Cramer - Gemeindepsychiatrischer Verbund München-Süd

Transcrição

Cramer - Gemeindepsychiatrischer Verbund München-Süd
Manfred Cramer
SGB IX - Veränderung der Versorgungsstruktur
Vortrag, gehalten am 14. Juni 2002 auf der Tagung
"Was macht die Qualität in der integrierten gemeindepsychiatrischen Versorgung
aus?"
in der psychiatrischen Klinik Agatharied des Bezirks Oberbayern.
1. Einleitung
Vor dem SGB IX war es so, dass Reha-Leistungen in den verschiedensten
Sozialgesetzbüchern angesiedelt waren. Dies führte zu einer Zersplitterung der
Leistungen, zu Unübersichtlichkeit und Ungleichheit. Das SGB IX vereinheitlicht all
diese Leistungen und definiert Rehabilitation für alle Reha-Träger, vom Arbeitsamt bis
hin zum sozialpsychiatrischen Dienst. Ich habe den Vortrag aus der Perspektive der
psychiatrischen Klinik her aufgebaut, weil die meisten von Ihnen dort arbeiten. Ich
möchte zeigen, dass die vielen Veränderungen, die auf die Klinik zugekommen sind
(und noch zukommen werden), die Bedeutung von Rehabilitationsleistungen erhöhen.
Sehr einfach gesagt: Immer mehr Patienten werden in Zukunft auch auf
Reha-Leistungen angewiesen sein.
Nun noch eine persönliche Vorbemerkung: Im Folgenden werde ich eine Fülle von
gesetzlichen Veränderungen skizzieren, die sich parallel zum oder mit dem SGB IX
ergeben haben. Ihr gemeinsamer Nenner ist mit dem Stichwort “Sozialmanagement”
umschrieben. Dagegen lässt sich einiges sagen. Aus der entsprechenden kritischen
Literatur möchte ich zwei Momente hervorheben:
a) Sozialmanagement attackiert professionelle Autonomie, reduziert sie auf die
Erbringung einer Leistung oder einer Teil-Leistung. Deswegen ist es nicht
verwunderlich, dass Sozialmanagement gerade von Ärzten und Psychotherapeuten
kritisiert wird.
b) Sozialmanagement, dies wird auch bei der Lektüre dieses Textes deutlich, hat etwas
Obsessives an sich. Es ist auffallend, dass Sozialmanagement sich inhaltlich nie
festlegt, sondern verspricht, jeden Inhalt (etwa eine Psychotherapie), zur Teil-Leistung
reduziert, zu managen. Es geht dem Sozialmanagement um den Modus, die Art und
Weise, wie Hilfe erbracht wird. Dieser Modus wird oftmals in eine rigide Form, oder in
eine rigide Systematik gepresst. Gegen das Hineinpressen von Hilfe in eine Form (wie
etwa die später von mir beschriebene Fallpauschale) kann sich manchmal einiges
wehren, etwa gelassene Vernunft.
-1-
2. Etwas zum Paradigma
Ein Freund von mir gähnte, als ich ihm erklärte, dass ich bei einem Paradigmenwechsel
mitmache, weil ich für den Bezirk Oberbayern die Entwicklung des
gemeindepsychiatrischen Verbundes München-Süd unterstützend begleite. Er meinte,
dass er bei dem übernächsten Paradigmenwechsel vielleicht wieder mitmacht. Denn
wer kennt sie nicht, die Rede vom Paradigmenwechsel?
Was aber ist ein Paradigma? Meine Antwort wäre, dass wissenschaftlich unter einem
Paradigma nicht das verstanden wird, wofür es umgangssprachlich gehalten wird. Der
Begriff stammt von dem amerikanischen Physiker und Soziologen Thomas Kuhn. Er
veröffentlichte 1962 ein aufsehenerregendes Buch mit dem Titel "Die Struktur
wissenschaftlicher Revolution". Kuhn fragte, wie neues Wissen entsteht. Bekannt war
schon vor Kuhn, das große Männer alleine nur sehr selten etwas Neues erfinden.
Obwohl wir das Bild vom heldenhaften Forscher, wie z.B. Einstein lieben - der
Verbrennungsmotor, das Telefon, das Röntgengerät, das Radar, die Kernspaltung usw.
wurden anders erfunden. Etwas Neues, so Kuhn, wird typischerweise in ganz
verschiedenen Labors oder Denkfabriken in etwa zeitgleich entwickelt. Weil das so ist,
kann man sich dann gut streiten, ob es etwa ein Deutscher oder ein Amerikaner war,
der den Motor, das Röntgengerät, das Radar oder die Kernspaltung erfunden hat.
Es ist der Zeitgeist, der es den auf der ganzen Welt verstreuten Wissenschaftlern
nahelegt, auf eine bestimmte, auf eine neue Art zu denken. Für die bestimmte neue Art
zu denken hat Kuhn das Wort "Paradigma" vorgeschlagen. Ein neues Paradigma führt
zu neuen Perspektiven. Dies meint praktisch, dass ein neues Paradigma in der Regel
in Konkurrenz zu der früheren Art zu denken steht. Den Übergang von der alten zur
neuen Denkweise nennt Kuhn "Paradigmenwechsel". Er ist häufig von großen
Konflikten zwischen den Anhängern der alten und der neuen Art zu denken begleitet.
