Gewalt in der Pflege – ein Tabuthema Skandale
Transcrição
Gewalt in der Pflege – ein Tabuthema Skandale
23.11.2011 Gewalt in der Pflege – ein Tabuthema Ralf Zaizek Geschäftsführer & Qualitätsmanager avendi Senioren Service Dessau GmbH 1 Skandale • Wuppertal 1989: eine Krankenschwester am Klinikum wird zu 11 Jahre Haft verurteilt nachdem sie wahrscheinlich 17 Patienten getötet hat • Gütersloh 1993: ein Krankenpfleger tötet 10 Patienten durch Luftinjektionen – 15 Jahre Haft • Bonn 2005: eine Pflegeassistentin wegen Tötung von 9 Heimbewohnerinnen zu lebenslanger Haft verurteilt 2 1 23.11.2011 …auch Skandale • Hamburg 1996: 4 Pflegerinnen und Pfleger haben Heimbewohnern Kot ins Gesicht geschmiert, die Schamhaare angezündet – Haftstrafen von 8 Monaten bis 3,5 Jahren • Hessen1998: ein Pfleger fügt einer Bewohnerin Verletzungen und Schmerzen durch bewusst unsachgemäßes Schneiden der Fingernägel zu Geldstrafe 3 Aggression als Auslöser von Gewalt Aggressives Verhalten ist • jegliche Form verbalen, nonverbalen oder körperlichen Verhaltens, welches für den Patienten selbst, andere Personen oder deren Eigentum eine Bedrohung darstellen • oder körperliches Verhalten, wodurch der Patient selbst, andere Personen oder deren Eigentum zu Schaden kommen nach Rolf D. Hirsch 4 2 23.11.2011 Oder… Ist Verhalten mit der Absicht, Anderen zu schaden. 5 Zahlen… Im Rahmen einer Untersuchung von Hirsch und Kranzhoff (1996), die in 29 gerontopsychiatrischen Abteilungen (insges. 2374 Patienten) durchgeführt wurde (24-Stunden-Erhebung), wurde in • 25% der Fälle wenigstens eine bewegungseinschränkende Maßnahme (Fixierung) durchgeführt. • fixiert wurde hauptsächlich „vorsorglich“ wegen Sturzgefahr (48,2%), • wegen Schwindel/Gangunsicherheit u.ä. (27,8%) • wegen quälender/rastloser Unruhe/Agitiertheit (15,7%). 6 3 23.11.2011 Zahlen… • Grond1993: mehr als die Hälfte aller Bewohner/innen der untersuchten Heime erhielten Medikamente ohne Diagnose • Wilhelm-Gössling 1998: Heimbewohner/-innen erhalten signifikant häufiger Psychopharmaka – je mehr Heimbewohner desto mehr Verordnungen • MDK-Prüfungen (1996-1999): erhebliche Mängel bei Dokumentationen, gravierende Mängel bei Ernährung/Flüssigkeit, Inkontinenzversorgung, Dekubitusprophylaxe/-versorgung und Umgang mit Medikamenten 7 Gewalt • Wenn das Ergebnis der Handlung oder deren Wirkung grundlegende Rechte dieser Person verletzt und/ oder einem anerkannten Bedarf der betroffenen Person widerspricht: nach Rolf D. Hirsch • Artikel 1 GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar • Ergo: Achte die Rechte und die Bedürfnisse deiner Mitmenschen! 8 4 23.11.2011 Gewalt • Dieck (1987): „Misshandlung“ als aktives Tun (körperliche und psychische, finanzielle Ausbeutung und Einschränkung des freien Willen) und „Vernachlässigung“ (passiv) zwischen Personen • Galtung (1975-1993): Einbeziehung struktureller und kultureller Ebenen als Einschränkung grundlegender menschlicher Bedürfnisse (Überleben, Wohlbefinden, Entwicklungsmöglichkeiten, Identität und Freiheit) 9 10 5 23.11.2011 „Modell des Gewaltdreiecks“ • Gewalt als vermeidbare Beeinträchtigung menschlicher Grundbedürfnisse - ohne Skandalisierungseffekt • die Bedeutung von mehrdimensionalen, veränderbaren Entstehungsbedingungen – Handlungsaufforderung • Vermeidung