesem Buch; es gilt auch für Videoaufzeichnungen und Filme; und eine bestimmte Universität, die vor hundert
Jahren gegründet wurde, existiert in der sozial-symbolischen Welt ggf. auch heute
selbst dann noch, wenn alle (physischen) Personen längst gestorben sind und das
Gebäude irgendwann zerstört wurde, so dass in ein anderes Gebäude umgezogen werden musste. Wie oben zunächst nur kurz skizziert wurde, verwendet der
Symbolisierungsprozess des Selbstbewusstseins kognitive „Werkzeuge“ in Form
von Sprache usw.
Ich bin mir bewusst, hier von der gestaltpsychologisch-traditionellen Sicht-, Begriffs- und Sprechweise abzuweichen, die der „phänomenalen“ eine „physikalische“ Welt (die alles einschließt) gegenüberstellt. Physik
und die dort aufgestellten Gesetze und Beschreibungen handeln aber von einer bereits wahrnehmungsmäßig
konstituierten (und zudem durch wissenschaftliche und/oder andere Sprechregeln strukturierten) Welt, nicht
von einer im eigentlichen Sinne transphänomenalen Welt, über die sich nichts sagen lässt (sondern eben erst
nach der Konstitution – vgl. Kriz 1977, 1981, 1984). Physik, und ebenso alle anderen Wissenschaften auch,
gehören also der phänomenalen Welt an, auch wenn sie sich - wie aber auch Alltagsbeschreibungen - auf
eine transphänomenale Welt beziehen. Erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch gesehen stellen wir „Fragen“
an die Welt, indem wir aufgrund von Wissensstrukturen etc. in der/den phänomenalen Welten mit der o.a.
„zentralen Steuerungsinstanz“ über unseren Organismus in die transphänomenale Welt eingreifen (und z.B.
eine experimentelle Anordnung aufbauen). Ebenfalls beobachten wir über unsere „zentrale Steuerungsinstanz“
die Reaktion dieser Welt. Bei der Untersuchung des Lichts erhalten wir auf „Teilchen“-Fragen „Teilchen“Antworten, auf „Wellen“-Fragen „Wellen“-Antworten usw. Es macht aber Sinn (phänomenal) z.B. an etwas,
auf das wir uns mit „Lebewesen“ (in der transphänomenalen Welt) beziehen, anders geartete Fragen zu stellen
als an physikalische Gegenstände. Eine lebende Maus lässt sich zerlegen – aber nach dem Zusammenfügen
ist das, was wir mit „Lebendig“ meinen, nicht mehr beobachtbar. Es macht Sinn, davon auszugehen, dass
diesen strukturellen Unterschieden in der phänomenalen Welt auch Unterschiede in der transphänomenalen
entsprechen. Entweder sagen wir also gar nichts über die transphänomenale Welt, oder aber wir tragen dieser
Unterscheidung Rechnung. Ein physikalistisch-materieller Reduktionismus von Biologischem/Lebendigem auf
Physikalisches ist jedenfalls auch konzeptionell inkonsequent (worauf sollten sich wohl auch sonst z.B. Metzgers
(1962) „sechs Kennzeichen der ‘Arbeit am Lebendigen’“, beziehen?). Sofern wir dies akzeptieren ist klar, dass
wir uns mit soziologischen und familientherapeutischen Fragen (z.B.) auf wiederum andere Strukturen der
transphänomenalen Welt beziehen. Das, worauf wir uns mit „Interaktionsstruktur in einer Familie“ beziehen,
ist weder physikalistisch noch biologistisch reduzierbar. Und das, worauf wir uns z.B. mit den „Metaphern“
und „Leitprinzipien“ „in einer Kultur“ beziehen, ist ebenfalls nicht reduzierbar. Die transphänomenal zugrunde
liegenden Sachverhalte gehören – unbestritten – zu einer, ganzheitlichen transphänomenalen Welt. Durch unser
Handeln darin macht es aber Sinn, „Häuser“, „Flugzeuge“, „Menschen“ „Reizgegenstände“ etc. zu unterscheiden (bzw. auszugliedern). Durch unterschiedliche Fragebereiche (phänomenal) und das damit verbundene Einwirken in die transphänomenale Welt macht es genauso Sinn, z.B. eine physikalische von einer biologischen,
diese von einer sozialen und diese von einer kulturellen transphänomenalen Welt zu unterscheiden. Ansonsten
müssten und sollten wir schweigen (um Wittgenstein zu paraphrasieren).
19
318
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
Die Verschränkung der drei Aspekte dieser Tagung - Körper, Geist und Ausdruck
– soll im Folgenden am Konzept der „Person“ erhellt werden, so wie dieses in
der „Personzentrierten Systemtheorie (PZS)“ (Kriz 2013, 2014a, b, 2015) entwickelt wurde. Plädoyer der PZS ist es ja, dass für das Verständnis der komplexen
Dynamiken, wie sie beispielsweise für beraterische, klinische und psychotherapeutische oder Coaching-Prozesse typisch sind, stets ein umfassender Kontext
berücksichtigt werden muss. Dabei müssen zumindest die evolutionär-körperliche, die psychische, die interpersonell-mikrosoziale, und die makrosozial- kulturelle Perspektive bzw. Prozessebene mit einbezogen werden. Bereits der scheinbar
individuelle Organismus des Menschen als biosomatische Basis und Bedingung
dafür, dass sich so etwas wie „Person“ entwickeln kann, ist evolutionär gesehen
nicht so „individuell“ wie der Begriff vielleicht suggerieren mag, sondern hat sich
essentiell im Hinblick auf eine interaktive Vernetzung mit seinem Sozialsystem
aktualisiert. Wie gezeigt werden soll, ist „Person“ daher immer nur und immer
schon im Zusammen- und Wechselwirken von Körper und sozialer Mitwelt in
einem Kontext evolutionärer, bio-psycho-sozialer und soziogentisch-kultureller
Entwicklungsdynamik zu sehen.
Ohne dass im Folgenden auf Konzepte der PZS explizit eingegangen werden soll,
stellt dieser Ansatz gleichwohl die zentrale Perspektive dar, aus der heraus Akzentuierungen vorgenommen werden.20
Die Ökologische Nische der Menschheitsentwicklung
Es ist eigentlich erstaunlich, wie lange westliche Medizin, Psychologie, Pädagogik
und Philosophie gerade dem menschlichen Neugeborenen unterstellt haben, es
würde zunächst nur unspezifisch, undifferenziert, und wie ein „unbeschriebenes
Blatt“ die Welt betreten. Zwar hat sich der Mensch durch sein reflexives Bewusstsein aus dem biologischen Joch der Instinkte befreit – aber verschwunden und
ausgelöscht sind damit natürlich keineswegs alle angeborenen Strukturen, mit
denen sich der menschliche Organismus, und speziell auch das Gehirn, im Laufe
von Jahrmillionen evolutionär entwickelt und an seine Umwelt angepasst hat.
Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass eine evolutionäre Anpassung an die
sozialen Strukturen seiner jeweiligen Spezies sogar schon bei Tieren zu finden ist:
Das Aufreißen des Schnabels junger Vögel und der passende Fütterinstinkt der
Mutter bzw. Eltern (oder, beim Kuckuck, sogar anderer Vögel), der Vogelgesang
mit weiteren abgestimmten Verhaltensweisen für die Paarung, die angeborenen
auslösenden Mechanismen für die Paarungsrituale in Form typischer Verhaltenssequenzen bei Fischen etc. – all dies sind letztlich auch angeborene, artinter20
Es sei darauf hingewiesen, dass dabei weitgehend in die Perspektive einer „naiv-realistischen“ Weltsicht übergewechselt wird, da weitgehend Befunde über bereits konstituierten Strukturen aus der transphänomenalen Welt
herangezogen werden. „Häuser“, „Menschen“ oder „Evolution“ werden also als real behandelt.
319
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
ne Interaktionsmuster mit der sozialen Mitwelt zur Sicherung des Überlebens.
Diese und weitere Strukturierungen von Wahrnehmungs-, Verarbeitungs- und
Verhaltensdispositionen eines Organismus aufgrund evolutionär erworbener, genetischer Fähigkeiten, welche eine Passung zwischen dem neugeborenen Lebewesen und seiner artspezifischen Sozialgemeinschaft gewährleisten, ist somit nichts
Besonderes.
Diese evolutionär erworbene Abstimmung sichert bzw. vergrößert die Überlebenschancen des Einzelnen und der Spezies. Zu unterstellen, dass all dies gerade
beim Menschen keine Rolle spielen würde, wäre recht ignorant und naiv. Das
Umgekehrte ist der Fall: Ein menschliches Neugeborenes kommt so unfertig
auf die Welt, dass es zumindest das erste Jahr allein gar nicht überleben könnte.
Der hoch differenzierte biologische Organismus „Mensch“ kann sich monatelang nicht einmal artspezifisch brauchbar fortbewegen und in seiner Umwelt für
Nahrung sorgen. Er vermag sich weder selbst vor Kälte und Hitze noch vor vielen
anderen Einflüssen zu schützen. Ein solches Handicap konnte sich die menschliche Art evolutionär aber nur leisten, indem diese mangelhafte individuelle Überlebensmöglichkeit durch die soziale Aktivität fürsorgender Anderer gewährleistet
wurde und wird - ansonsten wäre ein solcher Organismus dem Tode geweiht und
damit für das Erzeugen von Nachkommen völlig unbrauchbar. Der auf soziale
Systeme hin ausgerichtete Anteil der evolutionären Vorstrukturierung des Gehirns ist daher für den Menschen weit ausgeprägter und bedeutsamer als für jede
andere Spezies. In neueren Diskursen21 werden unter dem Begriff „soziales Gehirn“ bzw. „social brain“ (z.B. Dunbar 1998; Fuchs 2008; Adolphs 2009, 2011;
Pawelzik 2013) die Konsequenzen aus der Tatsache herausgearbeitet, dass die
bio-physiologische Struktur des menschlichen Hirns bei der Geburt wie auch in
der weiteren Entwicklung mehr als bei allen anderen Lebewesen auf ein Leben in
einer sozialen Gemeinschaft hin ausgelegt ist. Denn die für die Tierwelt typischen
Formen von Anpassung und Lernen über Instinkte, Prägung, Konditionierung,
Verstärkung oder Imitation würden beim Menschen keineswegs zum Überleben
des Neugeborenen ausreichen.
Das Ausmaß und die Komplexität der evolutionären Vorstrukturierungen beim
Menschen werden deutlich, wenn man der Frage der ökologischen Nische nachgeht, welche für die stammesgeschichtliche Entwicklung des homo sapiens von
Vorteil war (und ist). Mit „ökologischer Nische“ sind gewöhnlich die materiellen
und biologischen Eigenschaften einer Umwelt gemeint, an welche sich Pflanzen
Mit der grundsätzlichen Fragestellung, welchen evolutionären Sinn die Ausbildung einer phänomenalen
Welt beim Menschen haben könnte, hat sich schon Metzger (1969) auseinandergesetzt (Diskussion dazu in
Stemberger 2015). Die im Folgenden hier eingehenden evolutionären Aspekte aufgrund von Befunden u.a.
aus der Säuglingsforschung lagen ihm natürlich dazu noch nicht vor. Diese sind für die Gestalttheorie aber u.a.
von Arfelli Galli (2013, 2014) referiert und diskutiert worden, wobei sie sich ebenfalls auf einen Teil der im
Folgenden erwähnten Arbeiten bezieht .
21
320
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
oder Tiere in ihrer stammesgeschichtlichen (phylogenetischen) Entwicklung so
angepasst haben, dass die jeweils spezifische lebensgeschichtliche (ontogenetische) Entwicklung des einzelnen Organismus gute Bedingungen für das Überleben und damit für die Fortpflanzung und Vermehrung hat. Welchen Elementarkräften – Luft, Wasser, Boden, Sonne, Wind etc. – ist die Spezies ausgesetzt bzw.
kann sie spezifisch nutzen; welche Nährstoffe und welches Fressbare sind vorhanden bzw., umgekehrt, welche (Fress-)Feinde stellen eine Bedrohung dar. All diese
Gegebenheiten bestimmen die ökologischen Nischen von Flora und Fauna.
Anders als für Pflanzen und Tiere ist diese ökologische Nische, an die er sich im
Sinne der Evolutionstheorie im Laufe der Entwicklung angepasst hat, für den
Menschen aber keineswegs wesentlich durch die materiellen und biologischen
Gegebenheiten einer natürlichen Umwelt bestimmt. Sondern bedeutsam ist die
sozial-kulturelle Um- und Ausgestaltung der natürlichen Umwelt durch die Sozialgemeinschaft. Vordergründig handelt es sich zunächst um die funktionell-sinnhafte Um- und Ausgestaltungen materieller Gegebenheiten - wie Wohnraum,
Kleidung, Fahrzeuge, Arbeits- und Freizeit-Werkzeuge, Maschinen, Fabriken,
Bücher, Computer usw. Hinzu kommen Regelwerke sozialer Prozesse, die im
Laufe der Soziogenese über viele Generationen hinweg ausgestaltet wurden – wie
Sprache, Schrift, (Massen)-Kommunikationsmittel, Rollen, Bildungs-, Rechtsoder Wirtschaftssysteme, Institutionen und Organisationen usw. – in die jeder
Mensch vom ersten bis zum letzten Atemzug eingebettet ist.
Das „Social Brain“ in Aktion
Doch der für die ökologische Nische des Menschen entscheidende evolutionäre
Vorteil eines „social brains“ geht weit über das Genannte hinaus: Dieser besteht
in einer weitgehenden, evolutionär begründeten Passung zwischen jeweils einer
Elterngeneration – also Eltern, Bindungspersonen und andere Erwachsene – und
ihrer Kindgeneration, besonders der hilfsbedürftigen Neugeborenen und Kleinstkinder. Nicht nur das berühmte „Kindchen-Schema“ zeigt diese evolutionäre
Abstimmung, indem es bei den meisten Menschen dazu führt, Säuglinge und
Kleinkinder „niedlich“ und „beschützenswert“ zu finden (was wir freilich auch
auf andere junge Säugetiere, Teddys, Puppen, Comic-Figuren etc. ausdehnen).