Anders gesagt: es ist nicht der IBRP, der zu einem Paradigmenwechsel führt, sondern
es ist die breite Akzeptanz dieser oder ähnlicher Methoden, hinter der ein Zeitgeist
steht, der solch eine Methode attraktiv werden lässt.
Noch anders gesagt: In allen möglichen Leistungsgesetzen wird heute von
Hilfeplanung gesprochen. Paradigmatisch ist daran interessant, warum dies heute
gemacht wird. Eine billige Antwort wäre, dass dies an den vielen Betriebswirten liegt,
die mit ihren ökonomischen Modellen heutzutage die Ärzte an der Nase herumführen.
Eine richtigere Antwort wäre wohl, dass wir in einer Zeit leben, in der auch die Ärzte
planen, wirtschaften und vor allem Arbeitsteilung zu lernen haben.
In München-Süd habe ich von Ärzten oft gehört, dass ein guter Arzt schon immer
personenzentriert gearbeitet hat. Planen, wirtschaften und Arbeitsteilung machen gute
Ärzte sowieso, weil sie immer im Interesse ihrer Patienten schonend vorgehen. Solche
Überlegungen haben zweifellos ihren nostalgischen Reiz. Aber zweifellos leben wir in
einer Zeit, deren Geist den Sozial- und Gesundheitsbereich sehr stark verändert und
modernisiert.
-2-
3. Der Beginn des Paradigmenwechsels
1985 traf ich einen der bekanntesten theoretischen Psychiatrie-Politiker, Andrew Scull
aus Kalifornien. Er zeigte mir etwas ganz Neues, nämlich seinen Paradigmenwechsel.
Er zeigte mir ein Blatt Papier, auf dem nur ein Kreis zu sehen war:
In der Mitte war der Buchstabe "I". Dann zeigte er mir ein anderes Blatt, auf dem war in
der Mitte des Kreises der Buchstabe "P".
-3-
"I" stand für "Institution", und "P" für "Person". Ich war damals ziemlich entgeistert, als
Scull mir allen Ernstes auch noch erklärte, dass es ab jetzt und in aller Zukunft nicht
mehr um die Psychiatrie, sondern um den "User" (zu deutsch: Konsument) geht.
So kann man sich irren. Wenn man heute im Internet mit den Stichwörtern
"Paradigmenwechsel" und "personenzentriert" sucht, findet man Tausende von
Veröffentlichungen, vor allem von Arbeitsgruppen und Verbänden, aber kaum
wissenschaftliche Veröffentlichungen.
4. Inmitten des Paradigmenwechsels
Wie ist der Zeitgeist zu erklären, innerhalb dessen so viele Menschen heute, zeitgleich,
in der gesamten westlichen Welt, vom personenzentrierten Paradigmenwechsel reden
und schreiben? Eine überzeugende Antwort gibt der bedeutende englische
Psychiatrieforscher und Sozialwissenschaftler Nikolas Rose. Er argumentiert in etwa
folgendermaßen: Vor etwa 20 Jahren zog sich der Staat zunächst von der Mittelschicht
zurück. Die Menschen aus der Mittelschicht begannen, mehr und mehr Dinge selbst zu
regeln, die zuvor der Staat für sie geregelt hatte.
Ein kleines Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie wollten vor 20 Jahren ein Telefon.
Sie gingen zur Post, füllten eine Postkarte aus, wählten die Farbe des Telefons
und die Länge des Kabels, warteten bis zu einem Jahr, und dann hatten Sie ein
Telefon. Wie ist das heute? Sie wählen einen Netzbetreiber, Sie wählen einen
von hunderten Tarifen, kaufen sich eine Telefonanlage, Sie alle kennen das. Und:
Wenn es dann endlich klappt, lesen Sie in einer Anzeige, dass Sie genau den
falschen Tarif gewählt haben. So etwa geht es heute mit vielen Dingen, die man
früher wie selbstverständlich bekam. Es umfasst die Autoversicherungen, den
Wasser-Tarif, den Strom-Tarif, Telefon, Fernsehen, kurzum: der Alltag ist von
einer Unzahl von Wahlmöglichkeiten umgeben - und immer muss man sich
entscheiden.
Ein großes Beispiel: In fast allen Industriegesellschaften (die große Ausnahme ist
Deutschland) wurden Studiengebühren für die Kinder der Mittelschicht eingeführt
und die Krankenversicherung weitestgehend privatisiert. Dies traf gewissermaßen
in’s Herz der Mittelschicht. In vielen Ländern, wie z.B. in den USA beginnen nun
die Eltern spätestens mit der Geburt eines Kindes sich zu überlegen, in welchen
Fond sie einzahlen, damit ihr Kind 18 Jahre später studieren kann. Sie müssen
seitdem auch immer überlegen, wie sie ihr Kind krankenversichern, was sie
versichern, was sie nicht versichern. Damit hat sich nicht nur das Verhältnis der
Eltern zu ihren Kindern verändert, sondern auch das Verhältnis der Kinder zu
ihren Eltern. Kinder erwarten mittlerweile von ihren Eltern, dass sie gut planen,
gut managen können.
