Amyotrophe Lateralsklerose

Transcrição

Amyotrophe Lateralsklerose
P.b.b. 07Z037411M, Benachrichtigungspostamt 1070 Wien
neurologisch
Fachmagazin für Neurologie
Offizielles Organ
der Österreichischen
Gesellschaft für
Neurologie
AUSGABE 2/10
MedMedia
Verlags Ges.m.b.H.
Schwerpunkt
Amyotrophe Lateralsklerose
Gutachterliche Praxis
Für die Praxis
Neurologie aktuell
Änderungen bei den Richtlinien
zu Epilepsie und Führerschein
Sonographie in der
neurologischen Praxis
Verbesserte Identifikation
und Intervention bei
Post-Stroke-Spastizität
Editorial
Ich darf die Gelegenheit wahrnehmen und
mich an dieser Stelle als Präsident von Ihnen
verabschieden und Ihnen einen kurzen Bericht über die wichtigsten Aktivitäten der
ÖGN in den letzten zwei Jahren geben:
Nachdem unsere Zeitschrift neurologisch
bereits unter meinem Vorgänger Franz Fazekas etabliert wurde, hat sie sich unter der
Leitung von Regina Katzenschlager und
Bruno Mamoli zu einem ausgezeichneten
Fachmedium unserer Gesellschaft entwickelt; mit den „Punkten“ können wir nun
auch eine hervorragende neurologische DFPFortbildung anbieten.
Ein Highlight der letzten zwei Jahre war sicher das konsequente Bemühen, den Weltkongress für Neurologie 2013 nach Wien zu
holen. Nachdem wir uns im August 2008
beim EFNS-Kongress in Madrid gegen Helsinki und Valencia durchgesetzt haben, kam
die endgültige Bestätigung in Bangkok beim
Weltkongress im Oktober 2009. Hier sei be-
sonders Wolfgang Grisold und Tanja Weinhart für ihren unermüdlichen Einsatz gedankt!
Im Juli 2009 konnte die gemeinsame Geschäftsstelle „Neurologie Österreich“ etabliert werden; nunmehr werden ÖGN, ÖAG,
ÖPG, ÖGSF, ÖGKNP, ÖKSG und die Österreichische Liga gegen Epilepsie administrativ
unter einem Dach von einem gemeinsamen
Sekretariat betreut, was natürlich für alle Gesellschaften enorme organisatorische Vorteile und Synergien bringt.
Erwähnen möchte ich auch noch unsere intensiven Fortbildungsaktivitäten, Kongresse,
Curricula und Akademien sowie die standespolitischen Aktivitäten wie die Treffen mit
dem Bundesminister, Ärztekammerpräsidenten und -funktionärInnen, dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger, VertreterInnen der GÖG sowie den Vorständen der
neurologischen Fachgesellschaften der Nachbarländer. Auch die Öffentlichkeitsarbeit
schlug sich mit zahlreichen Pressekonferenzen und -aussendungen gut zu Buche; die
Pressereaktionen waren mannigfaltig und
durchwegs positiv; in diesem Zusammenhang sei auch der neu geschaffene Journalistenpreis der ÖGN erwähnt. Das Mitgliederservice wurde unter anderem durch neue
Stipendien, einer Neugestaltung der Homepage sowie weitere intensive Aktivitäten der
Ausbildungskommission verbessert.
Leider gibt es nicht nur Positives zu berichten: Mein Ziel, die niedergelassenen KollegInnen vermehrt zu aktivieren, habe ich nicht
erreicht. Der Webspace für die Fachgruppe
wurde kaum genutzt, das Forum wurde
überhaupt nicht angenommen, auch die Aktivitäten zur Schnittstelle extra-intra-mural
wurde von den niedergelassenen KollegInnen weitgehend ignoriert. Die (durchaus gut
Dr. Michael Ackerl
Niedergelassener Facharzt für Neurologie
und Psychiatrie in Oberpullendorf
Präsident der ÖGN
Chefredaktion
neurologisch
FOTO: MEDCOMMUNICATIONS
Das Schwerpunktthema der vorliegenden
Ausgabe erscheint mit besonders wichtig –
die ALS ist zwar eine Gott sei Dank nicht
sehr häufige neurologische Erkrankung, jedoch bedeutet die Diagnose für Betroffene
nach wie vor ein Todesurteil und bedarf besonderer Kenntnisse der betreuenden ÄrztInnen in PatientInnenführung, medizinischer
und sozialer Begleitung sowie palliativer Betreuung. Umso begrüßenswerter ist es, dass
sich die Subthemen nicht nur auf medizinische Fakten sowie die (ohnehin leider sehr
begrenzten) therapeutischen Strategien beschränken, sondern auch die (oft noch wichtigeren) begleitenden Maßnahmen wie Palliativbetreuung von Anfang an, Aufklärungsgespräch, supportive Maßnahmen und
Angehörigenbetreuung intensiv behandelt
werden.
FOTO: MEDIENDIENST
Sehr geehrte Frau Kollegin,
sehr geehrter Herr Kollege!
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager
SMZ Ost, Wien
Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli
Generalsekretär der ÖGN
3
Editorial
Wollen Sie mit uns
in Kontakt treten?
Leserbriefe erwünscht:
[email protected] oder
Seidengasse 9/Top1.1,
1070 Wien
besuchten) ÖGN-Kongresse in Villach und
Linz wurden von den Niedergelassenen trotz
bewusst praxisrelevanter Themen äußerst
sparsam besucht. Ich würde mir wünschen,
dass die KollegInnen doch etwas über den
Tellerrand der eigenen Praxis schauen würden, um zu erkennen, dass ein Miteinander
auch für die eigene tägliche Arbeit durchaus
nützlich sein kann – doch vielleicht ist das
ein Zukunftsszenario für die nächsten zehn
Jahre unserer Gesellschaft. Dennoch erwähnt werden muss natürlich die traditionell
gute Zusammenarbeit mit der Bundes- und
den Landesfachgruppen, wobei ich mich bei
Franz Memelauer und Christian Bsteh besonders bedanken möchte!
Mein Dank gilt auch dem gesamten Vorstand
und dem Generalsekretär, den Beiräten und
allen für unsere Gesellschaft tätigen KollegInnen sowie dem Sekretariat. Die gemeinsame Arbeit der letzten zwei Jahre hat mir
enormen Spaß gemacht.
Ich bin sicher, dass unsere Gesellschaft unter
dem neuen Präsidenten Eduard Auff weiter
florieren und innovative Wege gehen wird
und wünsche ihm dazu alles Gute!
Mit besten Grüßen und auf Wiedersehen.
Ihr
Dr. Michael Ackerl
Sehr geehrte Leserinnen und Leser!
Der vorliegenden Ausgabe von neurologisch liegen die aktuellen
neurologischen „die PUNKTE“ bei. Beide DFP-Beiträge behandeln
Themen, die in Ihrer täglichen Arbeit am/an der Patienten/in besonders häufig auftreten.
Univ.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager widmet sich praxisgerecht aufbereitet dem M. Parkinson. Bedingt durch die demographische Entwicklung und die ständig steigende Lebenserwartung nimmt die
Inzidenz und Prävalenz dieser Erkrankung deutlich zu und wird zu
einer beträchtlichen Herausforderung, nicht nur für den/die Behandler/in, sondern auch für das gesamte Gesundheits- und Sozialsystem. Die Übersichtsarbeit zeigt neben der die Wichtigkeit einer
exakten Diagnostik, die Vielfalt der weit über die Motorik hinausgehenden Symptomatik, vor allem auch die gesamte Breite der
bewährten und neuen Therapiemöglichkeiten auf.
Neuroborreliose und Frühsommermeningoenzephalitis (FSME) sind
Inhalt des DFP-Beitrags von Univ.-Prof. Dr. Erich Schmutzhard.
Besonders in unseren Breiten sind von Zecken übertragbare Erkrankungen eine große diagnostische und therapeutische Herausforderung. Der Beitrag bietet einen umfassenden und gut strukturierten
Überblick über beide Erkrankungen, mit dem zusätzlichen Aspekt,
dass ein rationaler Zugang zur serologischen Diagnostik der Borreliose herausgearbeitet wird.
4
Sollte Ihrer neurologischAusgabe keine aktuelle
Ausgabe von „die PUNKTE“
beiliegen, besteht die
Möglichkeit, diese unter
[email protected]
anzufordern.
Diese Möglichkeit besteht ebenso für bereits erschienene Ausgaben:
die PUNKTE NEUROLOGIE 1/09
• Demenzen: Diagnostik und Therapie
die PUNKTE NEUROLOGIE 1/10
• Diagnose und Therapie der Epilepsie
• Karpaltunnelsyndrom und andere Engpasssyndrome des Nervus medianus
Wissenschaftlicher
Beirat
Bewegungsstörungen
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Wien
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager, Wien
Univ.-Prof. Dr. Werner Poewe, Innsbruck
Epilepsie
Univ.-Prof. DI Dr. Christoph Baumgartner, Wien
OA Dr. Michael Feichtinger, Graz
Prim. Univ.-Prof. Dr. Eugen Trinka, Salzburg
Schlafstörungen
Univ.-Prof. Dr. Birgit Högl, Innsbruck
Univ.-Prof. DDr. Josef Zeitlhofer, Wien
Neurorehabilitation
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Wien
Prim. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Binder, Wien
Univ.-Prof. Dr. Leopold Saltuari, Hochzirl
Schlaganfall
Prim. Univ.-Prof. Dr. Franz Aichner, Linz
Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Brainin, Tulln
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wilfried Lang, Wien
Leitmotiv der
aktuellen Ausgabe neurologisch
„Amyotrophe Lateralsklerose, eine gesunde Seele in einem kranken Körper.
Die Seele interpretiert als eine Einheit – das Zentrum eines Menschen, der die
Wirklichkeit von sich selbst einnimmt, obwohl der Körper sich weigert.“
Der 1984 in Peru geborene spanische Künstler Luis Mario Casanova Sorolla lebt seit einigen Jahren in Wien und studiert an der Akademie der Bildenden Künste bei Gunther
Damisch. Neben Wandgemälden in verschiedenen Wiener Lokalen wie z.B. dem Latin
Club „El Dorado“ entwickelte Casanova Sorolla nach Experimenten mit verschiedenen
Rotwein-Applikationen auf Papier eine eigene Maltechnik.
Mit „Wine on Paper“ hatte er verschiedene Einzelausstellungen in Südamerika und im Museumsquartier in
Wien und nahm auch 2009 im Rahmen einer Gruppenausstellung an der Biennale in Brüssel teil.
Schmerz
Dr. Gerhard Franz, Reutte
Prim. Priv.-Doz. Dr. Christian Lampl, Linz
Prim. Priv.-Doz. Dr. Nenad Mitrovic, Vöcklabruck
Neuromuskuläre Erkrankungen
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold, Wien
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Löscher, Innsbruck
Univ.-Prof. Dr. Stefan Quasthoff, Graz
Multiple Sklerose
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Innsbruck
Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas, Graz
Univ.-Prof. Dr. Karl Vass, Wien
Demenz
Univ.-Prof. Dr. Thomas Benke, Innsbruck
Univ.-Prof. Dr. Peter Dal-Bianco, Wien
Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt, Graz
Autonome Störungen
Dr. Heinz Lahrmann, Wien
Dr. Walter Struhal, Linz
Univ.-Prof. Dr. Gregor Wenning, Innsbruck
Neurogeriatrie
Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder, Salzburg
Prim. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Ransmayr, Linz
Prim. Univ.-Doz. Dr. Josef Spatt, Wien
Neurochirurgie
Univ.-Prof. Dr. Engelbert Knosp, Wien
Univ.-Doz. Dr. Manfred Mühlbauer, Wien
Luis Casanova Sorolla
Neuroimaging
Univ.-Prof. MSc DDr. Susanne Asenbaum-Nan, Wien
Priv.-Doz. Dr. Christian Enzinger, Graz
Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Kapeller, Villach
FOTO: MICHAEL DÜRR
Impressum Herausgeber: Österreichische Gesellschaft für Neurologie, Dr. Michael Ackerl, Präsident der ÖGN. Chefredaktion: Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli, Priv.Doz. Dr. Regina Katzenschlager. Medieninhaber und Verlag: MEDMEDIA Verlag und Mediaservice Ges.m.b.H, Seidengasse 9/Top 1.1, 1070 Wien, Tel.: 01/407 31 11-0, E-Mail:
[email protected]. Verlagsleitung: Mag. Gabriele Jerlich. Redaktion: Maria Uhl. Lektorat: [email protected]. Layout/DTP: Martin Grill. Projektbetreuung: Natascha Fial.
Coverbild: Luis Mario Casanova Sorolla. Print: „agensketterl“ Druckerei GmbH, Mauerbach. Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift ist zum Einzelpreis von 9,50 Euro plus MwSt. zu beziehen. Druckauflage: 8.223 Stück im 2. Halbjahr 2009, geprüft von der Österreichischen Auflagenkontrolle. Grundsätze und Ziele von neurologisch: Kontinuierliche medizinische
Fortbildung für Neurologen, Psychiater und Allgemeinmediziner. Allgemeine Hinweise: Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die persönliche und/oder wissenschaftliche
Meinung des jeweiligen Autors wieder und fallen somit in den persönlichen Verantwortungsbereich des Verfassers. Angaben über Dosierungen, Applikationsformen und Indikationen von pharmazeutischen Spezialitäten müssen vom jeweiligen Anwender auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Trotz sorgfältiger Prüfung
übernehmen Medieninhaber und Herausgeber keinerlei Haftung für drucktechnische und inhaltliche Fehler. Ausgewählte Artikel dieser Ausgabe finden Sie auch
unter www.medmedia.at zum Download.
5
Inhalt 2/2010
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
8
Neuigkeiten aus der ÖGN
FÜR DIE PRAXIS
48
Sonographie in der neurologischen Praxis
C. Bsteh, Salzburg
88
Veranstaltungskalender
SCHWERPUNKT
Amyotrophe Lateralsklerose
12
13
FÜR DIE GUTACHTERLICHE PRAXIS
Vorwort
Änderungen bei den Richtlinien zu
Epilepsie und Führerschein
H. Lahrmann, Wien
W. Soukop, Wien
Neurobiology of amyotrophic
lateral sclerosis – an update
52
NEUROLOGIE AKTUELL
A. Laird, W. Robberecht, Leuven
15
ALS – Diagnose und Differenzialdiagnose
54
19
Therapiestudien – Bedeutung
bei der amyotrophen Lateralsklerose
A. C. Ludolph, J. Brettschneider, Ulm
22
26
32
Die professionell angeleitete
ALS-Angehörigengruppe
P. Holzmann, Wien
NEUROLOGIE IN ÖSTERREICH
36
Rezidivierende Trigeminusneuralgie:
Langzeitergebnisse nach wiederholter
Gamma-Knife-Radiochirurgie
F. Unger, V. Gellner, Graz
38
Schlafstörungen
B. Högl, B. Frauscher, Innsbruck
60
Schlaganfall
M. Brainin, Krems
61
Schmerz
A. Wuschitz, Wien
64
Neuromuskuläre Erkrankungen
V. Wohlgenannt, W. Grisold, Wien
Supportive Maßnahmen bei ALS
H. Lahrmann, Wien
34
59
Das Aufklärungsgespräch bei ALS
W. Grisold, Wien
Epilepsie
M. Feichtinger, Graz
Palliative Betreuung von Anfang an
H. Lahrmann, W. Grisold, Wien
28
55
Atmung – Diagnostik und Therapie
M. Wild, Wien
Bewegungsstörungen
P. Schwingenschuh, Graz
W. Löscher, Innsbruck; S. Quasthoff, Graz
66
Multiple Sklerose
F. Deisenhammer, Innsbruck
70
Autonome Störungen
D. Kuzdas, N. Stefanova, G. K. Wenning, Innsbruck
75
Neurogeriatrie
B. Iglseder, Salzburg
80
Neuroimaging
P. Kapeller, Villach
82
Neurochirurgie
S. Wolfsberger, Wien
Postprandialer Insult und Epilepsie als
Manifestationen atrio-ösophagealer Fisteln
J. Finsterer, Wien
84
Pharma-News
KONGRESS-HIGHLIGHTS
40
Drei-Länder-Symposium Multiple Sklerose,
Dresden 2010
F. Fazekas, Graz; U. Baumhackl, Wien
7
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Derzeitige Entwicklungen im Bereich von Spezialisierungen
und Diplomen der Österreichischen Ärztekammer
Spezialisierung
in „Palliativmedizin“
Die Österreichische Palliativgesellschaft hat
am 16. 7. 2009 den Antrag um Spezialisierung in „Palliativmedizin“ an die Österreichische Ärztekammer gestellt. Die ÖGN hat für
die NeurologInnen den Zugang gefordert. Der
Bildungsausschuss der Österreichischen Ärztekammer hat nunmehr jedoch beschlossen,
keine Spezialisierungen in „Palliativmedizin“
einzuführen, sondern das bereits bestehende
Diplom für Palliativmedizin aufzuwerten und
zu erweitern. Nähere Details sind noch in Ausarbeitung. Bisher (26. 4. 2010) haben in
Österreich 1756 ÄrztInnen das Diplom für Palliativmedizin erhalten, von denen 96 InhaberInnen der Fachrichtungen Neurologie oder
Neurologie & Psychiatrie sind.
Spezialisierung
in „Genetischer Diagnostik“
Die geplante Einführung der Spezialisierung
in „Genetischer Diagnostik“ wurde von der
ÖGN zwar begrüßt, doch wurden einige Einwände vorgebracht:
A) Die Gesamtdauer der Spezialisierung
erscheint mit 2 ½ Jahren (2 Jahre im
fachspezifischen Teilgebiet und 6 Monate
Rotation) zu lang.
B) Im Rahmen der Rotation sollte auch eine
Rotation von nichtklinischen Spezialisierungsstätten im Bereich klinischer
Spezialisierungsstätten erfolgen.
C) Um eine kritische Zahl von KollegInnen
mit Spezialisierung „Genetische Diagnostik“ zu erreichen, müssen die
Übergangsfristen dahingehend gestaltet
werden, dass dem Diplom gleichwertige
Qualifikationen (z.B. nachgewiesener
Unterricht, wissenschaftliche Publikationen) anerkannt werden.
Dessen ungeachtet und da nicht gewährleistet ist, dass unsere Vorschläge in die
Übergangsfristen münden, ist allen interessierten KollegInnen anzuraten, das
Diplom der Österreichischen Ärztekammer zu absolvieren und sich raschestmöglich anzumelden. Es ist davon auszugehen, dass aufgrund der limitierten TeilnehmerInnenzahl nicht alle Interessierten
angenommen werden können.
Termine für die nächsten Kurse:
15. bis 16. Oktober 2010
19. bis 20. November 2010
21. bis 22. Jänner 2011
25. bis 26. Februar 2011
1. bis 2. April 2011
Nähere Info: http://www. arztakademie.at/
genetik-lehrgang
Spezialisierung
in „Schlafmedizin“
Die Österreichische Gesellschaft für Kinderund Jugendheilkunde hat bei der Österreichischen Ärztekammer einen Entwurf für eine
Erratum
zum Bericht „Neue Entwicklungen bei der multiplen Sklerose“,
neurologisch Supplementum 2/2010, Seite 15, Tabelle 2.
Leider ist unserer Redaktion bei der Erklärung der Abkürzung HC ein Fehler unterlaufen:
HC ist die Abkürzung für „gesunde Kontrollen“ und nicht für „hereditäre Katarakte“.
Wir bedauern den Irrtum.
8
Spezialisierung in „Schlafmedizin“ eingebracht. Am 31. 3. 2010 fand in der Österreichischen Ärztekammer eine Sitzung statt, an
der VertreterInnen der Österreichischen
Gesellschaften für Pneumologie, Innere
Medizin, Kinder- und Jugendheilkunde, Hals-,
Nasen- und Ohren-Krankheiten, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Psychiatrie sowie
Neurologie teilnahmen. Die ÖGN war durch
Univ.-Prof. DDr. Josef Zeitlhofer und Univ.Prof. Dr. Bruno Mamoli vertreten.
In dieser Sitzung wurden die Standpunkte der
jeweiligen Gesellschaften dargelegt. Insgesamt zeigt sich, dass die Einführung einer
Spezialisierung in „Schlafmedizin“ weiten
Konsens erhält. Einwände kamen vorwiegend von pulmonologischer Seite, insbesondere dahingehend, dass Fertigkeiten bei der
Anwendung der assistierten Beatmung anderen Fachrichtungen abgesprochen werden.
Für den 2. 6. 2010 ist eine neuerliche Sitzung
einberufen worden, an der jeweils ein Vertreter
der Fachgesellschaften teilnehmen sollen, mit
dem Ziel, ein Curriculum und das Rasterzeugnis
zu erarbeiten. Die ÖGN wird durch Univ.-Prof.
DDr. Josef Zeitlhofer vertreten sein. Außer
Frage gestellt ist der multidisziplinäre Ansatz.
Neubesetzung der Arbeitsgruppe
Young Neurologists Trainees
Als Nachfolge von OA Dr. Walter Struhal und
OÄ Dr. Barbara Hess werden Dr. Bernadette
Calabek (KFJ Wien) und Dr. Agnes Pirker (AKH
Wien) die Leitung der ARGE übernehmen.
Zusammengestellt von:
Priv.-Doz. Dr. Regina Katzenschlager
und Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli
BUCHBESPRECHUNG
Die Neurologie in Wien von 1870 bis 2010
von Gernot Schnaberth mit historischen Abbildungen von Ruth Koblizek.
Das von Univ.-Prof. Dr. Gernot Schnaberth in
Zusammenarbeit mit Dr. Ruth Koblizek verfasste medizinhistorische Buch umfasst die
Chronik der neurologischen Institutionen in
Wien und ihrer Abteilungsvorstände von
1870 bis 2010. Diese Zeitspanne ist geprägt
durch Zeiten der sozialen Auseinandersetzungen und des sozialen Aufbaus Ende des
19. Jahrhunderts, durch Zeiten der Krisen
wie zwei Weltkriege und eine Weltwirtschaftskrise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie einer langen Phase des Friedens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum heutigen Tage.
Das Buch vermittelt in hervorragender Weise
die parallel laufende chronographische Entwicklung der Neurologie während dieser fast
eineinhalb Jahrhunderte und demonstriert
anhand historischer Daten, welche Leistungen die Wiener NeurologInnen in guten wie
in schlechten Zeiten in der Lage waren zu
erbringen. Die Geschichte der Wiener Neurologie zeigt, welche Willenskraft und Neugierde sowie welche Innovationen die Wiener NeurologInnen auf vielfältigen Gebieten
der Neurologie erbracht haben und welchen
Beitrag sie an der Entwicklung der Neurologie in Österreich, aber auch weltweit in der
Lage waren zu setzen. Diese Entwicklung
wird anhand von Biographien der führenden
Wiener NeurologInnen aufgezeigt, und das
Buch erfasst in sehr akkurater Form deren
wissenschaftlichen Schwerpunkte und Leistungen.
Das Lesen dieses Buches macht uns vor
allem bewusst, dass wir selbst nicht nur von
der Gegenwart und von der eigenen Persönlichkeit geprägt sind, sondern dass alle unsere Leistungen auf die Leistungen anderer
aufbauen, deren Werk somit in uns weiterlebt und von uns weitergegeben wird – ein
tröstlicher Aspekt dieses hoch interessanten
und gelungenen Buches, das eine Fortsetzung der medizingeschichtlichen Aktivitäten
von Prof. Dr. Gernot Schnaberth darstellt.
Ebenso höchst positiv zu erwähnen sind die
historischen Abbildungen von Frau Dr. Ruth Koblizek, die dieses Werk ergänzen. Das Buch
kann allen an medizinischer Geschichte Interessierten dringend empfohlen werden. Dies
gilt umso mehr, als bislang ein solches Werk nicht vorlag.
Univ.-Prof. Dr. Bruno Mamoli
Schnaberth Gernot, Koblizek Ruth: Die Neurologie in Wien von 1870 bis 2010.
Verlag: Memo-Verein für Geschichtsforschung. Wien 2010
9
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Jobbörse
Die Klinik Pirawarth sucht zur Verstärkung ihres Teams eine/einen
Fachärztin/Facharzt für Neurologie (und Psychiatrie)
Kenntnisse in Neurophysiologie und Neurosonologie sowie Interesse an neurologischer Rehabilitation wären von Vorteil.
Die Klinik Pirawarth ist eine privat geführte Sonderkrankenanstalt für Neurologie und Orthopädie und liegt ca. 30 km nordöstlich von Wien.
Wir betreuen in einem multiprofessionellen Team 270 neurologische und orthopädische PatientInnen.
Wir bieten eine interessante und verantwortungsbewusste Tätigkeit in einem interdisziplinären Team sowie die Möglichkeit zu interner
und externer Weiterbildung sowie Arbeitsabläufe eigenverantwortlich mitzugestalten.
Haben wir Ihr Interesse geweckt? Dann senden Sie bitte Ihre aussagekräftige Bewerbung an:
Klinik Pirawarth, Kur- und Rehabilitationszentrum für Neurologie und Orthopädie, Ärztliches Sekretariat
Kurhausstraße 100, 2222 Bad Pirawarth, E-Mail: [email protected], www.klinik-pirawarth.at
Für nähere Auskünfte stehen wir gerne unter Tel. (+43)02574/291 60-515 zur Verfügung.
Die Steiermärkische Krankenanstaltengesellschaft m.b.H. Landeskrankenhaus
Bruck an der Mur, Abteilung für Neurologie, sucht ab sofort eine/einen
Fachärztin/Facharzt für Neurologie
Unser Angebot:
Unsere Neurologische Abteilung hat 73 Betten, bestehend aus drei Bettenstationen, einer Stroke Unit, einer neurologischen Intensiveinheit
und einer Neurorehab-Einheit der Stufe B.
Das Einzugsgebiet für unsere Abteilung beträgt ca. 300.000 Einwohner. Der Abteilung stehen alle technischen und strukturellen Ressourcen
zur Verfügung.
Wir würden eine rasche Integration in unser Team sowie ihre/seine persönliche Zufriedenheit und fachliche Weiterentwicklung aktiv
unterstützen.
Das Dienstverhältnis erfolgt zum Land Steiermark entsprechend dessen Anstellungsrichtlinien.
Steiermärkische Krankenanstalten Gesellschaft m.b.H.
LKH Bruck/Mur, Abteilung für Neurologie, z.H. Herrn Prim. Dr. Stjepan Varosanec, Tragösser Straße 1, 8600 Bruck/Mur,
Tel.: 03862/895-2601, Fax: 03862/895-2640, E-Mail: [email protected]
10
FOTO: PERO-DESIGN - FOTOLIA.COM
Wir suchen wir eine/n aufstrebsame/n KollegIn mit Kompetenz und Erfahrung sowie Liebe zum Fach und zu den PatientInnen,
Selbstständigkeit und Teamfähigkeit.
Das Landeskrankenhaus Klagenfurt, Neurologische Abteilung
(Vorstand Prim. Univ.-Prof. Dr. Jörg R. Weber), sucht eine/einen
Fachärztin/Facharzt im Sonderfach Neurologie und eine/einen
Assistenzärztin/Assistenzarzt im Sonderfach Neurologie
Die Stellen sind vorerst befristet auf die Dauer eines Jahres ausgeschrieben.
Voraussetzungen Fachärztin/Facharzt:
• Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates der Europäischen Union
• Qualifikation als „Facharzt/Fachärztin für Neurologie“
• Bei männlichen Bewerbern: absolvierter Präsenzdienst
Voraussetzungen Ausbildungsstelle:
• Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates der Europäischen Union
• Abgeschlossenes Studium der Humanmedizin (Dr. med. univ.)
• Bei männlichen Bewerbern: absolvierter Präsenz-/Zivildienst
Vergütung – Fachärztin/Facharzt:
Entlohnungsschema k, Entlohnungsgruppe k 1 c des Kärntner Landesvertragsbedienstetengesetzes
Vergütung – Assistenzärztin/Assistenzarzt:
Entlohnungsgruppe k 1 b des Kärntner Landesvertragsbedienstetengesetzes, wenn ein Bewerber/eine Bewerberin die Ausbildung zum „Arzt
für Allgemeinmedizin“ beendet hat oder eine mindestens 3-jährige ärztliche Tätigkeit inklusive der für das Sonderfach Neurologie erforderlichen Nebenfächer nach der Ärzteausbildungsordnung vorweisen kann. BewerberInnen, welche das Diplom „Arzt für Allgemeinmedizin“ oder
die dreijährige ärztliche Tätigkeit inkl. der für das Sonderfach Neurologie erforderlichen Nebenfächer nach der Ärzteausbildungsordnung noch
nicht absolviert haben, werden in die Entlohnungsgruppe k 1 a eingestuft.
Wenn Sie sich für eine dieser Stellen interessieren und die Ausschreibungskriterien bis zum Ende der Bewerbungsfrist erfüllen, senden
Sie bitte Ihr Ansuchen mittels Bewerbungsbogen (erhältlich in allen Landeskrankenhäusern sowie als Download unter www.lkh-klu.at) mit
folgenden Unterlagen (Dokumente und Zeugnisse in Kopie):
Lebenslauf; Geburtsurkunde; Staatsbürgerschaftsnachweis; Reifeprüfungszeugnis; Promotionsurkunde; ggf. Diplom „Fachärztin/Facharzt
für Neurologie“ (bei ausländischem Diplom entsprechende EU-Konformitätsbestätigung); ggf. Diplom „Ärztin/Arzt für Allgemeinmdizin“;
bei Bewerbung für die Ausbildungsstelle: Bestätigung der Ärztekammer über die für das Sonderfach Neurologie bereits absolvierten
Nebenfächer; Zeugnisse über die bisherige ärztliche Tätigkeit.
Ihre Stellenbewerbung müsste, damit sie in das Auswahlverfahren miteinbezogen werden kann, bis spätestens 28. Juni 2010
bei der Medizinischen Direktion des Landeskrankenhauses Klagenfurt
A-9026 Klagenfurt, St.-Veiter-Straße 47, Tel.: +43 (0)463/538-31002, Fax: +43 (0)463/538-31009
E-Mail: [email protected] einlangen.
BewerberInnen, welche die in der Ausschreibung als verpflichtend angeführten Voraussetzungen nicht erfüllen oder die erforderlichen
Unterlagen nicht beibringen, werden in das Objektivierungsverfahren nicht einbezogen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein
Ersatz allfälliger Reisekosten oder Aufwendungen im Hinblick auf die Teilnahme am Auswahlverfahren nicht möglich ist. Bei eventueller
Wohnungssuche sind wir gerne zur Hilfestellung bereit.
11
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Zum Schwerpunkt
amyotrophe Lateralsklerose
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist lange bekannt – sie wurde bereits 1874 von J.M. Charcot in Paris
beschrieben, vielleicht schon von Sir Ch. Bell 1830 (englisch: motoneuron disease, MND), aber nach wie vor ist
sie eine unbehandelbare, progredient verlaufende neuromuskuläre Erkrankung, die in jedem Fall zum Tod führt.
D
Damit stellt die ALS noch immer eine der
größten Herausforderungen für klinisch tätige NeurologInnen hinsichtlich der Diagnostik
(siehe Seite 15 „ALS – Diagnose und Differenzialdiagnose“) und Therapie dar.
Für PatientInnen und deren Angehörige ist
diese Erkrankung in jedem Fall eine Katastrophe, und sie benötigen unsere volle Unterstützung und Betreuung (siehe Seite 26 „Palliative Betreuung von Anfang an“).
Obwohl die Ursachen dieser neurodegenerativen Krankheit noch immer unbekannt sind,
hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten sehr viel in der Forschung und auch in
der Betreuung der PatientInnen getan. So ist
das Paradigma, dass bei ALS ausschließlich
Motoneurone betroffen sind, gefallen. Es
scheint sich viel eher um eine Multisystemdegeneration zu handeln, da bei fast 50 %
der ALS-PatientInnen eine zumindest in neuropsychologischen Tests feststellbare, manchmal aber auch sehr stark ausgeprägte frontotemporale Demenz auftritt, bei ALS-PatientInnen häufiger autonome Störungen
beobachtet werden und in seltenen Fällen
eine Überlappung mit extrapyramidalen Symptomen besteht.
Seit der Markteinführung von Riluzol (Rilutek®) wurden viele neue, aber auch bereits
zugelassene Medikamente in klinischen und
präklinischen Studien getestet. Dem Umstand, dass ALS für die großen Pharmakon-
12
zerne aufgrund ihrer Seltenheit („Orphan
Disease“, s.a. www.orpha.net) nur mäßig interessant ist, versucht man in den letzten
Jahren mit von der EU bzw. der FDA unterstützten Studien zu begegnen. Große Selbsthilfegruppen in Europa (z.B. www.mndasso
ciation.org) und den USA (www.alsa.org) beteiligen sich mittlerweile an PatientInnenrekrutierung und Finanzierung.
Die Entdeckung der SOD1-Mutation bei familiären ALS-Formen hat zur Entwicklung
eines transgenen Mausmodells geführt. Die
Tatsache, dass viele in diesem Tiermodell Erfolg versprechende Substanzen in klinischen
Studien keine Wirkung erkennen ließen, zeigt
seine Grenzen auf (siehe Seite 19 „Therapiestudien – Bedeutung bei der ALS“) und gibt
Anlass, neue und verfeinerte Modelle zu suchen (z.B. Kulturen von Motoneuronen erkrankter PatientInnen).
In den letzten Jahren wurden auch neue,
zum Teil viel versprechende pathophysiologische Mechanismen, die zur Neurodegeneration bei ALS führen können, beschrieben
(siehe Seite 13 „Neurobiology of ALS – an
Update“) und damit hoffentlich neue therapeutische Wege eröffnet.
Derzeit stehen nach einer sensiblen und individuell angepassten Aufklärung (siehe Seite
28 „Das Aufklärungsgespräch“) supportive
Therapiemaßnahmen (siehe Seite 32 „Supportive Maßnahmen bei ALS“), die Betreuung
DI Dr. Heinz Lahrmann
Facharzt für Neurologie,
Ordination: 1030 Wien
der fast immer eintretenden Atemmuskelschwäche mit Dyspnoe und respiratorischem
Versagen (siehe Seite 22 „Atmung – Diagnostik und Therapie“) und die begleitende Unterstützung der Angehörigen (siehe Seite 34
„Die professionell angeleitete ALS-Angehörigengruppe“) im Vordergrund der palliativen
Betreuung.
Die dargestellte und noch immer inkomplette
Liste der mannigfaltigen Probleme, die im
Verlauf der Erkrankung auftreten, macht den
Einsatz eines multiprofessionellen Teams zur
umfassenden PatientInnenbetreuung notwendig. Aus diesen Erkenntnissen wurde im
Rahmen eines Projektes im Wiener KaiserFranz-Josef-Spital ein solches Team zusammengestellt und seit 2003 ein umfangreiches
Angebot für ALS-PatientInnen erarbeitet (ALS
Forum – Multiprofessionelle Hilfe für ALS-Patienten und ihre Angehörigen, www.als-info.at).
Und doch bleibt noch unendlich
viel zu tun ...