reiner „Täter-Opfer“Beziehungsproblematik 11 Ursachen 12 6 23.11.2011 Ursachen für Gewalt • individuelle Auswirkung von Belastung, Überlastung und Überforderung: • fehlende Kompetenzen im Umgang mit Stress und Konflikten • Belastung aus persönlichen Problemen (familiäre, finanzielle, soziale, gesundheitliche Probleme) • gesellschaftliche Belastungen: Personalmangel, Zeitknappheit (MDKForderungen), ungerechte Bezahlung • schlechtes Betriebsklima 13 Ursachen für Gewalt • Mangelndes Verständnis für die Situation des Kranken • Minderwertigkeitsgefühle vs. Geltungsdrang • Überlastung (Burn out), Gedankenlosigkeit, Unachtsamkeit, Ignoranz • Ekel • Milieu der stillschweigenden Übereinkunft (Gewaltanwendung manchmal unumgänglich, Bewohner müssen kontrolliert und erzogen werden – Furcht vor „Nestbeschmutzern“ und „Verrätern“) 14 7 23.11.2011 Ursachen für Gewalt • Pflegender Angehöriger + Professionelle Pflegekraft = konflikthafte Beziehung • Ähnlichkeit zu einer unsympathischen Person • Hadern mit dem Schicksal / unerfüllte Wünsche • Unzureichende Kenntnisse vom Krankheitsbild 15 Ursachen für Gewalt • Körperliche Angriffe des zu Pflegenden • Beschuldigungen, Misstrauen, Verhaltensstörungen des Kranken • Konflikte wurden schon immer gewalttätig „gelöst“... 16 8 23.11.2011 17 18 9 23.11.2011 Auslöser von Aggression und Gewalt bei Pflegenden • • • • Häufung verschiedener Belastungsfaktoren Überschreiten der Belastungsgrenze vorübergehender Wegfall der Hemmschwelle Plötzliche Enttäuschung 19 20 10 23.11.2011 21 1.Kommunikation • unaufgefordertes Duzen • Rügen wie z.B. "Haben Sie sich schon wieder vollgemacht?" • abfällige Äußerungen wie z.B. "Frau X sabbert." • Unterhaltung m. Dritten über den Kopf des älteren Menschen hinweg • Verniedlichung des Namens, respektlose Anrede wie z.B. "Oma" 22 11 23.11.2011 2.Sich bewegen • Liegenlassen im Bett • Fixierung (körperlich, medikamentös) • Einschränkung des Bewegungsspielraums, z.B. Rollstuhl zu eng an den Tisch schieben • unangemessene Unterstützung der Bewegungen (zu fest, zu grob, zu unachtsam) • Verweigerung bzw. Nichtanpassung von Gehhilfen 23 3.Vitale Funktionen des Lebens aufrechterhalten • • • • "Durchzug machen" Lüften, wenn jemand nackt ist schlechte Gerüche belassen den Bedürfnissen nicht angepasste Kleidung anziehen (zu warm oder zu kalt) • Rationalisierung von geäußerten Bedürfnissen: z.B. "Sie brauchen keine Decke, es ist doch nicht kalt draußen“ 24 12 23.11.2011 4. Sich pflegen • Zwang zur Körperpflege, Vollbad, Dusche oder Haarwäsche • Haare schneiden gegen den Willen • ungewolltes Fingernägel schneiden • ungewolltes Rasieren bzw. Belassen eines Bartes • ungewollte Anwendung von Babypflegemitteln 25 5. Essen und trinken • Einflößen von Nahrung • Verwendung des Wortes "Füttern" • durch starre Essenszeiten in festen Tagesablauf zwingen • Verabreichung des Essens auf dem Nachtstuhl • Vorenthaltung der Zahnprothese 26 13 23.11.2011 6. Ausscheidung • • • • • • Sitzen lassen auf der Toilette "drin liegenlassen" Anbringen eines "Dauerkatheters" Einrichtung von "Abführtagen" Waschen auf dem Toilettenstuhl zu wenig Toilettengänge 27 7. Sich kleiden • ungewolltes Anziehen von Kleidung • auch tagsüber nur Nachthemden bzw. Nachtkleider anziehen • "Strampelsack" • generell Kleider von Verstorbenen