So etwa ist nach Rose zu erklären, warum vor etwa 20 Jahren zunächst in der
Mittelschicht Selbstmanagement prominent wurde. So ist auch zu erklären, warum seit
20 Jahren Hunderte von Büchern zum Thema Selbsthilfe, Selbstmanagement und
-4-
Coping mit teilweise riesigen Auflagen verkauft wurden.
Etwas später, in Deutschland vor etwa 10 Jahren, wurde dann plötzlich
Sozialmanagement modern. Diese Entwicklung hält an. Sie interessiert sich nicht mehr
so sehr für die Mittelschicht einer Gesellschaft, sondern für die Hilfsbedürftigen. Nun
dachte man sich, wenn wir uns selbst managen müssen, warum sollen sich dann nicht
auch unsere Klienten oder Patienten managen? Weil die das aber nicht so gut können
wie wir, müssen wir ihnen dabei helfen. In dieser Frage kann man die Geburtstunde
des Case-Managers sehen. Und: Weil Klienten oder Patienten vergesslich sind,
machen wir eben mit ihnen gemeinsam einen Hilfeplan.
5. Das neue Paradigma
Meiner Meinung nach müssen wir, ob wir wollen oder nicht, lernen, Krankenversorgung
und andere Formen der Hilfe zu planen, zu organisieren. Und dies innerhalb von
Qualitätsstandards. Wir müssen auch lernen, arbeitsteilig vorzugehen, in Verbünden
oder Netzwerken zu arbeiten. Von nicht mehr und nicht weniger, so glaube ich, handelt
das neue Paradigma, das sich in der gesamten westlichen Welt in einer ökonomischen
Sprache durchsetzt. Und damit bin ich beim Thema.
6. Über das SGB IX zu sprechen ist nicht einfach
Bei der Vorbereitung zu diesem Thema habe ich mich manchmal gefragt, warum ich mir
das antue. Denn das Thema ist so kompliziert, so verwirrend, dass es schon schwer zu
verstehen ist. Und dann ist es auch noch so, dass das SGB IX eigentlich kein neues
Gesetzbuch ist, sondern vor allem bereits Hunderte von vorhandenen Gesetzen aus
sieben grundverschiedenen Sozialleistungsbereichen zusammenfasst.
Für die Begleitforschung München-Süd habe ich vor einem Jahr, als das SGB IX in
Kraft trat, einen Autor des SGB IX telefonisch interviewt. Herr Fuchs hat dieses
Interview leider nur für die Mitarbeiter des GPV München-Süd autorisiert, es ist also
nicht öffentlich zugänglich
Vorgestern, also ein Jahr später, habe ich ihn wieder kontaktiert. Bei diesem Gespräch
war Herr Fuchs nicht mehr so optimistisch wie vor einem Jahr. Denn man tut sich mit
der Umsetzung des SGB IX sehr schwer und außerdem spielt mittlerweile Parteipolitik
eine große Rolle, obwohl es (mit Ausnahme der PDS) von allen Parteien in Bundestag
und Bundesrat einstimmig verabschiedet wurde.
Hinzu kommt, dass nicht nur das Bundesarbeitsministerium eine ganze Serie von
Sozialmanagement-Gesetzen erlassen hat, dies hat parallel auch das
Bundesgesundheitsministerium gemacht. Und dann gibt es, wie schon seit
Jahrzehnten, Kämpfe zwischen dem großen Arbeitsministerium und dem kleinen
Gesundheitsministerium und es gibt die bekannten Querelen zwischen den
Bundesländern und dem Bund und dann gibt es auch noch die vielen Verbände.
Soweit meine Entschuldigungen. Aber man kann sich auch damit trösten, dass man
nicht viel falsch machen kann, wenn der Gegenstand, über den man redet, so
undeutlich ist. Ich werde jetzt auf einige Nachbargesetze des SGB IX hinweisen, sie
-5-
kurz skizzieren um dann auf das SGB IX einzugehen. An dieser Stelle möchte ich aber
vorher einen teuren und einen kostenlosen Literaturtip geben:
•
Bihr, Fuchs, Krauskopf, Lewering (2002): "SGB IX - Rehabilitation und
Teilhabe behinderter Menschen"
Loseblatt-Kommentar, ISBN 3-406-49132-4, Beck-Verlag München, 68.00 Euro
•
Eine Broschüre mit Fragen und Antworten zum SGB IX:
http://www.bma.de/download/broschueren/a296.pdf
7. Grundgesetzänderung 1994
Der Gleichstellungsbeauftragte des Deutschen Bundestages:
Berlin, den 28. Februar 2002
Das Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen wurde heute im Deutschen
Bundestag verabschiedet. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der
Behinderten, Karl Hermann Haack, erklärt dazu:
Ein Gesetz, das alle angeht / Gleichstellung und Barrierefreiheit als politische und
gesellschaftliche Ziele gesetzlich verankert / Das Benachteiligungsverbot des
Grundgesetzes wird umgesetzt
"Im Jahre 1994 wurde das Grundgesetz in seinem Art. 3 Abs. 3 um den Satz ergänzt:
"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Seitdem erwarten die
behinderten Menschen, dass aus diesem Grundsatz gelebte gesellschaftliche Wirklichkeit
werden kann. Mit der heutigen Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes für
behinderte Menschen kommen wir diesem Ziel einen großen Schritt näher: Gleichstellung
und Barrierefreiheit werden als politische und gesellschaftliche Kategorien gesetzlich
verankert.
