Letzte Nacht rettete ein DJ meinen Film

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Letzte Nacht rettete ein DJ meinen Film
Date: 18.04.2016
Tages-Anzeiger
8021 Zürich
044/ 248 44 11
www.tagesanzeiger.ch
Genre de média: Médias imprimés
Type de média: Presse journ./hebd.
Tirage: 162'894
Parution: 6x/semaine
N° de thème: 832.044
N° d'abonnement: 1092279
Page: 30
Surface: 50'579 mm²
Letzte Nacht rettete ein DJ meinen Film
Wo geht es hier zur Technoparty? Szene aus «Raving Iran». Foto: PD
Pascal Blum
Nyon
Echt oder gespielt? Am
in Nyon
Visions du
gab es viel Bewunderung
für zwei neue Schweizer
Dokumentarfilme.
Aber dann tuts ein Film im Wettbewerb doch wieder und lässt das Gerede
rasch vergessen. Zum Beispiel jener mit
der Frau und der Kartonschachtel: Es ist
die Tochter der 1961 geborenen Zürcher
Regisseurin Dominique Margot, sie
kommt nur kurz vor und will eigentlich
Vielleicht ist ja doch der Dokumentar- gar nicht mitmachen, denn «Looking
film schuld, dass es so viele Geiselneh- Like My Mother» ist ein Porträt der demer gibt. Irgendwoher müssen sie die pressiven Mutter der Regisseurin. Diese
Ideen für ihre Entführungsvideos ja Margrit heiratete einen netten Mann aus
haben. Und woher, wenn nicht vom Tal- Lausanne, bekam ein Kind, die Domiking Head? Man kennt das: Mensch auf nique, zog ins Reihenhäuschen, und
Stuhl, Lampe ins Gesicht, dahinter eine eines Tages, als die Käsequiche etwas zu
Wand aus schwarzem Klebeband, und lang im Ofen lag, warf sie sie in hohem
dann bitte vortragen, was mit den Bogen in den Garten und versteckte sich
Kidnappern abgemacht wurde. «Wird da im Zimmer. Wochenlang blieb sie dort,
noch wie bei Arte unten etwas einge- bildete sich ein, sie habe Kopfläuse. Erst
blendet?», fragt eine dieser Entführten, viel später, nach dem Tod des Vaters,
da hat sie eine Kartonschachtel auf dem kam sie in die Klinik. Die Diagnose: maKopf. Nein, wird es nicht. Wir sind hier nisch-depressiv mit Wahnvorstellungen.
am Visions du
in Nyon, dem FestiWie eine «Gespensterkönigin» sei die
val, das sehr darauf hält, dass sich die Mutter durch den Flur gekrochen, heisst
Grenzen zwischen Bericht und Fiktion es im Film. Aber was heisst «heisst»: Es
auflösen. Das wird einem hier ständig
und in zunehmend vergeistigter Art eingetrichtert. Es vergeht einem dabei die
Lust an der Grenzensprengerei.
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wird vorgespielt, in surrealen Kulissen
und Kellergeschossen. Auf den Wänden
der Nachbauten leuchten Visuals, aus
einem Gemälde kriecht ein Albtraum-
ARGUS der Presse AG
Rüdigerstrasse 15, case postale, 8027 Zurich
Tél. 044 388 82 00, Fax 044 388 82 01
www.argus.ch
Réf. Argus: 61285267
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tier, auf Familienfotos flattern Haare im Regina Meures führte zuerst in den Mu- Heute sind die zwei jungen Männer noch
Wind. So wogte das in diesem «tableau sik-Underground von Teheran: Erstaun- immer im Land, in einem Bündner Asyltr 'es vivant». Es war nicht nur sehr liche Einblicke in iranisches Strassen- heim «zwischen ein paar Kühen». Der
erfinderisch in der Inszenierung von leben und Privatpartys erhielt man da, Applaus für «Raving Iran» war ebenfalls
schmerzhafter Erinnerung an das Leben gefilmt unter erhöhter Gefahr und mit in «raving», aber als ein Zuschauer nach
mit der kranken Mutter, sondern über- Kleidern versteckten iPhones. Die zwei der Vorführung wissen wollte, was echt
haupt von einem fein durchgestalteten House-DJs Anoosh und Arash zeigen uns und was erfunden sei, wurde er vom
Eigensinn. Bisweilen hatte es gar die ihren absurden Alltag: Veranstalten sie Moderator darauf hingewiesen, dass in
nicht gerade illegale Technopartys in Nyon alles «cinema» sei und also künstpunkige Kraft eines Peter Liechti.
der Wüste, lassen sie sich von der Schal- lerische Sensibilität des Filmemachers.
Die Tradition der Schwermut
terdame im Kulturministerium ausla- Doch man darf sehr wohl fragen, inwieNicht zuletzt als Mentalitätsbild einer chen, wo die Formulare für die Bewilli- fern die Regisseurin hier dem nachgeBiederschweiz, in der man schon lange gung von Konzerten scheinbar von Tag holfen hat, was sie einfängt. Wen sie aleine kollektive Veranlagung für Depres- zu Tag ändern und man ein Albumcover les aktiviert hat, um eine Geschichte zu
sionen vermutete. Margrit, die Berner zwingend auf Persisch anschreiben
Oberländerin, stamme von einer Linie muss. Dass sie ihr Duo Blade & Beard
von Schwermütigen ab, hörte man und nennen, hilft auch nicht gerade.
Die wenigen Freiräume, die es noch
dachte gleich an die Jähzornigen aus
erzählen, die ein vorerst gutes Ende
nimmt. Wo sie forcierte beim Echtheitsgefühl und wann sie die Wirklichkeit ein
wenig anschob: Es wirkt, als ob aus der
Fredi Murers «Höhenfeuer». Und konnte gibt, sind Teil eines fluiden Aushandelns Beobachtung ein humanitäres Projekt
damit die seelischen Schattenzonen innerhalb einer Subkultur und bedroht wird, und die Flucht der DJs vor allem
einer Familie von denen eines Landes von ständigen Polizeikontrollen. Und der filmischen Spannung nützt. Daraus
gar nicht mehr richtig trennen. So kön- wie da Anoosh und Arash ihre Cover ergibt sich ein Verantwortungsproblem,
nen die Grenzen auch verschwimmen, basteln, wirkt es wie eine Reise in die
und «Looking Like My Mother» erzählte alte Fanzine- und DIY-Zeit. Nur: Lustig
ist es nicht. Also träumt das Duo vom
leicht davon trotz schwerem Stoff.
Man kann es nämlich auch übertrei- Auswandern. Da kommt es gerade recht,
ben mit dem Vermischen von Wirkli- dass die Lethargy in Zürich, der die zwei
chem und Gespieltem. Dann marodiert Musiker ihr Album geschickt haben, sie
man im Reich der erzählerischen Frei- für ein DJ-Set einlädt. In der Folge reisen
heit, wo man alles darf, weil man nichts sie für fünf Tage in die Schweiz.
mehr kenntlich machen muss. «Raving
Iran» der ZHDK-Filmstudentin Susanne Fragen verboten
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aus dem man sich auch mit Verweis auf
die Kunst nicht herausreden kann: Was
im Versteckten gefilmt wurde, machte
seine Eingriffe nicht kenntlich.
Man wurde misstrauisch und kam
sich am Schluss verschaukelt vor. Und
hätte gern wieder eine Grenze gezogen
durch das verschwimmende Gebiet des
Alle sdürfens .
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