■
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Neurobiology of amyotrophic
lateral sclerosis – an update
Amyotrophic lateral sclerosis (ALS) is a disease that is characterized by the degeneration of both upper and
lower motor neurons, and its pathogenesis has eluded researchers since it was first described by Charcot in
1869. In 1993, the discovery of mutations within the Cu, Zn superoxide dismutase-1 (SOD1) gene that are
present in 2% of all ALS cases triggered abundant research into the function and dysregulation of the SOD1
protein. This has included effects on excitotoxicity, mitochondrial function, axonal transport and astroglial
pathology and aggregate formation. More recently, the improved efficiency and affordability of genetic
sequencing has led to the discovery of further genes that are involved in ALS1. The discovery of these genes
has opened new fields for research, such as RNA processing, and angiogenic and growth-factor deficiencies2,
whilst also providing new insights into the already established hypotheses behind the pathogenesis of ALS.
TDP-43, FUS/TLS,
and RNA processing
TDP-43: One of these recently identified
genes relevant to ALS codes for Tar DNAbinding protein 43 (TDP-43). Although mutations in this gene are not as common as
those in SOD1 (<5%), inclusions containing
TDP-43 are found in most ALS patients.
TDP-43 was first extracted from neuronal inclusions from brain tissue of patients with
frontotemporal lobe dementia (FTLD). FTLD
is a heterogeneous group of dementias that
is characterized by behavioral changes and/or
impairment to language and executive function, which result from degeneration of the
temporal and prefrontal cortices. Subclinical
motor-neuron degeneration is seen in about
50% of patients with FTLD, while further
subtle to quite pronounced frontal dysfunction and/or language impairment is seen in
up to 50% of ALS patients.
Although the normal function of TDP-43 is
not clearly understood, it is known to have
a role in the transcription, stabilization and
transport of RNA, and is thus normally located in the nucleus of neurons. To date, more
than 25 ALS-related mutations have been
identified in TDP-43, which are almost exclusively located in the glycine-rich, C-terminal region of the protein that is responsible
for regulation of RNA splicing. In the brain
tissue of FTLD patients and in the spinal cord
of ALS patients, TDP-43 is often found in a
ubiquitinated form, mislocalized from the
Angela Laird, PhD1,
nucleus into the cytoWim Robberecht, MD, PhD2
plasm and perikaryon.
Department of Neurology
The TDP-43 within incluand of Experimental Neurology,
sions is also frequently
University Hospital Leuven,
hyperphosphorylated
and Vesalius Research Center,
and C-terminally cleaved
VIB, Leuven, Belgium
into a 25 kDa species3.
1
2
The mechanisms leading
to TDP-43 mislocalization, phosphorylation
these models involves loss-of-function effects.
and cleavage remain unknown, and whether
However, this remains to be confirmed, with
these pathological findings are a cause or an
investigations in animal models not yet able
effect of ALS has yet to be determined.
to clarify this point. To date, both a transgenic mouse expressing a mutant TDP-43
FUS/TLS: Soon after the discovery of TDPand a Drosophila model with TDP-43 knock43 mutations, mutations in another protein
down have been reported to develop motor
that is responsible for RNA processing were
phenotypes.
reported: the fused in sarcoma/ translated in
Furthermore, the zebra fish models with
liposarcoma protein (FUS/TLS). FUS/TLS has a
either a transiently expressed mutated TDP-43
remarkably similar structure to TDP-43, as
or a TDP-43 knock-down show motor axon
it also contains an RNA-binding motif, a
outgrowth defects. Mice expressing wild-type
glycine-rich C-terminal region (where all of
human TDP-43 at high and low levels have
the mutations to date are located), and a
been demonstrated to have dose-dependent
nuclear localization signal4. FUS/TLS is also
degeneration of cortical and spinal motor
largely restricted to the nucleus, where it
neurons and spastic paralysis, which mimic
interacts with small nuclear ribonucleoALS. In this model, nuclear and cytoplasmic
proteins, through which it has effects on
TDP-43 inclusions were seen in the affected
alternative splicing and transcription suppresareas. TDP-43 was also found in its ubiquision. Further studies have also implicated
tinated, phosphorylated and cleaved forms.
FUS/TLS in mRNA transport, both along denThese findings support a role for TDP-43 even
drites and into dendritic spines.
in sporadic ALS and FTLD.
Sequestration of TDP-43 and FUS/TLS from
the nucleus would disrupt the ability of
RNA processing: The further suggestion
these proteins to process RNA. As this is
that aberrant RNA processing has a role in
seen in samples from ALS patients, this
the pathogenesis of ALS is supported by the
suggests that the disease pathogenesis in
discovery of missense mutations in the u
13
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
DNA/RNA helicase senataxin (SETX) and in
the ribonuclease angiogenin (ANG) in rare
cases of ALS (ALS4 and ALS9, respectively).
In addition, polymorphisms in elongator
protein 3 (ELP3), which is involved in RNA
synthesis and modification of tRNA species,
increase the risk of developing sporadic ALS.
Patients with these polymorphisms have
decreased brain ELP3 levels. Studies in small
animal models, Drosophila and zebra fish,
have shown that decreased ELP3 levels can
result in axonal and synaptic abnormalities4.
Although it is tempting to assume that
these findings are evidence for a role of
disrupted RNA processing in ALS, this
remains to be proven. Nevertheless, indications suggest that more RNA-interacting
proteins will be identified as having causal,
or at least contributory, roles in ALS in the
near future.
Angiogenesis
and growth-factor effects
Vascular endothelial growth factor (VEGF) is
an angiogenic factor for which a role in
motor-neuron degeneration was established
when it was found that lowering VEGF levels
in the mouse resulted in adult-onset and progressive motor-neuron disorder. Intracerebroventricular administration of VEGF and transgenic motor-neuron-specific overexpression
increased the life span of mutant SOD1
rodents. To this end, intraventricular infusions
of VEGF for ALS treatment have entered a
safety trial in patients.
The neurovascular link with ALS was further
strengthened by the discovery of missense
mutations in the ANG gene in both familial
and sporadic ALS patients. The ANG protein
is a member of the pancreatic ribonuclease
A superfamily, and it has roles in angiogenesis, cell proliferation and neuroprotection
(especially against hypoxia). ANG has also
been shown to regulate VEGF expression in
endothelial cells. Overexpression of wildtype ANG is neuroprotective in vitro, and
daily intraperitoneal injections of ANG to
mice carrying a mutant SOD1 (G93A)
increased their lifespan and motor-neuron
survival, even when administered after
disease onset.
14
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
Axonal transport defects
Defects in slow axonal transport have been
described in presymptomatic mutant SOD1
rodents, which suggests that axonal transport
defects have pivotal roles in ALS. In addition,
an accumulation of neurofilament is often
seen in the cell bodies of motor neurons of
ALS patients. Transgenic mice with point mutations in the neurofilament gene show
similar neurofilament accumulation and
motor-neuron degeneration. Genetic studies
have also identified a candidate in connection
with axonal transport defects. Mutations in
a protein that connects the dynein complex
to its cargo, known as dynactin, have been
shown in sporadic ALS patients. Such patients
with dynactin mutations develop a form of
lower motor-neuron disease.
Many consequences of axonal transport defects have been proposed, including mitochondrial deficiency and accumulation, and
an inability to transport trophic factors.
Another indication of the presence of axonal
transport defects in ALS patients is the recent
finding of polymorphism in the gene
encoding kinesin-associated protein 3 (KIFAP3),
a protein with a role in anterograde transport.
This polymorphism results in decreased
KIFAP3 expression and is associated with
increased survival in sporadic ALS patients.
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
sing cells and tissues. Mutations in the VAPB
protein that is involved in the unfolded protein
response in the endoplasmic reticulum have
also been described in ALS patients. These
mutations in VAPB can lead to VAPB loss-offunction, which would render motor neurons
vulnerable to the endoplasmic reticulum stress
that can arise from unfolded proteins. Furthermore, the VAPB mutant protein itself is also
prone to misfolding and aggregation.
The heat shock proteins (HSPs) are chaperones
that participate in the clearance of misfolded
proteins from the secretory pathway, and
their overexpression in vitro can prevent the
toxicity promoted by mutant SOD1. Disappointingly, however, HSP27 or HSP70 overexpression in vivo did not affect motorneuron degeneration in mutant SOD1 mice,
which suggests that overexpression of one
component of this sophisticated system
might not be sufficient for motor-neuron
■
degeneration.
Selected references:
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in motor neuron disease. Curr Opin Neurol 22:486-492
2 Rothstein JD (2009), Current hypotheses for the
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Ann Neurol 65 Suppl 1:S3-9
3 Lagier-Tourenne C, Cleveland DW (2009), Rethinking
ALS: the FUS about TDP-43. Cell 136:1001-1004
4 Lemmens R, Moore MJ, Al-Chalabi A, Brown RH, Jr.,
Robberecht W, RNA metabolism and the pathogenesis
of motor neuron diseases. Trends Neurosci. 2010 Mar 11;
Epub ahead of print
CONCLUSIONS
Aggregation and autophagy
Based on findings relating to other neurodegenerative diseases, it has been proposed
that aggregation of misfolded proteins, such
as SOD1, TDP-43 and FUS/TLS, might have a
role in ALS. For example, disease-causing mutations in SOD1 often result in decreased protein stability, which would affect the folding
and assembly of SOD1 dimers, and might
thus lead to protein misfolding and aggregation. Aggregates can deplete the cell of
essential constituents by co-aggregation, or
they can physically disturb cellular processes,
such as axonal transport (i.e. axonal strangulation).
In ALS, mutant SOD1 has been shown to
accumulate in the endoplasmic reticulum.
Furthermore, a decrease in proteasome activity
has been shown in mutant-SOD1-overexpres-
The identification of new gene mutations
that are involved in ALS, as described
above, as well as the progress in the understanding of the normal mechanisms
of motor-neuron survival, have provided
a significant leap forward in the field of
ALS research. Previously, only rodent models of mutant SOD1 expression were
available to study what appears to be a
very heterogeneous disease. Now, with
the generation of rodent models of
newly identified mutant genes, as well
as the availability of small animal models,
it has become possible to study the pathways of motor-neuron degeneration and
to investigate further therapeutic interventions that have relevance to more
than just mutant-SOD1-mediated ALS.
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
ALS – Diagnose und Differenzialdiagnose
Zahlreiche Erkrankungen führen zu einem Untergang von Motoneuronen (MN), wobei entweder das 1.,
das 2. oder beide MN betroffen sein können. Nachdem das klinische Erscheinungsbild bei diesen Erkrankungen
trotz unterschiedlicher Ursache (genetisch – sporadisch) sehr ähnlich sein kann, werden diese Erkrankungen
unter dem Begriff Motoneuronerkrankungen (MND) zusammengefasst. Die häufigste dieser Erkrankungen ist
die sporadische und neurodegenerative Variante, die amyotrophe Lateralsklerose (ALS).
Epidemiologie
und Krankheitsverlauf
Die Inzidenz der ALS ist in den meisten Ländern ähnlich und beträgt ca. 2,16/100.000/
Jahr1, während die Prävalenz ca. bei 6,5/
100.000 liegt2. Der Krankheitsbeginn liegt im
Mittel bei 65 Jahren, Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen (3 vs. 2,4/100.000/
Jahr). Hereditäre Formen sind selten und machen 5–10 % aller ALS-Fälle aus.2
Die mediane Überlebenszeit bei ALS beträgt
ab Symptombeginn ca. 30 Monate, ab Diagnosestellung ca. 18 Monate3, wobei die
Überlebenszeiten bei bulbären Formen noch
kürzer sind. Hieraus lässt sich ablesen, dass
im Mittel ca. ein Jahr vergeht, bis die Diagnose gestellt wird. Einige Subtypen von
MND haben allerdings eine deutlich langsamere Progression.
Die Krankheitsprogression der ALS (und auch
der anderen MND) ist relativ gleichmäßig und
linear, so dass schubhafte Verschlechterungen Anlass zu erneuten differenzialdiagnostischen Überlegungen geben.
MND-Subtypen
Die Unterscheidung verschiedener Subtypen
erleichtert die Diagnose und bietet Hilfe bei
der Planung der Behandlung und Erstellung
einer Prognose (Tab. 1). Letztendlich schreitet
bei vielen dieser Formen im Verlauf die Erkrankung fort und mündet in das klinische
Bild einer generalisierten ALS.
Klassische ALS: Das typische Merkmal der
ALS ist die progressive Schwäche mit einer
Kombination von Schädigungszeichen des
1. und 2. MN ohne Beteiligung der extraoku-
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Löscher1
Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische
Universität Innsbruck
Univ.-Prof. Dr. Stefan Quasthoff2
Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische
Universität Graz
1
2
lären Muskeln und des Sphinkters und ohne
relevante autonome und sensible Symptome. Bei ca. einem Drittel der Fälle beginnt
die Erkrankung in den Beinen, in einem weiteren Drittel in den Händen, in etwas we-
niger als einem Drittel bulbär. Die restlichen
seltenen Fälle können mit einer respiratorischen, einer axialen oder einer posterioren
Nackenschwäche („Dropped Head Syndrou
me“) beginnen4.
Tab. 1: ALS-Formen und deren Prognose
Typische Merkmale
Prognose
Typische ALS
Schädigung des 1. und 2. MN
rasch progredient
ungünstig
Progressive
Muskelatrophie (PMA)
Schädigung des 2. MN
relativ ungünstig, wenn im
Verlauf auch eine Schädigung
des 1. MN hinzukommt;
relativ günstig, wenn isoliert
das 2. MN betroffen bleibt
Flail-Arm-/
-Leg-Syndrom
Sonderform der PMA
isolierter Befall des 2. MN –
Arme oder Beine
relativ günstig
Progressive
Bulbärparalyse
initial isolierter Befall der
bulbären Muskulatur; geht in
typische ALS über; als eigene
Entität umstritten
ungünstig
Primäre
Lateralsklerose
isolierter Befall des 1. MN;
keine Schädigung des
2. MN < 4 Jahre
günstig
Upper-Motor-Neurondominant ALS
initial nur Schädigung des
1. MN, allerdings < 4 Jahre
Befall des 2. MN
relativ günstig
15
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
Bei bulbären Formen tritt die Dysarthrie typischerweise vor der Dysphagie auf. Spinale
Formen beginnen asymmetrisch und häufig
distal. So zeigt sich an den Händen typischerweise das „Split-Hand-Sign“ – die den Thenar
kontrollierende Muskulatur (Mm. abductor
pollicis brevis, opponens pollicis und Interosseus I) sind deutlich stärker paretisch und
atroph als der M. abductor digiti minimi.
Dieses Schädigungsmuster erlaubt eine klinisch gute Abgrenzung gegenüber radikulären Läsionen C8/Th1 und gegenüber peripheren Nervenläsionen bzw. auch der multifokalen motorischen Neuropathie mit
Leitungsblöcken (MMN).
Anamnestisch berichten auf Nachfrage viele
PatientInnen Krämpfe und Faszikulation, die
sich in der atrophen wie auch nichtbetroffenen Muskulatur finden. Faszikulationen ohne
Schwäche sind allerdings nicht bzw. extrem
selten Erstsymptom einer ALS5, 6, wobei eine
ALS ohne Faszikulationen im Verlauf der Erkrankung selten vorkommt. Neben Schwäche
und Atrophie finden sich gesteigerte Muskeleigenreflexe, pathologische Reflexe wie
Babinski oder Trömner und häufig eine Ungeschicklichkeit der Hand als Hinweis auf eine
Pyramidenbahnschädigung. Eine respiratorische Schwäche entwickelt sich früh oder spät
im Verlauf der Erkrankung.
Im Kopfbereich finden sich neben einer
Schwäche der Nackenmuskulatur, Dysarthrie
und Dysphagie auch eine Schwäche der perioralen Muskulatur und eine Motilitätsstörung sowie Atrophie der Zunge. Der Masseterreflex ist bei kortikobulbärer Beteiligung
gesteigert. Ein pseudobulbäres Syndrom mit
pathologischem Lachen und Weinen kann
sich auch bei unauffälliger Kognition entwickeln. Allerdings zeigen bis zu 50 % der ALSPatientInnen eine zumindest milde frontal
exekutive Dysfunktion, und in ca. 15 %
kommt es zu einer manifesten frontotemporalen Demenz7.
Zur Diagnosestellung der ALS wurden die revidierten El-Escorial-Kriterien erstellt8. Allerdings exkludieren diese Kriterien andere
16
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
Tab. 2: Obligate Laboruntersuchungen
Differenzialblutbild
BSG (Blutsenkungsgeschwindigkeit)
Serumprotein-Elektrophorese
Serumprotein-Immunfixation
Urin-Immunelektrophorese
CK (Kreatininkinase)
Elektrolyte und Harnstoff
TSH, FT4, FT3
Vitamin B12 und Folat
CRP
ASAT, ALAT, LDH
ANA und ANCA
MND-Varianten und sind zu restriktiv für den
klinischen Einsatz, da sie eine sichere Diagnose häufig erst zu einem sehr späten Zeitpunkt erlauben. In einer Untersuchung haben
sogar 10 % von verstorbenen ALS-PatientInnen nicht die Diagnose einer wahrscheinlichen ALS erfüllt9. Daher muss von der Verwendung dieser Kriterien außerhalb von wissenschaftlichen Studien abgeraten werden.
ALS – Differenzialdiagnose: Die Differenzialdiagnose (DD) der klassischen ALS umfasst
Tab. 3: Fakultative Laboruntersuchungen bei atypischer Klinik,
frühem Krankheitsbeginn oder
hereditären Formen
ACE (Angiotensin-converting-Enzym)
Hexosaminidase A und B
Gangliosid-GM-1-Antikörper (IgM)
Paraneoplastische Antikörper
HIV-Serologie
Laktat im Serum
Liquor und Liquorserologie
CAG-Repeat-Anzahl des Androgenrezeptors
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
in erster Linie die zervikale Myelopathie (bei
Schädigung des 2. MN an den Armen und
des 1. MN an den Beinen). Paraneoplastische
Formen und Assoziationen mit lymphoproliferativen Erkrankungen sind beschrieben, allerdings sehr selten und auch umstritten.10
HIV-Infektionen können zu ALS-artigen Symptomen führen11 die Assoziation von ALS mit
einem Parahyperthyreoidismus erscheint
fraglich12. Einzelfälle mit dem klinischen Bild
einer ALS bei Neurosarkoidose, PolyglukosanBody-Disease, Hexosaminidasemangel, Nemalin-Myopathie und Prionenerkrankungen
sind beschrieben, spielen aber bei der klinischen DD aufgrund ihrer Seltenheit kaum
eine Rolle.
ALS, Krämpfe und Faszikulationen: Immer
wieder wird bei Faszikulationen, Krämpfen
oder der Kombination von beiden der Verdacht auf eine ALS gestellt. In der Regel werden Faszikulationen jedoch von ALS PatientInnen nicht wahrgenommen, sondern erst
auf gezieltes Befragen hin bemerkt. Isolierte
Faszikulationen, die von PatientInnen bemerkt werden, sind meistens sogenannte
„benigne“ Faszikulationen. Diese zeichnen
sich dadurch aus, dass die klinische Untersuchung und das EMG der betroffenen und
benachbarten Muskeln unauffällig sind. Dass
diese Faszikulationen wirklich „benigne“
sind, zeigte eine Verlaufsbeobachtung von
121 PatientInnen mit isolierten Faszikulationen über 2–32 Jahre, in der niemand eine
ALS entwickelte6. Bestehen neben Faszikulationen häufig Krämpfe und sind klinische Untersuchung und EMG unauffällig, handelt es
sich um ein sogenanntes „Krampf-Faszikulations-Syndrom“ und die Wahrscheinlichkeit,
eine ALS zu entwickeln, ist minimal. Dieses
Krampf-Faszikulations-Syndrom ist somit
ebenso „benigne“ und zumindest bei einem
Teil dieser PatientInnen eine Autoimmunerkrankung mit Antikörpern gegen K-Kanäle13.
SOD1-Mutationen
Schwermetalle im Urin (Pb, Cd, Mn, Hg)
Progressive Muskelatrophie (PMA), FlailArm- und Flail-Leg-Syndrom: Die PMA ist
wahrscheinlich der am schlechtesten definierte Subtyp und zeichnet sich durch eine isolierte Schädigung des 2. MN aus. Die Klassifikation dieser Erkrankungen ist uneinheitlich, und verschiedenste Begriffe wie u. a.
„Lower-Motor-Neuron-Disease“ (LMND) oder
distale spinale Muskelatrophie (dSMA) werden verwendet14. Im Verlauf der Erkrankung
entwickeln viele PatientInnen Zeichen einer
Schädigung des 1. MN und haben eine mittlere Überlebenszeit von 5 Jahren15, während
andere einen sehr gutartigen Verlauf haben
können14. Einzig das Flail-Arm- (oder bilaterale amyotrophe Diplegie) und Flail-Leg-Syndrom sind relativ gut definierte Sonderformen
mit einer langsam progredienten LMND, die
sich über viele Jahre auf die oberen oder unteren Extremitäten beschränkt16.
PMA – Differenzialdiagnose: Das differenzialdiagnostische Spektrum ist bei LMN-Syndromen sicherlich am größten17, 18. Sensible
Symptome, wenn auch nur gering ausgeprägt,
lassen an periphere Nervenläsionen denken.
Bei distalen Symptomen an den Armen sind
rein motorische Nervenläsionen wie das Interosseus-anterior- und -posterior-Syndrom
klinisch und elektrophysiologisch abzuklären.
Bulbäre Symptome und Faszikulationen im
Gesicht bei Männern finden sich beim Kennedy-Syndrom, das genetisch einfach abzuklären ist.
Eine asymmetrische Schwäche vor allem an
den Armen bzw. Händen mit ausgeprägten
Faszikulationen ohne früh einsetzende Muskelatrophie spricht für eine MMN. Eine genaue klinische Untersuchung mit der Beurteilung, ob es sich um „Motoneuron-“ oder
„Peripherer-Nerv“-Verteilungsmuster handelt, helfen neben der Elektroneurographie
und der Bestimmung der IgM-GM1-Antikörper bei der Diagnosestellung.
Ähnliches gilt für die Einschlusskörperchenmyositis (IBM), bei der sich typischerweise
eine Schwäche der langen Fingerbeuger bei
relativ guter Kraft der intrinsischen Handmuskulatur findet. Das EMG kann bei IBM
schwierig zu interpretieren sein, aber eine
Muskelbiopsie bringt hier in der Regel Klarheit.
Raritäten: Schwermetall-Intoxikationen, monoklonale Paraproteinämien und ein Hexosaminidasemangel sind sehr selten und sollten
bei einem Krankheitsbeginn vor dem 40. Lebensjahr laborchemisch untersucht werden
Die adulte Form einer SMA (SMA 4) ist meistens nicht mit einer SMN1-Deletion verbunden, zeichnet sich jedoch durch eine in der
Regel sehr symmetrische und proximale Muskelschwäche mit fehlenden oder schwachen
Reflexen aus. Eine LMND der Arme/Hände
bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen
könnte auf ein Hirayama-Syndrom (Flexionsmyelopathie) zurückzuführen sein. In der
MRT der HWS in Flexionsstellung findet sich
häufig ein typischer Befund, außerdem
kommt die Erkrankung in der Regel nach 1–
4 Jahren zum Stillstand19.
Primäre Lateralsklerose (PL): Diese betrifft
ca. 1–2 % aller PatientInnen mit MND und
ist charakterisiert durch eine langsam progrediente spastische Tetraparese, wobei auch
häufig eine kortikobulbäre Dysfunktion und
Dranginkontinenz im Verlauf beobachtet
werden. PatientInnen, die auch nach 4 Jahren
nach Symptombeginn keine Zeichen einer
Schädigung des 2. MN zeigen, erfüllen die
diagnostischen Kriterien für eine PL. Wenn
PatientInnen mit vermuteter PL innerhalb von
4 Jahren Muskelatrophien oder elektrophysiologische Zeichen einer LMND entwickeln,
werden sie als „Upper-Motor-Neuron-dominant ALS“ (UMN-D ALS) klassifiziert. Die Prognose der UMN-D ALS liegt zwischen ALS
und PL, welche trotz deutlicher Behinderung
eine gute Überlebensprognose hat20.
Differenzialdiagnose der primären Lateralsklerose: Mittels bildgebenden Untersuchungen lassen eine zervikale Myelopathie
und Leukenzephalopathien einfach ausschließen. HTLV-1-spastische Paraparesen sind in
unseren Breiten selten und lassen sich durch
virologische Untersuchungen abklären. Die
schwierigste DD sind die hereditären spastischen Spinalparalysen, vor allem die unkomplizierten Formen. Deren genetische Abklärung stellt sich aufgrund der zahlreichen verantwortlichen Gene häufig schwierig dar.
Progressive Bulbärparalyse bzw. ALS mit
bulbärem Beginn: Ist initial nur die bulbäre
Muskulatur betroffen, spricht man von einer
progressiven Bulbärparalyse. Allerdings sollte
dieser Begriff nicht mehr verwendet werden,
da meistens und innerhalb kurzer Zeit auch
die Extremitäten zumindest elektrophysiologisch betroffen sind. Die Abgrenzung von
einer ALS mit bulbärem Beginn erscheint
nicht sinnvoll, insbesondere da sie die Diagnosestellung nur verzögert21. Betroffen sind
allerdings häufiger Frauen älter als 65 Jahre15.
Innerhalb von 6–12 Monaten entwickelt sich
eine Anarthrie, und in der klinischen Untersuchung überwiegen initial häufig Zeichen
des 1. MN.
Differenzialdiagnose der ALS mit bulbärem Beginn: Bei einer spastischen Dysarthrie
mit gesteigertem Masseter-Reflex lassen sich
klinisch eine Myasthenie und eine okulopharyngeale Muskeldystrophie einfach ausschließen. Ein pathologisches Dekrement in der repetitiven Stimulation, wie es für eine Myasthenie typisch wäre, kann jedoch auch bei
der ALS auftreten. Sind die Symptome auf
eine isolierte Schädigung des 2 MN zurückzuführen, ist u.a. an ein Kennedy-Syndrom,
eine Polyneuritis cranialis oder eine basale
Meningitis mit Hirnnervenbefall zu denken.
Zusatzuntersuchungen
Grundsätzlich ist die Diagnose der ALS eine
klinische Diagnose, die sich vor allem aus der
Anamnese, dem klinisch-neurologischen Status und, als wichtigster Zusatzuntersuchung,
der Neurophysiologie stellen lässt. Zum Ausschluss wichtiger DD sind eventuell weitere
Zusatzuntersuchungen erforderlich, die durch u
17
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
Anamnese, klinisches Bild und differenzialdiagnostische Überlegungen bestimmt werden.
Obligate und fakultative laborchemische Untersuchungen sind in Tabelle 2 und 3 aufgelistet. Der zu sehr ausgedehnte Einsatz von
Zusatzuntersuchungen scheint jedoch aufgrund der Folgenschwere der Diagnose eher
die Regel als die Ausnahme. Zu bedenken ist
aber, dass dadurch eine Diagnosestellung verzögert wird, PatientInnen und Angehörige
manchmal über Gebühr belastet werden und
ihr Vertrauen in die behandelnden ÄrztInnen
eventuell abnimmt. Somit liegt das Augenmerk auf dem gezielten und sinnvollen Einsatz von Zusatzuntersuchungen.
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
zentralmotorischen Leitzeit sind viele andere
Parameter wie Schwelle, Silent Period, Amplitude etc. untersucht23–25 und zahlreiche
Auffälligkeiten gefunden worden, allerdings
mit unterschiedlichen Häufigkeiten und Ergebnissen. Zusammenfassend lässt sich derzeit sagen, dass zur Diagnosestellung die Verwendung von TMS nicht geeignet ist.
Transkranielle Magnetstimulation (TMS):
Mittels der TMS kann die Funktion der Pyramidenbahn objektiviert werden. Neben der
EMG/NLG: Kernstück in der Diagnosestellung der ALS ist die EMG/NLG-Untersuchung26. In der Neurographie lassen sich Erkrankungen peripherer Nerven ausschließen,
wobei allerdings reduzierte Amplituden in der
motorischen Neurographie bei ALS regelmäßig gefunden werden, abhängig vom Ausmaß des MN-Verlustes und damit der Atrophien. Insbesondere bei der Suche nach Leitungsblöcken ist dann Vorsicht geboten.
Diese ist bei Potenzialen unter 1 mV nicht
aussagekräftig. Die EMG-Untersuchung erlaubt es Läsionen des 2. MN nachzuweisen
und neurogene Schäden in klinisch nicht betroffenen Muskeln aufzudecken.
Wichtig ist es, in der EMG-Untersuchung Zeichen von Degeneration (Denervierung) und
Zeichen von Regeneration (polyphasische
Reinnervationspotenziale und/oder chronisch
neurogene Potenziale) im selben Muskel zu
finden. Untersucht werden Muskeln von 4
1
9
Bildgebung: Bildgebende Untersuchungen
sind indiziert, um zentrale Ursachen (z. B.
zervikale Myelopathie, Tumoren in Hirnstamm und Myelon) auszuschließen. Obwohl
in gewissen MRT-Sequenzen, wie z.B. Diffusion Tensor Imaging, Signalalterationen bei
ALS-PatientInnen gefunden werden können,
sind diese Methoden derzeit nicht zur Diagnosestellung geeignet22.
2
3
4
5
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7
8
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16 Wijesekera LC et al., Natural history and clinical
features of the flail arm and flail leg ALS variants.
Neurology 2009; 72:1087–94
17 Baek WS, Desai NP, ALS: pitfalls in the diagnosis.
Pract Neurol 2007; 7:74–81
18 Traynor BJ et al., Amyotrophic lateral sclerosis mimic
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Regionen: bulbär, zervikal, thorakal und lumbal. In zervikalen und lumbalen Regionen ist
es notwendig, 2 Muskeln zu untersuchen, die
von verschiedenen Nerven, Plexusanteilen und
Nervenwurzeln versorgt werden. Die bulbäre
Region lässt sich durch Untersuchung der Zungenmuskulatur, des M. masseter oder der perioralen Muskulatur beurteilen. Hier sind Auffälligkeiten in einem Muskel ausreichend. Im
thorakalen Segment ist die Untersuchung der
paravertebralen Muskulatur unterhalb von
TH6 sinnvoll und häufig sehr informativ.
Muskelbiopsie und CK: Die CK ist bei PatientInnen mit ALS häufig leichtgradig erhöht, und Werte bis zu 1000 U/l sind als mit
einer ALS vereinbar anzusehen. Muskelbiopsien auf Grund gering erhöhter CK-Werte
sind daher nicht indiziert. Auch zur Diagnosestellung einer ALS sind Muskelbiopsien
nicht sinnvoll, da sie nur unspezifische neurogene Schädigungsmuster zeigen.
Die Diagnose und Differenzialdiagnose der
ALS und anderer Motoneuronerkrankungen
ist nach wie vor eine klinische Herausforderung, da eindeutige Surrogatmarker für die
Diagnosesicherung fehlen. Es ist daher in Zweifelsfällen und bei „atypischen“ Verläufen empfehlenswert, das Expertenteam eines neuromuskulären Zentrums zu Rate zu ziehen. ■
syndromes: a population-based study. Arch Neurol
2000; 57:109–13
Tashiro K et al., Nationwide survey of juvenile muscular
atrophy of distal upper extremity (Hirayama disease) in
Japan. Amyotroph Lateral Scler 2006; 7:38–45
20 Gordon PH et al., Clinical features that distinguish PLS,
upper motor neuron-dominant ALS, and typical ALS.
Neurology 2009; 72:1948–52
21 Karam C et al., The clinical course of progressive bulbar
palsy. Amyotroph Lateral Scler 2010; online
22 Filippi M et al., EFNS guidelines on the use of
neuroimaging in the management of motor neuron
diseases. Eur J Neurol 2010; 17:526–533
23 Attarian S et al., Transcranial magnetic stimulation in
lower motor neuron diseases. Clin Neurophysiol 2005;
116:35–42
24 Floyd AG et al., Transcranial magnetic stimulation in
ALS: utility of central motor conduction tests.
Neurology 2009; 72:498–504
25 Mills KR, The natural history of central motor
abnormalities in amyotrophic lateral sclerosis.
Brain 2003; 126:2558–66
26 Daube JR, Electrodiagnostic studies in amyotrophic
lateral sclerosis and other motor neuron disorders.
Muscle Nerve 2000; 23:1488–1502
19
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Therapiestudien – Bedeutung
bei der amyotrophen Lateralsklerose
Nachdem die günstige Wirkung des Glutamatantagonisten Riluzol in voneinander unabhängigen Studien bei
der ALS gezeigt werden konnte, erfolgten zahlreiche weitere Studien mit an verschiedenen pathophysiologischen
Aspekten der Erkrankung angreifenden Therapeutika. Allerdings konnten die fast durchwegs viel versprechenden
Ergebnisse aus den präklinischen Studien am SOD1-Mausmodell nicht in klinischen Studien am Menschen
nachvollzogen werden. Der folgende Beitrag gibt einen kurzen Einblick in klinische Studien bei der ALS und
ihre pathophysiologischen Angriffspunkte.
D
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist gekennzeichnet durch einen fortschreitenden
Untergang von Motoneuronen im Bereich des
motorischen Kortex, des Hirnstamms und des
Rückenmarks, der nach einer Dauer von 3
bis 5 Jahren zum Tod des/der PatientIn führt.
Etwa 10 % der ALS-Fälle treten familiär gehäuft auf, davon finden sich bei 10–20 %
Mutationen im Gen der Kupfer-Zink-Superoxid-Dismutase (SOD1). Transgene SOD1Mäuse entwickeln die klinischen und neuropathologischen Charakteristika einer selektiven Vorderhornzelldegeneration und stellen
momentan das wichtigste Tiermodell für die
ALS dar.
Im Mausmodell viel versprechende Kandidaten für neue Medikamente werden am Menschen zunächst in Phase-I-Studien erprobt.
Dabei wird an einer kleinen Kohorte Gesunder die Pharmakokinetik und Verträglichkeit
einer Substanz untersucht. Im positiven Fall
folgen Phase-II-Studien an Patienten zur Dosisfindung und Demonstration therapeutischer Effekte, z.B. im Sinne einer Verbesserung in klinischen Scores, wie der „ALS
Functional Rating Scale“ (ALSFRS). Das Ziel
großer Phase-III-Studien ist dann meist der
Nachweis einer signifikanten Verbesserung
der Überlebenszeit. Trotz zahlreicher klinischer Studien in den vergangenen Jahrzehnten mit im Mausmodell zunächst viel versprechenden Substanzen ist bislang der Glutamatantagonist Riluzol die einzige Substanz
zur Therapie der ALS, die zu einer geringen
Lebensverlängerung (von ca. 3–6 Monaten)
Prof. Dr. med.
Albert C. Ludolph1,
Priv.-Doz. Dr. med.
Johannes Brettschneider2
Poliklinik für Neurologie,
Universitätsklinikum Ulm
führt3.