Die Entstehung des Gesetzes selbst ist ein Beispiel für Gleichstellung in der Praxis: Als
Experten in eigener Sache haben behinderte Menschen, insbesondere das Forum
behinderter Juristinnen und Juristen, nicht nur im Januar 2000 einen ersten Gesetzentwurf
vorgelegt, sondern sie haben als Mitarbeiter in der Projektgruppe Gleichstellungsgesetz
des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung an der Gesetzgebung selbst
mitgewirkt. Diese Beteiligung geht weit über das übliche Maß an Gesprächen und
Anhörungen hinaus; sie ist beispielgebend auch für andere Bereiche der Politik,
insbesondere der Gesetzgebung.
(Quelle: http://www.behindertenbeauftragter.de/presse/pr280202.stm )
Nach einem sehr interessanten und vor allem sehr langen Vorlauf wurde endlich, 1994,
das Grundgesetz dahingehend geändert, dass "niemand wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden darf". Dieser einzige Satz im Art. 3 des GG hatte viele Gesetze
-6-
und Gesetzesänderungen zur Folge. Zu den großen Veränderungen zählt das SGB IX
(an dem sich alle Regierungen der letzten 30 Jahre versuchten). Das SGB IX ist also
ein Instrument für die Gleichstellung von behinderten mit nicht-behinderten Menschen.
Weil das SGB IX ein Kompromiss ist, sonst wäre es niemals einstimmig verabschiedet
worden, kann es natürlich umgekehrt auch nur in Richtung auf Gleichstellung wirken,
die Benachteiligung aber nicht aufheben, gerade auch nicht für seelisch Behinderte.
8. Das Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen (2002)
Vor wenigen Monaten wurde das sog. "Gleichstellungsgesetz" für behinderte
Menschen verabschiedet. Es soll unter anderem die Wirkung haben, die Umsetzung
des SGB IX zu beschleunigen. Dies auch deswegen, weil im nächsten Jahr das
europäische Jahr der Behinderten ist.
Europäische Kommission, Mai 2002
2003 - Europäisches Jahr der Behinderten
Die Kommission hat einen Vorschlag des Rates angenommen, der darauf abzielt, 2003 zum
europäischen Jahr der Behinderten zu erklären. Die Initiative ist eine Antwort auf die Forderungen in
der beim Gipfel von Nizza im letzten Dezember verabschiedeten europäischen Sozialagenda.
Das europäische Jahr der Behinderten soll die Öffentlichkeit für die Rechte dieser Personen
sensibilisieren und die Diskussion über und die Reaktion auf die Maßnahmen fördern, die zur
Verbesserung der Chancengleichheit gefordert wurden. Der Ende Mai angenommene Vorschlag
stützt sich auf Art. 13 des EG-Vertrags (Anti-Diskriminierungspaket), der die Einstimmigkeit und eine
einfache Anhörung im Europäischen Parlament erfordert.
Die erste Umfrage des Eurobarometers mit dem Titel „Europäer und Behinderung" wurde am Tag
der Verabschiedung des Vorschlags der Kommission veröffentlicht. Aus der Untersuchung geht u.a.
hervor, dass:
•
38 Millionen Personen (10% der Bevölkerung der EU) an einer Behinderung leiden;
•
mehr als 97% der Europäer glauben, dass der Zugang zu den gemeinsamen Gütern und
die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben für Behinderte weiterhin sehr schwierig ist und
mehr gemacht werden könnte, um ihre Integration zu verbessern.
•
93% glauben, dass man für die Überwindung von räumlichen Hemmnissen, mit denen
Behinderte konfrontiert sind, mehr Geld zur Verfügung stellen müßte;
•
etwa sechs von zehn Europäern in ihrem näheren oder weiteren Umfeld Personen kennen,
die an einer chronischen Krankheit, einer Behinderung oder einer Invalidität leiden. Einer
von vier Europäern hat ein behindertes Familienmitglied, weniger als 2% der Europäer
erklären, in der Schule einen behinderten Mitschüler zu haben, und nur 4% behaupten,
einen Kollegen mit einer Behinderung zu haben.
Diese Veranstaltung wurde bei dem berühmten Maastricht-Treffen der Regierungschefs
beschlossen. Ein Argument war, dass etwa ein Viertel aller Bürger der Europäischen
-7-
Union ein behindertes Familienmitglied haben. Und deswegen ist Behindertenpolitik als
wichtiger Teil der Sozialpolitik im Ansehen gestiegen.
9. Entwicklungen im Krankenhausbereich
9.a Qualitätssicherung
Seit einigen Jahren müssen die Krankenhäuser interne Qualitätssicherung nach §137
SGB V ausweisen. Diese Verpflichtung ist Anlass, warum wir hier in Agatharied
zusammengekommen sind, warum sich der Seeoner Arbeitskreis
"Qualitätsmanagement" gebildet hat. Vermutlich wird dieser Arbeitskreis in der Zukunft
noch mehr Arbeit bekommen, denn jetzt kommt ja auch noch die externe
Qualitätssicherung nach § 137 SGB V hinzu.