Noch wichtiger sind die Affektäußerungen, mit denen gerade das Neugeborene
seine Befindlichkeiten in die Welt schreit. Sie müssen als angeborene (evolutionär
erworbene) Kommunikationsinstrumente gesehen werden. Denn das Baby richtet sich damit an eine soziale Umwelt in der (evolutionären) Erwartung, dass es in
seinen Affekten hinreichend von jemand verstanden wird, der oder die entsprechend darauf eingeht. Andere Menschen, und erst recht die Eltern, reagieren intensiv auf das Schreien, Wimmern, Gebrabbel oder „Strahlen“ des Säuglings - bis
hin zu oftmals ebenso intensiven Affekten wie Verzweiflung oder Wut, wenn die
321
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
Kommunikation nicht klappt und der Säugling mit seinem „durchdringenden“
Schreien nicht aufhört.
Die seit drei bis vier Jahrzehnten international intensiv betriebene Säuglingsforschung (u.a. Stern 2005; Trevarthen 2011) hat darüber hinaus zunehmend
erstaunliche Leistungen in der Abstimmung zahlreicher organismischer Prozesse zwischen dem Neugeborenem und seiner Mutter belegt (überblicksartige
Darstellungen z.B. bereits in Stern 2005). Wie in einem gemeinsamen „Tanz“
stimmen Mutter und das erst wenige Wochen alte Neugeborene motorische
Rhythmen ab – z.B. Sprechrhythmus der Mutter und (kleine) Bewegungen des
Säuglings. Zwar hat die Forschung ergeben, dass die von Mary C. Bateson (1975)
ausführlich beschriebene „proto-conversation“, bei welcher 7- bis 15-Wochen
alte Säuglinge in eine Art Wechselgespräch mit abgestimmtem Lächeln etc. mit
ihrer Mutter eintreten, nicht kulturübergreifend zu beobachten ist: In diesem
Ausmaß gilt das wohl nur für die euro-amerikanische Kultur. Gleichwohl gilt
inzwischen eine erweiterte Fassung von „proto-conversation“ als gesichert: Trotz
recht unterschiedlicher kultureller Regeln in der face-to-face Kommunikation
kann dennoch übergreifend gesagt werden, dass Säuglinge schon kurz nach der
Geburt eine multimodale Sensitivität für die jeweiligen kulturellen Strukturen
menschlicher Interaktion besitzen. Und dass, auf der anderen Seite, auch Mütter
gegenüber ihren Säuglingen eine typisch veränderte Kommunikation zeigen –
mit hoher Stimme, übertriebener Melodik usw. Wegen der bereits pränatal gut
entwickelten Hörfähigkeit kann das Neugeborene bereits die Stimme der Mutter
(bzw. des Vaters und anderer naher Angehöriger mit intensivem Kontakt in der
Schwangerschaft) von anderen (Frauen)stimmen unterscheiden.
Das, was das Neugeborene an strukturellen Erwartungen hinsichtlich seiner sozialen Umwelt mitbringt, und was diese – in Person von Eltern bzw. Bindungspersonen – an Strukturen bereitstellen, ist somit in einer langen evolutionären
Entwicklung aufeinander angepasst. Wir haben es also mit einer generationsübergreifenden Ko-Evolution zu tun. Ein Beispiel für solche umfassenderen Abstimmungen ist das, was wir mit „Bindungstypen“ thematisieren22: Das Kleinstkind
testet quasi Personen seiner engeren soziale Umgebung daraufhin, wie verlässlich
diese auf seine emotionalen Bedürfnisse eingehen können und, besonders in
Stress und angstmachenden Situationen, unterstützend, tröstend und Sicherheit
gebend zur Verfügung stehen. Je nachdem, wie diese Erfahrungen ausfallen, aktualisiert sich ein „inner working model“ (Bowlby 1988), also ein inneres Arbeitsmodell darüber, was seine soziale Umgebung zu bieten hat und was es erwarten
kann, ohne ggf. immer wieder neu frustriert und zu werden. Unter dieser PerWobei die Universalität der Bindungstypen und insbesondere deren Bewertung aus kulturvergleichender
Perspektive starker Kritik unterliegt (vgl. Arfelli Galli 2014; Keller 2011, 2015) – was allerdings für die hier
referierten Aspekte eher peripher ist.
22
322
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
spektive ist gut nachvollziehbar, warum „unsicher-vermeidende“ Kinder kaum
äußerlich auf das Weggehen der Bezugsperson reagieren (physiologische Daten
– Cortisolspiegel, Herzschlag - aber auf starken Stress hinweisen), und bei deren
Rückkehr diese eher ignorieren und stattdessen die Nähe fremder Personen suchen: Wenn man häufig Ablehnung und Zurückweisung erfahren hat ist dies ein
Schutz gegen erneute Enttäuschung einer „falschen“ Erwartung. Besser, gar nicht
erst freudig der zurückkommenden Bezugsperson entgegenlaufen und diese begrüßen (wie dies typisch „sicher gebundene“ Kinder tun): dann muss man nicht
den Schmerz einer erneuten Zurückweisung riskieren.
Wichtig ist, dass diese Verhaltensmuster der „Bindungstypen“, trotz zahlreich
vorfindlicher Übergänge in der Population nicht im üblichen Sinne „gelernt“
sind. Sondern die überwiegende Mehrheit der Bindungsforscher geht davon aus,
dass das Potential zu diesen Grundstrukturen evolutionär erworben und somit
angeboren ist: Die konkrete Erfahrung lässt dann nur das eine oder das andere
dieser Muster aktuell zum Tragen kommen. So, wie es bei der Prägung von Graugänsen im Sinne Konrad Lorenz dazu führt, dass das evolutionär mitgebrachte
Muster „laufe dem Objekt hinterher, das nach dem Schlüpfen aus dem Ei als
erstes sichtbar ist“, ggf. durch Lorenz (oder andere Menschen) besetzt wird und
nicht durch das Muttertier.
Auch die Muttersprache ist ja weder angeboren noch wird sie (im üblichen oder
gar behavioralen Sinne) erlernt. Vielmehr kann ein (hinreichend gesundes) Kleinkind aufgrund evolutionär erworbener Potentiale jeden Sprachstrom auf diesem
Planeten in seine Phoneme zerlegen und daraus die spezifische Grammatik der
Sprache seiner Umgebung aktualisieren. In den Debatten über die Unterschiede
zwischen Entwicklung (aus sich heraus: z.B. der zweifüßige Gang) und Lernen
(nur über andere vermittelt: z.B. deklaratives Wissen wie das „kleine 1x1“) wurde diese wichtige Form der Aktualisierung angeborener Potentiale oft vernebelt
bis völlig übersehen. Auch „Bindungstypen“ können ja quasi als „Grammatik
von interpersonell zu erwartenden Erfahrungen“ verstanden werden (und seit
Jahrzehnten beschäftigt mich die Hypothese, ob nicht weitgehend zumindest die
Grammatik aller semiotischen Prozesse – d.h. der Erwerb der Strukturen von
Zeichenprozessen aller Art, die für die Lebenswelt des Menschen als „animal
symbolicum“ (Cassirer 1960) so überaus wichtig sind – in ähnlicher Weise aktualisiert wird).