Im Folgenden
soll ein Einblick in klinische Therapiestudien
bei ALS gegeben werden, der allerdings kei1
nen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und
lediglich einige der pathophysiologischen Angriffspunkte verdeutlichen kann. Außerdem
soll anhand dieser Studien die Problematik
der Übertragung zunächst viel versprechender Therapeutika vom Mausmodell auf klinische Studien am Menschen verdeutlicht werden.
Riluzol
Hinweise auf einen veränderten Glutamatmetabolismus bei ALS-PatientInnen und die
Hypothese einer glutamatvermittelten Exzitotoxizität waren die Grundlage für den Einsatz von Riluzol bei ALS. Dabei wird davon
ausgegangen, dass Riluzol die Glutamatfreisetzung inhibiert, nichtkompetitiv NMDAGlutamatrezeptoren blockiert und außerdem
an spannungsabhängigen Natriumkanälen
wirkt. Im SOD1-Mausmodell verzögerte Riluzol Beginn und Fortschreiten der Erkrankung und verbesserte die motorische Funktion.
Es wurden insgesamt 4 randomisierte, placebokontrollierte doppelblinde Studien mit
Riluzol durchgeführt. In der ersten Studie3
wurden 155 ALS-PatientInnen eingeschlossen, es erfolgte eine Gabe von Riluzol 100
2
mg/d (bzw. Placebo) über 12 Monate. Die
zweite Studie6 testete an 959 PatientInnen
über 18 Monate Riluzol in 3 verschiedenen
Dosierungen (50, 100 und 200 mg Riluzol/d)
gegen Placebo. In beiden Studien verbesserte
Riluzol signifikant das Überleben, in der
zweiten Studie zeigte sich ein klarer DosisWirkung-Effekt. Eine dritte Studie, die ebenfalls in Frankreich und Belgien durchgeführt
wurde2, schloss 168 ALS-PatientInnen ein,
die sich aufgrund höheren Alters (> 75
Jahre), längerer Erkrankungsdauer (> 5 Jahre)
oder zu schlechtem respiratorischem Zustand
(FVC < 60 %) nicht für die zweite Studie6
qualifiziert hatten. Für diese PatientInnen
zeigte sich keine signifikante Verbesserung
der Überlebenszeit durch Riluzol. Auch eine
vierte Studie an 195 japanischen ALS-PatientInnen (Riluzol 100 mg/d vs. Placebo) mit
heterogenen klinischen Endpunkten war negativ13. Ein diese Studien zusammenfassendes Cochrane Review fand für Riluzol eine
9%ige Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, das
erste Jahr der Erkrankung zu überleben. Insgesamt scheint der moderate therapeutische
Effekt dieses Medikamentes vor allem dann
zu greifen, wenn die Erkrankungsdauer
u
des/der PatientIn relativ kurz ist.
19
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
Andere Substanzen zur Therapie
glutamatvermittelter Exzitotoxizität
Talampanel: Auch die primär als Antikonvulsivum entwickelte Substanz Talampanel,
ein nichtkompetitiver Modulator an AMPAGlutamatrezeptoren, zeigte im SOD1-Modell
eine Verlängerung der Überlebenszeit. In
einer 9-monatigen Phase-II-Studie an 59 ALSPatientInnen zeigte sich eine tendenziell verzögerte Erkrankungsprogression (gemessen
am ALSFRS), die allerdings keine statistische
Signifikanz erreichte.
Memantine: Der zur Behandlung der Demenz vom Alzheimer-Typ zugelassene nichtkompetitive NMDA-Glutamatrezeptor-Antagonist Memantine zeigte im SOD1-Modell
eine Verlängerung des Überlebens. Aktuell
läuft in Portugal eine kombinierte Phase-II/IIIStudie und in Kanada eine Phase-II-Studie,
die Ergebnisse stehen noch aus.
Ceftriaxon, ein Cephalosporin der 3. Generation, erhöht die Aktivität des astrozytären
Glutamattransporters EAAT2 und steigert so
den Abtransport von Glutamat aus dem synaptischen Spalt. Derzeit läuft eine Phase-IIIStudie in den USA, auch hier stehen die Ergebnisse noch aus.
Therapie von Mikrogliaaktivierung,
Inflammation und Apoptose
Die neuronale Schädigung bei ALS ist begleitet von einer Mikrogliaaktivierung mit Freisetzung proinflammatorischer Zytokine wie
IL-1␤ oder TNF-␣.
ONO-2506, ein enantiomeres Homolog von
Valproat, kann ungerichtetes Astrozytenwachstum unterbinden und hat zusätzlich
antiglutamaterge und COX-2-inhibitorische
Eigenschaften. Eine Phase-III-Studie zeigte lediglich in einer Subgruppe mit frühem Behandlungsbeginn (innerhalb von 14 Monaten
nach Beginn der Erkrankung) Hinweise für
einen therapeutischen Effekt.
20
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
Minozyklin, ein Tetrazyklin, hemmt Mikrogliaaktivierung und Caspaseaktivität und
zeigte zunächst im Mausmodell eine Verlängerung der Überlebenszeit. Nachdem zwei
kleine Phase-II-Studien Sicherheit und Verträglichkeit bei ALS-PatientInnen belegt hatten, wurde in den USA eine Phase-III-Studie
mit 412 ALS-PatientInnen durchgeführt.
Diese konnte dann allerdings keinen signifikant positiven Effekt der Substanz nachweisen8.
Thalidomid, ursprünglich als Schlaf- und
Beruhigungsmittel unter dem Handelsnamen Contergan® entwickelt, wurde 1961
RESÜMEE
Nachdem der Effekt von Riluzol in voneinander unabhängigen Studien belegt
werden konnte, scheint es nicht mehr
unmöglich, den Verlauf der ALS zu modifizieren. Die zahlreichen und wiederholten Enttäuschungen klinischer Studien haben gezeigt, welche Fallstricke in
der translationalen Medizin existieren.
Wichtige Ansatzpunkte in diesem Bereich beinhalten die Suche nach Biomarkern zum Monitoring therapeutischer Effekte sowie die Entwicklung neuer Modelle der Erkrankung (z.B. unter
Einbeziehung der mit dem TransactiveResponse-DNA-binding-Protein (TDP-43)
assoziierten Pathologie. TDP-43 ist ein
wichtiger Bestandteil Ubiquitin-positiver
Einschlüsse bei sporadischer und NichtSOD-ALS).
Nicht vergessen werden darf, dass unabhängig von der in die Pathogenese
eingreifenden Therapie deutliche Fortschritte in der symptomatischen Behandlung der ALS existieren. Die Summe dieser Maßnahmen hat zu einer fassbaren
Verbesserung im Hinblick auf Lebensqualität und Überleben der PatientInnen geführt.
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
wegen seiner teratogenen Wirkung vom
Markt genommen. Aufgrund eines hemmenden Effektes auf TNF-␣ und weitere
proinflammatorische Zytokine wurde die
Substanz im SOD1-Modell eingesetzt, wo
sich eine verlängerte Überlebenszeit zeigte. Eine 9-monatige Phase-II-Studie in den
USA an 23 PatientInnen zeigte keinen günstigen Effekt auf die ALSFR12. Demgegenüber standen Nebenwirkungen wie Sinusbradykardie, die auch zum Abbruch einer
Pilotstudie an der Charité in Berlin führten.
Glatirameracetat, ein unter dem Handelsnamen Copaxone® etablierter Bestandteil der
Basistherapie der multiplen Sklerose (MS), bewirkt einen Shift im Zytokinprofil hin zu antiinflammatorischen Th2-Zytokinen. In einer
Phase-II-Studie an 366 ALS-PatientInnen zeigte sich die Substanz als ähnlich gut verträglich
wie bei MS-PatientInnen bereits bekannt, allerdings fand sich kein nennenswerter therapeutischer Effekt10.
Neurotrophe Faktoren
CNTF (Ciliary neurotrophic factor) wurde nach
viel versprechenden Ergebnissen im SOD1Mausmodell in zwei großen Phase-II-Studien
bei ALS eingesetzt. In beiden Studien zeigte
sich keine Verbesserung in klinischen Skalen
wie der ALSFRS, außerdem eine schlechte Verträglichkeit bei höheren Dosen.
BDNF: Für einen weiteren neurotrophen Faktor, BDNF (Brain-derived neurotrophic factor),
wurde nach ermutigenden Phase-I- und -IIStudien eine Phase-III-Studie an 1135 PatientInnen (25 oder 100 µg BDNF/kg KG/d s.c.
vs. Placebo) durchgeführt, die dann allerdings
keinen signifikanten Effekt auf das Überleben
(nach 9 Monaten) zeigte1.
IGF-1: Im SOD1-Modell konnte durch Gentransfer von IGF-1 (Insulin-like Growth Factor-1) über einen viralen Vektor eine deutliche Verlängerung der Überlebenszeit erreicht
werden. Während eine Phase-III-Studie (n = 266) in den USA zunächst
eine Verlangsamung der Erkrankungsprogression zeigte7, konnte dies
von einer europäischen Studie (n = 183)4 und einer weiteren amerikanischen Studie (n = 330)11 nicht bestätigt werden.
Xaliproden: Für den als orale Therapie verfügbaren neurotrophen
Faktor Xaliproden zeigte sich in zwei Phase-III-Studien (n = 867
und n = 1210) bei insgesamt guter Verträglichkeit keine Verbesserung der Überlebenszeit, aber ein Trend zu einer Verbesserung funktioneller Parameter wie der Vitalkapazität9.
Therapie von oxidativem Stress
Oxidativer Stress wird als möglicher Schlüsselmechanismus in der Pathogenese zahlreicher neurodegenerativer Erkrankungen diskutiert.
Hierunter versteht man ein Ungleichgewicht zwischen der Produktion
reaktiver Sauerstoffradikaler und der Fähigkeit des Organismus, diese
zu entsorgen.
Verschiedene Antioxidantien wie Vitamin E in hoher Dosis (5000 mg/d
vs. Placebo, n = 160)5 oder Coenzym Q10 (n = 185) zeigten keine
signifikante Verbesserung im Hinblick auf Überleben oder klinische
■
Skalen bei ALS.
Ausgewählte Literatur
(Der Beitrag mit ausführlichen Literaturangaben ist bei den Autoren erhältlich.)
1
The BDNF Study Group: A controlled trial of recombinant methionyl human BDNF in
ALS: (Phase III). Neurology 1999; 52:1427–1433
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3 Bensimon G, Lacomblez L, Meininger V, A controlled trial of riluzole in amyotrophic
lateral sclerosis. ALS/Riluzole Study Group. N Engl J Med 1994;
330:585–591
4 Borasio GD et al., A placebo-controlled trial of insulin-like growth factor-I in
amyotrophic lateral sclerosis. European ALS/IGF-I Study Group. Neurology 1998;
51:583–586
5 Graf M et al., High dose vitamin E therapy in amyotrophic lateral sclerosis as add-on
therapy to riluzole: results of a placebo-controlled double-blind study.
J Neural Transm 2005; 112:649–660
6 Lacomblez L et al., Dose-ranging study of riluzole in amyotrophic lateral sclerosis.
Amyotrophic Lateral Sclerosis/Riluzole Study Group II. Lancet 1996; 347:1425–1431
7 Lai EC et al., Effect of recombinant human insulin-like growth factor-I on progression
of ALS. A placebo-controlled study. The North America ALS/IGF-I Study Group.
Neurology 1997; 49:1621–1630
8 Leigh PN et al.,Minocycline for patients with ALS. Lancet Neurol 2008; 7:119-120;
author reply 120–111
9 Meininger V et al., Efficacy and safety of xaliproden in amyotrophic lateral sclerosis:
results of two phase III trials. Amyotroph Lateral Scler Other Motor Neuron Disord
2004; 5:107–117
10 Meininger V et al., Glatiramer acetate has no impact on disease progression in ALS at
40 mg/day: A double- blind, randomized, multicentre, placebo-controlled trial.
Amyotroph Lateral Scler 2009; 1–7
11 Sorenson EJ et al., Subcutaneous IGF-1 is not beneficial in 2-year ALS trial.
Neurology 2008; 71:1770–1775
12 Stommel EW et al., Efficacy of thalidomide for the treatment of amyotrophic
lateral sclerosis: A phase II open label clinical trial. Amyotroph Lateral
Scler 2009; 1–12
13 Yanagisawa N et al., Efficacy and safety of riluzole in patients with amyotrophic lateral
sclerosis: double-blind placebo-controlled study in Japan. Igakuno Ayumi 1997;
182:851–8566
2
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Atmung – Diagnostik und Therapie
Respiratorisches Versagen ist bei ALS-PatientInnen die Todesursache Nummer eins. Es ist daher wichtig,
eine Atemmuskelschwäche frühzeitig zu erkennen, um mit entsprechenden Therapiemodalitäten die damit
verbundene Atemnot zu lindern, die Lebensqualität zu verbessern und eventuell auch die Lebenszeit ein wenig
zu verlängern. Im ersten Teil dieses Beitrags soll auf die Physiologie der Atmung und ihre pathophysiologischen
Veränderungen im Rahmen der ALS eingegangen werden. Im zweiten Teil geht es um die diagnostischen
Möglichkeiten und im letzten Teil um mögliche therapeutische Maßnahmen.
Physiologie der Atmung
Die Atmung dient dem Austausch von CO2
(Kohlendioxid) und O2 (Sauerstoff). Um diesen Austausch optimal zu gewährleisten, sind
eine normale Funktion der nasopharyngealen
Muskulatur zum Schutz der Atemwege vor
Fremdkörpern, das Freihalten der Atemwege
von Sekret, offene Alveolen sowie eine uneingeschränkt funktionierende Atemmuskulatur erforderlich.
Die Atmung gliedert sich in 2 Phasen: die Inspiration, die aktiv über eine Verkürzung der
Zwerchfell- und Interkostalmuskulatur verläuft, und die Exspiration, die rein passiv über
die Relaxierung der inspiratorischen Muskulatur erfolgt. Eine entscheidende Bedeutung
kommt der Atemmuskulatur auch beim Hustenreflex zu, bei dem auf eine rasche Inspiration die Exspiration bei anfangs geschlossener Glottis folgt. Gegen Ende der Exspiration öffnet sich die Glottis, und Sekret kann
bei Zuhilfenahme der Exspirationsmuskulatur
abgehustet werden.
Die Ursache für eine respiratorische Insuffizienz bei neuromuskulären Erkrankungen
liegt in erster Linie in der Ermüdung des
Zwerchfells. Im zervikalen Myelon konnte bei
einigen ALS-PatientInnen, aber nicht bei
allen, mit akutem Atemversagen zugrunde
gegangene Vorderhornzellen nachgewiesen
werden, korrespondierend mit den Neuronen
des N. phrenicus1–3. Elektrophysiologische
Untersuchungen zeigten bei PatientInnen mit
respiratorischem Versagen ausgedehnte Denervation in der Extremitätenmuskulatur und
reduzierte Aktionspotenziale über dem Diaphragma bei Stimulation der Nn. phrenici4.
Wir konnten jedoch auch bei ALS-PatientIn-
22
nen ohne respiratorische Symptome ein neurogenes Muster im Zwerchfell-EMG nachweisen5.
Zunehmender Kraftverlust: Viele Faktoren
können zur Ermüdung der Zwerchfellmuskulatur führen, der wichtigste ist ein zunehmender Kraftverlust der Muskelfasern. Die
Folge ist eine fehlende Anpassung des Atemminutenvolumens bei Belastung (z.B. Anziehen, Körperpflege etc.). Der/die betroffene
PatientIn klagt mit zunehmender Atemarbeit
über Kurzatmigkeit sowie thorakales Druckund eventuell Engegefühl. Die Atemarbeit erhöht sich nicht nur bei Belastung, sondern
auch im Liegen, bei Mangelernährung aufgrund fehlender Energie für die Muskelarbeit
sowie bei Fieber und Infekten. Im Liegen erhöht sich die Atemarbeit für das Zwerchfell,
da Kraft zur Verlagerung des abdominellen
Inhaltes nach kaudal, zum Aufbau eines negativen intrathorakalen Druckes erforderlich
ist. Alveoläre Hypoventilation und steigende
Hyperkapnie (Anstieg des pCO2 über 45
mmHg) bedingen eine weitere Abnahme des
Atemminutenvolumens und der Zwerchfellkontraktiliät mit weiterer Zunahme der
Zwerchfellermüdung.
Die Ermüdung der Exspirationsmuskulatur
zeigt sich meist zuerst in zunehmend insuffizienten Hustenstößen. Eine Beteiligung der
Bulbärmuskulatur belastet die ohnehin
schwache Exspirationsmuskulatur zusätzlich
durch Schluck- und Schleimprobleme. Das
Risiko für Aspiration, Atelektasenbildung,
Pneumonien und daraus resultierendes Atemversagen steigt.
Im Schlaf – und hier im Besonderen in den
REM-Phasen – liegt die Hauptlast der Atem-
Dr. Monika Wild
Niedergelassene Fachärztin für
Lungenkrankheiten, 1110 Wien
arbeit auf dem Zwerchfell. Schlafuntersuchungen können schon in frühen Stadien der
ALS, wenn untertags noch keine Symptome
fassbar sind, auf eine beginnende respiratorische Schwäche hinweisen.
Nächtliche Desaturationen < 88 % für die
Dauer von mindestens 5 Minuten werden als
einfacher und früher Parameter für eine inzipiente Zwerchfellschwäche angesehen und
können auch bei PatientInnen mit einer VC
> 50 % des Solls auftreten6. Bei einigen PatientInnen konnten Adaptationsmechanismen nachgewiesen werden, wie Reduzierung
der REM-Phasen oder Erhalt der Aktivität in
den Mm. sternocleidomastoideii7.
Diagnose
Anamnese
Das wichtigste Symptom für eine beginnende
Schwäche der Atemmuskulatur ist Kurzatmigkeit bei Belastung, nicht Tachypnoe. Da
ALS-PatientInnen oft schon in frühen Stadien
der Erkrankung in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, kann dieses entscheidende
Symptom fehlen. Mit zunehmender Schwäche der Atemmuskulatur kommt es dann
schon bei geringen Belastungen wie Anziehen, tägliche Körperpflege etc. zu Luftnot.
Zu den frühen Zeichen für eine beginnende
Ermüdung des Zwerchfells gehören Atemprobleme in Rücken- oder Bauchlage während
der Nacht.
Weitere Symptome für eine zunehmende
nächtliche Hypoventilation und Hypoxie (Abfall des pO2) sind Insomnie, oftmaliges Erwachen während der Nacht, morgendliche
Kopfschmerzen, heftige Träume, Tagesmüdigkeit und Konzentrationsstörungen, wobei
morgendliche Kopfschmerzen, Tagesmüdigkeit und Albträume vor allem durch die Hyperkapnie (pCO2 > 45 mmHg) und nicht
durch die Hypoxämie (pO2 < 70 mmHg) verursacht werden.
Zusätzliche Risikofaktoren, die eine bestehende Hyperkapnie verschlechtern können, sind
respiratorische Infekte, Pneumonien etc., die
eine vermehrte Schleimbildung zur Folge
haben und die Ventilation dadurch zusätzlich
belasten. Mit weiterer Schwächung der Atmung kommt es zur CO2-Narkose.
In seltenen Fällen von ALS kann die akute
Ateminsuffizienz auch das erste Symptom der
Erkrankung sein. Fehlende pulmonale oder
kardiale Grunderkrankungen sowie „Weaning Failure“ bei maschineller Beatmung müssen an eine neuromuskuläre Grunderkrankung denken lassen.
Physikalische Untersuchung
Die physikalische Untersuchung des ALS-PatientInnen sollte immer sowohl im Sitzen wie
auch im Liegen durchgeführt werden. Im Liegen beobachtet man die Atemfrequenz sowie
Zeichen für eine paradoxe Atmung. Durch
Perkussion ermittelt man die Zwerchfellverschieblichkeit, die im Verlauf der Erkrankung
abnimmt. Die Auskultation ist durch sehr flache Atmung gekennzeichnet, fortgeleitete
bulbäre Geräusche werden oft als bronchitische Atemgeräusche fehlinterpretiert. Durch
die sehr flache Atmung sind bronchitische Geräusche eher leicht zu überhören.
Tests zur Überprüfung der
Lungen- und Atemmuskelfunktion
Bei Diagnosestellung der ALS sollte eine Ausgangsmessung der Lungenfunktion erfolgen,
auch um mögliche pulmonale Grunderkrankungen (COPD, Asthma bronchiale) auszuschließen. Eine gute Erhebung der Lungenfunktion ist nicht einfach und erfordert viel
Wissen und Geschick von Seiten des Personals. Regelmäßige Kontrollen sind anfangs
alle 3–4 Monate, mit zunehmender respiratorischer Insuffizienz alle 3–4 Wochen zu
empfehlen.
Die Untersuchung sollte zumindest eine Spirometrie mit Messung der Vitalkapazität
(FVC), eine Fluss-Volumen-Kurve und die maximal ventilatorische Leistungsbreite (MVV)
umfassen. Die Erhebung der Atemmuskelkraft mit maximal inspiratorischen und exspiratorischen Drucken ist diagnostisch interessant, aber nur in Speziallabors möglich.
Die Messung der Lungenfunktion bei ALSPatientInnen ist auch deshalb wichtig, weil
die Symptome für eine beginnende respiratorische Insuffizienz leicht übersehen werden
können. Fallat et al.8 zeigten in einer Studie,
dass 64 % der PatientInnen mit einer FVC
< 50 % von den behandelnden NeurologInnen noch normale Atemscores erhielten.
Obwohl die Messung der Lungen- und Atemmuskelfunktion von entscheidender Bedeutung für die weitere Betreuung der PatientInnen ist, gibt es bisher noch keinen Konsens
über die Wichtigkeit der einzelnen Parameter.
Forcierte Vitalkapazität (FVC): Die FVC ist
ein sensitiver Parameter im Verlauf der Erkrankung, die exakte Erhebung des Wertes
aber nicht leicht. Die Mehrzahl der PatientInnen ist mit zunehmender Erkrankung nicht
imstande, die standardisierte Ausatemzeit
von mehr als 6 Sekunden zu erreichen und
damit das wichtigste Kriterium der American
Thoracic Society für das Testende zu erfüllen.
Die Folge ist eine mögliche Unterbewertung
der Ergebnisse. Die Verwendung einer Gesichtsmaske kann zu einer Verbesserung der
Messergebnisse führen. Bei einem Abfall der
FVC im Sitzen < 50 % des Solls sollte an
eine nichtinvasive Beatmung gedacht werden.
Maximale willkürliche Ventilation (MVV):
Die MVV gibt Hinweise auf die Kraft und
Ausdauer der Atemmuskulatur und ist bei
ALS-PatientInnen signifikant eingeschränkt.
Im fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung ist dieser Wert oft schwer bis gar nicht
u
zu erheben.
Abb.: Nächtliche Speicherpulsoxymetrie bei einem ALS-Patienten
A. ohne BiPAP-Beatmung
B. mit BiPAP
Die oberste Spur stellt jeweils die SpO2-Verlauf dar, die zweite Spur die Entsättigungen und die dritte Spur die Pulsrate.
23
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
Maximal inspiratorischer und exspiratorischer Druck (PImax, PEmax): Diese beiden
Werte sind im Bezug auf eine Atemmuskelschwäche sensitiver als die FVC, MVV oder die
Blutgasanalyse. Ein Abfall im PImax < 60 cmH20
hat eine Sensitivität von 86 % für einen Abfall
der nächtlichen Sauerstoffsättigung (O2Satt)
auf < 80 % und eine Sensitivität von 100 %
für eine voraussagbare Überlebenszeit von
unter 18 Monaten. Ein PImax unter 60 cm H2O
ist somit eine Indikation für den Beginn einer
nichtinvasiven Beatmung.
Blutgasanalyse: Ein PCO2 ⱖ 45 mmHg bei
einem/einer wachen PatientIn ist eine Indikation für eine nichtinvasive Beatmung. Für den
Nachweis einer Atemmuskelschwäche ist der
Wert aber insensitiv.
Nächtliche Pulsoxymetrie: Desaturationen
ⱕ 88 % für ⱖ 5 aufeinander folgende Minuten in der nächtlichen Pulsoxymetrie sind
signifikant für eine Zwerchfellschwäche und
eine Indikation für eine nichtinvasive Beatmung (Abb.).
Therapie
Bei ALS-PatientInnen sollte es nicht nur um
die Therapie akut aufgetretener Erkrankungen der Atmung und des Respirationstraktes
gehen, sondern von Beginn an um die Vorbeugung von Komplikationen und das rechtzeitige Einsetzen von Therapiemaßnahmen.
Ab der Diagnosestellung steht die Vermeidung von Infektionen im Respirationstrakt im
Vordergrund, einerseits durch Impfungen (Influvac®), andererseits durch Minimierung der
Ansteckungsmöglichkeiten. Bei starkem, produktivem Husten sollte möglichst früh eine
antibiotische Therapie begonnen werden. Die
Betreuer von ALS-PatientInnen sollten in Lagerungsdrainage wie auch Klopfmassage geschult sein, um im Fall von Sekretproblemen
helfen zu können.
Bei fortschreitender Bulbärsymptomatik muss
der/die PatientIn über die richtige Esstechnik
(in aufrecht sitzender Position mit dem Kinn
leicht zur Brust, nur kleine Bissen und ausreichend Zeit) zur Vermeidung von Aspirationen unterrichtet werden.
Sekretmobilisierung ist ein wichtiges Thema
im pulmonalen Management von ALS-Patien-
24
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
tInnen. Ziel der Behandlung ist die Verflüssigung und Mobilisierung des Sekrets einerseits
sowie die Reduzierung der Sekretbildung andererseits. Medikamente zur Reduzierung der
Sekretion sind Anticholinergika, Amitryptilin
und transdermales Scopolamin. Die hemmende Wirkung von Botulinumtoxin auf die Funktion der Speicheldrüsen erfordert noch weitere Studien. Bei eingedicktem Sekret können
Feuchtinhalationen mit Anticholinergika, ␤Blockern, Aycetylcysteinen oder Natriumchlorid hilfreich sein.
Ein effizienter Hustenstoß zur Reinigung der
Atemwege muss eine Flussgeschwindigkeit
von mindestens 160 l/min erreichen. Sinkt
die Flussgeschwindigkeit unter 160 l/min,
sind therapeutische Maßnahmen erforderlich. Eine Möglichkeit, die Sekretmobilisierung zu verbessern, ist „Air Stacking“. Bei
geschlossener Glottis werden mehrere Atemzüge hintereinander eingeatmet, um so das
Lungenvolumen für den anschließenden Hustenstoß zu erhöhen9. Eine größere Husteneffizienz kann auch durch einen gleichzeitigen Druck auf das Abdomen während eines
Hustenstoßes erzielt werden. Mit dem maschinellen In-und-Ex-Sufflator, auch Hustenassistent genannt, wird über eine Maske
durch einen positiven Druck in der Inspiration
das Lungenvolumen erhöht und beim darauf
folgenden Hustenstoß durch einen negativen
Druck die Atemwegsclearance verbessert10, 11.
Eine Sauerstofftherapie darf nur unter äußerst strengen Indikationskriterien und unter
regelmäßigen Kontrollen des pCO2, zur rechtzeitigen Erkennung einer Hyperkapnie, angewendet werden.
Eine nichtinvasive Beatmung über eine
Nasen- oder Nasen-Mund-Maske während
der Nacht ist bei der Erfüllung o.g. Kriterien
indiziert. Die positive Druckbeatmung mit
zwei unterschiedlichen Druckniveaus (BiPAPBeatmung) kommt den physiologischen Gegebenheiten am nächsten. Das Gerät wird
vom/von der PatientIn getriggert, die Atemarbeit vermindert, der Gasaustausch und die
Schlafqualität verbessert. Damit wird die Atmung effizient unterstützt, die Überlebenszeit gering verlängert und die Lebensqualität
des/der ALS-PatientIn signifikant verbessert.
Aber nicht alle ALS-PatientInnen tolerieren
die Maske, wobei PatientInnen mit bulbärer
Symptomatik die Maske weniger oft akzep-
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
tieren als jene mit milder bzw. keiner bulbären
Symptomatik. Die Masken-BiPAP-Beatmung
bei ALS-PatientInnen ist auf jeden Fall als palliative Maßnahme zu sehen und soll zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen.
Mit weiterer Progredienz der Erkrankung
reicht die nichtinvasive Beatmung nicht mehr
aus, eine Tracheotomie wird erforderlich. Die
Entscheidung zur Tracheotomie ist schwierig
und nur individuell zu treffen. Der/die PatientIn und seine/ihre Familie sollten rechtzeitig
über die Bedeutung einer invasiven Beatmung zu Hause aufgeklärt werden sowie
über die Progredienz der Erkrankung und das
mögliche Erreichen eines „Locked-in“-Stadiums auch unter Beatmung informiert werden. Sind der/die PatientIn und die Angehörigen über den genauen Sachverhalt unterrichtet und wird eine invasive Beatmung
abgelehnt, sollte eine schriftliche Patientenverfügung erstellt werden. Laut internationalen Studien entschließen sich zwischen 2–5 %
aller ALS-PatientInnen zu einer invasiven Beatmung.
Sollte sich der/die PatientIn gegen eine invasive Beatmung entscheiden, ist eine weitere
palliative Betreuung zur Symptomminimierung unbedingt erforderlich. Bei zunehmender Dyspnoe sind Morphin in niedriger Dosierung sowie Anxiolytika bei Angstzustän■
den zu empfehlen.
1
Chen R et al., Motor neuron disease presenting as
acute respiratory failure: a clinical and pathological
study. J Neurol Neurosurg Psychiatr 1996;
60(4):45–458
2 De Carvalho M et al., Motor neuron disease presenting
with respiratory failure. J Neurol Sci 1996;
139(suppl):117–122
3 Fromm GB et al., Amyotrophic lateral sclerosis presenting with respiratory failure. Diaphragmatic paralysis
and dependence on mechanical ventilation in two
patients. Chest 1977; 71(5):612–614
4 Chen R et al., Motor neuron disease presenting as
acute respiratory failure: electrophysiological studies.
Muscle Nerve 1997; 20(4):517–519
5 Lahrmann H, Albrecht G, Hitzenberger P, Wild M, Zifko
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diaphragm in ALS. J Neurol 2000; 247:25
6 Elman LB et al., Nocturnal oximetry: utility in the
respiratory management of amyotrophic lateral
sclerosis. Am J Phys Med Rehabil 2003;
82(11):866–870
7 Arnulf I et al., Sleep disorders and diaphragmatic
function in patients with amytrophic lateral sclerosis.
Am J Respir Crit Care Med 2003; 161(3 pt 1):849–856
8 Fallat RJ et al., Spirometrie in amyotrophic lateral
sclerosis. Arch Neurol 1979; 36(2):74–80
9 Bach JR et al., Glossopharyngeal breathing and
noninvasive aids in the management of post-polio
respiratory insufficiency. Birth Defects Orig Artic Ser
1987; 23(4):99–113
10 Lahrmann H, Wild M, Zdrahal F, Grisold W. Expiratory
muscle weakness and assisted cough in ALS.
Amyotroph Lateral Scler Other Motor Neuron
Disord 2003; 4(1):49–51
11 Winck JC et al., Effects of mechanical insufflationexsufflation on respiratory parameters for patients with
chronic airway secretion encumbrance. Chest 2004;
126(3):774–780
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Palliative Betreuung von Anfang an
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine unbehandelbare, progredient verlaufende neuromuskuläre
Erkrankung und führt in jedem Fall zum Tod: in mehr als 75 % der Fälle durch Atemmuskellähmung (die
mediane Überlebenszeit ab Symptombeginn beträgt ca. 30 Monate). Es gibt trotz intensiver, internationaler
Forschungsanstrengungen derzeit keinen Anhaltspunkt für die Ursache, und es existiert kein kausaler
Therapieansatz. Damit stellt ALS praktisch ein Paradigma der Palliativmedizin dar (WHO-Definition).
D
Die Tatsache, dass unsere hoch technisierte
und weit entwickelte Medizin keine Therapiemöglichkeit anbieten kann, stellt in der
Arzt-Patient-Beziehung für beide Seiten eine
große Hürde dar. Nicht „heilen“ zu können
und trotzdem für die PatientInnen da zu sein
scheint für viele KollegInnen schwer möglich
und führt leider nicht so selten zu NegativAussagen wie: „Ich kann leider nichts mehr
für Sie tun.“ Auf der anderen Seite stehen
der/die PatientIn und seine/ihre Angehörigen,
die nicht glauben können, dass die „allmächtige“ Medizin gerade bei ihnen versagt. Gerade deshalb ist ein sensibel geführtes und
auf die Situation des/der PatientIn und seiner/ihrer Angehörigen abgestimmtes Aufklärungsgespräch – bzw. meist mehrere Gespräche – so wichtig (siehe Seite 28 Das Aufklärungsgespräch bei ALS).
Unterstützung ohne leere Versprechungen: Es muss bei Diagnosestellung nicht der
Vollständigkeit halber gleich vom Finalstadium der Erkrankung mit Atemversagen, von
Patientenverfügung und eventueller PEGSonde gesprochen werden, nur um eine
„sorgfältig“ durchgeführte Aufklärung dokumentieren zu können. Trotz der negativen
Gesamtsituation benötigt der/die PatientIn
auch für die verbleibende Zeit Vertrauen in
die medizinische Betreuung, denn die „Hoffnung stirbt zuletzt“. Gerade die Unterstützung des Lebensmutes der PatientInnen ohne
falsche Hoffnungen und leere Versprechungen zu machen ist eine Voraussetzung, aber
auch eine wichtige erworbene Fähigkeit bei
der Begleitung von ALS-PatientInnen.
26
Ein auf die aktuellen Probleme und Sorgen
des/der PatientIn eingehendes, schrittweises
Vorgehen hat sich dabei sehr bewährt. Oft
müssen zuerst Un- bzw. Halbwahrheiten oder
für die Erkrankung nicht zutreffende Empfehlungen, die aus Sekundärquellen – derzeit
vorwiegend aus dem Internet – stammen,
eingehend besprochen werden, bevor Platz
für das uns gerade wesentlich Erscheinende
ist. Auch das ehrliche Gespräch über Sinn
und Unsinn von Heilmethoden, die nicht leitlinienkonform sind, gehört zur Begleitung der
PatientInnen. Eine klare Absage an Angebote
der Stammzellentherapie ist zum gegenwärtigen Stand der Forschung auf jeden Fall angebracht, um PatientInnen vor gesundheitlichen Risiken und finanziellen Verlusten zu
schützen.
Bestmögliche Lebensqualität: PatientInnen mit dieser oft rasch progredienten Erkrankung benötigen jedenfalls eine kontinuierliche und möglichst persönliche medizinische Betreuung. Diese geht über das
Behandeln rein neurologischer Begleitsymptome, wie etwa Spastik, Schmerzen, Schlafstörungen und einer reaktiven Depression,
hinaus und erfordert von Beginn an einen
palliativen Zugang.
Aufgrund der derzeit nicht erzielbaren Heilung steht die Erhaltung einer bestmöglichen
Lebensqualität im Vordergrund allen ärztlichen Handelns. Dazu gehört auch das sorgfältige Abwägen zwischen Nutzen für den/die
PatientIn und Aufwand und Risiko bei jeder
angeordneten Untersuchung und Therapie.