als Stationskleider anbieten • Verweigern von Miederwäsche 28 14 23.11.2011 8.Ruhen und schlafen • nächtliche Waschungen • Verabreichung von Schlafmitteln (ohne Information oder ungewollt) • Anstrahlen der Bewohner mit Taschenlampen während der Nachtwachen • Verordnung von Zwangsruhe oder Mittagsschlaf • Heimbettwäsche statt eigener Bettwäsche 29 9. Sich beschäftigen • Kindergartenspiele • Missachtung der persönlichen Sphäre (z.B. nicht anklopfen) • Zwang zum Feiern bzw. Fröhlichsein • private Möbel ungefragt zum Sperrmüll geben • Verkümmern lassen von geistigen Aktivitäten 30 15 23.11.2011 10. Sich als Mann oder Frau fühlen oder verhalten • Verhindern von zwischengeschlechtlichen Beziehungen • Frauen ungewollt in "Jogginghosen stecken" • Waschungen im Intimbereich ohne Sichtschutz oder bei offener Tür • sexuelle Äußerungen älterer Menschen negativ kommentieren oder belächeln • keine Beachtung des jeweiligen Geschlechts bei der Zuteilung des beim Waschen behilflichen Pflegepersonals 31 11. Für eine sichere Umgebung sorgen • Fixierung bzw. Bettgitter • unterstützende Mittel vorenthalten (z.B. Brille in den Nachtschrank legen oder Gehhilfen wegstellen) • defekte Steckdosen nicht reparieren • Entwenden der Klingel • keine Handläufe anbringen 32 16 23.11.2011 12. Soziale Bereiche des Lebens sichern • • • • • Jemand sich selbst überlassen Beaufsichtigung ("ins Zimmer setzen") Mehrbettsäle einrichten Einrichten von festen Besuchszeiten Keine Außenkontakte ermöglichen oder fördern 33 13. Umgang mit existentiellen Erfahrungen des Lebens • Missachtung oder Nichtbeachtung der Religiösität • Vermitteln von Hoffnungslosigkeit • Verbreiten von plumpem Optimismus, z.B. in Form von Floskeln wie: „Na, das wird schon wieder!" • Abblocken von Gesprächen • Versuch, Gespräche über das Sterben und den Tod zu unterdrücken. 34 17 23.11.2011 35 Präventionsstrategien nach R.D. Hirsch 36 18 23.11.2011 Präventionsstrategien nach R.D. Hirsch 37 Präventionsstrategien nach R.D. Hirsch Individuelle Person Arbeitshygiene, Arbeitsschutz, Fort- u. Weiterbildungen Gesellschaft „Dritter“ Gesetze Normen Gewohnheiten Werte Räumliche Gegebenheiten, Architektur Strukturelle Arbeitsbedingungen Mitarbeiter Gruppe 38 19 23.11.2011 Gewaltfreie Kommunikation nach M. B.Rosenberg Beobachtung Bedürfnisse Gefühle Bitten 39 a. Es wird die Beobachtung einer konkreten Handlung oder Unterlassung beschrieben, möglichst ohne sie mit einer Bewertung oder Interpretation zu vermischen. b. Es wird das Gefühl ausgedrückt, das mit der Beobachtung in Verbindung steht. c. Das hinter dem Gefühl liegende Bedürfnis wird formuliert. Dies ist häufig nicht auf den ersten Blick erkennbar. Besonders bei negativen Gefühlen ist es für den empathischen Kontakt zum Kommunikationspartner notwendig, die dahinter liegenden eigenen Bedürfnisse zu verstehen. d. Es wird die Bitte um eine konkrete Handlung geäußert. Es wird zwischen Bitten und Wünschen unterschieden: Bitten beziehen sich auf Handlungen im Jetzt, Wünsche dagegen auf Ereignisse in der Zukunft. „Wenn ich a sehe, dann fühle ich b, weil ich c brauche. Deshalb möchte ich jetzt gerne d.