Viele der hier genannten Aspekte sind eigentlich seit langem mehr oder weniger
bekannt. Doch wurde gleichzeitig auf menschliche Entwicklungen mit einem erstaunlichen Ausmaß an evolutionsbiologisch-anthropologischen blinden Flecken
geschaut – was beispielsweise vielleicht den Hype verständlich macht, der um
die sogenannten „Spiegelneurone“ gemacht wird. Diese wurden vor rund zwei
Jahrzehnten zunächst bei Affen entdeckt (und gelten erst seit wenigen Jahren
323
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
auch beim Menschen als hinreichend nachgewiesen): Es geht darum, dass man
zeigen konnte, dass dieselben Neuronen (richtiger: Neuronen-Verbände!), die im
Affenhirn beim Greifen einer Nuss feuerten, auch dann aktiv wurden, als das
Tier einen anderen nach dem Futter greifen sah. Dies ist freilich nicht unbedingt
verwunderlich: Denn bereits 1874 formulierte der englische Arzt W.B. Carpenter
als „Ideomotorisches Gesetz“, dass bereits die Vorstellung einer Bewegung in der
entsprechenden Muskulatur eine minimale Bewegung auslöst. Und unter dem
Begriff „Motorische Denktheorie“ wurden in den 20er und 30er Jahren mit den
damals bereits vorhandenen elektrophysiologischen Möglichkeiten „Potentialveränderungen in den bei der wirklich ausgeführten Bewegung beteiligten Muskeln
festgestellt“. Dass man die neuronalen Korrelate dieser Ideomotorik irgendwann
im ZNS würde nachweisen können, lag auf der Hand. Die nun aktuellen Entdeckungen vermeintlich neuronaler „Spiegelungen“ von Gefühlszuständen, Handlungen, Absichten, etc. bezieht sich statt auf Spiegel-Neuronen in Wirklichkeit
auf immer größere Neuronen-Netzwerke.
Somit zeigen die Neurowissenschaftler mit ihren Methoden eigentlich nur noch
etwas, was u.a. ganzheitliche und humanistische Psychologen seit einem Jahrhundert betonten: Der Mensch ist vor allem ein soziales Wesen; viele Strukturen
bereits seines Organismus sind im Laufe der Evolution genau auf dieser Passung
in einer Sozialgemeinschaft hin selegiert und optimiert worden – und dazu gehört ganz besonders auch die evolutionäre Entwicklung menschlicher Gehirne in
ihren Grundfunktionen und in ihrer Plastizität hinsichtlich weiterer spezifischer
Ausdifferenzierung in einer sozialen Ökologie.
Aus der Sicht unseres Themas kann man die o.a. evolutionär angelegte Passung
und Abstimmung von z.B. Baby-Äußerungen und denen seiner Mutter in
der Protokommunikation auch als eine Verschränkung von Körper- und Ausdrucks-Prozessen verstehen. Dies geht schon vom Verständnis menschlicher Entwicklung weit über das hinaus, was die Körperpsychotherapie sensu Wilhelm
Reich, Alexander Lowen oder Elsa Gindler im Blick hatte, wo die Beziehung
zwischen Körper und Ausdruck wesentlich auf die Ontogenese, also die biographische Verschränkung beider, gerichtet ist (vgl. Thielen 2014a, b). Eine stärker
phylogenetisch-entwicklungsgeschichtliche Betrachtung finden wir hingegen im
Ansatz von Albert Pesso. Therapeutisch kann dieser als methodische Integration von körperlichen und (spezifischen) psychodramatischen Techniken gesehen
werden (Pesso & Perquin 2008). Jedoch ist der Hintergrund seiner Arbeit die Annahme, dass Kinder „Lücken“ im engeren sozialen System der Familie (z.B. durch
Tod, physische oder psychische Abwesenheit bzw. nicht-Verfügbarkeit eines Elternteils) implizit wahrnehmen und versuchen, diese durch Rollenübernahme
zu schließen. Und im Gegensatz zur Delegation von solchen Rollen durch die
Erwachsenen (wie etwa im Ansatz von Horst-Eberhard Richter), geht Pesso von
324
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
einer genetischen (also evolutionär erworbenen) Fähigkeit zur Schließung entsprechender sozialer Gestalten aus. Dies geschieht ganz analog dazu, wie die Tendenz zur Schließung von Gestalten ein zentrales Thema der Gestaltpsychologie
ist – und zwar nicht nur im engeren Prozess sinnlicher Wahrnehmung, sondern
auch erweitert in Form wie dem Zeigarnik-Effekt (besseres Erinnern nicht erledigter Aufgaben, s. Zeigarnik 1927) oder dem Ovsiankina-Effekt (Tendenz zur
Wiederaufnahme einer unterbrochenen Handlung, s. Ovsiankina 1928). Ebenso
ist Schließung in der Gestalttherapie ein zentraler Aspekt (Perls et al. 1979). Es
bleibt aber eine bisher kaum diskutierte Forschungsfrage, wie weit z.B. die klassischen Gestaltgesetze, die vor allem im Rahmen der Berliner Schule der Gestaltpsychologie erörtert wurden, oder gar deren Ausdehnung auf „soziale Gestalten“
mit entsprechenden Valenzen für Handeln im Sinn von Lewins Feldtheorie auf
evolutionäre Präformationen des Möglichkeitsraums zurückgehen. Bereits das
neuronale System einer Spinne verleiht dieser die Fähigkeit, ein vom Wind teilweise zerstörtes Netz zwischen schwankenden Zweigen mit großer Varianz in
der Geometrie des Einpassens wieder zu komplettieren. Analog ist es zumindest
eine interessante Hypothese, dass das „social brain“ des Menschen sich evolutionär so entwickelt hat, dass der Mensch sich mit Wahrnehmung und Verhalten
nicht nur in Bezug auf jeweils eine Bindungsperson ausrichtet, um in dieser einen
Beziehung z.B. Protokommunikation oder Bindungserwartungen zu realisieren.
Sondern dass darüber hinaus die Wahrnehmung von und passende Aktivität für
bestimmte soziale Strukturen und Muster ebenfalls evolutionär „mitgebracht“
wird. Phänomene, die wir mit „Archetypen“, mit „repräsentierender Wahrnehmung“ bei System-Aufstellungen, Skulptur-Arbeit und Psychodrama, oder mit
den Szenen in Pessos Arbeit thematisieren, werden im Licht einer solchen Hypothese besser verständlich.