DI Dr. Heinz Lahrmann,
Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Grisold
Kaiser-Franz-Josef-Spital Wien
Vorausplanen bei Hilfsmitteln: Oft ist es
schwer, mit dem Fortschreiten der Erkrankung bei Planung und Heranschaffen von
Hilfsmitteln Schritt zu halten. Ein vorsichtiges
Vorausplanen ist sinnvoll, auch wenn PatientInnen und Angehörige Entscheidungen
gerne bis zuletzt aufschieben (Rollstuhl, Pflege zu Hause, PEG-Sonde, BiPAP-Beatmung).
Unser Gesundheitssystem ist zwar im internationalen Vergleich sehr gut ausgerüstet, allerdings kann die Bürokratie nicht immer mit
dem raschen Krankheitsverlauf mithalten,
was zur Überforderung von PatientInnen und
Angehörigen führt.
Das lässt sich bei der Verordnung von Hilfsmitteln gut nachvollziehen. Die Zusammenarbeit mit SpezialistInnen aus den unterschiedlichsten Gebieten der Reha-Technik
(z.B. elektronische Kommunikationssysteme,
Beatmungs- und Absaugegeräte, Rollstühle
und Transferhilfen) hilft PatientInnen und Angehörigen, schneller und effizienter an die
notwendigen Produkte zu kommen. Solche
Kooperationen sollten in Zentren, die sich mit
ALS-PatientInnen beschäftigen, vorhanden
sein.
Palliativteam: Die Integration einer eines
Sozialarbeiters /einer Sozialarbeiterin in das
Palliativteam zur Beratung und Unterstützung
bei den oft schwierigen Fragen betreffend
Anträge auf Beihilfen, Pflegegeld und Behindertenwohnungen, um nur ein paar Beispiele
Kommunikationshilfsmittel mit Computer. Interface: Kopfmaus
zu nennen, kann eine große Hilfe darstellen.
PatientInnen und Angehörige sind, besonders
in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung,
mit dem Alltag aus Pflege, Mobilisation,
Essen etc. oft schon über das erträgliche Maß
hinaus körperlich und psychisch belastet, sodass die Hilfe von Seiten der Sozialarbeit beim
Weg durch den Behördendschungel oft dankbar angenommen wird.
Einen Platz im Betreuungskonzept haben die
Physio- und Ergotherapie und gegebenenfalls die Logopädie. Aber auch hier ist die
realistische Einschätzung der Möglichkeiten
wichtig, um Enttäuschungen und Therapieabbrüchen vorzubeugen. Gut ist es, eine/n
mit ALS erfahrene/n Therapeuten/-in im
Team zu haben, da Besonderheiten zu beachten sind, die sich aus der Pathophysiologie der Erkrankung ergeben (unter anderem
Spastik, erhaltene Sensibilität und der negative Effekt von Reizstrom).
Betreuung zu Hause: Für den überwiegenden Teil der PatientInnen ist es ein Bedürfnis,
bis zuletzt zu Hause bleiben zu können und
Krankenhausaufenthalte möglichst zu vermeiden. Die Betreuung eines zunehmend behinderten Menschen stellt enorme körperliche und psychische Anforderungen an alle
beteiligten Personen dar, sodass bei einem
palliativen Konzept die Unterstützung der Familie bzw. des Partners einen besonders
hohen Stellenwert haben muss (siehe Seite 34
Angehörigenbetreuung).
Bei der Heimbetreuung von ALS-PatientInnen
hat sich die Zusammenarbeit mit einem mobilen Hospizteam bewährt (z.B. Mobiles Hospiz der Caritas Wien, www.caritas-wien.at/
hilfe-einrichtungen/hospiz/mobiles-hospiz).
Untersuchungen haben gezeigt, dass dadurch sogar eine Verlängerung der Überlebenszeit erreicht werden kann (Traynor et al.,
2003).
Besteht der Wunsch nach seelsorgerischer Begleitung bzw. existiert
ein religiöser Hintergrund des/der
Patienten/-in, so kann das Hinzuziehen eines/einer in palliativer Betreuung erfahrenen SeelsorgerIn
eine große Hilfe sein. Es konnte
gezeigt werden, dass ALS-PatientInnen mit religiöser Bindung eine
bessere Lebensqualität haben.
Ein bei guter extramuraler Betreuung geringer Teil der PatientInnen
möchte in der Phase der gesundheitlichen Verschlechterung im
Krankenhaus oder stationären
Hospiz (bzw. Palliativstation) behandelt werden. Möglicherweise
vermittelt die Institution per se, die
sofortige Verfügbarkeit von ÄrztInnen und Pflegepersonal und medizinischen Techniken, einen subjektiven Eindruck der Sicherheit,
der individuell abzuwägen und zu respektieren ist.
Trauerreaktionen der Hinterbliebenen:
Nach dem Tod der PatientInnen reißt für die
betreuenden Angehörigen die sehr intensive
Zuwendung, die fast ununterbrochene Anforderung und Aufmerksamkeit, abrupt ab.
Das für den/die PatientIn aufgebaute Gebäude aus Empathie, Zuneigung, Pflichtgefühl und Handlungsbedarf wird plötzlich abgeschaltet und lässt Angehörige in einem
Zustand aus Trauer, Müdigkeit und Leere,
Erleichterung und Schuldgefühlen zurück.
Die Trauerrektionen der Hinterbliebenen
werden von Palliativeinrichtungen im Rahmen der Trauerarbeit sehr wohl wahrgenommen, gehen aber in unserem Alltag lei■
der oft unter.
Literatur bei den Verfassern
27
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Das Aufklärungsgespräch bei ALS
KONTEXT: Das ärztliche Aufklärungsgespräch bei schweren Erkrankungen ist ein kontroversielles Thema. Die Bandbreite ist groß, und ich möchte mit zwei konträren Beispielen
beginnen:
Fallbericht: Der 70-jährige Patient bemerkt Gewichtsverlust, Muskelzuckungen und reduzierte körperliche Belastbarkeit. Schluckstörungen treten zunehmend auf und verlängern die Dauer der Mahlzeiten stark. Die bisherigen Untersuchungen sollen normal gewesen sein, nunmehr kommt der Patient zum Facharzt, der die Krankheit in der Zusammenschau von Anamnese, klinischem und elektrophysiologischem Befund feststellt. Es
folgen zwei unterschiedliche Aufklärungsgespräche:
Aufklärungsgespräch 1: Sie leiden an ALS, einer unheilbaren und im Durchschnitt in ein
bis zwei Jahren zum Tode führenden Erkrankung. Therapeutisch gibt es medikamentös
keine Möglichkeiten, mit Hilfsmaßnahmen kann man Ihr Leiden lindern.
Aufklärungsgespräch 2: Ich stelle fest, dass Sie eine Erkrankung des neuromuskulären
Systems haben. Eine „Motor Neurone Disease“, oder Vorderhornzellerkrankung, ist wahrscheinlich. Es gibt aber zahlreiche andere Ursachen, die zu ähnlichen Symptomen führen
können, und ich werde jetzt eine Reihe von Untersuchungen anordnen, die möglicherweise
eine andere Ursache finden. Ich werde Sie in Abständen wiederbestellen, untersuchen,
und wir werden die weitere Entwicklung beobachten.
Wo finden Sie sich, bei der Aufklärung im Beispiel 1 oder Beispiel 2, oder irgendwo dazwischen? Noch wichtiger: Welche der beiden Versionen entspricht Ihrem eigenen Umgang
in und mit Aufklärungsgesprächen am ehesten?
D
Die Diagnose einer ALS ist durch die klinischen
Befunde und den Verlauf möglich. Während
die Diagnose im fortgeschrittenen Stadium
leicht zu stellen ist, basiert sie in den Anfangsstadien oft auf Intuition und klinischer
Erfahrung. Definitive Labortests, abgesehen
für die seltenen genetischen Formen, gibt es
nicht, und auch die Elektroneurodiagnostik
ist in frühen Stadien nicht immer hilfreich.
Selbst wenn die Diagnose schon sehr wahrscheinlich ist, wird oft mit der konkreten Benennung des Krankheitsbildes gezaudert.
Umschreibungen wie beispielsweise „Motoneuronerkrankung“, „Vorderhornzellerkrankung“, lassen einerseits den BehandlerInnen
einen Spielraum, andererseits dürfte die (uneingestandene) Hoffnung bestehen, dass
der/die PatientIn die Tragweite der Krankheit
nicht in der Gesamtheit erfasst. Diese, oft
durch eigene Unsicherheit geprägte Situation
ist eine schlechte Grundlage für die Aufklärung des/der PatientIn.
28
Umgang mit PatientInnen
Uns gegenüber steht der/die PatientIn, der
von uns eine für ihn positive ärztliche Handlung, Linderung der Beschwerden und wenn
möglich Heilung erwartet. Diese/r PatientIn
kann jung oder alt, medizinisch gebildet oder
weniger gebildet, interessiert oder weniger
interessiert, ängstlich oder weniger ängstlich
sein, fast immer aber besteht eine gewisse
Hoffnung auf erfolgreiche Behandlung. PatientInnen sind auch unterschiedliche Persönlichkeiten, für die verschiedene Umgangsformen mit und Vertrauensbeziehungen zu ÄrztInnen bestehen. In der älteren Generation
überwiegt oft eine paternalistisch dominierte
Beziehung, während bei jüngeren PatientInnen eher eine dienstleistungsorientierte ArztPatient-Beziehung („Consumerism“) vorliegt.
Der/die jeweilige PatientIn bewegt sich innerhalb dieser Haltung, und es ist für den Verlauf
und die Wirkung des Aufklärungsgespräches
Prim. Univ.-Prof. Dr.
Wolfgang Grisold
Neurologische Abteilung,
Kaiser-Franz-Josef-Spital Wien,
LBI für Neuroonkologie
entscheidend, diese zu akzeptieren und auf
sie einzugehen. Keinesfalls soll dem/der Patienten/-in die eigene Haltung bezüglich der
Arzt-Patient-Beziehung aufgezwungen werden.
Ein weiterer Aspekt ist die gegenwärtige medizinische Einstellung zu dem/der PatientIn,
seinen/ihren Rechten, Möglichkeiten und Bedürfnissen, die natürlich wandelbar ist, sozusagen ein „Kind ihrer jeweiligen Zeit“.
In den letzten Dekaden hat sich der Umgang
mit PatientInnen in Bezug auf Mitteilung von
Diagnose, Therapiemöglichkeiten und Prognose verändert. Noch in den 70er Jahren
dominierte der paternalistische Zugang, welcher den „schonenden“ Umgang mit PatientInnen vorzog und manchmal sogar explizit
die Diskussion der schwerwiegenden Krankheit vermied oder sogar verbot. Der Grund
für die Zurückhaltung war die Angst, dass
PatientInnen wegen der schlechten Diagnose
verzweifeln könnten.
Diese Haltung hat sich deutlich geändert, und
PatientInnen haben ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Eigenverantwortung übernommen. Dafür gibt es wahrscheinlich viele
Ursachen. Eine davon ist die Möglichkeit, sich
rasch und ausführlich zu informieren, was
durch Medien und besonders die Nutzung
des Internet möglich ist. Die vollständige Aufklärung, Einbeziehung des/der PatientIn in
Diagnose und Prognose und partnerschaftlicher Umgang mit der Krankheit sind derzeit
die geforderten und gebotenen Vorgangsweisen.
Begründet wird dies damit, dass dem/der PatientIn eine „Standortbestimmung“ und eine
Abschätzung der Auswirkungen der Krankheit
auf sein/ihr weiteres verbleibendes Leben ermöglicht werden sollen.
Aufklärung über die Fakten
Die medizinisch korrekte, sachlich richtige
Aufklärung ist die am besten anwendbare
Methode des Aufklärungsgespräches. Der
Arzt oder die Ärztin soll möglichst klar und
präzise darstellen, welche Krankheit der/die
PatientIn hat, wie groß die Wahrscheinlichkeit
und Sicherheit sind, dass die Diagnose korrekt ist und auf mögliche Trennungsschärfen
eingehen.
Auch diese klare und unmissverständliche
Aussage kann Tücken im Detail aufweisen.
Beispielsweise können die Verwendung von
(medizinischen) Fachausdrücken oder medizinischen Inhalten zunächst zwar eine formal
korrekte Aufklärung gewährleisten, die aber
durch das fehlende Verständnis des/der PatientIn eingeschränkt ist.
Kontroversiell zu diskutieren ist auch, inwieweit in der Aufklärung der Wunsch des/der
PatientIn, vollständig informiert werden zu
wollen oder nicht, berücksichtigt werden
kann und muss. Beispielsweise kann die vollständige Aufklärung über ALS bei
einem/einer Patient/-in als ehrliche Aufklärung, bei einem anderen aber als brutale
Konfrontation mit der Realität erlebt werden. Mehrere Interpretationen des hippokratisches Eides beschäftigen sich mit diesem Thema, wobei die „Diagnose“ zur Zeit
der Abfassung des hippokratischen Eides
nicht mit dem heutigen Begriff „Diagnose“
gleichzusetzen und in einem anderen Kontext zu sehen ist. Die Interpretationen sind
vielfältig, aber es scheint für die griechischen
Ärzte dieser Zeit eher wichtiger gewesen zu
sein, die Prognose als die Diagnose zu nennen. In der heutigen Medizin scheint das
genau gegenteilige Phänomen gegeben zu
sein.
Praktisch gesehen ist manchmal ein einziges
Aufklärungsgespräch nicht genug, und es
müssen mehrere Gespräche geführt werden,
bis der Inhalt des Aufklärungsgespräches mit
großer Wahrscheinlichkeit dem/der PatientIn
bewusst ist. Es bleibt zu berücksichtigen, dass
auch der Inhalt der Aufklärung situationsbedingt nicht immer vollständig verstanden
wird. Wenn eine solche Überforderung bemerkt wird, sollte man ein weiteres Gespräch
führen.
Das Gespräch sollte möglichst störungsfrei
und mit angemessenem Zeitaufwand geführt
werden, wobei auch die vorausgehende Information, die ja die Basis der Aufklärung ist,
solide sein soll. Sehr wichtig ist zu beachten,
wer in dieser Situation mit wem spricht:
Die Aufklärung unter 4 Augen ist eine Methode, die wahrscheinlich den unmittelbarsten Kontakt für beide Beteiligten darstellt.
Bei Gesprächen mit mehreren Beteiligten
können sich Konstellationen bilden, die
immer bedacht werden sollten und deren Einfluss auf die Rolle der einzelnen Personen
und damit den Inhalt des Gespräches zu berücksichtigen ist.
a) ÄrztIn und PatientIn
b) ÄrztIn und PatientInnen und dessen
Angehörige
c) ÄrztIn und anderes medizinische
Personal und Patient
d) ÄrztIn und Personal mit PatientInnen
und dessen Angehörige
Wenn sich die Möglichkeiten b–d ergeben
oder bewusst gewählt werden, muss man
sich klar sein, dass anwesende Personen dem
Gespräch jeweils einen anderen Charakter
geben können. Interaktionen zwischen den
Beteiligten treten auf. Besonders in der Onkologie hat sich gezeigt, dass PatientInnen
alleine anders reagieren als in Begleitung der
Lebenspartner und auch andere Aussagen
machen bzw. Entscheidungen treffen. Ursachen sind Erwartungen an die Partner, Sorgen, Ängste und oft Projektionen.
Angehörige und soziales Umfeld
Der Zeitpunkt des Aufklärungsgespräches
entspricht nicht der ersten Konfrontation mit
der Krankheit. Vor der ärztlichen Untersuchung ist der/die PatientIn schon längere Zeit
mit Symptomen konfrontiert. In dieser ersten
Phase der Auseinandersetzung mit der Krankheit sind in der Regel andere Personen be-
teiligt: Ehepartner, Verwandte, FreundInnen
erleben den/die PatientIn mit seiner/ihrer
Krankheit und geben Ratschläge. Beeinflusst
wird diese Phase durch Information durch
gut zugängliche, aber ungefilterte Quellen
wie das Internet.
Die Beteiligung von Partnern oder Freunden
ist ein wichtiges Potenzial für die Weiterbehandlung. Bei allein stehende Personen sind
bereits sehr früh professionelle Hilfen notwendig, bei PatientInnen mit sozialem Umfeld sollen andere beteiligte Personen früh in
das Management einbezogen werden: Freunde und Familienangehörige können wertvolle
Hilfe leisten. Professionelle HelferInnen sollten einerseits möglichst bald in Beratungsgesprächen, andererseits auch im späteren
Verlauf aktiv eingesetzt werden.
Lassen sich die Prinzipien
von Kübler-Ross anwenden?
Das Buch „On death and dying“ von Elisabeth Kübler-Ross hat im Umgang mit Schwerkranken keinen Stein auf dem anderen gelassen. Kübler-Ross beschreibt darin den Ablauf verschiedener Phasen des Umgangs mit
unheilbarer Krankheit durch den/die PatientIn, von der ersten Konfrontation, möglicherweise der „Aufklärung“, bis zum Tod.
Diese Einteilung hilft uns im Umgang mit
Schwer- und Todkranken. Obwohl StudentInnen und Pflegeberufe diese Lehrinhalte geradezu als unumstößliche „Wahrheit“ vermittelt bekommen, müssen wir berücksichtigen, dass dieses Konzept nur approximativ
und im Einzelfall starken Variationen unterworfen ist. Weiters ist zu bedenken, dass die
Untersuchungen einerseits vorwiegend aus
der Onkologie kommen und dass andererseits die Studien in den USA vor ca. 30 Jahren
erfolgten, unter ähnlichen, aber nicht prinzipiell gleichen gesellschaftlichen Bedingungen.
Die Frage, ob der/die VerkünderIn einer guten
oder einer schlechten Nachricht willkommener ist, kann nur rhetorisch gestellt werden.
Unsere Aufgabe ist leider auch die Verkündigung schlechter Nachrichten, wobei gerade
bei ALS, zumindest derzeit, wenige positive u
29
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
Therapiemöglichkeiten angeboten werden
können. Wenig, weil es ja die Option der Riluzol-Therapie gibt und weil wir in den letzten
Jahren gelernt haben, die palliative Therapie
zu verbessern und damit das Leiden des/der
PatientIn zu mindern und auch die Lebensqualität weitmöglich zu erhalten.
Der Inhalt des Aufklärungsgespräches vermittelt medizinisches Wissen, hat also einen zeitabhängigen objektiven Inhalt. Die Vermittlung des Inhaltes kann in unterschiedlicher
Weise erfolgen und hängt von vielen Faktoren ab. Das Aufklärungsgespräch soll die objektiven Inhalte enthalten und keine beschönigenden oder euphemistischen Inhalte und
Aussagen, andererseits aber auch keine negativen Prädiktoren beinhalten, die eine negative Beeinflussung im Sinne eines NoceboEffektes darstellen. Bei der Erwähnung des
Wortes Placebo heben noch immer viele ÄrztInnen zumindest ein Augenlid und denken
an die Spritze mit Kochsalz, die man
einem/einer Patienten/-in gibt, von dem/der
man vermutet, dass er/sie möglicherweise auf
eine Scheinbehandlung anspricht. Glücklicherweise ist über den Placebo-Effekt viel publiziert worden, und wir wissen, wie wichtig
dieser Effekt ist. Weniger Beachtung verdient
der Ausdruck Nocebo, also eine negative Beeinflussung des Krankheitsverlaufes durch
eine negative Voraussage. Diese kann mehr
Schaden anrichten als dem normalen Krankheitsverlauf entsprechen würde.
Wer führt das
Aufklärungsgespräch?
Das erste Gespräch zwischen PatientIn und
Arzt/Ärztin ist eine wichtige Voraussetzung
für die zukünftige Beziehung, wobei dieses
für den/die Patienten/-in entscheidend für
sein/ihr verbleibendes Leben, und für den
Arzt/die Ärztin möglicherweise nur ein ernstes Gespräch von vielen ist. Die Empathie
des Arztes/der Ärztin spielt eine wichtige
Rolle, aber in der Wechselwirkung hat der/die
BehandlerIn einen gewissen Spielraum, den
er/sie nicht überschreiten kann und soll: Ein
mitleidender Behandler wird weniger gut ob-
30
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
jektive Entscheidungen treffen können. Das
aktive persönlich-emotionale Einbringen der
Person des Arztes/der Ärztin in den Aufklärungsprozess, beispielsweise mit dem Einflechten eigener Geschichten und persönlicher Ansichten, wird in der Palliativmedizin
sehr streng hinterfragt und eher abgelehnt.
Erwähnenswert ist noch die fachspezifische
Rolle des Behandlers in der Patientenbeziehung. Wir NeurologInnen sind oft nur die
beigezogenen KonsiliarärztInnen, während
die Hauptlast der Behandlung ein anderer
Arzt, beispielsweise der praktische Arzt, trägt.
Diese Rolle des Konsilararztes zu beachten,
da dieser ja oft nur die entscheidende Diagnose stellt, aber den/die PatientIn oft nicht
behandelt. Sollte diese Konstellation vorliegen, ist ein direktes Gespräch zwischen behandelnden KollegInnen wichtig.
Kausalität/Schuld
und Sühne/Wissenschaft
Ein sehr wichtiger, in der Häufigkeit und
Dringlichkeit über die Zeit zunehmender Inhalt des Gespräches ist der Versuch der PatientInnen, einen Grund für die Krankheit zu
finden. Beruflicher oder privater Stress, Begleitkrankheiten, mangelhafte medizinische
Untersuchung und Behandlung werden oft
RESÜMEE
Zusammenfassend ist das Aufklärungsgespräch bei der Diagnose ALS ein elementarer Bestandteil der PatientInnenÄrztInnen-Beziehung. Wie in einer partnerschaftlichen Beziehung sollte es
möglichst offen und klar geführt werden
und auch die offenen Fragen des/der PatientIn beantworten.
Es gibt in dieser wichtigen Interaktion
zahlreiche Überlegungen, die über den
objektiven Inhalt hinausgehen und von
den Persönlichkeiten des/der PatientIn
und des Arztes/der Ärztin sowie den beteiligten Personen geprägt werden.
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
angeschuldigt. Ziel des Aufklärungsgespräches ist es, PatientInnen darüber aufzuklären,
dass es nach derzeitigem medizinischem Wissen keine kausalen Ursachen gibt, und dass
leider auch Vorsorgeuntersuchungen nicht
dazu beitragen können, die Krankheit frühzeitig zu entdecken.
Berechtigterweise stellen PatientInnen oft die
Frage, warum die Wissenschaft nicht weiterhelfen kann, ob man mit teuren Behandlungen, die nicht vom Gesundheitswesen gedeckt werden, bessere Erfolge erzielen kann
und ob es alternative Methoden gibt die besser wirken als die hilflose Schulmedizin. Diese
Fragen treten oft auf und sind relativ leicht
mit dem derzeitigen Wissensstand zu beantworten.
Persönlichkeitsstruktur,
Religion, Spiritualität
Entgegen allen Theorien und Hypothesen
über die Umstände des Ablaufes und Folgen
des ärztlichen Aufklärungsgespräches wird
das Gespräch von den persönlichen Eigenschaften des/der PatientIn, seiner/ihrer Persönlichkeitsstruktur, Herkunft und letztlich
auch Spiritualität und Religion bestimmt.
Diese höchst persönlichen Eigenschaften und
Werte der PatientInnen bestimmen auch den
Umgang mit der Information und sind die
Grundlage für die Strategie und die Kommunikationsmöglichkeiten in diesem Ge■
spräch.
Literatur:
- Back AJ et al., Compassionate Silence in the Patient–
Clinician Encounter: A Contemplative Approach.
J Palliat Med 2009; 12:1113–7
- Benedetti F et al., When words are painful: unraveling
the mechanisms of the nocebo effect. Neuroscience
2007; 147(2):260–71
- Dawkins R, The God delusion. 2006 Transworld
publishers
- Greenhalgh T et al., Narrative based medicine, BMJ 1998
- Kübler-Ross E., On death and dying. 1969 New York
MaxMillan
- Miles SH, The Hippocratic oath and ethics of medicine,
2004 Oxford university press
- Pollo A, Benedetti F, The placebo response: neurobiological and clinical issues of neurological relevance. Prog
Brain Res. 2009; 175:283–94
- Tallis R, Hippocratic oaths, 2004 London Atlantic books
- Thompson WG, The placebo effect and health, 2005
Prometheus books
- Tucker T, Culture of Death Denial: Relevant or Rhetoric
in Medical Education? J Palliat Med, 2009; 12:1105–8
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Supportive Maßnahmen bei ALS
Es können hier nur die wichtigsten, im Verlauf der Erkrankung möglicherweise auftretenden Symptome und ihre
Behandlung aufgeführt werden. Dem wichtigen Themenkomplex Atemmuskelschwäche und Beatmung ist ein
eigener Beitrag gewidmet. Viele Begleitsymptome bei ALS lassen sich zu Hause und mit einigen wenigen, gut
erprobten Medikamenten behandeln, um die Lebensqualität zu verbessern.
S
So stellte sich in einer Untersuchung über
die von SpezialistInnen am meisten verwendeten Medikamente bei ALS (D. Forshew 1998)
Amitryptilin als in vielen Indikationen wirksam
heraus. Neben seiner bekannten antidepressiven Wirkung hemmt es über seine anticholinerge Wirkung die Speichelsekretion,
verbessert den Schlaf ohne atemdepressive
Nebenwirkung, verringert das Zwangsweinen/
Zwangslachen und vermindert die Dranginkontinenz.
Muskelschwäche: Zunehmende Schwäche
ist meist der größte Beschwerdekomplex bei
ALS. Aktive und passive Physiotherapie sind
hilfreich, um die Mobilität zu erhalten. Im
besten Fall erfolgt die Therapie kontinuierlich
über den gesamten Krankheitsverlauf, anfangs mit Ausdauertraining, Ergotherapie,
Gangschulung und Atemübungen, zuletzt
passiv, um Kontrakturen zu begegnen und
die Spastik zu lindern. Eine Versorgung mit
Hilfsmitteln sollte jeweils zum richtigen Zeitpunkt erfolgen: Stock, Gehgestell, Rollstuhl,
Transfer- und Aufstehhilfen.
Eine Kopfstütze bei Parese der Nackenmuskulatur muss entsprechend angepasst werden. Sehr bewährt hat sich das Model Headmaster Collar® (Symmetric Design Ltd, Kanada). Speziell entwickeltes Essbesteck kann die
Selbstständigkeit beim Essen fördern. Bei Visitation der Wohnung durch eine/einen ErgotherapeutIn können oft sinnvolle Hilfen
empfohlen werden.
Acetylcholinesterasehemmer können bei
manchen PatientInnen kurzzeitige Verbesserung bringen und so vor geplanten Aktivitä-
32
ten verabreicht werden (z.B. Neostigmin-Nasenspray vor dem Essen).
Krämpfe, Faszikulationen: Besserung durch
Chinin, Diazepam, Carbamazepin, Vitamin E,
Phenytoin, Magnesium, Verapamil.
Spastik: Baclofen (oral oder auch intrathekal)
und Tizanidin sind sicher Mittel der ersten
Wahl. Aufgrund des bekannten Nebenwirkungsspektrums mit Müdigkeit und Muskelschwäche sollte möglichst einschleichend
und niedrig dosiert werden. Cannabinoide
können bei Versagen anderer Therapieformen versucht werden. Der Einsatz von intrathekalen Baclofen-Pumpen ist spezialisierten
Zentren vorbehalten und sollte vor allem bei
langsam progredienten ALS-Formen (PLS) in
Betracht gezogen werden.
Dysarthrie, Anarthrie – Kommunikationssysteme: Logopädie bei ersten Anzeichen
von Schluck- bzw. Sprechstörung, 1-mal wöchentlich, hat sich bewährt. Bei leiser, aber
verständlicher Stimme können elektronische
Stimmverstärker eingesetzt werden. Bei
hochgradiger Dysarthrie bzw. Anarthrie können einfache Alphabetkarten oder technisch
anspruchsvolle PC-basierte Methoden (z.B.
Kopfmaus, myoelektrisch kontrollierte Schalter, EEG-basierte Systeme, z.B. „Brain-Computer-Interface“) verwendet werden.
Das Entscheidende ist die Auswahl einer
Kommunikationsmethode, die für PatientInnen und BetreuerInnen geeignet ist. Bei teuren, computergesteuerten Systemen sollte
vor einer Anschaffung jedenfalls ein Probe-
DI Dr. Heinz Lahrmann
Facharzt für Neurologie,
Ordination: 1030 Wien
betrieb am Wohnort möglich sein, da aufwendige Systeme zwar viel leisten, die PatientInnen und ihre Angehörigen aber oft
überfordern. Auch hier bewährt sich wieder
eine gute Zusammenarbeit mit SpezialistInnen auf dem Gebiet der Kommunikationstechnik. Da die Finanzierung meist nur über
verschiedene Fonds möglich ist, bemüht sich
der Verein „Forum-ALS“ einen Gerätepool
aufzubauen, um rasch und effizient helfen
zu können.
Schluckstörung und Speichelfluss: Im Verlauf der Erkrankung oder bereits zu Beginn
(bulbäre Form der ALS) kommt es zu einer
gestörten Motilität von Zunge, von Pharynx
und Ösophagus. Erste Maßnahmen sind geeignete Nahrungsmittel (Eindicken, Pürieren,
keine Brösel etc.) und entsprechende
Schlucktechniken (Kopf in Anteflexion, um
Aspiration zu vermeiden). Wenn trotzdem
keine ausreichende Ernährung möglich ist
und ein Gewichtsverlust von mehr als 20 %
auftritt, sollte die Ernährung mit PEG-Sonde
überlegt werden. Wichtig ist rechtzeitige Indikation, Aufklärung und Setzen der PEGSonde insbesondere bei beginnender Atemmuskelschwäche. Laut internationalem Konsens sollte die Vitalkapazität (VC) > 70 %
sein. Die Praxis zeigt jedoch, dass PatientInnen und Angehörige die PEG-Sonde möglichst lange hinauszögern.
Tab.: Auflistung einiger Aspekte der supportiven Therapie
Speichelfluss (Sialorrhoe) resultiert aus myofazialer Schwäche und vermindertem
Schluckvermögen. Soziale Probleme und
Aspiration mit lebensgefährlichen Aspirationspneumonien können die Folge sein.
Folgende Substanzen mit anticholinerger Wirkung sind möglicherweise hilfreich: Amitryptilin, Clonidin, Trihexyphenidyl, Ipratropiumbromid (Itrop®), Atropin (Bellanorm®, Robinul®
s.c, Atropin-Augentropfen 1 % sublingual)
mit Tachykardie, Obstipation und Müdigkeit
als Hauptnebenwirkungen. Eine Anamnese
mit Herzrhythmusstörungen oder Glaukom
stellt eine Kontraindikation dar. Die notwendige Dosis ist individuell sehr verschieden,
und es sollte einschleichend begonnen werden.
Eine Möglichkeit für PatientInnen mit
Schluckstörung ohne PEG-Sonde stellt auch
das Scopolamin-Pflaster (Scopoderm TTS®)
dar. Eine zu starke medikamentöse Eindickung des Speichels kann wiederum zu Borkenbildung, Geschmackstörung und Mundgeruch führen und wird von PatientInnen als
sehr unangenehm beschrieben.
Injektion von Botulinumtoxin in die großen
Speicheldrüsen ist eine weitere Möglichkeit,
der Sialorrhö zu begegnen, ist aber eher
therapieresistenten Fällen vorbehalten.
Pathologisches Lachen/Weinen: Affektinkontinenz im Sinne von „pseudobulbärer
Symptomatik“ muss von depressiven Symptomen unterschieden werden. Wichtig ist
vor allem die Aufklärung über Ursache und
Bedeutung dieses Symptoms für PatientInnen
und Angehörige. Trizyklische Antidepressiva
und Serotonin-Reuptake-Hemmer (SSRI) erweisen sich als nützlich.
Depressionen: Depressionen sind bei der
ALS seltener als bei anderen schweren neurologischen Erkrankungen und treten häufiger zu Beginn der Erkrankung auf. Bei ent-
Die einzelnen Therapiemaßnahmen und Dosierungen sind jeweils der individuellen Situation
des/der PatientIn anzupassen und können sich im Krankheitsverlauf ändern (z.B. antispastische Therapie, anticholinerge Therapie bei Sialorrhö).
Muskelschwäche
Aktive und passive Physiotherapie, Versorgung mit Hilfsmitteln
Muskelkrämpfe,
Faszikulationen
Besserung durch Chinin, Diazepam, Carbamazepin, Phenytoin,
Magnesium, Verapamil
Spastizität
Baclofen (oral beginnend mit einer niedrigen Dosierung von
5–10 mg 3-mal tgl. und max. 4-mal 25 mg tgl. oder als Pumpe),
Tizanidin, Cannabinoide bei Versagen anderer Therapieformen
zusätzlich
Dysarthrie
Logopädie, elektronische Sprachverstärker, Alphabetkarte,
PC-Techniken
Schluckstörung
Erste Maßnahmen sind geeignete Nahrungsmittel,
Schlucktechniken, Logopädie
PEG-Sonde: rechtzeitige Indikation, Aufklärung und Setzen
der PEG-Sonde in Spezialkliniken, VK > 70 %.
Sialorrhö (Speichelfluss)
Anticholinergika, Amitryptilin, Clonidin, Trihexyphenidyl,
Ipratropiumbromid, Atropin,
Injektion von Botulinumtoxin in therapieresistenten Fällen
Pathologisches
Lachen/Weinen
Aufklärung über Ursache und Bedeutung dieses Symptoms für
PatientInnen und Angehörige. Trizyklische Antidepressiva,
Serotonin-Reuptake-Hemmer (SSRI)
Psychologische Probleme
Soziale und psychologische Begleitung
Depression, Schlafstörung
SSRI niedrig dosiert, abends: Amitryptilin, Trazodon (keine
atemdepressive Wirkung), bei Atemnot abendliches retardiertes
Opioid
Angst und Panik
Benzodiazepine (z.B. Lorazepam)
Muskuloskeletaler Schmerz Antispastika (s.o.), Physiotherapie
Konstipation
Diätberatung, Laxantien, ausreichend Flüssigkeit
sprechendem Leidensdruck und nach Aufklärung der PatientInnen kann mit einem SSRI
niedrig dosiert begonnen werden.
Sehr bewährt hat sich Trazodon bzw. Mirtazapin in niedriger Dosierung abends zur Behandlung von Ein- und Durchschlafstörungen, insbesondere da keine atemdepressive
Wirkung zu befürchten ist. Bei ALS-PatientInnen mit gestörtem Schlaf und Tagesmüdigkeit muss auch an eine beginnende
Atemmuskelschwäche mit schlafassoziierten
Atemstörungen gedacht und eine entsprechende Therapie mit abendlichem retardiertem Opioid (z.B. Hydal® 2 mg ret Kps.) be-
gonnen werden (siehe Seite 22 Atmung –
Diagnostik und Therapie).