Bundesweit verbindliche externe Qualitätssicherung nach § 137 SGB V
Das Bundeskuratortium Qualitätssicherung hat ausdrücklich festgestellt,, dass sich das gesamte
Verfahren der externen Qualitätssicherung derzeit in einer Übergangsphase befindet, die mit der
Einführung des DRG-Entgeltsystems enden wird.
In dieser Übergangsphase müssen Inhalte, Methoden, statistische Verfahren und
Finanzierungsregelungen für die externe Qualitätssicherung auf die veränderten
Rahmenbedingungen im DRG-Entgeltsystem ausgerichtet werden.
Wenn ich es richtig verstehe, meint externe Qualitätssicherung im Bereich der
Psychiatrie, dass die psychiatrischen Kliniken motiviert sein müssen, ihre
Zusammenarbeit mit dem ambulant-komplementären Bereich zu entwickeln, zu
dokumentieren und zu evaluieren. Dies wird spätestens dann der Fall sein, wenn die
Fallpauschalen-Finanzierung (DRG’s) auch für die Psychiatrie gilt. Aber die
Notwendigkeit zur externen Qualitätssicherung besteht für die psychiatrischen
Krankenhäuser auch schon jetzt. Denn mit der Verkürzung der Liegezeiten sind vor
allem die kleineren psychiatrischen Krankenhäuser motiviert, mit dem
ambulant-komplementären Bereich zusammen zu arbeiten.
In der Psychiatrie können wir von den Erfahrungen nicht-psychiatrischer
Krankenhäuser, die unter DRG-Bedingungen arbeiten, etwas Betrübliches lernen: Hier
gilt offensichtlich die Regel: Je kürzer die Liegezeit, umso "blutiger" die Entlassung,
und umso medizinischer wird die Rehabilitation. Und damit verändert Rehabilitation
ihren Charakter. Rehabilitation hat das Ziel, so das Vorwort im SGB IX, Behinderten
und von Behinderung bedrohten Menschen, ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben
zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegen zu wirken. Dieses
Ziel kann eine psychiatrische Klinik, oder eine Heilanschlussbehandlung im
psychiatrisch - medizinischen Sinne alleine nicht erreichen. Dies ist nur unter
-8-
Einbeziehung der ambulant-komplementären Einrichtungen in die externe
Qualitätssicherung zu haben.
9.b Fallpauschalengesetz
Neue, leistungsgerechte Vergütung der Krankenhausleistungen
Der Bundesrat hat am 1. März 2002 dem Fallpauschalengesetz zugestimmt. Die Bundesregierung
hatte den Entwurf des Gesetzes zur Einführung des diagnoseorientierten Abrechnungssystems nach
Fallpauschalen für die Krankenhausleistungen am 29. August 2001 beschlossen. Die
Bundesregierung setzt mit dem Fallpauschalengesetz die umfassendste Krankenhausreform aller
Zeit um.
Bundesgesundheitsministerin Schmidt betonte, mit dem Fallpauschalengesetz sei der Weg zu einer
leistungsgerechten Vergütung der Krankenhausleistungen endlich frei. Das Gesetz schafft die
Rahmenbedingungen für ein modernes Vergütungssystem in den Krankenhäusern, das zu mehr
Wirtschaftlichkeit und Transparenz führt und zugleich eine konsequente Qualitätssicherung im
Interesse der Patientinnen und Patienten gewährleistet. Mit dem Gesetz wird ein weiterer wichtiger
Baustein der Gesundheitsreform 2000 umgesetzt.
Pauschalen statt Abrechnung nach Einzelleistung und Liegezeit
Das Fallpauschalengesetz sieht vor, dass die von den Krankenhäusern erbrachten Leistungen
zukünftig nach Fallpauschalen für definierte Krankheitsfälle (sogenannte Diagnosis Related Groups DRG) vergütet werden. Basis für die Abrechnung werden nicht mehr wie bisher die erbrachten
Einzelleistungen und die Verweildauer im Krankenhaus sein. Diese DRGs fassen eine Vielzahl
unterschiedlicher Diagnosen zu einer überschaubaren Anzahl von Fallpauschalen zusammen.
Das Leistungsspektrum der Krankenhäuser wird somit in einem überschaubaren Katalog von bis zu
800 Abrechnungspositionen abgebildet. Maßgebliche Definitionsgrundlage zur Bildung von
DRG-Fallpauschalen sind medizinische Diagnosen-, Operationen- und Behandlungsschlüssel. Durch
die Einbeziehung von Haupt- und Nebendiagnosen werden auch unterschiedliche Schweregrade der
Erkrankung berücksichtigt. Kriterien wie Alter und Geschlecht werden ebenfalls einbezogen.
Fallpauschalen sind an sich nichts Neues. Man kennt sie inzwischen in den meisten
Ländern der europäischen Union.
Einsatz der DRG`s in Europa im Vergleich
Zur Abrechnung => Finnland, Norwegen, Schweden, Lettland, Dänemark, Portugal, Spanien, Italien
Zur Budgetmessung => Frankreich
Zur Verweildauersenkung => Belgien, Irland
Zur Leistungssteuerung => Großbritannien
In absehbarer Zukunft werden sie auch für die psychiatrischen Krankenhäuser gelten.