Doch auch, wenn man den letzten Absatz als vielleicht zu spekulativ unberücksichtigt läßt bleibt festzuhalten, dass der scheinbar individuelle Ausdruck des
Menschen aufgrund seiner evolutionären Ausstattung mit einem „social brain“
immer schon auf eine Sozialgemeinschaft hin ausgerichtet ist und dies vom ersten Lebenstage an damit (auch) im Körper repräsentiert. Körper und Ausdruck
sind somit nicht nur entwicklungsdynamisch miteinander verschränkt, sondern
auch von der Grundmatrix dieser Verschränkung nicht zu trennen – nämlich der
co-evolutionären Einbettung in die menschliche Sozialgemeinschaft. Und damit
kommt auch das mit in die Betrachtung hinein, was wir im Rahmen dieses Beitrags als „Geist“ thematisieren:
Die Verschränkung der drei Person-Perspektiven
Da der Mensch evolutionär gesehen besonders durch seine geistigen Fähigkeiten
ausgezeichnet ist, die er im Rahmen einer Sozialgemeinschaft und ihrer Kultur
325
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
entfaltet, ist hierfür die spezifische evolutionäre Entwicklung des menschlichen
Nervensystems in einer solchen Sozialgemeinschaft und im Hinblick auf diese – was mit dem Begriff „social brain“ thematisiert wird - verständlicherweise
ebenfalls bedeutsam. Denn besonders die Möglichkeiten, sich die äußere materielle und soziale sowie auch seine eigene innere Welt kognitiv zu erschließen
und Anderen mit-teilen zu können, finden wir in diesem Ausmaß bei keiner anderen Spezies. Hierzu gehört auch der Gebrauch von Symbolsystemen (Sprache,
Schrift, Bilder, Filme, Verkehrszeichen etc.), wie bereits oben mit Verweis auf
das „animal symbolicum“ hervorgehoben wurde (Cassirer 1960). Der Mensch
erschließt sich „die Welt“ (einschließlich seine eigene, innere) und teilt sie mit
anderen vor allem mit Hilfe von Symbolen.
Gewöhnlich wird in den Diskursen zu diesem Thema – besonders, wenn sie
von humanistischen Psychologen und Psychotherapeuten geführt werden – die
subjektive (oder 1.-Person-) Perspektive scharf gegenüber einer objektiven (oder
3.-Person-) Perspektive abgegrenzt. Meine gefühlten Zahn- oder Magenschmerzen, meine Traurigkeit oder Sehnsucht unterscheidet sich in der Tat prinzipiell
von den Beobachtungen und Beschreibungen anderer über meine inneren Zustände, oder gar von physiologischen oder medizinischen Parametern (oder Ergebnissen von sogenannten Gehirn-Scans).
Für das Subjekt steht also zunächst intensives Spüren und Erleben im Zentrum.
Doch wie mache ich mir als Subjekt dieses mein Spüren und Erleben überhaupt
zugänglich und verständlich? Gehen wir diese Frage nach, so wird deutlich, dass
unsere Gefühle von Traurigkeit, von Stolz, von Sinnlosigkeit oder Einsamkeit,
zwar auf unser ureigenstes Erleben verweisen – und daher, nochmals betont,
durch keine Beschreibung, Beobachtung oder gar Messung ersetzt werden können. Gleichwohl beruht aber die Symbolisierung, also das verstehende Einordnen
unseres Spürens und Erlebens, auf der Verwendung von Wörtern, Begriffen, Kategorien, Bildern, Metaphern, Verstehensprinzipien etc., die aus unserer Kultur
stammen. Kurz: eine verstehende Aneignung seines eigenen subjektiven Erlebens
ist für das Individuum nur möglich, wenn es dabei die kognitiven Werkzeuge
seiner Kultur verwendet.
Damit sind bereits auf elementarer Ebene die 1.-Person-Perspektive mit der
3.-Person-Perspektive und den kulturellen Strukturen, die diese repräsentieren,
miteinander verwoben. Natürlich gibt es beim Menschen auch rein organismisches Erleben so wie auch beim Tier – das ja auch seine Umwelt sowie innere
Prozesse wahrnehmen, darauf bewertend reagieren (z.B. mit Flucht, Erstarren,
Bellen etc.) und komplexe, situationsadäquate Reaktionssteuerungen vornehmen
kann. Aber um dieses organismische Erleben selbst zu verstehen – und erst recht,
um sich damit anderen verständlich zu machen – bedarf es der Anwendung von
Kulturwerkzeugen. Und diese beschränken sich keineswegs auf deiktische Laut326
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
verweisungen, mit denen Dinge oder Befindlichkeiten angezeigt werden. Sie beschränken sich auch nicht auf den Bedeutungsgehalt von Wörtern. Sondern sie
transportieren beispielsweise über die spezifische Grammatik der indoeuropäischen Sprachen kognitive Einladungen zur Verdinglichung. Damit ist gemeint,
dass Prozesse wie z.B. psychische Krankheiten oder Persönlichkeitseigenschaften
wegen der Substantivierung eher als Dinge gesehen werden und man entsprechend damit umgeht.
Kulturwerkzeuge transportieren ferner Metaphern, Vorstellungen und Verstehensprinzipien, die in unterschiedlichen Gesellschaften und Gruppen (z.B. in
Familien) ebenso unterschiedlich wie hoch bedeutsam sein können. Und sie
transportieren über Familiengeschichten sowie über kulturelle Narrationen, die
gleichzeitig mit der historischen Geschichte der jeweiligen Gesellschaft verwoben
sind, weitere Bilder, Prinzipien, Werte usw. Diese vermitteln Wahrnehmungs-,
Interpretations-, Denk-, Fühl- und Handlungsprozesse dahingehend, wie man
leben und was man fürchten soll, wie man mit Krisen umgeht, oder wofür es sich
zu kämpfen lohnt bzw. wann Flucht, Erstarren oder Resignation angesagt ist.
Gerade unsere Kultur in Mitteleuropa, die durch zwei Weltkriege mit Millionen
Toten, Zerstörungen und Vertreibungen, einem Naziregime und Holocaust usw.
innerhalb nur eines Jahrhunderts mit geprägt wurde, ist übervoll von solchen
Leit- und Leidgeschichten. Deren Bewältigungsprinzipien geistern u.a. als implizite Verstehensbilder „der Welt“ und „der Anderen“ durch die Familien – und
sind damit wiederum Basis für die Kulturwerkzeuge, mit denen sich das Neugeborene langsam ein Verstehen seines individuellen eigenen Erlebens aneignet
– d.h. letztlich ein Verstehen von sich selbst.
Es ist daher zwar gut für die Entwicklung des Neugeborenen, wenn die Mutter
(oder eine andere Bindungsperson) das Kind in seinen Affektäußerungen und
Bedürfnissen „lesen“ und adäquat darauf eingehen kann. Für die Entwicklung eines menschlichen Organismus als „Person“ – also als jemand, der sich und andere
verstehend in einer Sozialgemeinschaft lebt und dieser Teilnahme auch Ausdruck
verleihen kann - würde diese Art der Zuwendung allerdings nicht ausreichen.