Angst- und Panikattacken: Diese können im
Verlauf der Erkrankung, besonders bei vorbestehender Neigung zu Angst- und Panikreaktionen, auftreten, am ehesten bei zunehmender Atemnot. Eine Therapie mit einem
niedrig dosierten Anxiolytikum ist dann auf
jeden Fall indiziert und sollte rechtzeitig und
in ausreichender Dosierung erfolgen (z.B. Lo■
razepam).
Literatur beim Verfasser
33
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Wohin mit meinen Gefühlen?
Die professionell angeleitete
ALS-Angehörigengruppe
Für Angehörige bedeutet die Begleitung eines an ALS erkrankten
Menschen nicht nur eine grundlegende Veränderung im bisherigen
Lebens- und Beziehungsmuster, sondern stellt auch körperlich und
seelisch eine außergewöhnliche und dauerhafte Stresssituation dar.
D
Die Beziehung mit dem kranken Menschen
kann zu einer so ausgeprägten Störung des
Wohlbefindens führen, dass die Ressourcen
der Angehörigen in Anspruch genommen
bzw. oft auch überfordert werden1. Zwischen
der subjektiven Bedeutung des Problems und
den Bewältigungsmöglichkeiten, die einer
Person zur Verfügung stehen, kann sich ein
belastendes Ungleichgewicht entwickeln.
Dann sind Identität sowie die Kompetenz,
das Leben einigermaßen selbständig gestalten zu können, bedroht2.
Burn-out: Natürlich entscheidet die individuelle Beziehungs- und Entwicklungsgeschichte
einer Person darüber, in welchen Zusammenhängen sie besonders verletzlich ist oder wo
sie auf positive, protektive Erfahrungen zurückzugreifen vermag. Die anhaltende Stresssituation eines verstärkten Einsatzes der Angehörigen bei Betreuung und Pflege bei
gleichzeitiger, subtiler Vernachlässigung eigener Bedürfnisse und subjektiv empfundenem
Kontrollverlust kann jedoch ein Burn-out3 begünstigen. Manchmal kann es im fortgeschrittenen Verlauf der ALS bei Angehörigen
zu einem Rückzug aus dem sozialen Leben,
zur emotionalen Verflachung oder zu körperlicher Erschöpfung kommen.
Somatische Folgen von Affektreaktionen:
Auf den Zusammenhang zwischen Gefühlen
und körperlichen Erkrankungen wurde in Studien zu pathologischen Immunreaktionen
hingewiesen, wo der Körper quasi als Vehikel
für den Ausdruck ungebändigter Ängste verstanden wird. Es konnte gezeigt werden, dass
Affektreaktionen wie Kummer, Gram, Angst,
Ärger, Schuldgefühle, Hilf- und Hoffnungslosigkeit z.B. beim Verlust von bedeutsamen
34
Bezugspersonen, besonders wichtige Faktoren für einen Leistungsabfall des Immunsystems darstellen. Dementsprechend wurde
ein für solche Reaktionen typischer Anstieg
von Erkrankungsfällen ermittelt4.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Untersuchung von Personen, die sich einer intensiven
und lang anhaltenden Pflege von demenzerkrankten Familienangehörigen gewidmet
hatten5. Daher ist es für Angehörige notwendig, in ausreichendem Maß auf die eigenen
Bedürfnisse nach Schlaf, Erholung, Zeit für
sich selbst, Ansprache, Wertschätzung und
Anerkennung zu achten. Ebenso wichtig ist
es, körperliche, zeitliche, finanzielle, seelische
Grenzen als Realität anzuerkennen und nicht
als persönliches Versagen zu verstehen. Eine
perfektionistische Haltung von innerer Strenge und hohem Selbstanspruch6 gepaart mit
Scham- und Schuldgefühlen erschwert
manchmal den Zugang zu anderen.
ALS-Forum: In einer Projektselbstbefragung
der ALS-Ambulanz im Kaiser-Franz-Josef-Spi-
INFORMATIONEN
Infos zur Angehörigengruppe
des Forum ALS – Verein für
multiprofessionelle ALS-Hilfe:
www.ALS-info.at oder
E-Mail: [email protected]
www.alsliga.be: brochure voor kinderen
www.als-vereinigung.ch
www.mndassociation.org: Life with mnd
www.swissburnout.ch/selbsttest 
Hamburger Burnout Inventory HBI
(M. Burisch)
Mag. Patricia Holzmann
Klinische Psychologin,
Gesundheitspsychologin,
Psychotherapeutin (BÖP,
WAP, ÖAGG)
Krankenanstalt
Rudolfstiftung und
freie Praxis
tal, Wien, im Zeitraum 2003–2005, gaben
ALS-PatientInnen eine sehr hohe allgemeine
Lebensqualität sowie sehr gute zwischenmenschliche Beziehungen und ein durchschnittliches körperliches Wohlbefinden trotz
Erkrankung an. Die Mehrheit der Angehörigen nannte gleichzeitig als starke Belastung
die Trauer, einige auch körperliche Beschwerden und soziale Einschränkungen.
Aus der Erkenntnis dieser Diskrepanz im Erleben zwischen ALS-PatientInnen und ihren
Angehörigen hat sich im Rahmen des Forum
ALS: Verein für multiprofessionelle ALS-Hilfe
aus der individuellen klinisch-psychologischen
Beratung das Angebot einer professionell angeleiteten Angehörigengruppe entwickelt.
Diese Angehörigengruppe besteht seit September 2007 und findet 2–3-mal pro Semester für die Dauer von 2 Stunden statt und
ist für die TeilnehmerInnen kostenlos. Abhängig von den zeitlichen und personellen
Ressourcen nehmen durchschnittlich 8–10
Angehörige teil. Eine Ausdehnung auf ein
höherfrequentes Setting, z.B. monatliche
Gruppensitzungen zur Verdichtung der horizontalen Vernetzung, wird überlegt.
Die Angehörigengruppe kann wertvolle
Kontakte vermitteln und dient dem Erfahrungs- und Informationsaustausch. Allerdings
geht es nicht um schnelles Lösen der Probleme und Erteilen von Ratschlägen und Rezepten, sondern um das Wahrnehmen individueller Gefühle und Gedanken und um ein gegenseitiges empathisches Zuhören.
Containment-Funktion: Eine Teilnahme
kann nützlich, tröstlich, beruhigend und stärkend sein und der Erhaltung des Selbstgefühls und des Schutzes gegen Kränkungen
dienen. Klagen, Zorn und Wut können als lebensstärkende Gefühle
erlebt werden. Die Gruppe nimmt die Erfahrungen der Angehörigen
wie ein Behälter in sich auf und erfüllt somit eine wichtige Containment-Funktion verschiedener ambivalenter und unkontrollierbarer Affekte, die über das Sprechen entladen werden7. Gemeinsam können
die TeilnehmerInnen angenehme und gelungene Begegnungen genießen und erschütternde Erlebnisse erträglicher machen. Durch eine Umwandlung in überschaubarere Teilchen kommt es zur Eindämmung der
Angst.
Konfliktbearbeitung: Dem/der Einzelnen bietet sich die Möglichkeit,
seine/ihre Beziehungsmuster in der Gruppe zur Darstellung zu bringen
und mögliche Konflikte zu reinszenieren. Das Wiederherstellen der konfliktverursachenden Situationen macht die Konflikte einer direkten Bearbeitung im Hier und Jetzt der Gruppe zugänglich. Die TeilnehmerInnen
können erleben, dass ihre Gefühle in der Gruppe ausgehalten werden
können (Holding Function nach Winnicott8). Die GruppenleiterInnen
schlagen ihrerseits keine Themen vor, sondern fordern die Angehörigen
auf, ihre Gedanken und Empfindungen möglichst freimütig zu äußern.
Auf diese Äußerungen wird möglichst ohne Werturteile reagiert und
versucht, Konflikte szenisch zu verstehen.
In dialektischer Weise pendelt die Gruppe zwischen individuellen und
alle Mitglieder betreffenden Themen.
Unter dem Gesichtspunkt der neueren Objektbeziehungstheorie und
der Bindungstheorie werden verschiedene Bindungs- und Beziehungsbelastungen untersucht und einer konstruktiven Verarbeitung der Affekte zugeführt. Manchmal können mit szenischem Verständnis auch
neue Einstellungen, Verhaltensweisen und Bewältigungsformen entwikkelt werden.
Angehörige Kinder und Jugendliche: Weiters ist darauf hinzuweisen,
Kinder und Jugendliche als Angehörige von an ALS erkrankten Eltern
als Zielgruppe wahrzunehmen. Noch bevor Verhaltensauffälligkeiten
auftreten, gilt es Kontaktpersonen zu benennen, die betroffene Kinder
altersgerecht über die Erkrankung informieren können. Fragen über
die Versorgung der Kinder sowie Abklärung, Einleitung und Koordination des familiären Hilfebedarfs müssen zeitgerecht eingeleitet werden.
Die Bereitstellung einer zielgruppengerechten Informationsbroschüre für
die betroffenen Kinder und Eltern wäre ebenso wünschenswert wie
begleitende Hilfen für Familien in Form von Paargesprächen, ElternKind-Gruppen sowie ressourcenorientierte Einzel- und Gruppenange■
bote für Kinder und Jugendliche.
1
2
3
4
5
6
7
8
Lazarus RS & Folkman S, Transactional theory and research on emotions and coping.
European J Personality 1987; 1:141–169
Kast V, Der schöpferische Sprung. Vom therapeutischen Umgang mit Krisen.
1987 München
Freudenberger HJ & Richelson G, Ausgebrannt. Die Krise der Erfolgreichen – Gefahren
erkennen und vermeiden. 1980 München: Kindler
Bartrop RW, Depressed lymphocyte function after bereavement. Lancet 1977; 1:834–836
Kiekold-Glaser JK et al., Spousal caregivers of dementia victims: Longitudinal changes in
immunity and health. Psychosomatic Medicine 1991; 53:345–362
Freudenberger HJ & North G, Burnout bei Frauen. Über das Gefühl des Ausgebranntseins.
1998 Frankfurt am Main: Fischer
Bion WR, Lernen durch Erfahrung. 1962/1992 Surkamp.
Winnicott DW, Maturational Processes and the Facilitating Environment, 1965. Deutsch:
Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung. 2002 Gießen: Psychosozial-Verlag
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Rezidivierende Trigeminusneuralgie
Langzeitergebnisse nach wiederholter
Gamma-Knife-Radiochirurgie
In einer Studie der Universitätsklinik für Neurochirurgie Graz wurden die Langzeitergebnisse der wiederholten
Gamma-Knife-Radiochirurgie bei Trigeminusneuralgie evaluiert. Bei 72,7 % der PatientInnen wurde eine
Schmerzerleichterung erreicht. Bis auf Hypästhesie im Gesichtsbereich hatte die Behandlung keine
Nebenwirkungen.
D
Die Trigeminusneuralgie ist ein die Lebensqualität schwer beeinträchtigendes
Schmerzsyndrom, das medikamentös und
chirurgisch behandelt werden kann. Die
Therapie der rezidivierenden Trigeminusneuralgie ist im Allgemeinen eher unbefriedigend. Die stereotaktische Radiochirurgie mit dem Gamma-Knife kann eine
Läsion zielgenau setzen und eine gute
Schmerzerleichterung erreichen – wie dies
in einigen wissenschaftlichen Arbeiten
belegt wurde, auch mit geringen Nebenwirkungen1–3. Das Hauptproblem ist die
Rezidivneigung und erneutes Auftreten
einer Schmerzsymptomatik.
Aus unserer Arbeitsgruppe ist eine Arbeit
Univ.-Prof. Dr. Frank Unger1,
OÄ Dr. Verena Gellner2
Universitätsklinik für Neurochirurgie,
Medizinische Universität Graz
1
2
zum Langzeitergebnis nach GammaKnife-Radiochirurgie erschienen. Es wurden PatientInnen inkludiert, die eine zweite Behandlung erhielten.4
Studie: Zwischen 1994 und 2006 wurden
93 PatientInnen mit Trigeminusneuralgie
mittels stereotaktischer Gamma-KnifeRadiochirurgie an der Universitätsklinik für
Abb.: 70-jähriger Patient mit rezidivierender Trigeminusneuralgie und
multipler Sklerose (MS)
Links: Axiales T-1-gewichtetes Planungs-MRT der ersten Gamma-Knife-Behandlung ohne
Kontrastmittel mit den 20 % bzw. 85 % Isodosenlinien.
Rechts: Axiales T-2-gewichtetes Planungs-MRT der zweiten Gamma-Knife-Behandlung 26 Monate
später.
36
Neurochirurgie Graz behandelt. 22 dieser
PatientInnen erhielten eine zweite
Gamma-Knife-Behandlung median 18,8
Monate nach der initialen Behandlung.
Die mediane Dosis für die zweite Behandlung war 74,3 Gy. Das Schmerzergebnis
wurde nach der BNI-Schmerz-Skala (Barrow-Neurological Institute/BNI) (Tab. 1)
eingestuft und die Hypästhesie im Gesicht
nach der BNI-Hypästhesie-Skala (Tab. 2).
Alle PatientInnen waren zuvor wegen therapierefraktärer Neuralgie medikamentös
behandelt worden, 11 PatientInnen hatten eine chirurgische Vorbehandlung, 4
PatientInnen waren mittels Thermokoagulation behandelt worden.
Radiochirurgische Technik: Alle Behandlungen wurden mit dem Leksell-GammaKnife (Elekta Instruments, Stockholm,
Schweden) durchgeführt. Zur Planung
wurde eine MRT-Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des Kleinhirnbrückenwinkels durchgeführt. Zielgebiet war
die Nerveneintrittszone am Hirnstamm.
Eine einzelne 4-mm-Kollimator-Einstellung wurde platziert. Die Dosis auf den
Hirnstamm variierte von 6 Gy bis maximal
15 Gy (Abb.).
Tab. 1: BNI-Schmerz-Skala (Barrow Neurological Institute/BNI)
Grad I
kein Trigeminusschmerz, keine Medikation
Grad II
gelegentlicher Schmerz, keine Medikation
Grad III
Schmerz, behandelt mit Medikamenten
Grad IV
Schmerz, nicht adäquat therapierbar mit Medikamenten
Grad V
ausgeprägtes Schmerzsyndrom, keine Besserung
Tab. 2: BNI-Hypästhesie-Skala (Barrow Neurological Institute/BNI)
Grad I
keine Taubheit
Grad II
milde Taubheit, nicht beeinträchtigend
Grad III
Hypästhesie, gering beeinträchtigend
Grad IV
Hypästhesie, unangenehm
Ergebnisse: Die mittlere Nachbeobachtungszeit nach der ersten Gamma-KnifeBehandlung betrug 7,1 Jahre (85,2 Monate). Die mittlere Nachbeobachtungszeit
nach wiederholter Gamma-Knife-Behandlung betrug 5,4 Jahre. Die Schmerzerleichterung trat bei 16 PatientInnen (72,7 %)
ein. 2 PatientInnen wurden ein drittes Mal
Gamma-Knife-behandelt. Bei 21 PatientInnen konnten Langzeitkontrollen erhoben
werden. 10 PatientInnen waren schmerzfrei (BNI I), 6 PatientInnen wurden mit BNI II
beurteilt, 5 mit BNI III. Bei der Hypästhesie
im Versorgungsgebiet war die Mehrzahl
von 19 PatientInnen mit BNI II (17 PatientInnen) einzustufen, ein Patient mit BNI III
sowie ein weiterer Patient mit BNI I. Sonstige Nebenwirkungen traten nicht auf.
modalität bei therapierefraktärer Trigeminusneuralgie berücksichtigt werden.
1 Sheehan
J, Pan HC, Stroila M, Steiner L, Gamma knife
surgery for trigeminal neuralgia: outcomes and
prognostic factors. J Neurosurg 2005; 102:434–441
2 Lopez BC, Hamlyn PJ, Zakrzewska JM, Stereotactic
radiosurgery for primary trigeminal neuralgia: state of
the evidence and recommendations for future. J Neurol
Neurosurg Psychiatry 2004; 75:1019–1024
3 Pollock BE, Foote RL, Link MJ, Stafford SL, Brown PD,
Schomberg P, Repeat radiosurgery for idiopathic
trigeminal neuralgia. Int J Radiat Oncol Biol Phys 2005;
61:192–195
Recurrent trigeminal neuralgia.
Long term outcome of repeat gamma
knife radiosurgery
AutorInnen: Gellner V, Kurschel S,
Kreil W, Holl EM, Ofner-Kopeinig P,
Unger F
Erschienen in: J Neurol Neurosurg Psychiatry 2008;
79:1405–1407
Fazit: In unserer Studie wurden die
Langzeitergebnisse der wiederholten
Gamma-Knife-Radiochirurgie bei Trigeminusneuralgie evaluiert. Eine Schmerzerleichterung oder deutliche Verbesserung wurde bei 72,7 % der PatientInnen
erreicht. Die Behandlung hatte bis auf
Hypästhesie im Gesichtsbereich keine
Nebenwirkungen. Die Gamma-KnifeRadiochirurgie sollte als Behandlungs-
37
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Postprandialer Insult und Epilepsie als
Manifestationen atrio-ösophagealer Fisteln
Atrio-ösophageale Fisteln (AÖF) sind als Verbindung zwischen linkem Vorhof und Speiseröhre definiert.
Sie entstehen entweder traumatisch durch Schussverletzungen oder durch Läsion der Vorhofwand und der
Ösophaguswand im Rahmen einer Radiofrequenzablation (RFA) von Vorhofflimmern. AÖF stellen einen
lebensbedrohlichen Zustand dar, der vorwiegend mit neurologischen Ausfällen einhergeht.
B
Bisher wurden 40 Fälle einer AÖF nach RFA
mittels offener Operation oder mittels
Katheter veröffentlicht. Die Erstmanifestationen treten zwischen 3 und 36 Tagen
nach der RFA auf. Die häufigste neurologische Manifestation einer AÖF ist der postprandiale Insult oder die postprandiale TIA.
Es handelt sich dabei um embolische
Ereignisse bedingt durch Übertritt von
Speisebrei in den linken Vorhof, der
dadurch möglich wird, dass trotz höheren
Drucks im Vorhof gegenüber der Speiseröhre, ein einseitiger Ventilmechanismus
entsteht, der die Passage in den Vorhof
ermöglicht, aber nicht umgekehrt.
Andere häufige neurologische Manifestationen einer AÖF sind epileptische Anfälle
oder psychiatrische Auffälligkeiten. Selten
werden Bewusstseinsstörungen ohne Epilepsie oder Insult, eine Meningitis oder
Hirnabszesse oder eine zerebrale Luftembolie beobachtet.
Von den 40 bisher beschriebenen PatientInnen mit einer AÖF nach RFA hatten 27
PatientInnen einen Insult/TIA, 6 entwickelten epileptische Anfälle oder einen Status
epilepticus, 4 wurden psychiatrisch auffällig, 2 der PatientInnen entwickelten eine
Bewusstseinsstörung ohne Insult oder
Epilepsie, 2 der PatientInnen eine Luftembolie, 1 PatientIn eine Meningitis und
1 PatientIn unspezifische neurologische
Symptome.
Zusätzlich zu den neurologischen Manifestationen traten auch eine allgemeine
Schwäche, Abgeschlagenheit, Fieber, Sepsis, Thoraxschmerzen, Schluckstörungen
38
oder Bauchschmerzen auf. Trotz der offenen Verbindung zwischen Herz und Speiseröhre wurden gastrointestinale Blutungen mit Hämatemesis, Meläna oder Blutungsschock nur in 5 Fällen beschrieben.
Diese geringe Anzahl wurde auf oben
beschriebenen Ventilmechanismus zurückgeführt.
Diagnostik: Die Diagnose erfolgt auf
Grund der Klinik, der Blutparameter, des
Nachweises der embolischen Insulte und
des radiologischen Nachweises der AÖF.
Im Serum sind Entzündungsparameter wie
Senkung, C-reaktives Protein, und Leukozyten erhöht und die Blutkulturen positiv.
Bei septischen Zustandsbildern findet sich
zusätzlich eine Thrombopenie. Auch der
Liquor zeigt Entzündungszeichen wie
Pleozytose, Eiweißerhöhung, Laktaterhöhung oder eine positive Kultur.
Das zerebrale MR zeigt frische embolische
Insulte, unspezifische hyperdense Läsionen, eine Luftembolie oder einen normalen Befund. In der Computertomographie
des Thorax lässt sich nach Gabe von Kontrastmittel meist ein Übertritt von Kontrastmittel aus dem linken Vorhof in den
Ösophagus nachweisen. Unbedingt vermieden werden sollten Untersuchungen
wie ein Schluckakt mit Barium, da Barium
intravasal fatale Folgen hat, eine Gastroskopie mit Stenting des Ösophagus oder
eine transösophageale Echokardiographie. Diese Maßnahmen können den
Fistelgang erweitern und damit zu fatalen
Folgen führen.
Univ.-Prof. DDr. Josef Finsterer
Krankenanstalt Rudolfstiftung, Wien
Therapie: Die Therapie der Wahl bei
nachgewiesener AÖF ist der chirurgische
Verschluss der Fistel mittels Patch auf
atrialer Seite und mittels Ausschneidung
und Übernähung auf ösophagealer Seite.
Ein Stenting des Ösophagus ist aus oben
genannten Gründen kontraindiziert. Antibiotika alleine ohne chirurgische Sanierung sind ebenfalls nicht sinnvoll. Trotz
der chirurgischen Sanierung ist die Prognose der AÖF schlecht. Von den 40
berichteten PatientInnen sind 63 % verstorben.
Fazit: Zusammenfassend ergibt sich, dass
bei PatientInnen mit Fieber, Schluckstörung, Brustschmerzen, postprandialen
Schlaganfällen oder epileptischen Anfällen und einer Ablation von Vorhofflimmern in der Anamnese eine AÖF differenzialdiagnostisch in Betracht zu ziehen und
unverzüglich eine entsprechende Diagnostik und Therapie einzuleiten ist.
Neurological consequences of
atrioesophageal fistula after
radiofrequency ablation in atrial
fibrillation.
AutorInnen: Stöllberger C, Pulgram T,
Finsterer J
Erschienen in: Arch Neurol 2009; 66:884–7
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Zum wiederholten Mal trafen
sich vom 7. bis 9. Mai auf
Einladung von Sanofi Aventis
und TEVA Multiple Sklerose (MS)
ExpertInnen aus Deutschland,
Österreich und der Schweiz zu
einem Workshop, um aktuelle
Themen auf dem Gebiet der
MS zu erörtern. Nach 5 Jahren
fand die Veranstaltung wieder
in Dresden statt.
G
Gastgeber des Workshops war Priv.-Doz. Dr.
Tjalf Ziemssen. Schon das Impulsreferat über
den Zugang der Rheumatologie zur Behandlung immunologischer Erkrankungen hatte
einen gewichtigen Nachteil der NeurologInnen bei der Behandlung der MS gegenüber
der Rheumatologie aufgezeigt. Schmerz und
Bewegungseinschränkung der Gelenke sind
augenfällige Symptome, die auch im zeitlichen Verlauf gut monitiert werden können.
Damit ist das Ansprechen auf eine Therapie
relativ leicht erfassbar, was wiederum recht
klare und geradlinige Therapieentscheidungen ermöglicht.
Krankheitsmechanismen: Bei MS liegt vieles im Verborgenen und ist dem direkten Zugang entzogen, was sicher auch das Krankheitsverständnis insgesamt erschwert und
immer wieder neue pathophysiologische Modelle entstehen lässt. In diesem Zusammenhang war interessant zu hören, dass aus derzeitiger immunpathologischer Sicht die Ten-
40
denz besteht, die zuletzt diskutierten 4 Untertypen möglicher Krankheitsmechanismen
zu letztendlich 2 zusammenzufassen. So
scheint sich ein vorwiegend antikörpermediierter und ein überwiegend durch T-Zellen
verursachter Krankheitsverlauf differenzieren
zu lassen. Bei Letzterem kommt offensichtlich
auch einer funktionellen Beeinträchtigung
oder Schädigung der Mitochondrien große
Bedeutung zu.
Betont wurde auch die Notwendigkeit, andere Formen einer immunvermittelten demyelinisierenden Erkrankung des ZNS – wie
etwa die Neuromyelitis optica (NMO) – besser
abgrenzbar zu machen. Dabei wurde speziell
auf den Durchbruch hingewiesen, den die
Erkenntnis der Rolle von Aquaporin-4-Antikörpern bei NMO gebracht hat. Leider sind
alle sonstigen Versuche, Indikatoren für einen
speziellen Krankheitstyp oder -verlauf serologisch zu finden, bisher gescheitert. Einhellig
war man der Auffassung, dass auch Genanalysen nach derzeitigem Wissensstand kei-
FOTO: TOBIAS RICHTER - FOTOLIA
Drei-Länder-Symposium Multiple Sklerose,
Dresden 2010
nen wesentlichen klinischen Beitrag versprechen. Die Suche nach Biomarkern sollte aber
nicht aufgegeben werden.
Prognostische Einschätzung: In einem weiteren Block beschäftigten sich die TeilnehmerInnen mit der Frage nach klinischen Markern
und Labor- oder MRT-Parametern, die für die
prognostische Einschätzung der Erkrankung
und die Beurteilung der Therapieeffizienz eingesetzt werden können.
Einheitlich wurde festgestellt, dass der Nachweis oligoklonaler Banden bei klinisch isoliertem Syndrom das Auftreten weiterer Krankheitsschübe wahrscheinlicher macht. Gleiches gelte auch für den Nachweis einer
größeren Zahl von T2-Läsionen sowie für gewisse klinische Charakteristika, die jedoch
teilweise erst durch die Verlaufsbeobachtung
generiert werden können.
In der Diskussion wurde mehrmals darauf
hingewiesen, dass die Beschreibung des
Krankheitszustandes und der Krankheitsschwere mittels des „Expanded Disability Status Scale (EDSS)“-Scores viele Schwächen
aufweist. Unter anderem werden ebenfalls
stark behindernde und eventuell führende
Symptome wie Müdigkeit und kognitive Einschränkung im EDSS nur unzureichend abgebildet. Auch auf die Schwächen der rein
quantitativen Erfassung der Zahl von Krankheitsschüben unabhängig von deren klinischen Charakteristika wurde hingewiesen.
Alternative Lösungen konnten aber ebenfalls
nicht aufgezeigt werden. Nach bisherigen Ergebnissen sind auch von nichtkonventionellen MRT-Techniken wie dem Diffusion-TensorImaging, der Magnetresonanzspektroskopie
und anderen kaum verwertbare Ergebnisse
für eine Erstellung der individuellen Krankheitsprognose zu erwarten.
Benigne MS: Ein weiterer Teil des Symposiums wurde dem Konstrukt der so genannten
benignen MS gewidmet. Dabei wurde darauf
hingewiesen, dass dieser Begriff zu keiner
Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas1
Universitätsklinik für Neurologie,
Medizinische Universität Graz
Prim. Dr. Ulf Baumhackl2
Neurologisch-psychiatrisches
Zentrum Belvedere, Wien
1
2
Verharmlosung der Erkrankung an sich führen dürfe. Insbesondere könnten auch schon
geringe EDSS-Stufen mit einer deutlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen verbunden sein, und es sind auch andere als im EDSS erfasste Symptome oft sehr
behindernd. Allerdings ist bei einem – wenn
auch nur kleinen – Teil der PatientInnen tatsächlich von einem günstigen Krankheitsverlauf auszugehen, was für die initiale Krankheitsaufklärung ein wichtiger Zukunftsaspekt
sein kann.
Abwägung der Therapieentscheidungen:
Der größte Teil des Workshops wurde natürlich therapeutischen Überlegungen gewidmet. Einigkeit herrschte über die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Nutzen-Risiko-Abwägung und damit auch über die
Verpflichtung, den individuellen Krankheitsverlauf und die jeweilige Situation der Patientin oder des Patienten in die Therapieüberlegung einzubeziehen.
Leider musste festgestellt werden, dass es
auch für die Auswahl einer bestimmten immunmodulatorischen oder immunsuppressiven Therapie nach wie vor keine serologischen oder immunologischen Marker gibt.
Andererseits vermittelt die regelmäßige klinische Beobachtung in den meisten Fällen
durchaus verlässliche Hinweise auf ein Therapieansprechen einerseits oder mangelnde
Wirksamkeit der Behandlung andererseits,
indem man sich am Auftreten von weiteren
Schüben und dem Behinderungsverlauf orientiert. In unklaren Fällen können auch MRTErgebnisse unterstützend in eventuelle Über-
legungen bezüglich eines Wechsels der Therapie einbezogen werden.
Risikomanagement: Unter dem Aspekt der
Eskalationstherapie wurde auf die strenge Indikationsstellung sowohl für Mitoxantron als
auch für Natalizumab hingewiesen, da beide
Substanzen ein substanzielles Langzeitrisiko
mit sich bringen. Andererseits wurde klar
festgestellt, dass es auch riskant ist, bei echten RisikopatientInnen nichts zu riskieren.
Ganz allgemein wurde in diesem Zusammenhang bedauert, dass bisher keine ausreichenden Studien zur Frage der Dauer einer Eskalationstherapie oder der bestgeeigneten
nachfolgenden Therapie vorliegen. Es wurde
angeregt, dass zumindest auf akademischer
Ebene durch Zusammenarbeit verschiedener
MS-Zentren versucht werden sollte, dieses
Defizit möglichst rasch auszugleichen.
Im Rahmen der sehr lebhaften und teils auch
durchaus emotional geführten Diskussionen
um die Grundlagen für Therapieentscheidungen und das optimale Management von Risiken und Nebenwirkungen kam immer wieder
zum Ausdruck, wie vorteilhaft es ist, wenn
man zum Einsatz komplexer und möglicherweise mit größeren Risiken behafteter MS-Therapien auf ein Netzwerk von MS-Zentren zurückgreifen kann. Auch die immer größere Bedeutung von Registern wurde betont. Durch
Schaffung eines Kompetenznetzwerkes MS will
man in Deutschland versuchen, dem österreichischen Modell zu folgen. Ob dies auch so
flächendeckend gelingt wie durch die enge Zusammenarbeit von extra- und intramuralen MS
Zentren in Österreich, bleibt abzuwarten. ■
41
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Sonographie in der neurologischen Praxis
Nachdem im Wesentlichen NeurologInnen in den 70er-Jahren die Anwendungen von CW-Doppler und Duplex
der Halsgefäße entwickelt hatten, wurden diese in den 80er-Jahren in den neurologischen Abteilungen etabliert
und um die transkranielle gepulste Dopplersonographie und Farbdoppler ergänzt. Später kamen noch die
transkranielle Parenchymsonographie, die Myosonographie und die Sonographie peripherer Nerven hinzu.
Leider ist es bis heute nicht gelungen, diese Untersuchungen in Österreich flächendeckend im niedergelassenen
Bereich für alle Versicherten zugänglich zu machen.
Sonographie der
hirnversorgenden Arterien
Im Rahmen der Sonographie der hirnversorgenden Arterien können NeurologInnen
einen wesentlichen Beitrag zur Vorsorge leisten. Da die Untersuchung für die PatientInnen mit keinerlei Unannehmlichkeiten verbunden ist, kann bei jedem, der von Alter
oder bestehenden spezifischen Risikofaktoren her in Frage kommt, eine Basisuntersuchung gemacht werden. Durch die Anschaulichkeit der Untersuchung, die Veränderungen zeitgleich und gut verständlich sichtbar
macht, ist im Gegensatz zu abstrakten Labordaten etc. eine gute Voraussetzung zur
allfällig notwendigen Änderung des Lebensstils gegeben.
Abb. 1: ACI-Abgangsstenose
Der Schwerpunkt besteht darin, bestehende
Risikofaktoren wirksam und langfristig zu minimieren. Wenn dabei pathologische Befunde
erhoben werden, ist die für PatientInnen angenehme Untersuchungssituation von Vorteil: Regelmäßige Kontrollen werden gern
wahrgenommen. Die Laborbefunde werden
kontrolliert. Die PatientInnen können meist
gut zur Einhaltung der Medikation etc. motiviert werden, wenn der pathologische Befund im Bild präsentiert wird. Im Austausch
mit den HausärztInnen erhalten auch diese
gegenüber den Kassen Unterstützung bei der
entsprechend notwendigen Medikation.
Bei relevantem pathologischem Befund ist die
Expertise des/der Neurologen/-in essenziell.
Er/sie kann den bestehenden Befund der Karotiden im Zusammenhang mit der Anamnese,
Dr. Christian Bsteh
Niedergelassener Facharzt für
Neurologie und Psychiatrie,
Salzburg
Zusatzbefunden aus Labor, Bildgebung etc.
in ihrer Bedeutung für die individuelle Situation des/der PatientIn einschätzen und auch
eine Risikoabwägung für die Zukunft am besten durchführen. Meist ist dazu auch die
Einbeziehung der transkraniellen Dopplersonographie notwendig, um wichtige Erkenntnisse über die aktuelle intrakranielle Auswirkung des pathologischen Befundes (z.B. Kollateralisierungsverhältnisse) zu gewinnen.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Abklärung von Pathologien im vertebrobasilären
Abb. 2: St. p. STENT-Implantation
St. p. STENT Implantation: ➘: Stentgitterartefakte; : Durch STENT plattgedrückte
Plaques; ⇓: Schallschatten von calcifiziertem Plaquesanteil; : normale Strömungsgeschwindigkeit
48
Abb. 3: Glomustumor
Abb. 4: TCD transtemporal Normalbefund
Glomus-Tumor : multiple maschenartig verteilte Flowsignale;
★: Angeschnittener Teil der ACI
Stromgebiet: Nähere funktionelle Abklärung
von Vertebralisstenosen, Subclavian-StealSyndrom etc. Die Entscheidung über die Therapie – ob konservativ, klassisch operativ oder
interventionell – sollten NeurologInnen gemeinsam mit den PatientInnen erarbeiten.
In der Tertiärprävention ist es eine lohnende
Aufgabe, die PatientInnen in regelmäßigen
Abständen einzuberufen, um eine weitere
Progredienz oder Rezidivstenosen nach Eingriffen rechtzeitig zu erkennen. So kann
der/die PatientIn auch dabei unterstützt werden, nach Akutaufenthalt und Rehabilitationstherapie erworbene Fertigkeiten und Mus-
ter zu erhalten. Ambulante Physio- und Ergotherapien etc. werden koordiniert, klinische Verschlechterungen rechtzeitig erkannt,
Wiederholungsrehabilitationsaufenthalte eingeleitet.
Transkranielle
Parenchymsonographie
Von den Möglichkeiten der transkraniellen
Parenchymsonographie sind in der niedergelassenen Praxis besonders Fragestellungen
aus dem Bereich der extrapyramidalen Erkrankungen interessant. Die Beurteilung der
Abb. 5: Cross-Flow via AcoA bei kontralateralem
ACI-Verschluss
Cross-Flow via AcoA bei contralateralem ACI-Verschluss: ➘ Turbulenzen und
Strömungsbeschleunigung am speisenden Gefäß
Substantia nigra, des Globus pallidus und des
III. Ventrikels können stützende Befunde in
der Differenzialdiagnose der Parkinson-Syndrome liefern.