Hierfür wird der Gleichheitsgrundsatz sorgen. Hinzu kommt die weitere Verkürzung der
Liegezeiten. Dies wird den Charakter der psychiatrischen Krankenhäuser weiter in
Richtung Krisen-Notfall-Versorgung und Anbehandlung verändern.
-9-
Mit den Worten des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen gesagt: „Das deutsche Gesundheitswesen liegt international bei
der Zielerreichung im gehobenen Mittelfeld, benötigt dafür jedoch einen
unverhältnismäßig hohen Mittelaufwand". Möglichkeiten zur Erkennung von
Kostenfaktoren und damit zur Kostensenkung bieten Kosten-Nutzen-Analysen,
Qualitätsmanagement, Vernetzung der Leistungserbringer, „Evidence"-basierte Medizin
(EBM) und „Managed Care"-Modelle.
9.c Evidenz-basierte Medizin (EBM)
Grundlage für die Aufstellung von Therapierichtlinien und Behandlungsstandards bildet eine vor etwa
10 Jahren in den angelsächsischen Ländern etablierte Strategie, die Evidence Based Medicine
[Felton, 1997; Moores, 1997]. Sie beruht auf dem statistischen Nachweis medizinischer
Sachverhalte aus der Praxis. Danach gilt eine Behandlung erst dann als erfolgreich, wenn sich deren
Nutzen im fraglichen Umfeld bewährt hat. Es wird geschätzt, dass, gemessen an wissenschaftlich
anerkannten Veröffentlichungen, erst 15-20% der medizinischen Praxis nach dieser Methode
evaluiert sind [Banta & Vondeling, 1998; Goldberg & Cummings, 1994; Harrison & Long, 1995].
Quelle: Szathmary, Balazs "Neue Versorgungskonzepte im deutschen Gesundheitswesen. Disease und Case Management", 1999,
S. 210
Evidenz-basierte Medizin heißt im Sinne der Krankenkassen, dass therapeutische
Verfahren nur noch dann finanziert werden, wenn ihr erfolgreicher Einsatz statistisch
nachgewiesen werden kann. Dies meint nun aber keineswegs die Wirksamkeit etwa
eines Medikaments, oder etwa einer Psychotherapie, dies meint die Wirksamkeit des
Gesamtverfahrens in dem Sinne, dass es den Patienten nach einem stationären
Aufenthalt nachweislich besser geht. Solche Nachweise sind methodisch nur dann zu
erbringen, wenn man Care Management einführt.
10. Entwicklungen im ambulanten und stationären Bereich
10.a Care Management
"In der Diskussion um Managed Care wird immer häufiger auch der Begriff Disease Management
verwendet. Disease Management steht für verbindliche und integrale Behandlungs- und
Betreuungsprozesse über ganze Krankheitsverläufe und über institutionelle Grenzen hinweg, welche
aufgrund medizinischer Evidenz festgelegt und bezüglich Qualität, Ergebnissen und Kosten
innerhalb definierter Rahmen liegt. Disease Management ist in den 80er Jahren in den Vereinigten
Staaten entstanden und findet seither vor allem in den angelsächsischen Ländern eine rasche
Verbreitung. Die vorhandene Literatur ist demnach stark von dem Einfluss und der Ausgestaltung in
marktwirtschaftlich-orientierten (USA) oder stark zentralwirtschaftlichen Gesundheitssystemen
(Grossbritannien) geprägt."
Care Management wurde in den USA entwickelt, und hier vor allem und zunächst für
den psychiatrischen Bereich. Hintergrund der Entwicklung war, dass dort 1960 1,2 Mrd.
-10-
Dollar für psychiatrische Hilfe ausgegeben wurde. 1990 waren es (inflationsbereinigt)
80 Mrd. Dollar. Ab dann zogen die Krankenkassen die Notbremse. Care Management
ist, glaube ich, das Gedankenmodell, das die Aktion Psychisch Kranke mit den
Begriffen "Regionalbudget" und "Versorgungsverpflichtung" übersetzt hat. Care
Management meint, dass psychiatrische und psycho-soziale Hilfe in einem definierten
Rahmen stattzufinden hat. Dieser Rahmen kann entweder eine Region oder ein
überregionales Netzwerk für Spezialbehandlungen und/oder spezielle Hilfen sein. Zu
diesem Thema lädt Hermann Kraus in seine Arbeitsgruppe heute nachmittag ein.
10.b Krankheits-Management
Schmidt: Disease-Management-Programme für chronisch Kranke schon ab Mitte 2002
Spezielle Programme der Krankenkassen zur Behandlung chronisch Kranker
(Disease-Management-Programme) sollen schon ab Mitte 2002 angeboten und durchgeführt
werden.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt kündigte an, dass chronisch Kranke damit schon bald auf
eine verbesserteBehandlung nach anerkannten Standards hoffen können Der Einstieg in
Disease-Management-Programme soll bereits im kommenden Jahr bei den chronischen
Krankheiten Diabetes, Brustkrebs, Herz- und Kreislauferkrankungen sowie Schlaganfall
erfolgen. Die Krankenkassen haben die Möglichkeit, Programme zur Behandlung dieser
Krankheiten zu entwickeln. Alle Programme müssen in einem besonderen
Zulassungsverfahren vom Bundesversicherungsamt geprüft werden. Die Zulassung wird nur
befristet erteilt. Die Qualität und Wirksamkeit der Programme werden in bestimmten Abständen
wissenschaftlich überprüft.