Sondern für die Entwicklung des Babys ist es notwendig, dass diese Bindungsperson mit ihren empathischen Rückmeldungen an das Baby eine sinnverstehende Symbolisierung der wahrzunehmenden Welt, der eigenen Gefühle und
Verhaltensweisen, heranträgt. Das heißt, die Beziehungspersonen sind auch dafür
zuständig, dass die inneren, subjektiven, „individuellen“ Prozesse mit den äußeren, objektiven, interpersonellen Prozessen und den materiell manifestierten Kulturwerkzeugen zusammengebracht werden.23 Nur so kann der sich entwickelnde
„Innen“ und „außen“ bezieht sich hier auf die phänomenale Welt versus die sozialen Strukturen der transphänomenalen Welt – im Sinne von Fußnote 19 – also die Struktur des kommunikativen Handelns anderer
Menschen in der realen Welt (zumindest aus naiv-realistischer Perspektive).
23
327
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
Mensch seine „Weisen in der Welt zu sein“ selbst-reflexiv verstehen und sprachlich sich selbst und anderen verständlich machen. In der weiteren Entwicklung
der Personalität des jungen Kindes wird das „Herantragen“ von empathischen
Symbolisierungen zunehmend zu einer gemeinsamen und wechselseitigen Interpretationsleistung über die ablaufenden Prozesse (die im Hier-und-Jetzt immer
auch und zunehmend Bezug auf Vergangenes und Zukünftiges nehmen). Wo
eine solche Symbolisierung partiell misslingt – wo also Teile oder Aspekte des
eigenen Geschehens nicht verstanden werden –, ist die Grundlage für Störungen
gelegt, denn bestimmte Teile bzw. Aspekte des eigenen Erlebens und das der anderen bleiben diesem Menschen ja für ein Verständnis verschlossen. Im personzentrierten Ansatz von Rogers (1961) wird hier beispielsweise von „Inkongruenz“
gesprochen. Jedoch sehen alle therapeutischen Richtungen hier ein zentrales Moment für eine leidvolle Entwicklung.
Daher besteht die Gefahr, dass man Wesentliches übersieht, wenn vor allem die
„Ich-Du“ Beziehung zwischen Mutter (bzw. Bindungsperson) und Kind in den
Fokus gerückt wird. So wird beispielsweise gern auf Martin Buber und dessen
Betonung der dialogische Existenz des Menschen verwiesen: „Ich werde am Du;
Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Buber 1923,
S.18). Doch ein „Ich“ entfaltet sich dabei nur, wenn dessen „Du“ sich nicht auf
eine Zweiheit beschränkt, sondern die Kulturwerkzeuge an das Kind heranträgt
und in der „Begegnung“ deren sinnerzeugende Kraft entfaltet.
In der „Person“ sind somit immer schon die drei o.a. Perspektiven miteinander
verschränkt: die des Ich-Subjekts (1.-Person-Perspektive), die der objektiven und
objekthaften Außensicht (3.-Person-Perspektive) und ein begegnendes und sozialisierendes „Du“ (2.-Person-Perspektive), das eben diese Verbindung besonders
in der frühkindlichen Sozialisation (aber z.B. auch in humanistisch-psychotherapeutischen Ansätzen) herstellt und gewährleistet.
Vor diesem Verständnis fungieren beispielsweise PsychotherapeutInnen als ein
„Du“, welches Inkongruenzen zwischen der 1.- und der 3.-Person-Perspektive
in den Prozessen des realen Erlebens der PatientInnen empathisch symbolisieren helfen. Dazu ist „Begegnung“ im Sinne der Humanistischen Therapie zwar
essentiell nötig, aber ebenso Kenntnisse über Einflüsse spezifischer Kulturwerkzeuge auf die kindliche Entwicklung bzw. auf die Therapie – etwa in Form von
Metaphern, Prinzipien, Leitsätzen (oft: Leidsätzen), Narrationen, usw. Wenn wir
uns also klar machen, dass der Mensch beim Symbolisieren von organismischer
Erfahrung die Kulturwerkzeuge ver- und anwendet, liegt es auf der Hand, uns
als Angehöriger professioneller Psychotherapie, Beratung und Coaching um die
Beschaffenheit dieser Kulturwerkzeuge etwas differenzierte Gedanken zu machen
und es nicht einfach beim alltagspsychologischen Haus- und Laienverstand bewenden zu lassen.
328
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
Bei der Frage, wie gut mit der verwendeten Sprache Erleben empathisch und
kongruent symbolisiert werden kann, geht es nicht nur um den semantischen
Aspekt, d.h. wie treffend und stimmig z.B. Gefühle ausgedrückt werden können. Relevant sind auch die syntaktischen und pragmatischen Dimensionen der
Sprache – etwa die Frage, wie weit durch verdinglichende Substantive („Verhaltensstörung“) oder Verben, welche totalitär-statische Beziehungsverhältnisse ausdrücken („ist“, „hat“) Probleme erst geschaffen und stabil gehalten werden (z.B.:
„mein Sohn hat eine Verhaltensstörung“). Wir sollten uns auch klar darüber sein,
dass mit der verwendeten Sprache und ihrer Metaphern Beziehungs-, Kommunikations- und Interaktionsmuster vermittelt werden, die erheblich zur Entwicklung und Stabilisierung, aber eben auch zur transformationellen Überwindung
von „Symptomen“ beitragen können.
Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, vor dem eingangs betonten erweiterten Verständnis von „Begegnung“ und „Empathie“ - wo also das Soziale in der scheinbar unmittelbaren Zweierbeziehung stets mit anwesend ist und über ein zu eng
verstandenes „Ich-Du“ hinausreicht – auch das „Symbolisieren“ nicht zu eng zu
verstehen, sondern vielleicht durch das Konzept des „Mentalisierens“ (Allen, Fonagy & Bateman 2008; Asen & Fonagy 2014) zu erweitern: Für die Entwicklung
der „Person“ und ihrer interpersonellen Kompetenzen ist ja nicht nur wichtig, die
eigenen inneren Prozesse quasi von außen mit den Kulturwerkzeugen zu sehen,
zu verstehen und zur Sprache zu bringen; es ist genauso wichtig, die inneren
Prozesse der anderen quasi von innen (mit)-sehen zu können. Wobei dies nie
deutungsmächtiges übergriffiges Verstehen des anderen meint, sondern es sich
um eine notwendig unexakte, mit partiell fremd bleibenden Aspekten versehene
gemeinsame Interpretation handelt – im Sinne eines miteinander Aushandelns
von Sinndeutungen aufgrund von ggf. unterschiedlichen Wahrnehmungen. So
betonen Asen & Fonagy (2014), dass die Entwicklung eines genauen Bildes vom
seelischen Zustand Anderer einer ständigen sozialen Verifizierung bedarf.