Je nach Konstellation von erhöhter Echogenität/Normoechogenität des Globus pallidus,
Vergrößerung des III. Ventrikels, Hyper-/Normoechogenität der Substantia nigra können
Multisystematrophie, kortikobasale Degeneration oder Lewy-Körperchen-Erkrankung
weiter erhellt werden. Auch PatientInnen mit
essenziellem Tremor, die Ängste wegen einer
Parkinson-Erkrankung haben, kann bei unauffälliger Substantia nigra ein zusätzlicher u
Abb. 6: Mesencephalon: Normalbefund
: Substantia nigra: zart echogen; : Aquädukt; ✶: Zysterne
49
GESELLSCHAFTSNACHRICHTEN
SCHWERPUNKT
NEUROLOGIE IN
ÖSTERREICH
Abb. 7: Mb. Parkinson: Hyperechogene Substantia nigra
(Übersicht)
beruhigender Befund angeboten werden.
Problematisch ist, dass gerade im interessanten Alter (ab etwa 60) der Anteil von PatientInnen mit einem für eine Beurteilung zu ungünstigen Signal-Rausch-Verhältnis zunehmend häufiger wird.
Myosonographie
Im Bereich der Myosonographie ist unter anderem die ultraschallgezielte Applikation von
Botulinumtoxin eine elegante und für PatientInnen sehr schonende Methode. Insbesondere die Therapie des Schreibkrampfes und
anderer tätigkeitsspezifischer Dystonien sind
ein lohnendes Feld: Es gelingt die sichere
Identifizierung der relevanten Muskelfaszikel
und deren punktgenaue Infiltration.
Sonographie der
peripheren Nerven
Die Sonographie der peripheren Nerven entwickelt sich mit großer Dynamik. Klinisch sind
derzeit N. medianus, N. radialis, N. ulnaris,
50
KONGRESSHIGHLIGHTS
FÜR DIE PRAXIS
Abb. 8: Mb. Parkinson: Hyperechogene Substantia nigra
(mit weißer Umrandung hervorgehoben)
N. peronaeus und N. tibialis im Vordergrund.
Neben Engpasssyndromen ist die Untersuchung von Nerventumoren, traumatischen
Veränderungen, Neuromen etc. möglich.
Wegen der Häufigkeit sei das Karpaltunnelsyndrom herausgegriffen: Mit Hilfe der Nervensonographie können die anatomischen
Gegebenheiten direkt untersucht werden.
Neben der Darstellung pathologischer Veränderungen am Nerv selbst (Texturveränderung,
Abflachung, prästenotische Auftreibung, Hyperämie) liegt der große Vorteil darin, bei
symptomatischem Karpaltunnelsyndrom die
Ursachen aufzeigen zu können (Ganglien,
Tendovaginitis, A.-mediana-Thrombose, Anomalien der Beugermuskeln etc.).
Auch bei unbefriedigendem postoperativem
Verlauf hat die Methode Vorteile: die inkomplette Spaltung des Retinaculum, Narbenbildungen können gut identifiziert werden.
Elektrophysiologisch ist die Differenzierung ja
nicht möglich. Die Kernspintomographie ist
ökonomisch ungünstiger. Der Stellenwert der
Nervensonographie beim CTS ist noch im
Fluss. Derzeit zeichnet sich ab, dass die elek-
trophysiologische und die sonographische
Untersuchung in der Primärdiagnostik komplementär zum Einsatz kommen werden. In
der Abklärung postoperativer Schwierigkeiten wird sich die Sonographie m.E. durch■
setzen.
RESÜMEE
Der Zweck dieses Artikels ist nicht, die
ohnehin bekannten Untersuchungen,
Methoden und Indikationen der Neurosonographie detailliert und vollständig
vorzustellen. Es soll gezeigt werden, dass
die Anwendung in der neurologischen
Praxis in einem sehr breiten Feld möglich
und sinnvoll ist. Diese Untersuchungen
sollten möglichst flächendeckend angeboten werden können. Für PatientInnen
ist es von großem Vorteil, wenn diese in
Kenntnis von Anamnese und klinischem
Befund erhoben werden, um die optimale Therapie zu gewährleisten.
FÜR DIE GUTACHTERLICHE PRAXIS
Änderungen bei den Richtlinien
zu Epilepsie und Führerschein
Vor kurzem wurden die Richtlinien zum Lenken von Kraftfahrzeugen bei Epilepsie EU-konform geändert. Studien
zum Thema Epilepsien und Führerschein haben gezeigt, dass das Behalten der Lenkerberechtigung vielen
AnfallspatientInnen wichtiger ist als die Tatsache der Anfallsfreiheit. Je längere Beobachtungszeiten auferlegt
werden, desto weniger werden diese befolgt.
I
Im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie (BMfVIT)
fand Ende April 2010 eine Sitzung der Arbeitsgruppe der AmtsärztInnen statt, bei der
die im Handbuch zur Führerscheingesundheitsverordnung publizierten Richtlinien bei
Epilepsie (siehe auch neurologisch 2/2009)
überarbeitet wurden, da sie in einigen Punkten nicht konform mit den verbindlichen
Empfehlungen im Amtsblatt der Europäischen Union (L 223/34) waren. In einigen
Punkten waren Beschränkungen über denen
im EU-Amtsblatt gelegen.
Folgende Änderungen wurden vorgenommen und sind nun entsprechend dem EUAmtsblatt verbindlich:
Erster nichtprovozierter epileptischer Anfall:
• Lenkberechtigung Gruppe 1 (Fahrzeugklassen A, B): geeignet, wenn kein Hinweis für das Vorliegen einer beginnenden Epilepsie besteht nach einer
Beobachtungszeit von 6 Monaten.
• Lenkberechtigung Gruppe 2 (Fahrzeugklassen C, D, E, F): geeignet auf Grundlage einer ordnungsgemäßen neurologischen Bewertung nach 5 anfallsfreien
Jahren ohne Einnahme von Antiepileptika. Die nationalen Behörden können
FahrzeuglenkerInnen mit anerkannt guten Prognoseindikatoren bereits vorher
das Führen von Kraftfahrzeugen erlauben.
Provozierter epileptischer Anfall (z.B.
Schlafentzug, extreme körperliche und
psychische Belastung):
• Gruppe 1 und 2: Personen, die einen
provozierten epileptischen Anfall auf-
52
grund einer erkennbaren Ursache erlitten
haben, dessen Auftreten am Steuer
unwahrscheinlich ist, können auf der
Grundlage eines neurologischen Gutachtens individuell als zum Führen eines
Kraftfahrzeugs geeignet erklärt werden,
ohne weitere Beobachtungsfrist.
Erster symptomatischer epileptischer Anfall bekannter Ursache (z.B. nach Hirnoperationen):
• Gruppe 1: geeignet nach einer Beobachtungszeit von 3–6 Monaten.
• Gruppe 2: geeignet nach einer Beobachtungszeit von 5 Jahren.
Bestehende Epilepsie:
• Gruppe 1: geeignet, wenn 12 Monate
Anfallsfreiheit bestanden hat, inklusive
Anfallsfreiheit nach epilepsiechirurgischen
Eingriffen. Das EEG muss frei von
epilepsiespezifischen Paroxysmen sein. Es
dürfen keine Veränderungen auftreten,
die beweisend für einen epileptischen
Anfall während der Ableitung sind.
• Gruppe 2: Ohne die Einnahme von
Antiepileptika muss Anfallsfreiheit
während eines Zeitraums von 10 Jahren
erreicht worden sein. Die nationalen
Behörden können mit anerkannt guten
Prognoseindikatoren bereits vorher das
Führen von Kraftfahrzeugen erlauben.
Dies gilt z.B. im Falle einer juvenilen
Myoklonusepilepsie mit Anfallsfreiheit im
Erwachsenalter.
Einfache fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung, kognitive oder sensorische
Dr. Wolfgang Soukop
Arbeitsgemeinschaft
neurologischer Gutachter in
der ÖGN, Verkehr und Arbeit
Beeinträchtigungen: BewerberInnen oder
FahrzeugführerInnen, die stets nur Anfälle erlitten haben, die nachweislich weder das Bewusstsein beeinträchtigen noch funktionelle
Störungen verursachen, können als zum Lenken eines Fahrzeugs der Gruppe 1 geeignet
erklärt werden, sofern dieses Anfallsmuster
während eines Zeitraums festgestellt wurde,
der mindestens dem oben geforderten mit
Anfallsfreiheit (1 Jahr) entspricht. Nach einem
Anfall anderer Art müssen die Betroffenen
mindestens 1 Jahr lang anfallsfrei sein bevor
eine Fahrerlaubnis erteilt werden kann.
Schlafepilepsie: BewerberInnen oder FahrzeugführerInnen, die ausschließlich schlafgebundene Anfälle erlitten haben, können als
zum Lenken von Fahrzeugen geeignet erklärt
werden, sofern dieses Krankheitsmuster während eines Zeitraums festgestellt wurde, der
mindestens dem oben unter dem Kapitel
„bestehende Epilepsie“ geforderten Zeitraum
der Anfallsfreiheit entspricht. Nach einem im
Wachzustand erlittenen Anfall müssen die
Betreffenden mindestens 12 Monate anfallsfrei sein, bevor eine Fahrerlaubnis erteilt werden kann.
Anfallsrezidiv, nicht provozierter Anfall,
generalisiert: Geeignet ausschließlich für
Gruppe 1 nach einem neuerlichen anfallsfreien Intervall von 6 Monaten.
Beendigung einer antiepileptischen Therapie: Für die Dauer der
Reduzierung und des Absetzens des letzten antikonvulsiven Medikaments wird empfohlen, während eines Beobachtungszeitraums von 6
Monaten kein Kraftfahrzeug zu lenken. Bei einem Anfall während
dieses Zeitraums sind 3 Monate Beobachtung nach Neueinstellung erforderlich.
Nichtepileptische Anfälle: Betreffend nichtepileptische Anfälle mit
akuter Beeinträchtigung des Bewusstseins oder der Motorik wie z.B.
Kataplexie und Narkolepsie werden keine einheitlichen Richtlinien mehr
aufrechterhalten.
Weitere Kontrolluntersuchungen und Befristungen: Bei AnfallspatientInnen ist die Lenkerberechtigung zunächst befristet zu erteilen. Kontrolluntersuchungen sind erforderlich, wobei die Abstände
unter Berücksichtigung von krankheitsrelevanten Faktoren festzulegen
sind. Nach 5-jähriger Anfallsfreiheit ist von einer weiteren Befristung
abzugehen. Von Befristung und der Auflage von Kontrolluntersuchungen ausgenommen sind FührerscheinwerberInnen beziehungsweise FahrzeuglenkerInnen nach einem ersten provozierten epileptischen Anfall.
Diese Richtlinien gelten auch für kurativ tätige ÄrztInnen, die erfahrungsgemäß in einem größeren Umfang LenkerInnen mit Anfällen antreffen als AmtsärztInnen.
Zertifizierte Sachverständige: Begleitend wurde eine Verbesserung
der Führerscheinbegutachtung durch Einbeziehung von zertifizierten
Sachverständigen empfohlen. Dies würde ein Abgehen von der bisherigen Gepflogenheit der fachärztlichen Stellungnahme durch den/die
behandelnde/n FachärztIn bedeuten. Es unterstreicht die Wichtigkeit
unserer Expertise.
Angeregt wurde, dass die Fachgesellschaften für Neurologie und Kinderheilkunde in den Zertifizierungsprozess eingebunden werden sollten.
Aufklärung: In diesem Zusammenhang darf an das Tutorial bei der
ÖGN-Jahrestagung 2010 erinnert werden. Die Problematik der Dokumentation und Aufklärung über gängige rechtsverbindliche Standards
betrifft auch rein kurativ tätige FachärztInnen.
In der Sitzung mit den Amtsärzten wurde gerade auf diesen Punkt
hingewiesen, da AnfallspatientInnen nur dann für den/die AmtsärztIn
relevant werden, wenn sie als FührerscheinbewerberInnen in der Vorgeschichte ein Anfallsleiden aufweisen oder im Besitz einer Lenkerberechtigung erst durch einen Anfall in der Öffentlichkeit amtsbekannt
werden. Dies stellt unter allen FahrzeuglenkerInnen mit Anfällen die
■
Minderheit dar.
NEUROLOGIE AKTUELL
Bewegungsstörungen
SWEDDs (Scans Without Evidence of Dopaminergic
Deficit) – Differenzialdiagnose zum M. Parkinson
F
Funktionelle Bildgebungsverfahren wie DATSPECT und F-DOPA-PET gelten als zuverlässige Methoden zur Unterscheidung zwischen
Gesunden und PatientInnen mit M. Parkinson. Je fortgeschrittener die nigrostriatale Degeneration, desto geringer ist die Anreicherung des jeweiligen Radioliganden.
Es war daher überraschend, dass 10 % der
PatientInnen, die mit der klinischen Diagnose
eines M. Parkinson in verschiedene Medikamentenstudien eingeschlossen wurden, eine
unauffällige DAT-SPECT- bzw. F-DOPA-PETUntersuchung aufwiesen. Diese PatientInnen
wurden als SWEDDs (Scans Without Evidence
of Dopaminergic Deficit, Abb.) bezeichnet.
Hintergrund: Die Ursache für das Phänomen
SWEDDs wurde heftig diskutiert. Folgende
Faktoren sprachen dagegen, dass es sich hierbei um eine Frühform des M. Parkinson oder
eine „neue“ Parkinson-Variante handelt: In
der ELLDOPA-Studie fand man ein fehlendes
Ansprechen auf L-Dopa in der SWEDDs-Gruppe1, auch Absetzen von dopaminergen Substanzen bei anderen SWEDDs-PatientInnen
führte zu keiner klinischen Verschlechterung2,
und bei Wiederholung der Scans nach 4 Jahren waren immer noch keine Anzeichen von
nigrostriataler Dysfunktion zu sehen3.
Es wurden auch alternative Diagnosen für
SWEDDs vorgeschlagen, wie zum Beispiel
dystoner Tremor, essenzieller Tremor, psychogener Parkinsonismus und Dopa-responsive
Dystonie.
Studienziel und Methoden: Wir führten
eine Studie4 mit dem Ziel durch, die zugrunde
liegende Pathophysiologie von tremordominanten SWEDDs-PatientInnen näher zu erörtern, eine Zuordnung entweder zum M. Parkinson oder aber zu einer anderen Krankheit
54
treffen zu können sowie klinische Kriterien
zur Unterscheidung von M. Parkinson und
SWEDDs zu definieren4.
Wir untersuchten mittels verblindeter Videoanalyse klinische Charakteristika sowie auch
nichtmotorische Symptome bei 25 PatientInnen mit SWEDDs im Vergleich zu 25 PatientInnen mit benignem tremordominantem M.
Parkinson (mit pathologischem DAT-SPECT).
Mittels Akzelerometrie wurden Tremor-Charakteristika definiert. Mit Hilfe der transkraniellen Magnetstimulation (TMS), genauer
der so genannten assoziativen Paarstimulation (PAS), untersuchten wir die zeitlichen
und räumlichen Eigenschaften neuronaler
Plastizität des Motorkortex bei SWEDDs, tremor-dominantem M. Parkinson, segmentaler
Dystonie, essenziellem Tremor und Gesunden.
Ergebnisse: Obwohl es klinisch große Überschneidungen zwischen SWEDDs und M. Parkinson gab, konnten hilfreiche Unterscheidungsmerkmale gefunden werden. So war das
Fehlen von „klassischer“ Bradykinesie mit „Fatiguing“ und „Decrement“, das Vorhandensein
von oft nur milder Dystonie und Kopftremor
signifikant häufiger bei SWEDDs. Andererseits
wiesen Re-emergent Tremor, „klassische“ Bradykinesie, gutes Ansprechen auf dopaminerge
Medikamente und Vorhandensein nichtmotorischer Symptome (einschließlich Geruchsstörung5) auf einen M. Parkinson hin.
Ein einzelner Tremorparameter konnte nicht
zwischen den PatientInnengruppen unterscheiden, jedoch war eine Kombination von
Re-emergent Tremor und höchster Tremoramplitude in der Ruheposition charakteristisch für M. Parkinson.
Abb.: Links: Patient mit „SWEDDs“. Rechts: DAT-SPECT-Bild eines Patienten
mit M. Parkinson
Links das Bild eines Patienten mit „SWEDDs“ der sich klinisch mit leichter Hypomimie, Tremor und
Tonuserhöhung des rechten Arms, leichter Ungeschicklichkeit und abnormer Haltung der rechten
Hand sowie vermindertem Armmitschwingen rechts seit 5 Jahren präsentierte. Es findet sich keine
Reduktion der Verfügbarkeit von Dopamintransportern (I-123 FP-CIT).
Rechts das DAT-SPECT-Bild eines Patienten mit einer rechtsbetonten, tremor-dominanten ParkinsonKrankheit mit Beginn vor 5 Jahren. Es zeigt sich eine beidseitige, links stärker ausgeprägte Reduktion
der Dopamintransporter.
Zusammengestellt für den Beirat „Bewegungsstörungen“:
Dr. Petra Schwingenschuh
Universitätsklinik für Neurologie Graz, Medizinische Universität Graz
Nach PAS stieg die Amplitude der motorisch evozierten Potenziale (MEP) bei Gesunden und PatientInnen mit essenziellem
Tremor nur im homotop stimulierten Zielmuskel an. Bei M. Parkinson fehlte diese
physiologische Reaktion auf PAS vollkommen. Trotz klinischer Ähnlichkeit zum M.
Parkinson stiegen die MEP-Amplituden in
der SWEDDs-Gruppe nicht nur im Zielmuskel, sondern auch in den benachbarten
Handmuskeln an, was für eine pathologisch gesteigerte Plastizität spricht. Dasselbe Muster fand sich bei PatientInnen mit
segmentaler Dystonie.
Kommentar: Insgesamt handelt es sich bei
SWEDDs sicherlich um eine heterogene
Gruppe. Unter tremordominanten SWEDDs
dürfte es sich jedoch großteils um PatientInnen mit dystonem Tremor handeln.
Das Erkennen solcher PatientInnen ist wichtig,
um den zukünftigen Einschluss von SWEDDs
in Parkinson-Studien zu vermeiden, um eine
korrekte ärztliche Führung solcher PatientInnen zu gewährleisten und um unnötige dopaminerge Therapien zu verhindern. Die
oben erwähnten klinischen Kriterien können
in der Unterscheidung hilfreich sein. Besteht
klinisch jedoch weiterhin Zweifel, ob es sich
tatsächlich um M. Parkinson handelt, ist die
Durchführung eines DAT-SPECT indiziert.
1 Fahn
S, Does levodopa slow or hasten the rate of
progression of Parkinson's disease? J Neurol 2005;
252 (suppl 4):IV37–IV42
2 Marshall VL, Patterson J, Hadley DM et al., Successful
antiparkinsonian medication withdrawal in patients with
Parkinsonism and normal FP-CIT SPECT. Mov Disord
2006; 21:2247–2250
3 Marek K, Jennings D, Seibyl J, Long-term follow-up of
patients with scans without evidence of dopaminergic
deficit (SWEDDs) in the ELLDOPA study. Neurology 2005;
64 (suppl 1):A274
4 Schwingenschuh P, Ruge D, Edwards MJ et al.,
Distinguishing SWEDDs patients with asymmetric resting
tremor from Parkinson's disease: A clinical and electrophysiological study. Mov Dis 2010 (Epub ahead of print)
5 Silveira-Moriyama L, Schwingenschuh P, O'Donnell A,
et al. Olfaction in patients with suspected Parkinsonism
and scans without evidence of dopaminergic deficit
(SWEDDs). J Neurol Neurosurg Psychiatry 2009; 80:744–748
NEUROLOGIE AKTUELL
Epilepsie
Zusammengestellt im Namen des Beirats „Epilepsie“:
Priv.-Doz. Dr. Michael Feichtinger
Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Graz
Vordere Kerngebiete des Thalamus
Bilaterale elektrische Stimulation kann anfallshemmend wirken
In einer prospektiven, multizentrischen, randomisierten und doppelblinden Studie1
wurde die Effektivität einer beidseitigen elektrischen Tiefenstimulation des Thalamus zur
Anfallsreduktion bei 110 PatientInnen mit fokaler Epilepsie untersucht. Dabei wurden die
Elektroden standardisiert in Allgemeinanästhesie in beide Nuclei anteriores des Thalamus platziert.
Randomisiert wurde in einer ersten Studienphase eine Hälfte der PatientInnen 3 Monate
lang elektrisch stimuliert, die andere Hälfte
nicht. Anschließend erhielten alle PatientIn-
nen eine kontinuierliche Stimulation mit einer
Dauer von bis zu 2 Jahren.
Im Vergleich zur Kontrollgruppe (14 %) verzeichneten am Ende der 3-monatigen verblindeten Phase 40 % der stimulierten PatientInnen eine deutliche Anfallsreduktion –
vor allem bei schweren und komplex-fokalen
Anfällen. Nach 2 Jahren zeigte sich beim Gesamtkollektiv eine mediane Anfallsreduktion
von 56 %. 14 der 110 PatientInnen erzielten
sogar eine zumindest 6-monatige Anfallsfreiheit. Es traten keine Blutungen oder intrazerebrale Infektionen auf, im Gruppenvergleich
waren auch keine signifikanten Unterschiede
im Bereich der Gedächtnisleitung oder der
Stimmung aufgetreten.
Eine bilaterale Elektrostimulation der vorderen Thalamusregion könnte daher in Zukunft
eine mögliche zusätzliche Therapieoption bei
medikamentös therapierefraktärer fokaler
Epilepsie darstellen.
1 Fisher
R et al., Electrical stimulation of the anterior
nucleus of thalamus for treatment of refractory epilepsy,
Epilepsia 2010; 51(5):899–908
55
NEUROLOGIE AKTUELL
Epilepsie
Report der ILAE Commission on Classification
and Terminology 2005–2009
Änderung in der Klassifikation epileptischer
Anfälle und Epilepsien?
Störungen der
kortikalen Entwicklung
Veränderungen im
Hippocampus als
begleitende Pathologie
An der Universitätsklinik für Neurologie in
Innsbruck wurde die Hippocampusformation systematisch bei 220 PatientInnen mit
fokaler kortikaler Dysplasie, Polymikrogyrie,
Entwicklungstumoren oder periventrikulärer
nodulärer Heterotopie untersucht1. Dabei
wurden verschiedene Kriterien (z.B. das Ausmaß der hippocampalen Einrollung, Größe,
systematische Schichtung bzw. Signalalteration im Hippocampus) von 3 unabhängigen UntersucherInnen erhoben und in Beziehung zur zugrunde liegenden kortikalen
Entwicklungsstörung und klinischen Parametern gesetzt.
Die Studie ergab, dass 69 der 220 PatientInnen (31 %) zusätzlich zur kortikalen Malformation eine strukturelle Beeinträchtigung des Hippocampus aufwiesen. Diejenigen PatientInnen, die sowohl eine kortikale
Störung als auch eine Abnormität im Hippocampusbereich hatten, waren signifikant
häufiger durch psychomotorische Entwicklungsstörungen bzw. kognitive Einbußen
betroffen. Die stärksten klinisch erkennbaren Beeinträchtigungen hatten in dieser Kohorte jene PatientInnen, bei denen im MRT
ein verkleinerter bzw. nur unvollständig eingerollter Hippocampus gefunden wurde.
1
56
Kuchukhidze G et al., Hippocampal abnormalities in
malformations of cortical development: MRI study,
Neurology 2010; 74(20):1575–82.
Die letzten Vorschläge der Commission on Classification and Terminology der Internationalen Liga gegen
Epilepsie (ILAE), publiziert in den Jahren 1981 und 1989, stellen die
Grundlage der aktuell gültigen Einteilung und Klassifikation der Epilepsien bzw. der epileptischen Anfälle
dar. Diese Leitlinien basieren jedoch
auf konzeptuellen Überlegungen, die
zum Teil durch die wissenschaftliche
Entwicklung überholt sind – insbesondere durch Erkenntnisse der genetischen Forschung, der Molekularbiologie
und verfeinerter Neuroimaging-Methoden. Um
diesem Fortschritt entsprechend Rechnung zu
tragen, hat es sich die Kommission daher zur
Aufgabe gemacht, die derzeitig verwendete
Klassifikation zu revidieren und entsprechende
Änderungsvorschläge zu unterbreiten1.
Revision: Bei der Klassifikation der Anfälle wird
vorgeschlagen, generalisierte Ereignisse als
rasch entlang bilateral verteilter neuronaler
Netzwerke ausgebreitete Anfälle anzusehen.
Fokale Anfälle hingegen entstehen nach diesem
Konzept in einem auf eine Hemisphäre beschränkten Netzwerk und breiten sich auch nur
in diesem aus. Weitere wichtige Vorschläge
sind: Vereinfachung und Änderung der Unterklassifizierung der Absencen, Aufhebung der
neonatalen Anfälle als eigene Entität, Einführung des Begriffes „Epileptic Spasms“ als Sonderform unklarer Anfälle und die Aufhebung
der Unterscheidung einfach und komplex fokaler Anfälle. Die Wichtigkeit einer genauen
Symptombeschreibung der fokalen Anfälle mit
Betonung der Bewusstseinsbeeinträchtigung
wird aber hervorgehoben.
Auch hinsichtlich der Ursache der Epilepsie werden neue Begriffe vorgeschlagen: Anstatt „idiopathisch“, „kryptogen“ und „symptomatisch“
wird die Empfehlung der Einteilung in „genetisch bedingt“, „strukturell/metabolisch bedingt“ und „unbekannte Ursache“ abgegeben.
Auch die Begriffe „fokale“ oder „generalisierte“ Epilepsie sollen zugunsten einer differenzierteren Spezifizierung in „elektro-klinische
Syndrome“ (Nachweis klar definierter Kombination klinischer Symptome mit charakteristischen EEG-Veränderungen), „nichtsyndromatische Epilepsien mit struktureller/metabolischer
Ursache“ und „Epilepsien unklarer Ursache“
aufgegeben werden.
Insgesamt stellen diese Änderungen den Versuch dar, das vormals oft als rigide Klassifizierungssystem zugunsten einer flexibleren Sichtweise unter Einbezug aktueller und zukünftiger
wissenschaftlicher Daten zu verlassen, um das
Verständnis der Epilepsie als Gesamtentität
auch außerhalb der Fachwelt zu fördern.
1 Berg
AT et al., Revised terminology and concepts for
organization of seizures and epilepsies: Report of the
ILAE Commission on Classification and Terminology,
2005–2009. Epilepsia 2010; 51(4):676–685.
NEUROLOGIE AKTUELL
Schlafstörungen
Zusammengestellt im Namen
des Beirats „Schlafstörungen“:
Univ.-Prof. Dr. Dr. Birgit Högl Dr. Birgit Frauscher
Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck
Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft
für Schlafmedizin und Schlafforschung
(ÖGSM/ASRA) 2010
D
Die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung, die dieses Jahr vom 23.4.–25.4. 2010
in Igls bei Innsbruck stattfand, konnte einen
TeilnehmerInnenrekord mit 177 registrierten
TeilnehmerInnen verzeichnen.
Schlafapnoesyndrom und Insomniebehandlung: Aus dem umfangreichen wissenschaftlichen Programm können an dieser
Stelle nur einige Highlights hervorgehoben
werden. Prof. Dr. Max Hirshkowitz aus Houston, Texas hielt eine Keynote Lecture zur Epidemiologie des Schlafapnoesyndroms, zu den
Komorbiditäten und zur Auswirkung auf die
Nutzung des Gesundheitssystems. Neben
einem exzellenten Überblick stellte er auch
eigene Daten aus der Veterans Affairs Database von über 400.000 PatientInnen zur Nutzung des Gesundheitssystems vor, die eindrücklich belegten, dass PatientInnen mit
Schlafapnoesyndrom vermehrt Ressourcen in
Anspruch nehmen, was auch aus ökonomischer Sicht die Bedeutung einer Diagnostik
und Therapie des Schlafapnoesyndroms untermauert.
Ein weiteres Highlight stellte die Keynote Lecture von Prof. Dr. Göran Hajak aus Regensburg dar, der einen State-of-the-Art-Vortrag
zur Insomniebehandlung hielt und darüber
hinaus auch künftige, noch in der klinischen
Forschung befindliche Entwicklungen reflektierte.
Mit einer Special Session zu den neuen ICF
Core Sets für Schlafstörungen, welche von
der WHO in Kollaboration mit der World Assocation of Sleep Medicine (WASM) entwi-
Verleihung der korrespondierenden Vorstandsmitgliedschaft auf Lebenszeit an Univ.-Prof. Dr. Bernd Saletu
für seine großen Verdienste um die Schlafmedizin in Österreich. Die Überreichung erfolgte durch die
Präsidentin der ÖGSM, Univ.-Prof. Dr. Birgit Högl.
ckelt wurde, referierte kein Geringerer als der
Past President der WASM, Prof. Dr. Markku
Partinen aus Finnland, sowie der in der Entwicklung maßgeblich Beteiligte, Dr. Felix Gradinger aus der Schweiz. Interessant an dieser
Klassifikation ist, dass damit erstmals funktionelle Beeinträchtigungen von PatientInnen
mit schlafmedizinischen Erkrankungen systematisch erfasst und beurteilt werden können.
Anklang fand auch die Präsentation von Dr.
Schwarting zu Alternativen zur nCPAP-Therapie des Schlafapnoesyndroms mittels Protrusionsschienen.
Eine weitere Neuerung der diesjährigen Jahrestagung stellten 4 hochkarätige Industriesymposien zum Restless-Legs-Syndrom, zur
Narkolepsie, zu Schlafstörungen und somatischen Symptomen bei Major Depression
sowie zu erhöhter Tagesschläfrigkeit dar.
Unter anderem wurden die eine Woche zuvor
bei der American Academy of Neurology vor-
gestellten 5-Jahres-Daten zu Rotigotin bei
Restless-Legs-Syndrom von Prof. Dr. Diego
Garcia-Borreguero erstmals in Europa präsentiert. Die Ergebnisse der Studie konnten einen
guten Langzeiterfolg von Rotigotin in der
RLS-Therapie belegen.
Fazit: Die Programm-Mischung der diesjährigen Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Schlafmedizin und Schlafforschung reflektierte das interdisziplinäre Konzept der Schlafmedizin und war von großem
Interesse sowohl für KollegInnen aus der Praxis als auch für forschungsinteressierte KollegInnen. Neben den international besetzten
Keynote Lectures und Industriesymposien
gab es auch 3 Teaching Courses und eine
wissenschaftliche Sitzung zu neuen Ergebnissen der Schlafmedizin aus Österreich mit insgesamt 12 sehr interessanten Forschungsbeiträgen sowie einen eigenen Programmteil für
das technische Personal.
59
NEUROLOGIE AKTUELL
Schlaganfall
International PSS Disability Study Group zum Schlaganfall-Disease-Management
Verbesserte Identifikation und
Intervention bei Post-Stroke-Spastizität
Langzeitkomplikationen nach Schlaganfall sind häufig und können eine schwere Behinderung darstellen. Einen
wichtigen Anteil stellen spastizitätsbedingte Behinderungen dar. Obwohl Spastizität allein bei bis zu 60 % aller
Schlaganfälle auftritt, ist eine spastizitätsrelevante Behinderung nach einem Jahr lediglich in etwa 4 % aller
Fälle festzustellen.
S
Spastizität kann wichtige Funktionen des täglichen Lebens beeinträchtigen, vor allem,
wenn gleichzeitig Schmerzen vorliegen,
ebenso wenn motorische Einschränkungen
oder eine generelle Abnahme von kognitiven
Fähigkeiten oder neurologischen Funktionen
vorhanden sind. Es ist wichtig, die Folgeerscheinungen des Schlaganfalls als eine chronische Erkrankung zu erkennen, die über
mehrere medizinische Disziplinen und auf
mehreren Ebenen behandelt werden muss.
Spastizitätsbedingte
Behinderung
Es gibt jedoch erhebliche Wissenslücken im
Hinblick auf die Vorhersage und das Erkennen der Post-Stroke-Disability, die durch Spastizität wesentlich bestimmt ist, d.h. eine im
Gefolge des Schlaganfalls aufgetretene spastizitätsbedingte Behinderung (Post-Stroke
Spasticity-related Disability). Interventionen,
die dazu dienen, solche Behinderungen zu
verhindern oder zu minimieren, müssen weiterentwickelt und evaluiert werden.
Die Post-Stroke-Spastizitätsforschung sollte
zum Ziel haben, die Behinderung und nicht
lediglich die Spastizität zu reduzieren. Damit
wird es möglich, die durch Spastizität hervorgerufenen Behinderungen frühzeitig zu
erkennen und optimal im Rahmen des chronischen Disease-Management zu behandeln.
Die International PSS Disability Study Group
kam weiters zu folgenden Schlussfolgerungen:
• Die Last der Krankheit Schlaganfall ist in
allen Weltteilen im Zunehmen. In manchen
60
Weltregionen hat die Inzidenzrate innerhalb der letzten 4 Jahrzehnte um über
100 % zugenommen. Der Schlaganfall
ist eine klinisch sehr heterogene Erkrankung, die häufigsten Ausfälle sind
zwar sensomotorische Paresen, jedoch
kommen eine Fülle von neuropsychologischen, emotionalen und neuropsychiatrischen Störungen hinzu.
• Das Riks-Stroke-Registry (das schwedische
Schlaganfallregister) zeigt in der
2-Jahres-Erhebung, dass nahezu 40 %
aller Überlebenden Unterstützung beim
Gehen außer Haus benötigen, rund
25 % jeweils Unterstützung beim Anziehen und der täglichen Hygiene, 20 %
Unterstützung beim Toilettenbesuch, 15 %
Unterstützung bei Gehen im eigenen
Haus und 7 % Unterstützung beim
Essen. Nach 2 Jahren sind die Symptome
vertieft, Depression, Angststörung und
Schmerzen ausgesprochen häufig.
• Während die Rückbildung motorischer
Funktionen bei den meisten PatientInnen
innerhalb von 3–6 Monaten komplett
erfolgt, gibt es eine Minorität von
PatientInnen, die einer längeren
Rehabilitationszeit bedürfen.
• Nach 1 Jahr beträgt nach neueren Studien die Prävalenz der Spastizität 17 %,
jedoch sind lediglich 4 % als behindernde Spastizität anzusehen (Abb.).
Diese Patientengruppe ist besonders
wichtig, da frühzeitige Intervention zu
einer Linderung der Spastizität und
somit zu einer Verbesserung von neurologischen Funktionen führen kann. Ein
genaues Assessment dieser Funktionen
ist erforderlich, wobei gezielt jeweils an
der oberen und unteren Extremität ge-
Abb.: Prävalenz der behindernden Spastizität nach 1 Jahr
4%
13 %
keine Spastizität
Spastizität
behindernde Spastizität
83 %
Lundström E et al., Eur J Neurol 2008; 15(6):533–539
Zusammengestellt im Namen des Beirats „Schlaganfall“:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Brainin
Neurologische Abteilung, Landesklinikum Donauregion Tulln und Donau-Universität Krems
sucht werden soll. Unbehandelte bzw.
persistierende Post-Stroke-related
Disability führt zu funktionellen Einschränkungen und zu einer Reduktion
der Lebensqualität.