“ 40 20 23.11.2011 der Kommunikationsfluss wird verbessert GfK kann sowohl bei der Alltagskommunikation als auch bei der friedlichen Konfliktlösung im persönlichen, beruflichen oder politischen Bereich hilfreich sein. keine Technik, die andere Menschen zu einem bestimmten Handeln bewegen soll, Grundhaltung, bei der eine wertschätzende Beziehung im Vordergrund steht. 41 Grundsätze der Pflege durch Beziehung ohne Gewalt • Gewalthandlungen dürfen nicht vertuscht werden • Transparenz • Es gibt keine „richtige“ oder „falsche“ Lösung • Enthaltungen jeder direkten oder indirekten Beschuldigung, den Pflegebedürftigen für sein gestörtes Verhalten verantwortlich zu machen • Klärung der „Schuldfrage“ führt selten weiter 42 21 23.11.2011 Grundsätze der Pflege durch Beziehung ohne Gewalt • Grundsätzlicher Verzicht auf körperliche Gewalt, Demütigung und Kränkung • Verzicht auf Recht haben • Angebote zur Versöhnung machen • Notwendig ist, dass alle an der Lösung beteiligten ihr „Gesicht wahren“ können • Erkennen, dass ein Pflegebedürftiger oft aus Angst, Hilf- und Sprachlosigkeit gewalttätig wird 43 Grundsätze der Pflege durch Beziehung ohne Gewalt • Notwendige Autorität gegenüber Verhaltensstörungen soll ohne Gewalt durchgesetzt werden • Ohne Respekt, Liebe und Wahrung der Würde ist keine Beziehung tragfähig • Der Umgang von Vorgesetzten zu Mitarbeitern und Bewohnern soll respektvoll und vorbildlich sein 44 22 23.11.2011 Nach Hirsch 45 Forderungen des 6. „World Elder Abuse Awareness Day“ für Deutschland sind: • Keine Toleranz von Gewalt gegen alte Menschen in keiner Situation und zu keiner Zeit! • Schaffung von Krisen- und Notrufberatungsstellen für alte Menschen in jeder Region! • Deeskalationstraining und Wissensvermittlung über die Gewalt gegen alte Menschen in die Aus-, Fortund Weiterbildung von Pflegekräften und Ärzten einbeziehen! • Keine Fixierungen in Pflegeheimen und Kliniken! 46 23 23.11.2011 Forderungen des 6. „World Elder Abuse Awareness Day“ für Deutschland sind: • Rechtliche Betreuungen nach dem Erfordernisprinzip einrichten unter Achtung des Willens des Betreuten! • Förderung von Projekten zur Prävention und Intervention! • Verbreitung und Einhaltung der „Charta der Rechte für hilfe- und pflegebedürftige Menschen“ • Schaffung einer Lehr-, Forschungs- und Dokumentationseinrichtung zur Problematik von Gewalt gegen alte Menschen für Deutschland 47 Man ist da zuhause, wo man verstanden wird! nach Christian Morgenstern 48 24 23.11.2011 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Skript-Download unter www.avendi-senioren.de 49 Quellen: • • • • • • • Rolf D. Hirsch; Gewalt gegen alte Menschen – Ein Überblick zur Situation in Deutschland (http://www.hsm-bonn.de/download/07_dfk.pdf) Rolf D. Hirsch; Präventionsstrategien von Aggression und Gewalt in der Pflege, 2009 (http://www.hsm-bonn.de/download/23_aggr_08.pdf) Thomas Görgen (Institut für Krimonologie an der Justus–Liebig-Universität Gießen); Gewalt gegen ältere Menschen im stationären Bereich (http://www.bibb.de/redaktion/altenpflege_saarland/literatur/pdfs/gewalt_03.pdf) wikipedia.org/wiki/Gewaltfreie_Kommunikation gewaltfrei-kommunizieren.de/grundl.htm Prävention von Aggression und Gewalt in der Pflege- Grundlagen und Praxis des Aggressionsmanagements für Psychiatrie und Gerontopsychiatrie von Schirmer, Mayer, Vaclav,Papenberg, Martin, Gaschler, Özköylü- 2. Auflage pflege-abc.info/pflege-abc/artikel/gewalt_in_der_pflege.html 50 25