Die geistigen Fähigkeiten des Menschen, mit denen dieser in seiner Sozialgemeinschaft die Erfahrungen über inneres und äußeres Geschehen zum Ausdruck
bringen und an der Kommunikation teilhaben kann, müssen somit über die
Vermittlung der Kulturwerkzeuge, vor allem Sprache und die weitergehenden
Symbolsysteme, zur Entfaltung gebracht werden. Das Instrument, mit dem dies
möglich wird, ist der menschliche Körper, der mit seinem „social brain“ vor allem eine auf diese Sozialgemeinschaft hin ausgelegte evolutionäre Ausstattung
mitbringt und dann auf dieser präformierten Basis seine biographischen Ausdifferenzierungen entsprechend der Erfahrungen vornimmt.
Der Verweis auf die körperlich-evolutionäre Basis des „social brain“ ist wichtig,
um vor einer Überstrapazierung einer narrativen Erklärungsperspektive zu schützen. Denn wenn beispielsweise im narrativen Ansatz betont wird: „Was nicht
329
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
narrativ strukturiert wird, geht dem Gedächtnis verloren“ (Bruner 1997, S. 72),
so wird bei diesem wichtigen Fokus gleichzeitig außer Acht gelassen, dass eben
evolutionäre, vorsprachliche Strukturierungsprinzipien im menschlichen Organismus sowohl den dann für Sprache und Erzählungen zugänglichen Erfahrungsraum bereits vorstrukturieren. Gern wird auch in Anknüpfung an den Leitsatz
der griechischen Philosophen um Epiktet (50-125) betont: „ Nicht die Dinge
selbst, sondern unsere Meinung von den Dingen beruhigen oder beunruhigen
den Menschen“ und darauf verwiesen, dass es nicht die Erfahrungen als solche
sind, die Menschen prägen, sondern die Geschichte, die er oder sie bzw. das
jeweilige Bezugssystem aus den Erfahrungen macht. Doch darf dabei eben die
komplementäre Perspektive nicht außer Acht gelassen werden, dass verkörperte
interpersonelle Bindungserfahrungen als Grundstrukturierungen organismischer
Prozesse („embodiment“) auch beim dann Erwachsenen z.B. Emotionsregulation, Beziehungserwartungen oder eben sogar die Auswahl, Gewichtung und Formung der Narrationen mit bestimmen.
Der Unterschied, ob ein sicheres Bindungsverhalten entstehen konnte oder
durch frühe Vernachlässigung und Traumatisierungen ganz andere Erfahrungen
verkörpert sind, kann daher nicht in eine narrative Relativierung abgeschoben
werden. Diese nicht-narrativ strukturierten Erfahrungen des Körpergedächtnisses
gehen eben nicht verloren, sondern beeinflussen erheblich auch die kognitiven
Gedächtnisprozesse und andere Prozesse (z.B. Verhalten) des Menschen. Und es
sei, trotz anderer Thematik, zumindest darauf verwiesen, dass angesichts zunehmender strukturell belastender Bedingungen in unserer Gesellschaft durch eine
auf Maximierung von Effizienz und Profit ausgerichtete Wirtschaftlichkeits-Ideologie die realen Erfahrungen von Überlastung, Arbeitslosigkeit, Verelendung,
Mobbing etc. ebenso wenig unberücksichtigt bleiben, wenn über die Strukturbedingungen von Narrationen nachgedacht wird.
„Corpo d’Anima“ – Eine künstlerische Entfaltung der Ganzheit aus Körper,
Geist und Ausdruck
Die zuvor argumentativ-analytisch dargestellte Ganzheit aus Körper, Geist und
Ausdruck läßt sich auch mit Verweis auf eine andere Form des (nicht-sprachlichen) Symbolisierens erläutern: Anfang 2013 brachte Mauro de Candia, Choreograf und Künstlerischer Leiter der „Dance Company“ am Theater in Osnabrück,
sein Werk „Corpo d’Anima“ zur Aufführung. Die TänzerInnen verleihen mit ihren Körpern vielen Gesten und Ritualen aus unterschiedlichen Religionen und
ihren Kulturen Ausdruck. Das mag auf den ersten Blick an das „Rappresentatione di anima et di corpo“ (dt.: Das Spiel von Körper und Seele) von Emilio de‘
Cavalieri (1550 –1602) erinnern, das 1600 als erstes opernartiges Werk in Rom
aufgeführt wurde, und bei dem sich Körper und Geist, Verlangen und Vernunft,
330
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
darüber streiten, was zu mehr Erfüllung und letztlich zum Himmelreich führe.
Doch in Mauro de Candias „Corpo d’Anima“ geht es, genau umgekehrt, um die
gemeinsame Bedeutung in den unterschiedlichen Formen der Religionen (und
dahinterstehenden Kulturen). Denn gerade im Kontext von religiösen Aktivitäten wurde schon immer mit Verweis auf den immanenten und transzendenten
Geist eine besondere Auseinandersetzung mit dem Körperlichen geführt: von
der Askese, der Zazen-Haltung im Zen oder den Yoga Asanas bis hin zu Tantra
oder dem Tanz der Derwische, von der Inkarnation des Göttlichen bis hin zu
Körperentwertung und Selbstgeißelung. Und doch sind diese unterschiedlichen
Formen ja Ausdruck der Sehnsucht des Menschen nach dem Heil, also Versuche
einer umfassenden Heilung.
Die oberflächliche Vielfalt der Riten und Gesten, die sich gerade auch im sichtbaren Ausdruck des bzw. der Körper gut symbolisieren lassen, verweist auf dieses
Gemeinsame. In einer transzendenten Deutung könnte man sagen, dass diese,
vielen Menschen gemeinsame, Sehnsucht nach übergeordnetem Sinn – die, nicht
unplausibel, ebenfalls im „social brain“ angelegt sein könnte – einen Hinweis
darauf zu geben vermag, was der Wissenssoziologe Peter L. Berger (1970) als
„Spuren der Engel“ in unserer säkularisierten Welt genannt hat. Die phänomenalen Welten der Tänzer und die der Zuschauer begegnen sich dann in der motorisch-gestalterischen Ausführung bzw. der sensorisch-wahrnehmenden Organisation nicht nur in der anfangs ausführlich diskutierten „anmutigen Geste“,
sondern vielleicht auch im Verweis auf die Sehnsucht nach transzendenter Sinnhaftigkeit.
Fig. 4 Bilder aus „Corpo d’Anima“, 2013 Theater Osnabrück
331
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
Gerade mit Blick auf diese Bilder wird nochmals die evolutionäre Verschränkung der drei Aspekte Körper-Geist-Ausdruck dieses Beitrags (und der GTA-Tagung 2015) deutlich. Dass die Gesten und Riten innerhalb der Kulturen - und
in erstaunlich hohem Ausmaße auch über die Kulturen hinweg, trotz markanter
Gegenbeispiele von Missverständnissen viele Menschen innerlich und äußerlich
bewegen können, liegt an der zentralen Steuerungsfunktion der phänomenalen
Welt, die für die Ordnung der Prozesse sowohl beim Hervorbringen als auch
beim Wahrnehmen solcher Gesten sorgt, sowie daran, dass unser Organismus
einschließlich unseres zentralen Nervensystems sich eben so entwickelt hat. Und
dass eine Aufführung wie „Corpo d’Anima“, oder auch nur die Bilder in Fig.