• Die direkten Kosten von Schlaganfallüberlebenden mit Post-Stroke-Spastizität sind 4-fach höher als für jene
Schlaganfallüberlebenden ohne Spastizität.
• Prädiktoren der behindernden PostStroke-Spastizität sind bisher unzureichend bekannt. Verlaufsstudien sind
dafür erforderlich. Die Definition der
Post-Stroke-Spastizität ist in der Literatur
uneinheitlich, und die Ashworth Scale ist
gerade im gering bis mäßig ausgeprägten Bereich nicht ausreichend
konsistent.
• Es erfolgt ein „Call to Action“, der
beinhaltet, dass alle Schlaganfallüberlebenden ein umfassendes Assessment der
Behinderungen, die in Zusammenhang
mit Post-Stroke-Spastizität auftreten
können, erhalten sollen. Ein Plan für
dieses Assessment sollte nach 3, 6 und
12 Monaten erfolgen, danach weiterhin
jährlich und ebenso bei Schnittstellen
der Betreuung. Weiters müssen
PatientInnen Zugang zu zielorientierten,
multidisziplinären Behandlungsmöglichkeiten haben.
Die International PSS Disability Study Group*
besteht aus folgenden Personen: Michael
Brainin (Krems), Bo Norrving (Lund), Geoffrey
A. Donnan (Melbourne), Larry B. Goldstein
(Durham), Katharina Summerhagen (Göteborg),
Richard Zorovitz (Baltimore) , Gerard Fransico
(Houston) , David Good (Hershey), Glen Graham
(Albuquerque), John Olver (Clayton), Antony
Ward (Stoke on Trent), Jörg Wissel (Berlin),
Steven Cramer (Irvine), Pamela Duncan (Durham),
Brett M. Kissela (Cincinnati)
* Funding:
Allergan International, es bestand kein Einfluss
des Sponsors auf Inhalt oder Abfassung aller in diesem
Kreis erarbeiteten oder publizierten Schriftstücke, und
kein Mitglied dieser Gruppe erhielt Zuwendungen oder
Honorare für das Schreiben von wissenschaftlichen
Berichten oder Publikationen
NEUROLOGIE AKTUELL
Schmerz
Österreichische Kopfschmerzgesellschaft
Kopfschmerz-Diskussionsforum
I
Immer wieder gibt es im Praxisalltag Momente, in denen wir mit
schwierigen und auf den ersten Blick unklaren Beschwerdebildern
konfrontiert werden. Wir alle kennen Kopfschmerz-PatientInnen, die
diagnostisch und therapeutisch eine Herausforderung darstellen.
Im Kopfschmerzforum unter www.oeksg.at haben Sie die Möglichkeit,
Ihre Fälle vorzustellen und mit KollegInnen zu diskutieren. ExpertInnen
der Kopfschmerzgesellschaft werden sich bemühen, zur Klärung beizutragen.
Die Kopfschmerzgesellschaft möchte Sie herzlich einladen, von dieser
Möglichkeit Gebrauch zu machen, und wir freuen uns auf Ihre Dis-
kussionsbeiträge! Das Kopfschmerzforum ist unter www.oeksg.at
freigeschalten und derzeit frei benützbar.
MR Dr. Albert Wuschitz
Österreichische Kopfschmerzgesellschaft
61
NEUROLOGIE AKTUELL
Neuromuskuläre Erkrankungen
Sonographie der Nerven
und Muskeln im klinischen Alltag
D
Die Sonographie der Nerven und Muskeln als
diagnostisches Hilfsmittel neuromuskulärer
Erkrankungen gewinnt zunehmend an Bedeutung. Der Ultraschall ist im Vergleich zum
häufig eingesetzten MRT oder CT günstig in
Bezug auf Anschaffung und Gerätewartung,
ohne Röntgenbelastung für die PatientInnen
und rasch verfügbar. Zusätzlich ist nicht nur
eine statische, sondern auch eine dynamische
Untersuchung im Sinne von Beurteilung der
Beweglichkeit von Sehnen, Muskeln und
„Nervengleiten“ während der Untersuchung
möglich. Allerdings ist die Interpretation des
Ultraschallbefundes von der Erfahrung des
Untersuchers/der Untersucherin stark abhängig und die Gefahr der Überinterpretation
mehr gegeben als bei anderen bildgebenden
Untersuchungstechniken.
Mit Hilfe moderner Softwareausstattung der
Ultraschallgeräte, z.B. Compound Imaging,
Tissue Harmonic Imaging und hochfrequenter Linearschallköpfe ist eine bessere Auflösung feiner Strukturen möglich.
Transversal-/Longitudinalschnitt:
Die
Durchführung des Nerven- und Muskelultraschalls wird sowohl im Transversal- als auch
im Longitudinalschnitt durchgeführt. Um eine
bessere Schallkopfankoppelung auf der Körperoberfläche zu erreichen, z.B. bei prominenten Knochenvorsprüngen, werden Vorlaufstrecken eingesetzt. Im Gegensatz von
elektrophysiologischen Techniken können so
die Morphologie, Vaskularisation und Bewegungen von Strukturen (z.B. Sehnen, Muskeln, Nervengleiten ...) beurteilt werden.
In der transversalen Schnittebene stellt sich
der Nerv als hypoechogene runde Struktur
dar, korrespondierend zu den Faszikelgruppen, die von einem echogenem Geflecht,
dem Epineurium, umgeben sind. In der longitudinalen Schnittebene zeigen sich kontinuierliche hypoechogene Streifen mit echogenen Trennschichten.
64
Die Skelettmuskulatur zeigt sich im Querschnitt echoarm, und die intramuskulären
Septen imponieren als echogene „Tüpfelung“. Im Längsschnitt zeigt sich die Skelettmuskulatur ebenso echoarm mit typischer
Fiederung. Die intramuskulären Septen kommen als feine, fast annähernd parallel angeordnete Echos zur Abbildung. Die Muskelfaszie stellt sich echogen dar. Die Echogenität
der Skelettmuskulatur ist abhängig vom Alter,
Geschlecht und Trainingszustand der PatientInnen sowie von der Geräteeinstellung und
vom Anschallwinkel.
Mononeuropathien: Die derzeitige Domäne des Nervenultraschalls sind die Mononeu-
ropathien, einerseits im Sinne der EngpassSyndrome („Entrapment“-Syndrome), andererseits in der Traumatologie. Bei den kompressiven Neuropathien findet man eine Kaliberänderung am Ort der Kompression mit
Abflachung der Nerven. Proximal der Kompression des Nervs sieht man eine Auftreibung mit einem Verlust der faszikulären Gliederung durch das endoneurale Ödem. Häufig
zugewiesene kompressive Neuropathien sind
das Karpaltunnelsyndrom, das Sulcus-ulnarisSyndrom und Kompression des N. peronaeus
im Bereich des Fibulakopfes. Auch lassen sich
sensible Nerven, die elektrodiagnostisch
schwer zu messen sind (N. cut. fem. lat), gut
darstellen.
Abb. 1: Karpaltunnelsyndrom
: N. ulnaris; : Art. ulnaris;
: Flexorensehnen; ✩: N. medianus
Abb. 2: Sulcus-ulnaris-Syndrom
✩: Olecranon;
: Epicondylus med.
Zusammengestellt im Namen des Beirats
„Neuromuskuläre Erkrankungen“:
Dr. Vera
Prim. Univ.-Prof. Dr.
Wohlgenannt
Wolfgang Grisold
Neurologische Abteilung, Kaiser-Franz-Josef-Spital Wien, LBI für Neuroonkologie
Abb. 3: Musculus extensor digitorum communis
Die Sonographie ist als
gute Screeningmethode in der Untersuchung
von Nerven, Muskeln
und auch Tumoren einsetzbar. Eine Aussage
über die Dignität der
Tumoren kann anhand
der Sonographie jedoch nicht getätigt
werden. Neurinome
und Neurofibrome zeigen sich in der Sono-
Abb. 4: gesunder N. medianus
: N. medianus;
✩: Flexorensehnen
graphie als gut abgegrenzte rundliche Raumforderungen mit echoreichem Rand.
Traumatologische Fragestellungen z.B. Nervendurchtrennung, Neurombildung, Narbengewebe, Fremdkörperdarstellung sowie postoperative Veränderungen können sonographisch leicht dargestellt werden.
In der Myotonologie können Muskelatrophien, Fettgewebe, entzündliche Veränderungen, Ödem und Hämatome zur Ansicht
gebracht werden. Aufgrund des Vorteils der
dynamischen
Untersuchungsmöglichkeit
können Faszikulationen rasch und schmerzfrei und in vielen Muskeln nachgewiesen werden. Auch die Darstellung und Beurteilung
des Zwerchfells ist möglich. Bei Durchführung
eines Zwerchfell-EMG kann mit Hilfe des Ultraschalls die Nadelinsertion, vor allem bei
paralytischem oder atrophen Diaphragmas,
sicher durchgeführt werden.
Weiters wird in der Literatur eine höhere
Treffsicherheit im Zielmuskel bei ultraschallgestützter Botulinumtoxin-Verabreichung beschrieben.
Die Modernisierung der Ultraschalltechnik ermöglichte eine verbesserte Darstellung von
Nerven und Muskeln, sodass die Sonographie
zu einem wichtigen diagnostischen und auch
in manchen Bereichen therapeutischen Instrument (sonographiegezielte Verabreichungen von Bolulinumtoxin oder von Anästhetika
bei Meralgia parästhetica) neuromuskulärer
Erkrankungen wurde.
Literatur:
- Peer S, Bodner G (ed.), High-Resolution Sonography of
the Peripheral Nervous System. 2008; Springer, Berlin,
Heidelberg
- Reimers CD et al. (Hg.), Sonographie der Muskeln,
Sehnen und Nerven. 2007; Deutscher Ärzte Verlag, Köln
- Boon AJ et al., Ultrasound- guided needle EMG of the
diaphragm. Muscle&Nerve 2008; 38(6):1623–6
65
NEUROLOGIE AKTUELL
Multiple Sklerose
Kongress der American Academy
of Neurology 2010 – MS-Update
66
Vergleichstudie Glatirameracetat: In dieser Studie wurde Glatirameracetat 1-mal täg-
Dalfampridin: Mit Dalfampridin wurden 2
Studien mit dem primären Endpunkt, Anzahl
Teriflunomid als Add-on-Therapie zu Glatirameracetat: In dieser Phase-I-Studie über
24 Wochen erhielten alle PatientInnen Glatirameracetat und zusätzlich Placebo (41 PatientInnen), 7 mg Teriflunomid (42 PatientInnen) oder 14 mg Teriflunomid (40 PatientInnen).
Primärer Endpunkt: 7 Therapieabbrüche wegen
erhöhter Leberwerte unter Teriflunomid. Sekundäre Endpunkte: Die Anzahl der T1-Gadolinium-anspeichernden Läsionen war in den Teriflunomid-Gruppen signifikant erniedrigt.
Abb.: Darstellung verschiedener Definitionen des Therapieansprechens am
Beispiel der CLARITY-Studie
Placebo
3,5 mg/kg
5,25 mg/kg
80 70 60 50 40 30 20 -
e
ität
och
den
und
kein t
e n ig
ktiv e
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n
u
-
-
0 -
-
10 -
FREEDOMS-Studie: Diese untersuchte Fingolimod in den Dosierungen von 1,25 mg
und 0,5 mg 1-mal täglich als Tablette über
2 Jahre an 1272 PatientInnen. Primärer Endpunkt war die jährliche Schubrate.
Ergebnisse: Die Schubraten in der PlaceboGruppe betrugen 0,40; unter 0,5 mg Fingolimod 0,18, unter 1,25 mg Fingolimod 0,16.
Signifikante Ergebnisse sekundärer Studienziele: Verzögerung der EDSS-Progression, Reduktion der MR-Aktivität und Hirnatrophie in
beiden Fingolimod-Gruppen.
Nebenwirkungen (selten): Bradykardien, die
unmittelbar nach Behandlungsbeginn auftraten, sowie Makulaödeme, die nach Absetzen
voll reversibel waren. Neoplasien waren in
den Placebo- und Fingolimod-Gruppen etwa
gleich verteilt.
lich s.c. versus 2-mal pro Woche über 2 Jahre
bei jeweils 24 PatientInnen pro Gruppe untersucht. Schubraten, EDSS-Score und die
MRI-Aktivität waren in beiden Gruppen vergleichbar. Ein Unterschied bestand in Hinblick
auf die Lipoatrophie an den Injektionsstellen
und auf die üblichen Nebenwirkungen zu
Gunsten der Gruppe mit 2-maligen Injektionen pro Woche.
-
Randomisierte kontrollierte
doppelblinde Therapie-Studien
CLARITY-Studie: Zwei Cladribin-Gruppen,
5,25 mg/kg und 3,5 mg/kg wurden gegen
Placebo über 2 Jahre bei insgesamt 1.326
PatientInnen geprüft. Das Dosierungsschema
sah zu Beginn eines Jahres die Einnahme über
5 Tage im 1. Monat und weiteren 5 Tagen
im 2. Monat vor.
Ergebnisse: Die Schubrate in der PlaceboGruppe betrug 0,33, unter 3,5 mg/kg Cladribin 0,14, unter 5,25 mg/kg Cladribin 0,15.
Signifikante Ergebnisse sekundärer Studienziele: Anzahl der schubfreien PatientInnen,
Krankheitsprogression und MR-Läsionen. Verschiedene Varianten der Beurteilung des Therapieerfolges sind in der Abbildung dargestellt.
Schwerwiegende Nebenwirkungen: Maligne
und benigne Neoplasien bei 10 PatientInnen
in den Verum-Gruppen, kein Fall unter Placebo. Herpes zoster bei 20 PatientInnen in
den Cladribin-Gruppen, kein Patient unter
Placebo.
-
Bei den unten angeführten Studien handelt
es sich meiner Meinung nach um die wichtigsten Beiträge aus einer Auswahl von Hunderten Abstracts zum Thema multiple Sklerose beim diesjährigen AAN-Kongress.
Insgesamt wurden bei den Therapiestudien
keine wesentlichen neuen Daten vorgestellt.
Die Phase-III-Ergebnisse zu Cladribin und Fingolimod sind bereits publiziert, und es ist mit
einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit mit
einer Zulassung dieser Präparate in der nahen
Zukunft zu rechnen. Die Auflagen der Behörden im Bezug auf Risiko-Nutzen-Abschätzungen bleiben abzuwarten.
Viele der experimentellen Arbeiten waren
grundsätzlich sehr interessant, oft darf jedoch
die Relevanz für multiple Sklerose hinterfragt
werden. Angesichts der therapeutischen Erfolge der letzten zwei Jahrzehnte scheint sich
nun ein größerer Markt zu eröffnen, und es
wird mit einer Vielzahl von verschiedenen Ansätzen versucht, sich diesem Markt anzuschließen.
%
B
Zusammengestellt für den Beirat „Multiple Sklerose“:
Univ.-Prof. Dr. Florian Deisenhammer
Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck
Tab.: Studien, in denen das primäre Studienziel nicht erreicht wurde
Population
Verum (Anzahl
PatientInnen)
Kontrollsubstanz
(Anzahl PatientInnen)
Primärer
Endpunkt
Sekundäre
Endpunkte
RRMS
Lamotrigin (61)
Placebo (59)
Zentrales
Gesamtes Hirnzerebrales
volumen, Volumen
Volumen in MRI weiße Substanz
Signifikant schlechteres
Ergebnis in Bezug auf die
sekundären Ziele in der
Verumgruppe
RRMS
CDP 323 (oraler
Placebo
␣-4-␤-1-Inhibitor)
1. Gruppe 500 mg tägl.
2. Gruppe 500 mg
jeden 2. Tag
Kumulative
?
Anzahl neuer
MR-Läsionen
mit 3-fach-Dosis
Gadolinium
Nach Interimsanalyse
abgebrochen
MS mit
Gedächtnisdefizit
Donepezil
Placebo
Verbesserung im Andere
Rey-Auditorykognitive
Verbal-Learning- Tests
Test
–
CIS
Atorvastatin
Placebo
3 neue T2-LäAnzahl PatientInnen Signifikant besseres Ergebnis
sionen oder ein ohne neue T2-Läin Hinblick auf sekundären
Schub in 12 Mo- sionen
Endpunkt zugunsten Verum
naten
MS mit
Depression
Omega-3-Fettsäure
Sojaöl
Verbesserung der
Montgomery-Asberg-DepressionRating-Scale
Becks Depression
Inventory, Quality
of Life (SF-36),
MSFC
Bemerkungen
Signifikante Besserung
bezüglich primären Endpunkts in beiden Gruppen,
signifikanter Unterschied
der PASAT-Ergebnisse
zugunsten Verum
RRMS = Relapsing-Remitting MS; CIS = Clinically Isolated Syndrom
der Responder beim 25-Fuß-Gehtest, bei
einer gemischten Population mit schubhafter
und progredienter MS mit einem durchschnittlichen EDSS-Score von ca. 5,5 durchgeführt.
Die Responder-Rate betrug unter Placebo
8 % bzw. 9 %, unter Verum 35 % bzw.
43 %. Die Nebenwirkungsrate war zwischen
Verum- und Placebo-Gruppen vergleichbar.
In der Extensionsstudie blieb die Ratio von
Respondern zu Non-Respondern über eine
Dauer von 2 ½ Jahren erhalten.
Auswahl von Beobachtungsund explorativen Studien
• In therapeutische Beobachtungsstudien
ohne Aussage über die Wirksamkeit
wurde Natalizumab bei pädiatrischer MS,
T-Zell-Rezeptor-Ligand (TLR1000) bei
schubhafter MS und Mitoxantron bei
Neuromyelitis optica untersucht. Diese
Studien zeigten eine gute Verträglichkeit,
aber bei kleinen Fallzahlen.
• Bei MS-PatientInnen mit Fatigue kommt
es fast immer zu Schlafstörungen,
seltener bei PatientInnen ohne Fatigue.
Meist handelt es sich dabei um PLMS
und RLS, Insomnie sowie OSAS
(obstruktives Schlafapnoesyndrom).
• Die Identifizierung früher klinischer
Prädiktoren der Krankheitsprogression
bei 382 PatientInnen der PRISMS-Studie
(Rebif-Zulassungsstudie) zeigte, dass
lediglich die Progression der Hirnatrophie
bzw. des EDSS für das Outcome nach
8 Jahren signifikant prädiktiv waren. Alle
anderen untersuchten Variablen zeigten
keinen prädiktiven Wert, insbesondere
nicht die Schubrate.
• Analysen von JC-Virus mittels PCR an
ca. 12.000 Proben von etwa 1.400
PatientInnen, darunter 5 Fälle von
PML, zeigten eine Häufigkeit von JCVirus im Plasma und in Blutzellen unter
1 %, im Harn von ca. 25 %. Unter
der Natalizumab-Therapie wurden keine
Änderungen beobachtet, alle 5 PMLPatientInnen waren vor PML PCRnegativ. JC-Virus DNA dient also nicht
zur Risikoabschätzung einer PML.
Etwas vielversprechender scheint der
JC-Virus-Antikörper-Test. Von ca. 800
PatientInnen waren 54 % unter
Natalizumab positiv. Alle 13 getesteten PML-PatientInnen waren vor
Ausbruch positiv. Dies bedeutet eine
sehr geringe Sensitivität, aber eine
annähernd 100%ige Spezifität dieses
Tests.
67
NEUROLOGIE AKTUELL
Autonome Störungen
Multisystematrophie –
Tiermodelle und neue Therapieansätze
D
Die Multisystematrophie (MSA) ist eine neurodegenerative Krankheit, die dem Spektrum
der ␣-Synucleinopathien zugerechnet wird
und sich klinisch durch autonomes Versagen
(obligat), Parkinsonismus (MSA-P-Subtyp als
Ausdruck einer striatonigralen Degeneration
[SND], in Europa 80 %) und zerebelläre Ataxie (MSA-C-Subtyp als Ausdruck einer olivopontozerebellären Atrophie [OPCA], in
Europa 20 %) auszeichnet.1–3
Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt
bei etwa 55 Jahren1, die Krankheitsdauer beträgt 8–9 Jahre. Die verfügbare medikamentöse Therapie ermöglicht allenfalls eine passagere Besserung der autonomen Symptome
bzw. des Parkinson-Syndroms, die MSA-assoziierte Ataxie ist pharmakologisch nicht behandelbar. Krankheitsmodifizierende Therapien sind bislang nicht zugelassen. Aus diesem Grund sind in den letzten Jahren
verschiedene Tiermodelle der MSA entwickelt
worden, um neue Einsichten in die Pathogenese und davon ausgehend neuroprotektive
und neurorestaurative Therapiestrategien zu
evaluieren (Abb. 1).
MSA-Tiermodelle:
State of the Art
Die ersten In-vivo-Modelle für MSA beruhten
auf der Verwendung von Neurotoxinen, die
gezielt MSA-typische Läsionsmuster, vor
allem im Bereich des Striatums und der Substantia nigra pars compacta, erzeugen können.
So wurde 6-Hydroxydopamin (6-OHDA), ein
Analogon des Neurotransmitters Dopamin
in Kombination mit Quinolinsäure (QA), u
70
Abb. 1: Strategien zur Erzeugung von MSA-Tiermodellen13
Humane MSA-Pathologie
SND
OPCA
GCIs
Astrogliose
Mikrogliaaktivierung
␣-Synuklein transgene
Modelle
ToxinModelle
Die verschiedenen neuropathologischen Kennzeichen der MSA werden in unterschiedlichen
Tiermodellen reproduziert. SND = striatonigrale Degeneration; OPCA = olivopontozerebelläre
Atrophie; GCI = gliale zytoplasmatische Einschlüsse
Abb. 2: Pathogene Mechanismen in transgenen MSA-Maus-Modellen3
Zytoplasmatische
Einschlüsse
Chronischer
oxidativer Stress
1
Mikrogliaaktivierung
2
Exogener
oxidativer Stress
␣-Synuklein
␣-Synukleinopathie
in Oligodendroglia
3
Neuronaler Zelltod
␣-Synuklein-Aggregation in Axonen
Mitochondriale Dysfunktion
Drei neuronale Zelltod-Mechanismen konnten in transgenen MSA-Maus-Modellen identifiziert werden:
(1) ␣-Synuklein-Einschlüsse aktivieren Mikroglia, dies führt zu oxidativem Stress und Zelltod14, 15.
(2) ␣-Synuklein-Einschlüsse erhöhen die Anfälligkeit für exogenen oxidativen Stress und verursachen
dadurch Zelltod in striatonigralen und olivopontozerebellaren Regionen15. (3) ␣-Synuklein-Einschlüsse
führen zu axonaler ␣-Synuklein-Aggregation10; diese wird von mitochondrialer Pathologie begleitet3, 11
Zusammengestellt im Namen des Beirats „Autonome Störungen“:
DI (FH) Daniela Kuzdas, Priv.-Doz. Dr. Nadia Stefanova, Univ.-Prof. DDr. Gregor K. Wenning MSc
Neurodegenerationsforschungslabor, Abteilung für klinische Neurobiologie
Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck
Abb. 3: Rasagilin reduziert das Ausmaß der striatonigralen Degeneration (a) sowie der olivopontozerebellären
Atrophie (b)17
(b)
(a)
A
A
Striatum
75.000 Anzahl per mm3
500.000 Anzahl der Neuronen
Purkinje-Zellen
400.000 300.000 200.000 -
50.000 -
25.000 -
100.000 0-
0Kontrollen
MSA
R 0,8
Kontrollen
R 2,5
B
B
MSA
R 0,8
R 2,5
pontine Kerne
SNc
3.000 -
Neuronen
Anzahl der Neuronen
10.000 7.500 5.000 -
2.000 -
1.000 -
2.500 -
0Kontrollen
MSA
R 0,8
R 2,5
0Kontrollen
MSA
R 0,8
R 2,5
C
(b) Morphometrie der olivopontozerebellären Projektion in gesunden KontrollMäusen sowie Placebo und Rasagilin (R 0,8 = 0,8 mg/kg oder R 2,5 =
2,5 mg/kg) behandelten MSA-Mäusen. Purkinje-Zellen (A), pontine Kerne (B)
und Nucleus olivaris inferior (C) zeigen signifikante Unterschiede zwischen
den Behandlungsgruppen. *** p < 0,001; ** p < 0,01; * p < 0,05.
7.500 Anzahl der Neuronen
(a) Anzahl der Neuronen in Striatum (A) und Substantia nigra pars compacta
(B) in gesunden Kontroll-Mäusen sowie mit Placebo und Rasagilin (R 0,8 =
0,8 mg/kg oder R 2,5 = 2,5 mg/kg) behandelten MSA-Mäusen. DARPP32Färbungen des Striatums und TH-Färbungen der Substantia nigra zeigen
signifikante Unterschiede zwischen den Behandlungsgruppen.
*** p < 0,001; ** p < 0,01; * p < 0,05;
Nucleus olivaris inferior
5.000 -
2.500 -
0Kontrollen
MSA
R 0,8
R 2,5
71
NEUROLOGIE AKTUELL
Autonome Störungen
verwendet, um in Ratten eine unilaterale
SND durch stereotaktische Applikation zu
reproduzieren4. In Mäusen wurden systemisch MPTP (1-methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridine) und 3-Nitropropionsäure
zur Erzeugung einer bilateralen MSA-Pathologie mit der SND und OPCA eingesetzt5, 6
(Abb. 1). Diese Modelle verursachen MSAähnlichen neuronalen Zelltod, ihnen fehlen
allerdings die sog. oligodendroglialen cytoplasmatischen ␣-Synuklein-Einschlüsse (GCI,
Glial Cytoplasmic Inclusions), die zwingend
für die neuropathologische Diagnose der Erkrankung erforderlich sind7. Zudem konnten
rezente genomische MSA-Studien ein erhöhtes Krankheitsrisiko verschiedener Single
Nucleotide Polymorphisms (SNP) im ␣-Synuklein-Gen nachweisen8, 9.
Diese Erkenntnisse haben zur Entwicklung
verschiedener transgener MSA-Tiermodelle
beigetragen bzw. deren Rationale bestätigt
(Abb. 1). Ein Transgen-Konstrukt kodierend
für humanes ␣-Synuklein in Kombination
mit oligodendrozytenspezifischen Promotoren10–12 wird hierfür in das Maus-Genom integriert. Anhand dieser transgenen MSA-Modelle wurde von drei verschiedenen Forscher1
2
3
4
5
6
7
Wenning GK, Colosimo C, Geser F, Poewe W, Multiple
system atrophy. Lancet Neurol 2004; 3:93–103
Gilman S, Wenning GK, Low PA et al., Second
consensus statement on the diagnosis of multiple
system atrophy. Neurology 2008; 71:670–676
Stefanova N, Bucke P, Duerr S, Wenning GK, Multiple
system atrophy: an update. Lancet Neurol 2009;
8:1172–1178
Wenning GK, Granata R, Laboyrie PM et al., Reversal
of behavioural abnormalities by fetal allografts in a
novel rat model of striatonigral degeneration. Mov
Disord 1996; 11:522–532
Davis GC, Williams AC, Markey SP et al., Chronic
Parkinsonism secondary to intravenous injection
of meperidine analogues. Psychiatry Res 1979;
1:249–254
Nakao N, Brundin P, Effects of alpha-phenyl-tert-butyl
nitrone on neuronal survival and motor function
following intrastriatal injections of quinolinate or
3-nitropropionic acid. Neuroscience 1997; 76:749–761
Wakabayashi K, Takahashi H– Cellular pathology in
72
gruppen (Innsbruck, Philadelphia, San Diego)
die pathogenetische Relevanz der Oligodendroglia-Pathologie in vivo untersucht. Drei
therapeutisch relevante Mechanismen des
Zelltodes verursacht durch ␣-Synuklein-Einschlüsse konnten bis jetzt bereits beschrieben
werden (Abb. 2).
Warum neue MSA-Modelle?
Die MSA ist eine Erkrankung des mittleren
bis späteren Erwachsenenalters. In letzter Zeit
wurden daher Versuche initiiert, induzierbare
Tiermodelle mit verzögert auftretender MSAPathologie zu entwickeln. Diese Modelle beruhen auf Tet-on-, Tet-off- oder Cre-Systemen16; sie reproduzieren das altersabhängige
Auftreten und stellen daher ein ergänzendes
präklinisches Testbett für das Screening von
neuroprotektiven Kandidaten-Substanzen dar.
Erfolgreiche translationale
Therapie-Forschung am Beispiel
von Rasagilin
Vielversprechende Ergebnisse konnten aus
neuesten Tierversuchsstudien mit neuropro-
multiple system atrophy. Neuropathology 2006;
26:338–345
Scholz SW et al., SNCA variants are associated with
increased risk for multiple system atrophy. Ann
Neurol 2009; 65(5):610–4
9 Al-Chalabi A et al., Genetic variants of the alphasynuclein gene SNCA are associated with multiple
system atrophy. PloS One 2009; 4(9):e7114
10 Yazawa I, Giasson BI, Sasaki R et al., Mouse model
of multiple system atrophy alpha-synuclein expression
in oligodendrocytes causes glial and neuronal
degeneration. Neuron 2005; 45:847–859
11 Shults CW, Rockenstein E, Crews L et al., Neurological
and neurodegenerative alterations in a transgenic
mouse model expressing human alpha-synuclein under
oligodendrocyte promoter: implications for multiple
system atrophy. J Neurosci 2005; 25:10689–10699
12 Kahle PJ, Neumann M, Ozmen L et al., Hyperphosphorylation and insolubility of alpha-synuclein in
transgenic mouse oligodendrocytes. EMBO Rep 2002;
3:583–588
8
tektiven Agenzien wie Rasagilin17 gewonnen
werden. In ␣-Synuklein-überexprimierenden
MSA-Mäusen wurde mittels oxidativem
Stress eine MSA-ähnliche Pathologie erzeugt. Anschließend wurden verschiedene
Dosierungen von Rasagilin (0,8 mg/gk und
2,5 mg/kg) mit einer placebobehandelten
MSA-Gruppe und gesunden Tieren verglichen. Es konnten signifikante Unterschiede
zwischen den Behandlungsgruppen gezeigt
werden. Die höhere Dosierung von Rasagilin
(2,5 mg/kg) wies eindeutige neuroprotektive
Effekte in Striatum sowie Substantia nigra
pars compacta auf (Abb. 3a). Auch in Bezug
auf olivopontozerebelläre Atrophie konnten
diese Ergebnisse bestätigt werden (Abb. 3b).
Die Analyse der motorischen Tests zeigte
ebenfalls deutliche Verbesserung nach Einsatz von Rasagilin. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde vor einigen Monaten eine
Phase-II-Studie gestartet (Principal Investigator: Univ.-Prof. Dr. Werner Poewe, Innsbruck), mit dem Ziel, mögliche krankheitsmodifizierende Effekte von Rasagilin bei
MSA-P-PatientInnen nachzuweisen. Weitere
translationale Therapieprojekte sind in Planung.
13
Stefanova N, Tison F, Reindl M et al., Animal models
of multiple system atrophy. Trends Neurosci 2005;
28:501–506
14 Stefanova N, Reindl M, Neumann M et al., Microglial
activation mediates neurodegeneration related to
oligodendroglial alpha-synucleinopathy: implications
for multiple system atrophy. Mov Disord 2007;
22:2196–2203
15 Stefanova N, Reindl M, Neumann M et al., Oxidative
stress in transgenic mice with oligodendroglial alphasynuclein overexpression replicates the characteristic
neuropathology of multiple system atrophy. Am
J Pathol 2005; 166:869–876
16 Nuber S, Petrasch-Parwez E, Winner B et al.,
Neurodegeneration and motor dysfunction in a
conditional model of Parkinson's disease. J Neurosci
2008; 28:2471–2484
17 Stefanova N, Poewe W, Wenning GK, Rasagiline is
neuroprotective in a transgenic model of multiple
system atrophy. Exp Neurol 2008;
210:421–427
NEUROLOGIE AKTUELL
Neurogeriatrie
Zusammengestellt im Namen des Beirats „Neurogeriatrie“:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Iglseder
Universitätsklinik für Geriatrie, Gemeinnützige Salzburger Landeskliniken Betriebsgesellschaft mbH
Christian-Doppler-Klinik | Paracelsus Medizinische Privatuniversität
Demenz – Stellenwert vaskulärer Risikofaktoren
D
Die Prävalenz der Demenzerkrankungen
steigt stark an: Für 2040 wird eine Verdoppelung der Zahl der Betroffenen prognostiziert. Präventive Aspekte gewinnen zunehmend an Bedeutung, da eine Verzögerung
des Krankheitsbeginns um 5 Jahre die Erkrankungsprävalenz um rund 50 % reduzieren könnte. Kardiovaskuläre Risikofaktoren
sind als therapeutische Ziele relevant, da sie
sowohl als Determinanten der Atherosklerose
als auch im Rahmen der Beta-Amyloid-Aggregation bzw. Neurofibrillenformation eine
Rolle spielen. Es wird angenommen, dass zerebrovaskuläre Schädigungen, Veränderungen der weißen Hirnsubstanz und asymptomatische Alzheimer-Läsionen in Summation
zur klinischen Manifestation einer Demenz
führen können, selbst wenn eine dieser Komponenten alleine nicht ausreicht, um die Symptomatik auslösen zu können.
Die folgende Zusammenfassung versucht,
eine knappe Übersicht über den aktuellen
Wissensstand zu geben.
Methodische Probleme: In einem rezenten
Übersichtsartikel1 wird auf die Schwierigkeit
eingegangen, zwischen genetischem Risiko
und der zum Teil lebenslangen Exposition gegenüber Umweltfaktoren als Determinanten
für die Entwicklung einer Demenz zu differenzieren. Die AutorInnen betonen, dass der
Begriff Prävention in diesem Zusammenhang
letztlich ein Verzögern des Krankheitsbeginns
bedeutet – im optimalen Fall ein Verzögern
der Manifestation über die individuelle Lebensspanne hinaus.
Die AutorInnen weisen auch auf die Problematik in der Bewertung von Mortalität und
Letalität hin: So haben Individuen, die das
APOE-⑀4-Allel tragen, ein erhöhtes Risiko, an
Alzheimer zu erkranken, aber auch ein erhöhtes Risiko für eine koronare Herzerkrankung und sterben daher möglicherweise an
der Herzerkrankung vor der Manifestation
der Demenz. Betont wird die Notwendigkeit,
Risikofaktoren unter dem Aspekt der teilweise lebenslangen Exposition zu betrachten. Besonders wird darauf hingewiesen, dass eine
Untersuchung wenige Jahre vor Ausbruch der
Demenz auch Parameter als Risikofaktoren
(fehl-)identifizieren kann, die bereits Ausdruck der Erkrankung oder gemeinsamer zugrunde liegender Prozesse sind.