Die Teilnahme an Disease-Management-Programmen ist für die Versicherten freiwillig.
In Deutschland wird Care Management auch unter einem ähnlichen Begriff, "Disease
Management", eingeführt. Krankheitsmanagement muss von den Kassen in Form sog.
"strukturierter Behandlungsprogramme" bei allen chronischen Krankheiten eingeführt
werden. Hierzu zählen bisher vier chronische Krankheiten. Als fünfte wird Depression
hinzukommen.
Damit Sie sich ein Bild machen können, wie entwickelt Care-Management-Modelle
funktionieren, und wie sie im Zusammenhang mit der Einführung von Fallpauschalen zu
verstehen sind, zeige ich eine Folie zur entsprechenden Therapierichtlinie von
Schluckbeschwerden.
-11-
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann Care Management auch im Bereich der
Rehabilitation eingeführt wird. Die entsprechenden Voruntersuchungen zur Auswahl
der entsprechenden Systeme haben längst begonnen. In diesem Zusammenhang ist
eine Überlegung der bayerischen Sozialministerin interessant. Sie tritt für Care
Management im Sinne von der Etablierung überregionaler Netzwerke im Bereich des
SGB XI ein.
Bayern will Disease Management in der Geriatrie
MÜNCHEN (sto). Disease-Management-Programme für die geriatrische Versorgung hat Bayerns
Sozialministerin Christa Stewens gefordert. Die Komplexität der Gesundheitsprobleme im Alter
erforderten "multiprofessionelle Versorgungskonzepte".
Derartige Konzepte sollten über die Grenzen der einzelnen Versorgungsbereiche hinweg wirken,
sagte Stewens bei einer Fachtagung ihres Ministeriums zum Thema "Mobile geriatrische
Rehabilitation".
Nach Stewens Ansicht können Disease-Management-Programme eine sektorenübergreifende
Versorgung vor allem für chronische Kranke sicherstellen und dadurch die Versorgungsqualität
verbessern. Das wäre auch für die geriatrische Versorgung notwendig, sagte Stewens.
Als wichtige Bausteine der geriatrischen Versorgung bezeichnete Stewens die ambulante und die
mobile geriatrische Rehabilitation.
-12-
Damit ältere Menschen so lange wie möglich in der eigenen Wohnung bleiben können, müsse die
geriatrische Rehabilitation mehr noch als bisher in der häuslichen Umgebung stattfinden, forderte
Stewens. Das habe auch ein vom Sozialministerium initiierter Modellversuch zur Verbesserung der
mobilen geriatrischen Rehabilitation in Bayern ergeben. Jetzt gehe es darum, die Modelle in eine
Regelversorgung zu überführen und die Voraussetzungen für eine flächendeckende ambulante
Versorgung mit mobiler geriatrischer Rehabilitation zu schaffen.
Quelle: Ärzte Zeitung, 28.11.2001
11. Gemeinsame Entwicklungen im Bereich von SGB V und SGB IX
Langsam nähere ich mich meinem Thema. Wie Sie merken, habe ich meinen Vortrag
bisher so aufgebaut, dass ich von allgemeinen Überlegungen zur Gleichstellung
behinderter Menschen über den stationären Bereich der Krankenbehandlung und den
ambulanten Bereich hin zum Bereich der Rehabilitation arbeite.
11.a Case-Management (CM), auch zwischen SGB V und SGB IX
Es ist eine Erfahrung aus fast allen Industrieländern, die umgestellt haben, dass
Fallpauschalen, interne und externe Qualitätssicherung, Care Management und
Budgetierung nicht ohne CM zu haben sind.
Case-Management ist kein Beruf, sondern eine Methode. Ein Case-Manager muss
wissen, wovon er spricht. CM ist ohne Psychiatrie-Erfahrung im Bereich der Psychiatrie
genauso wenig zu haben, wie CM im Bereich von Epilepsie ohne Epilepsie-Erfahrung.
Üblicherweise ist Case-Management (nach dem sog. "Anwalts-Modell") der
Gegenspieler zum Care Management. Care Management ist üblicherweise bei dem
Kostenträger, oder auch einer Krankenhausleitung angesiedelt, CM steht auf der Seite
des Klienten bzw. Patienten. CM dient vor allem dazu, einen Behandlungs- oder
Hilfeplan zu erstellen und ein entsprechende Therapie-Richtlinie partnerschaftlich mit
dem Patienten umzusetzen. In einigen Case-Management-Modellen machen die
Case-Manager auch die Evaluation des Behandlungserfolges.