4, mit ihren Ausdrucksformen Menschen beeindrucken und etwas vermitteln
können, verweist ebenfalls auf diese Verschränkung. Gerade mit der impliziten,
nicht-deklarativen Teilhabe an der Welt können wir hier Resonanzen erfahren,
die der Symbolisierung und der Eingliederung in die Systeme deklarativen Gedächtnisses nicht vollständig zugänglich sind. Doch vielleicht gehört es zu einer guten Sozialisierung, dass wir ertragen und sogar verstehen können, dass wir
nicht alles (deklarativ) verstehen können – was nur dann wie ein Paradox klingt,
wenn wir die Welt mit dichotomisierenden Kategorien statt mit komplementär-dynamischen Gestalten zu erfassen suchen.
Zusammenfassung
Für die Gestalttheorie ist es zentral, die Betonung auf die ganzheitliche Organisation
der phänomenalen Welt (und der zugrundeliegenden neuronalen Dynamik) zu legen.
Indem man Arnheims Abhandlung über Ausdruck folgt, lässt sich unter „Ausdruck“ das
Gegenstück des dynamischen Prozesses in der Organisation der Wahrnehmung verstehen
– wobei die phänomenale Welt als zentrale Steuerinstanz dient. Wenn man daher die
anmutige Geste eines Tänzers wahrnimmt, so ist diese integraler Bestandteil der Wahrnehmungsorganisation beim Beobachter. Gleichzeitig aber spricht einiges dafür, dass die
phänomenale Welt als zentrale Steuerinstanz auch beim Tänzer die muskulären Kräfte
organisiert, um diese anmutige Geste hervorzubringen. Es ist daher plausibel, dass die
beiden phänomenalen Welten in dieser Situation teilweise strukturell ähnlich sind und
ihnen auch korrespondierende mentale Zustände zugeordnet sind.
Diese Aspekte sind nicht überraschend, wenn man die Evolution des Menschen berücksichtigt. Alle Lebewesen haben eine Evolution in Adaptation (bzw. mehr oder weniger
Ko-Adaptation) an ihre „ökologische Nische“ durchlaufen – das gilt auch für den Menschen. Allerdings ist diese ökologische Nische des Menschen weniger durch materielle
oder biologische Strukturen seiner Umwelt bestimmt, sondern vielmehr durch ein Sozialsystem strukturiert, welches aus einer Gruppe bzw. der Gesellschaft anderer Menschen
besteht, die miteinander interagieren, kooperieren und kommunizieren. Insbesondere
das Gehirn des Menschen hat hier eine Evolution durchlaufen, die dem Menschen zum
Überleben unter diesen Bedingungen optimale Voraussetzung gewährleistete. Dies jedenfalls ist die These aktueller Diskurse unter dem Stichwort „social brain“.
332
Kriz, Die evolutionäre Perspektive in der Verbindung von Körper, Geist und Ausdruck
Dieser Beitrag diskutiert einige Aspekte im Zusammenwirken von Körper, Geist und Ausdruck unter dieser „soical brain“ - Perspektive. Dabei wird die Bedeutung von Selbst-Reflexion sowie des Verbalisierens von mentalen Zuständen Anderer (sog. „Mentalisieren“)
hervorgehoben und die notwendigen Bedingungen für die kindliche Entwicklung untersucht, damit diese evolutionär erworbenen, angeborenen Potentiale auch entfaltet werden
können.
Schlüsselwörter: Körper, Geist, Ausdruck, Evolution, symbolisieren, Kommunikation,
Verstehen.
The Evolutionary Perspective on the Interactions Between Body, Mind and Expression
Summary
In Gestalt psychology, the holistic organization of the phenomenal world (and its underlying, correlated neural dynamic) is crucial. Following Arnheim´s (1949) analysis,
we have to say that expression could be defined as the psychological counterpart of the
dynamic processes – led by the phenomenal world – which result in the organization of
perceptual stimuli. Therefore, observing a “graceful gesture” of a dancer is an integral
part of the organized processes of perception in the observer. However, there is a lot of
evidence that the phenomenal world of the dancer will direct the muscular forces which
produce the “graceful gesture” of his arm and hand. As a consequence, it is plausible that
the phenomenal world which organizes the bodily behavior of the dancer is partly structurally similar to the phenomenal world of the person who perceives this gesture and,
moreover, that there are corresponding mental states.
These aspects are not surprising if one takes the evolution of mankind into account. All
living beings have evolutionarily developed in adaption (and more or less co-adaption)
to a so-called “ecological niche”. This is, of course, also true for human beings. However:
the “ecological niche” of humans is not so governed by material and biological structures
of the environment. But the “ecological niche” for humans’ evolutionary development is
the social system constituted of a group or society of interacting, cooperating, and communicating humans. More specifically, humans’ brains have developed so as to serve as
a means of surviving in such a social system. This is the thesis of the prevailing discourse
under the term “social brain”.
The present paper discusses some aspects of the interactions between body, mind and
expression from the “social brain” perspective. The importance of self-reflective processes
in the phenomenal world as well as the ability to refer verbally to one’s own and another
person’s state of mind (“mentalization”) is stressed, and the developmental conditions
necessary for a child to unfold these evolutionary and inborn potentials are examined.
Keywords: Body, mind, expression, evolution, symbolization, communication, understanding.
333
GESTALT THEORY, Vol. 37, No.3
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Jürgen Kriz, geb. 1944, ist Professor Emeritus für Psychotherapie und klinische Psychologie an der Universität
Osnabrück und Gast-Professor verschiedener Universitäten in Europa (z.B. 2003 „Paul-Lazarsfeld-Gastprofessur“ der Universität Wien) und den USA. Er ist Autor von mehr als 20 Büchern und 250 Artikeln oder Kapiteln in Sammelwerken, dazu Herausgeber von Büchern und regelmäßig erscheinenden Publikationen sowie
Mitglied/Vorsitzender vieler wissenschaftlicher Kollegien und vieler Herausgeber-boards von wissenschaftlichen
Zeitschriften wie auch der Gestalt Theory. Kriz ist approbierter Psychotherapeut und Ehrenmitglied verschiedener therapeutischer Fachgesellschaften. Neben anderen Ehrungen erhielt er 2004 den „Großer Viktor-FranklPreis der Stadt Wien“ für sein Lebenswerk, sowie 2014 den Award der AGHPT („Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie“, in der elf Verbände zusammengefasst sind). 2015 wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft
der GTA – Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen - verliehen.
Adresse: Prof. Dr. Jürgen Kriz, Universität Osnabrück, FB 8, 49069 Osnabrück, Deutschland.
E-mail: [email protected]
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