Risikofaktoren während
früher Lebensspannen
Fetale Unterernährung, niedriges Geburtgewicht und Nichtstillen können langfristige
Konsequenzen für chronische Erkrankungen
wie beispielsweise Gefäß- und Stoffwechselerkrankungen haben und auch die kognitive
Leistungsfähigkeit negativ beeinflussen. Auch
ungünstige sozioökonomische Bedingungen
können bereits im früheren Lebensalter zu
nachteiligen Folgen auf die Kognition im höheren Lebensalter beitragen, hierzu gehören
Ernährung, Umgebungsstimulation und Zugang zu Bildung.
Zahlreiche Studiendaten belegen den Zusammenhang zwischen Bildungsstatus und dem
Risiko für kognitive Beeinträchtigung und Demenz. Hier ist zu berücksichtigen, dass Bildung auch Surrogatparameter für andere
Faktoren der frühen Kindheit sein kann: Sozioökonomischer Status, Ernährung, Zugang
zu physischer Gesundheit, Gesundheitsverhalten und Berufsausbildung werden in diesem Zusammenhang erwähnt. Daneben wird
hervorgehoben, dass Bildung die kognitive
Reserve auch durch Induktion neurophysiologischer Korrelate des Lernens – wie beispielsweise die LTP (Langzeit-Potenzierung) –
beeinflusst. Daneben erzeugt bessere Bildung
auch einen Detektionsbias bei kognitiven
Tests, da hier eine höhere Reserve bis zum
Erreichen von Schwellenwerten, die als pathologisch gelten, erworben wird.
Faktoren des mittleren
und höheren Lebensalters
Hypertonie: Bereits vor einer Dekade konnte
gezeigt werden, dass bei HypertonikerInnen
mittleren Alters (59–71 Jahre, Blutdruckwerte
systolisch > 160 bzw. diastolisch > 95 mmHg)
die unbehandelte Gruppe das größte Risiko
für Inzidenz und rasche Progression kognitiver Defizite hat2. Im höheren Lebensalter wurden dagegen niedrige Blutdruckwerte (insbesondere diastolische) mit schlechter kognitiver Performance assoziiert. Hier scheint ein
Zusammenhang mit gemeinsamen, zugrunde
liegenden pathophysiologischen Mechanismen wahrscheinlich, da niedrige Blutdruckwerte im hohen Lebensalter auch mit einer
reduzierten Lebenserwartung verbunden
sind.
Diese Fakten legen ein präventives Potenzial
einer antihypertensiven Therapie im mittleren
Lebensalter nahe, die Ergebnisse verschiedener Studien sind allerdings inkonsistent. Staessen et al. fassten Daten zu Hochdrucktherapie und Demenzinzidenz aus randomisierten Studien in einer Metaanalyse zusammen
und konnten zeigen, dass eine antihypertensive Therapie mit einem geringeren Risiko für
das Auftreten einer Demenz korreliert3.
Ein Cochrane Review kommt dagegen zu
dem Schluss, dass eine antihypertensive Therapie bei HypertonikerInnen ohne Zeichen
einer zerebrovaskulären Erkrankung das Auftreten eines kognitiven Abbaus nicht verzögern oder verhindern kann4. Eine prospektive
Studie an einer älteren Kohorte (mittleres
Alter 83 Jahre) mit milder kognitiver Beeinträchtigung zeigt, dass die Hypertonie zwar
bei Personen mit exekutiver Dysfunktion die
Progression zu einer Demenz begünstigt, allerdings nicht bei PatientInnen mit einer vorrangigen Beeinträchtigung der Gedächtnisfunktionen5.
Ein weiteres Review untersuchte den Einfluss u
75
NEUROLOGIE AKTUELL
Neurogeriatrie
antihypertensiver Therapie auf Inzidenz und
Progression der Demenz und kommt zu dem
Ergebnis, dass eine antihypertensive Medikation sowohl das Risiko für das Auftreten als
auch die Progression einer Demenz reduzieren kann. Besonders ACE-Hemmer und Diuretika werden in diesem Zusammenhang als
effektiv hervorgehoben6. Demgegenüber
zeigte eine prospektive Studie, die über 3,5
Jahre lief und ebenfalls ältere PatientInnen
(im Mittel 83 Jahre) einschloss, keinen Zusammenhang zwischen Hypertonie und der
Progression einer Alzheimer-Erkrankung7.
Zusammenfassend scheint eine Blutdruckbehandlung im mittleren Lebensalter einen präventiven Effekt auf den Zielparameter kognitiver Abbau im Alter zu haben, wohingegen
dieser Effekt im höheren Lebensalter nicht
konsistent nachweisbar ist.
Cholesterin: Rezente Publikationen demonstrieren Zusammenhänge zwischen Cholesterinstoffwechsel und einer vermehrten Bildung
bzw. Ablagerung von Amyloid-␤ im Gehirn.
Die klinische Datenlage ist aber kontroversiell:
In epidemiologischen Studien wurden sowohl
positive als auch negative Korrelationen zwischen Gesamt- bzw. LDL-Cholesterin und Alzheimer-Demenz beschrieben. Ähnlich wie bei
der Hypertonie scheint es hier eine nonlineare
Assoziation zu geben, da Cholesterin offensichtlich im mittleren Leben als Risikofaktor
zu werten ist, während niedrige Cholesterinspiegel im höheren Lebensalter auch eine
Konsequenz von Altern, Mangelernährung
oder neuropathologischen Veränderungen,
die in Zusammenhang mit der Demenz stehen, sein können. So wurde gezeigt, dass
Cholesterinspiegel bereits vor dem Ausbruch
der Demenz sinken können und dass ein
deutlicher Abfall zwischen mittlerem und höherem Lebensalter auch mit einer stärkeren
kognitiven Beeinträchtigung im höheren Lebensalter assoziiert ist1.
Während die Rolle der Hypercholesterinämie
im mittleren Lebensalter als Risikofaktor für
eine Demenz wahrscheinlich scheint, sind
diese Zusammenhänge in hochaltrigen Populationen unklar. Dies könnte damit zusam-
76
menhängen, dass Cholesterin eine Rolle in
der neuronalen Plastizität spielt, aber auch
über antioxidative Eigenschaften verfügt. Aktuelle Daten zeigen auch in einer älteren Population (mittleres Alter 83 Jahre) einen Zusammenhang zwischen Hypercholesterinämie und rascherem kognitiven Abbau7.
Die Möglichkeit einer Assoziation zwischen
Cholesterin und Demenz hat naturgemäß die
Evaluierung potenzieller Benefits einer Statintherapie nach sich gezogen. Die Datenlage
bezüglich des Einflusses einer Statintherapie
auf die Entwicklung einer Demenz im Allgemeinen bzw. einer Alzheimer-Demenz im
Speziellen ist kontroversiell – so gibt es sowohl Studien, in denen eine positive Assoziation, als auch solche, in denen kein Zusammenhang festgestellt werden konnte.
In diesem Kontext ist allerdings zu bedenken,
dass das Vorliegen einer Demenz zu unterschiedlichen Verordnungspraktiken führen
kann – so wurde beschrieben, dass an Demenz erkrankte Menschen bezüglich ihrer
Hyperlipidämie weniger aggressiv therapiert
werden1. Klarheit können hier nur Studien
schaffen, die im mittleren Lebensalter beginnen und Demenz als primären Endpunkt
haben.
Metabolisches Syndrom, Insulinresistenz,
Hyperinsulinämie, Typ-2-Diabetes: Das
metabolische Syndrom ist charakterisiert
durch das Zusammentreffen von gestörtem
Glukose/Insulin-Metabolismus, viszeraler Adipositas, milder Dyslipidämie und arterieller
Hypertonie. Sämtliche Komponenten sind als
Atheroskleroserisikofaktoren etabliert, allerdings findet sich das Zusammentreffen als
metabolisches Syndrom im Einzelindividuum
häufiger als es der statistischen Verteilung
der Komponenten entspricht. Die Mechanismen, die als Risikofaktor für eine Demenz
eine Rolle spielen können, umfassen vaskuläre, metabolische und entzündliche Prozesse.
In der „French-3-City“-Studie konnten Raffaitin et al. signifikante Assoziationen von
metabolischem Syndrom, Diabetes bzw. Hypertriglyzeridämie mit vaskulärer Demenz,
nicht aber mit der Alzheimer-Erkrankung beobachten8.
Demgegenüber wurde in einem hochaltrigen
Kollektiv gezeigt, dass die für Personen bis
zu einem Alter von 75 Jahren beschriebene
Assoziation zwischen metabolischem Syndrom und beschleunigtem kognitiven Abbau
bei Hochbetagten nicht mehr relevant sein
dürfte – und zwar unter anderem aufgrund
eines „Survivor-Effekts“: Möglicherweise
spielt das metabolische Syndrom bei denjenigen, die trotz dieses Risikofaktors hochaltrig werden, keine wesentliche ätiopathogenetische Rolle9.
In einer aktuellen Publikation konnte an einer
italienischen Population gezeigt werden, dass
in einem 3,5-jährigen Beobachtungszeitraum
das Vorhandensein eines metabolischen Syndroms bei PatientInnen mit milder kognitiver
Beeinträchtigung mit einem erhöhten Risiko
der Konversion zu einer Demenz vergesellschaftet war10.
Eine künstlich erzeugte moderate Hyperinsulinämie kann Entzündungsmarker und
Amyloid-␤-Konzentrationen – und zwar sowohl in der Peripherie als auch im Gehirn –
erhöhen. Diese Beobachtung kann als Hinweis auf eine Risikoerhöhung für die Entstehung einer Alzheimer-Erkrankung interpretiert werden. Auch Dauer und Schwere eines
Diabetes korrelieren mit dem Demenzrisiko11.
Folgende Mechanismen werden für eine Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung durch
Insulinresistenz, Hyperinsulinämie und Typ-2Diabetes diskutiert12:
• Verminderte zentralnervöse Insulinspiegel
• Verstärkte Entzündungsantwort
• Effekte auf Amyloid-␤- und andere
ZNS-Peptide
• Verminderte Insulinrezeptor-Expression
• Veränderungen in der Insulin-Signalkaskade
• Veränderungen des zerebralen
Glukosemetabolismus
• Veränderungen der NeurotransmitterExpression/-Aktivität
• Veränderungen der Langzeit-Potenzierung
Aktuelle Studiendaten sorgen aber auch hier für eine inkonsistente Datenlage. So konnte in einem Kollektiv an PatientInnen mit AlzheimerErkrankung gezeigt werden, dass das Vorhandensein eines Diabetes
mellitus mit einem verzögerten kognitiven Abbau assoziiert war. Als
mögliche Erklärung geben die Autoren die potenziell konsequentere
Behandlung von vaskulären Risikofaktoren bei DiabetikerInnen an13.
Vitamin B6, B12 und Folsäure: Für diese Faktoren wurde ein Zusammenhang mit dem Risiko einer kognitiven Beeinträchtigung und Demenz postuliert, wobei hier vaskuläre und direkt neurotoxische Mechanismen involviert sein können. Die möglichen therapeutischen Effekte der Substitutionstherapie sind allerdings ebenfalls widersprüchlich,
was durch kurze Beobachtungszeiträume, geringe Fallzahlen und wenig
diskriminative Messinstrumente begründet sein mag. Eine rezente randomisierte doppelblinde, placebokontrollierte Studie konnte jedoch zeigen, dass eine Folsäuresupplementation über 3 Jahre Domänen der
kognitiven Funktionen positiv beeinflusst14.
Fazit
Im Hinblick auf Zusammenhänge zwischen vaskulären Risikofaktoren
und Demenz liegen eine Fülle von Daten und zahlreiche widersprüchliche Ergebnisse vor.
Für die Zukunft gäbe es einen klaren Forschungsauftrag – vorrangig
ist dabei die Identifizierung von Risikokollektiven und die Suche nach
gezielten Interventionsmöglichkeiten, wobei es in all diesen Studien
wesentlich sein wird, die Demenz als primären Endpunkt zu untersuchen.
1
Hughes TF, Ganguli M, Modifiable Midlife Risk Factors for Late-Life Cognitive Impairment
and Dementia.
Curr Psychiatry Rev 2009; 5(2):73–92
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3 Staessen JA et al., Less atherosclerosis and lower blood pressure for a meaningful life
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4 McGuinness B et al., Blood pressure lowering in patients without prior cerebrovascular
disease for prevention of cognitive impairment and dementia. Cochrane Database Syst
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5 Oveisgharan S, Hachinski V, Hypertension, executive dysfunction, and progression to
dementia: the canadian study of health and aging. Arch Neurol 2010; 67(2):187–192
6 Shah K et al., Does use of antihypertensive drugs affect the incidence or progression of
dementia? A systematic review. Am J Geriatr Pharmacother 2009; 7(5):250–261
7 Helzner EP et al., Contribution of vascular risk factors to the progression in Alzheimer
disease. Arch Neurol 2009; 66(3):343–348
8 Raffaitin C et al., Metabolic syndrome and risk for incident Alzheimer's disease or
vascular dementia: the Three-City Study. Diabetes Care 2009; 32(1):169–174
9 van den Berg et al., The metabolic syndrome is associated with decelerated cognitive
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10 Solfrizzi V et al., Metabolic syndrome, mild cognitive impairment, and progression to
dementia. The Italian Longitudinal Study on Aging. Neurobiol Aging 2009, Dec 30,
Epub ahead of print
11 Roberts RO et al., Association of duration and severity of diabetes mellitus with mild
cognitive impairment. Arch Neurol 2008; 65(8):1066–1073
12 Watson GS, Craft S, The role of insulin resistance in the pathogenesis of Alzheimer's
disease: implications for treatment. CNS Drugs 2003; 17(1):27–45
13 Sanz C et al., Diabetes is associated with a slower rate of cognitive decline in Alzheimer
disease. Neurology 2009; 73(17):1359–1366
14 Durga J et al. Effect of 3-year folic acid supplementation on cognitive function in older
adults in the FACIT trial: a randomised, double blind, controlled trial. Lancet 2007;
369(9557):208–216
NEUROLOGIE AKTUELL
Neuroimaging
Symptomlose MS – gibt es
das radiologisch isolierte Syndrom?
Die breite Verfügbarkeit der Magnetresonanztomographie (MRT) in der Diagnostik von fraglichen neurologischen
Erkrankungen konfrontiert uns immer häufiger mit unspezifischen Befunden, die sich in der Abklärung
unterschiedlicher Fragestellungen oft ergeben. Der/die Neurologe/-in ist heute oft erst nach schon erfolgter MRT
gefordert, solche Befunde auf ihre klinische Relevanz hin zuzuordnen. Eine der häufigsten Fragestellungen
diesbezüglich trifft die multiple Sklerose (MS).
D
Die MRT-Diagnostik der MS ist diffizil, und
die geforderten Kriterien änderten sich seit
den ersten Vorschlägen von Paty1 und Fazekas2 mehrmals. Die derzeit angewandten Kriterien von Barkhof3 werden in der klinischen
Routine oft nur unzureichend eingesetzt.
So ist es für NeurologInnen, die in den letzten Jahren das Erkennen einer MS am MRTBild zu beherrschen lernten, meist nicht
schwierig, die klinische Beurteilung der Bilder
vorzunehmen und die PatientInnen zu beruhigen, die mit der radiologischen Verdachtsdiagnose MS aufgelöst in Ordination oder
Ambulanz vorstellig werden. Dennoch bleiben Betroffene über, welche die Bildkriterien
erfüllen, klinisch jedoch nie Beschwerden
hatten.
Radiologisch isoliertes Syndrom
Diesem Problem gaben nun Okuda und MitarbeiterInnen4 einen Namen und nannten es
„radiologisch isoliertes Syndrom – RIS“. Sie
untersuchten 44 PatientInnen, welche die Kriterien in der Tabelle erfüllten.
Die Gründe für die MRT gliederten sich wie
folgt: Migräne (17), Schädel-Hirn-Trauma (4),
Schwindel bei Kopfneigen (1), Neugier (4),
Zustände unklarer Ätiologie (4), Galaktorrhoe (2), Hörstörung (1), Amenorrhoe (1),
Angioödem (1), Hypersomnolenz (1), Panikattacken (2), lakunäres Syndrom (1), LWSSchmerz (2), Screening bei familiären Aneurysmen (1), Protokollteil bei experimenteller
Melanombehandlung (1), asymptomatische
Quadrantenanopsie bei Routine-Augenuntersuchung (1).
80
Tab.: Diagnostische Kriterien eines RIS
A: Vorhandensein zufällig identifizierter Veränderungen der weißen Substanz mit
folgenden MRT-Kriterien:
1. ovoide, gut umschriebene, homogene Herde mit oder ohne Mitbeteiligung des Balkens
2. T2-Hyperintensitäten > 3 mm im Durchmesser unter Erfüllung der Barkhof-Kriterien
für Dissemination im Raum
3. Weiße-Substanz-Veränderungen nicht vereinbar mit vaskulärer Ätiologie
B: Keine Anamnese für klinische Zeichen neurologischer Herkunft
C: Die MRT-Veränderungen sind nicht vereinbar mit etwaigen klinischen Auffälligkeiten.
D: Die MRT-Veränderungen sind nicht durch Kontakt mit toxischen Substanzen oder
Drogenkontakt oder einem medizinischen Umstand zu erklären.
E: Ausschluss von Personen mit MRT-Muster von Leukoaraiose oder extensiver Pathologie
der weißen Substanz ohne Balkenbeteiligung.
F: MRT-Veränderungen können nicht durch eine andere Erkrankung erklärt werden.
MRT-Progression und klinische Symptome: Bei der Erstuntersuchung zeigten 24 %
Gadolinium-aufnehmende Läsionen. Verlaufsuntersuchungen konnten bei 41 PatientInnen
durchgeführt werden. MRT-Progression zeigten 24 der 41 Untersuchten (59 %). Eine
Lumbalpunktion konnte bei 27 der 44 PatientInnen durchgeführt werden, 18 (67 %)
davon zeigten mit MS vereinbare Befunde.
Von diesen liquorpositiven PatientInnen zeigten 11 (61 %) MRT-Progression und 8 (44 %)
entwickelten klinische Symptome.
Da die Daten multizentrisch gesammelt wurden, stammten nur 30 der 44 PatientInnen
vom auswertenden Zentrum. Von diesen 30
entwickelten 10 eine klinisch definitive MS
(CDMS). Die Zeit bis zum ersten klinischen
Event betrug im Median 5,4 Jahre (Range
1,1–9,8).
Insgesamt zeigten mehr PatientInnen MRTProgression als neu auftretende klinische
Symptome. Das Risiko, in der Zeit eine Dissemination zu entwickeln, war signifikant nur
für das Vorhandensein kontrastmittelaufnehmender Läsionen in der Ausgangsuntersuchung.
Aufgeworfene Fragen
Die Verunsicherung, welche solchen Befunden innewohnt, zeigte sich in der Tatsache,
dass von den 44 untersuchten PatientInnen
bereits 7 (15,9 %) zum Zeitpunkt des Einschlusses in diese Untersuchung eine immunmodulierende Therapie hatten.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung werfen
natürlich etliche Fragen auf: Welches Handeln erfordert solch ein Zufallsbefund? Sollen
wir schon bei typischem MRT-Befund von MS
sprechen? Soll mit diesem Befund bereits eine
Disease-modifying Therapie (DMT) begonnen
werden?
Zusammengestellt von:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Kapeller
Abteilung für Neurologie und Psychosomatik, Landeskrankenhaus Villach
In einem „Editorial“ zu diesem Artikel greifen
Dennis Bourdette und Jack Simon einige dieser Fragen auf5. Ist die Verdachtsdiagnose
„MS“ erst einmal gestellt, birgt dies für die
Betroffenen schwere Folgen. Allein den Verdacht auf diese Erkrankung für sich anzunehmen und zu verarbeiten ändert eine individuelle Situation wohl grundlegend. Andererseits haben wir Ärzte die Verpflichtung, einem
solchen Verdacht auf den Grund zu gehen.
Die Erkrankung „MS“ ist jedoch eine klinischpathologische Einheit und damit müssen Betroffene beides aufweisen, um die Diagnose
gestellt zu bekommen, Beschwerden und
entsprechende Zusatzbefunde6, 7. Dies gilt
auch für RIS-PatientInnen mit radiologischer
Progression.
Schließlich gibt es andere Differenzialdiagnosen, welche die Barkhof-Kriterien erfüllen,
aber nicht MS sind.
Der wohl stärkste Grund ist jedoch, dass es
nicht neu ist, dass es MS-Herde in Gehirnen
gibt, ohne zeitlebens klinische Beschwerden
zu verursachen. Neuropathologische Befunde
diesbezüglich sind beschrieben8. Manche RISPatientInnen werden also lebenslang ohne
Klinik bleiben.
Von den 30 in der Okuda-Studie diesbezüglich Untersuchten entwickelten innerhalb
eines Medians von 5,4 Jahren 1/3 eine CDMS,
2/3 blieben ohne klinisches Event bei einer
maximalen Beobachtungsdauer von immerhin bis fast 10 Jahren.
Diagnosestellung: Das klinische Ereignis
muss die Grundlage für die Diagnosestellung
bleiben. In zwei Punkten jedoch raten Bourdette und Simon zur Vorsicht. MS kann auch
kognitive Beeinträchtigung als Symptom
haben, und diese wird in der Routineuntersuchung nicht ad extenso evaluiert. Dazu
wird geraten.
Der zweite Punkt betrifft subklinische Beeinträchtigung, die jedoch derzeit nicht diagnostizierbar ist. Denn prinzipiell ist man sich
einig: Eine Therapie sollte angeboten werden,
bevor Behinderung eintritt. Die Frage nach
einem Therapiebeginn bei festgestelltem RIS
wird derzeit jedoch mit einem klaren Nein
beantwortet.
Als eigene Anmerkung sei zum Schluss gestattet, dies auch auf Ausweitung der Untersuchungen im Falle eines RIS zu erweitern.
Ohne klinisches Symptom können derzeit
auch keine weiteren Zusatzuntersuchungen
wie Liquorpunktion oder Myelon-MRT empfohlen werden. Diese blieben ohne therapeutische Konsequenz.
1 Paty
DW et al., MRI in the diagnosis of MS: a prospective
study with comparison of clinical evaluation, evoked
potentials, oligoclonal banding, and CT. Neurology
1988; 38:180–185
2 Fazekas F et al., Criteria for an increased specificity of
MRI interpretation in elderly subjects with suspected
multiple sclerosis. Neurology 1988; 38:1822–1825
3 Barkhof F et al., Comparison of MRI Criteria at first
presentation to predict conversion to clinically definite
MS. Brain 1997; 120:2059–2069
4 Okuda DT et al., Incidental MRI abnormalities suggestive
of MS; the radiologically isolated syndrome. Neurology
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5 Bourdette D et al., The RIS – is it early MS? Neurology
2009; 72:780–781
6 McDonald WI et al., Recommended diagnostic criteria
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diagnosis of MS. AnnNeurol 2001; 50:121–127
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8 Engel T. et al., A clinical patho-anatomical study of
clinically silent MS. Acta Neurol Scan 1989; 79:428–430
Abb.: Typische MRT-Veränderungen ohne klinische Beschwerden. Das radiologisch isolierte Syndrom (RIS)
Bildmaterial ZRI Villach; Vorständin: Gabriele Sabitzer
81
NEUROLOGIE AKTUELL
Neurochirurgie
Zusammengestellt für den Beirat „Neurochirurgie“:
Univ.-Doz. Dr. Stefan Wolfsberger
Universitätsklinik für Neurochirurgie, Medizinische Universität Wien
Buchrezension: Vol. 35 der Reihe Advances
and Technical Standards in Neurosurgery
Low-Grade Gliomas
D
Das Management von Low-Grade-Gliomen
(LGG) erfordert ein multidisziplinäres Team
aus NeurochirurgInnen, NeuroradiologInnen,
NeurologInnen, NeuropsychologInnen, NeurophysiologInnen, AnästhesistInnen, NeuropathologInnen, NeuroonkologInnen und
StrahlentherapeutInnen zur Lokalisation des
Tumors und Definition seiner Ausdehnung in
Relation zu funktionellen Arealen, Typisierung/Gradierung und Entwicklung eines individuell angepassten Therapiekonzeptes.
Der Band 35 der Reihe „Advances and Technical Standards in Neurosurgery“ beschreibt
diagnostische und therapeutische Standards
und erörtert kontroversielle Themen dieser
Tumorentität.
Bildgebende Diagnostik und molekulare
Neuropathologie: Anfangs werden neue
Techniken der bildgebenden Diagnostik beschrieben, die eine Untersuchung der Pathophysiologie des Tumors ermöglichen. Mit
dem Perfusions-MR kann die Vaskularisation,
mit Diffusions-MR-Techniken die Zellularität
und Infiltration und mit der MR-Spektroskopie und PET der Tumormetabolismus gemessen werden. Daraus können (differenzial-)diagnostische und prognostische Informationen
abgeleitet, Biopsien und Resektionen geplant
und Therapieeffekte evaluiert werden.
Im nächsten Kapitel wird die molekulare Neuropathologie von LGG beschrieben und der
klinische Stellenwert molekularer Marker diskutiert: Während die gängige Typisierung
nach WHO vorwiegend auf histopathologischen Kriterien basiert, könnte die Bestimmung molekularer Marker zukünftig für differenzialdiagnostische Überlegungen, indivi-
82
duelle Therapieentscheidungen und zur Prognoseeinschätzung relevant werden. Auch eröffnen sich neue Möglichkeiten für pharmakologische Therapien.
Konservative Therapie, Problem Epilepsie: Im Folgenden wird über die Option diskutiert, konservative Therapie als Bestandteil
des multidisziplinären Managements eines
LGG einzuplanen.
Ausführlich wird auf das Problem der Epilepsie im Verlauf von LGG eingegangen: Schon
die radikale Tumorresektion hat eine hohe
Chance auf Anfallskontrolle, zusätzlich empfehlen die AutorInnen einen epilepsiechirurgischen Ansatz für medikamentenresistente
tumorbedingte Anfälle. Die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Antiepileptika werden
diskutiert und Indikationen angeführt.
Tumorchirurgie von LGG: Ziele der modernen Tumorchirurgie von LGG sind:
1) Maximale Tumorresektion bei Erhalt der
funktionellen Integrität und Lebensqualität des/der PatientIn.
2) Optimales Sampling zur exakten
Typisierung und Gradierung. Dazu sind
ausführliche Protokolle der multidisziplinären Teams nötig: Nach präoperativer neuropsychologischer Testung und
neuroradiologischer Untersuchung, die
neben anatomischer auch metabolische
und funktionelle Bildgebung umfasst,
wird das anästhesiologische Management einer Wachoperation beschrieben.
Es folgen detaillierte Erläuterungen des intraoperativen „Brain Mapping“: Dabei wer-
den mit Hilfe neurophysiologischer Methoden eloquente Oberflächenareale und Bahnensysteme in der Nähe des Tumors zur Festlegung der Resektionsgrenzen definiert. Techniken wie kortikale und subkortikale
Stimulation sowie intraoperative bildgebende
Methoden (multimodale Navigation, iOP-MR
und iOP-Ultraschall) werden erläutert. Ausführungen über klinische Ergebnisse nach Tumorresektionen anhand funktioneller Grenzen sowie strategischen Überlegungen zu
großen, diffusen und rezidivierenden Tumoren schließen das Kapitel ab.
Externe Strahlentherapie und Lebensqualität: Dem Stellenwert der externen
Strahlentherapie in der Behandlung von LGG
ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das insbesondere die optimale Dosis und den optimalen Zeitpunkt der Strahlenbehandlung bei TumorpatientInnen mit meist langer Lebenserwartung diskutiert. Danach folgt eine
Beschreibung der interstitiellen Brachytherapie als möglicher Teil des Behandlungskonzeptes von LGG.
Im letzten Kapitel werden Quality-of-LifeAspekte von PatientInnen mit LGG behandelt: Relevante Scoring-Systeme werden beschrieben und derzeit verfügbare Studien angeführt.
INFO
„Low-Grade Gliomas“, Vol. 35 der Reihe
„Advances and Technical Standards in
Neurosurgery“, Hg. Johannes Schramm,
Springer Verlag 2010
Service –Veranstaltungstermine
EFNS Geneva 2010
XXVII European Conference on Psychosomatic
Research (ECPR), XIII Annual Scientific Meeting
European Association for Consulting-Liaison
Psychiatry and Psychosomatics (EACLPP)
30. Juni bis 3. Juli
Innsbruck
Webinfo: www.eaclpp-ecpr2010.org
International Conference on Alzheimer’s Disease
(ICAD)
10.–15. Juli
Honolulu, Hawaii, Hawaii Convention Center
Webinfo: www.alz.org/icad/2010_icad.asp
Neuroimaging-Akademie
27.–28. August
Universitätsklinik für Neurologie Wien
Information: ÖGN-Sekretariat
Jahrestagung der Österreichischen
Alzheimergesellschaft
3.–4. September
Villach
Information:
E-Mail: [email protected]
17th International Congress of Neuropathology
11.–15. September
Salzburg Congress Center
Information: Brigitte Millan-Ruiz
E-Mail: [email protected]
Webinfo: www.icn2010.org
14th
International Conference on Intracranial
Pressure and Brain Monitoring
12.–16. September
Tübingen, Germany
Information: Conventus Congressmanagement & Marketing
GmbH, Markt 8, 07743 Jena (Germany)
E-Mail: [email protected]
Webinfo: www.conventus.de oder www.icp2010.eu
Psychotherapiewoche 2010
18.–24. September
Kongresszentrum Bad Hofgastein
Information: Dr. Siegfried Odehnal, Schelleingasse 8,
1040 Wien
E-Mail: [email protected]
Webinfo: www.psy-med.info
83. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft
für Neurologie (DGN)
21.–25. September
Mannheim
Webinfo: www.dgn.org
88
25.–28. September
Geneva Palexpo
Information: EFNS 2010, c/o Kenes International
Tel.:
+41 (0)22/908 04 88
Fax:
+41 (0)22/906 91 40
E-Mail:
[email protected]
Webinfo: www2.kenes.com/efns2010/Pages/home.aspx
2nd World Parkinson Congress
28. September bis 1. Oktober
Glasgow, United Kingdom; World Parkinson Coalition Inc.,
1359 Broadway, Suite 1509, New York, NY 10018 USA
Information: Elizabeth „Eli“ Pollard, Congress Manager
Tel.:
001 (0)212/923 47 00
Fax.:
001 (0)212/923 47 78
E-Mail:
[email protected]
Webinfo: www.worldpdcongress.org/
6th Congress of the EUGMS
29. September bis 1. Oktober
Convention Centre Dublin, Irlang
Webinfo: www.eugms2010.org/
Jahrestagung der OeGKN und der ÖGfMRT
1.–3. Oktober
Hotel SPA Novapark, Graz-Gösting
Information: [email protected]
Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft
für klinische Neurophysiologie
1.–3. Oktober
Graz
Information:
E-Mail: [email protected]
MS-Akademie
8.–9. Oktober
Hotel Lengbachhof, Altlengbach
Information: ÖGN-Sekretariat
7th World Stroke Congress
12.–16. Oktober
Seoul, Korea
Information: Secretariat, Kenes International, 1–3, Rue de
Chantepoulet, P.O. Box 1726, CH-1211 Geneva 1, Switzerland
E-Mail:
[email protected]
ECTRIMS 2010
13.–16. Oktober
Gothenburg, Sweden
Information: ECTRIMS Secretariat, Department of Neurology,
University Hospital, Petersgraben 4, CH-4031 Basel, Switzerland
Tel.:
+41 (0)61/265 44 64
Fax:
+41 (0)61/265 53 44
E-Mail:
[email protected]
ÖGN-Sekretariat: Tanja Weinhart
Garnisongasse 7/22, 1090 Wien
Tel.:
+43 (0)1/512 80 91-19
E-Mail: [email protected]
The 42nd International Danube Neurology
Symposium
21.–23. Oktober
The Regent Esplanade, Zagreb Mihanoviceva 1,
10000 Zagreb Croatia
Information: Prof. Dr. Vida Demarin & Prof. Dr. Maja Relja
E-Mail: [email protected]; [email protected]
Webinfo: danube2010.com/
Jahrestagung der Österr. Parkinsongesellschaft
21.–23. Oktober
Wien
Information: Universitätsklinik für Neurologie, Frau Ingrid
Schermann, Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien
Tel.:
+43 (0)1 40400-3120
E-Mail: [email protected]
2nd European Headache and Migraine Trust
28.–31. Oktober
Nice, France
Jahrestagung der Österreichischen Sektion
der Internationalen Liga gegen Epilepsie
25.–27. November
Festspiel- und Kongresshaus Bregenz
Information: OA Dr. Kurt Schlachter
Tel.:
+43 (0)5574/401-6503
E-Mail: [email protected]
Webinfo: www.lkhb.at
Schmerzakademie (Modul 2)
26.–28. November
Hotel Friesacher Anif, Salzburg
Information: ÖGN-Sekretariat
Webinfo: www.kenes.com/EHMTIC
MS-Usermeeting (Workshop)
Schmerzakademie (Modul 1)
29.–31. Oktober
Hotel Friesacher Anif, Salzburg
4. Dezember
Hotel Renaissance Salzburg
Information: ÖGN-Sekretariat
Information: ÖGN-Sekretariat
Plattform der Niedergelassenen NeurologInnen
PrimarärztInnen-Treffen
5. November
Kaiser-Franz-Josef-Spital
4.–5. Dezember
Hotel Renaissance Salzburg
Information: ÖGN-Sekretariat
Information: ÖGN-Sekretariat
1. Grazer neurogeriatrisches Symposium
6. November
Albert-Schweitzer-Klinik Graz
Information: OA Dr. Ronald Saurugg
Tel.:
+43 (0)316/70 60-1375
E-Mail: [email protected]
7. Linzer Psychotherapie-Tagung
10.–12. November
Wagner-Jauregg-Nervenklinik Linz
Information: [email protected]
Webinfo: www.wagner-jauregg.at/kongress
FachärztInnen-Ausbildungsseminar WS 2010
19. November
Kaiser-Franz-Josef-Spital
Information: ÖGN-Sekretariat
6. Innere Medizin Update – Refresher
24.–28. November
Wien, Aula der Wissenschaften
E-Mail: [email protected]
Webinfo: www.fomf.at
7th International Congress on Mental Dysfunctions &
Other Non-Moter Features in Parkinson’s Disease
(MDPD 2010)
9.–12. Dezember
Barcelona, Spanien
Information: Kenes Internation, 1–3 Rue de Chantepoulet,
1211 Geneve, Schweiz
Webinfo: www.kenes.com/mdpd
Akademie Neuromuskuläre Erkrankungen
10.–11. Dezember
Graz
Information: ÖGN-Sekretariat
5. Deutscher Wirbelsäulenkongress, Jahrestagung
der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft e.V.
16.–18. Dezember
Congress Centrum, Messe Bremen,
Theodor-Heuss-Allee 21–23, 28215 Bremen
Information: Justus Appelt, Conventus Congressmanagement
& Marketing GmbH, Markt 8, 07743 Jena
Tel.:
+49 (0)3641/35 33-225
Fax:
+49 (0)3641/35 33-21
E-Mail: [email protected]
Webinfo: www.dwg2010.de
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