12. Zusammenfassung des bisher Gesagten
Allgemein gelten folgende Zusammenhänge: Die Einführung von DRG’s kann nur dann
für die Patienten gut gelingen (das Schlagwort hierfür ist "Best Practice"), wenn die
Patienten von Anfang an aktiv und partnerschaftlich an der Erstellung der
entsprechenden Hilfepläne beteiligt werden. Genau das ist der Grund dafür, warum in
der entsprechenden Fachliteratur so eine Flut an Veröffentlichungen zum Thema
"gemeinsame Entscheidungsfindung" entstanden ist. Dies ist gerade in einem
sensiblen Bereich wie Psychiatrie sehr wichtig. Die Einführung von internen und
externen qualitätssichernden Verfahren motiviert zur Zusammenarbeit mit dem
ambulant-komplementären, und auf diesem Wege mit dem gesamten rehabilitativen
Bereich. Die Einführung von Care Management ist ohne Case-Management nicht zu
-13-
haben. Hierzu noch eine Literaturempfehlung: Die in meinen Augen substantiellste
Veröffentlichung zu diesem Thema ist von Michael Ewers und Doris Schaeffer (2000),
Case Management in Theorie und Praxis, Göttingen: H. Huber. ISBN: 3456834675.
Letztlich geht es bei der gesamten Umstellung um einen Machtverlust der
Professionellen, soweit sie sich für ihre Patienten umfassend verantwortlich fühlen.
Gegen diesen Machtverlust wehren sich verständlicherweise vor allem Ärzte.
DKG warnt vor Verlust der Therapiefreiheit
BERLIN (hak). Als "Anfang vom Ende der Therapiefreiheit des Arztes" hat der Hauptgeschäftsführer
der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Jörg Robbers, den Referentenentwurf zur
Gestaltung der Disease-Management-Programme (DMP) für Typ-2-Diabetiker bezeichnet. "Die
jetzige Fassung läßt keinen Behandlungskorridor mehr für den Arzt offen, sondern reduziert die
klinische Expertise auf ein schematisches Abhaken der vorgegebenen, engen Kriterien", sagte
Robbers. Die Empfehlungen des Koordinierungsausschusses seien als Empfehlungen für eine
Behandlung nach evidenzbasierten Leitlinien zu verstehen - nicht aber als Empfehlungen für
verbindliche Richtlinien. Nicht einverstanden ist Robbers außerdem mit dem geplanten
Datenmanagement. Robbers forderte gleiche Regelungen für den ambulanten und stationären
Bereich.
Quelle: Ärzte Zeitung, 6.6.2002
Dieser Machtverlust ist der Preis der Einführung von Sozialmanagement im Sinne der
Analyse von Nikolas Rose. Die großen Gewinner sind die Zusammenschlüsse von
Patienten, Ex-Patienten, Selbsthilfegruppen und Behindertenverbände. Sie müssen
schon deswegen mit am Tisch sitzen, um den Machtverlust der Professionellen zu
kompensieren.
13. Case-Management oder Service-Stelle?
36 Servicestellen für Behinderte
Mainz (chb). In Rheinland-Pfalz werden bis zum Jahresende 36 Servicestellen für Menschen mit
Behinderungen ihre Arbeit aufnehmen. Das teilte Sozialministerin Malu Dreyer auf eine Kleine
Anfrage im Landtag mit. Danach würden in nahezu allen rheinland-pfälzischen Städten und
Landkreisen die nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) IX vorgesehenen gemeinsamen Servicestellen
der Rehabilitationsträger eingerichtet. Die erste Servicestelle sei bereits Anfang Februar in Speyer
eingerichtet worden. Das SGB IX, das im Sommer vergangenen Jahres in Kraft getreten ist,
schreibt die Einrichtung dieser Servicestellen vor.
Quelle: Ärzte Zeitung, 21.05.2002
Noch unter der alten Bundesregierung wurde in einem der vielen Arbeitskreise im
Bundestag über längere Zeit über die Einführung notwendiger neuer Begriffe für das
neue SGB IX diskutiert. Allen Beteiligten war klar, dass man ein Sozialgesetzbuch zur
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Rehabilitation nicht ohne Case-Management haben kann. Case-Management klang
einigen Parlamentariern zu englisch. Das Resultat war, dass man Case-Management
mit "Service-Stelle" übersetzte. Ich erwähne diese Episode vor allem, weil die
Umsetzung des SGB IX ohne Service-Stelle kaum vorstellbar ist.
14. Neue, einheitliche Definition von Behinderung
Das SGB IX klassifiziert Behinderung mit der ICF der WHO, die im Unterschied zur ICD
von sich behauptet, keine Schadens-Klassifikation zu sein. Die Probeübersetzung der
ICF, die “Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
Gesundheit”, veröffentlichte im Mai 2002 der Verband der Versicherungsträger auf
seiner Homepage (www.vdr.de). Ziel dieser Klassifikation ist, die rehabilitativen
Hilfestellungen zu identifizieren, die zur optimalen Teilhabe am Leben benötigt werden.
Diese Hilfen werden im sog. "gegliederten System" des Sozialbereichs nun aber von
verschiedenen Trägern geleistet. Im SGB IX werden genannt:
•
Die gesetzliche Krankenversicherung erbringt für ihre Versicherten Leistungen
zur medizinischen Rehabilitation, wenn andere Sozialversicherungsträger
entsprechende ihrer Aufgabenstellung solche Leistungen nicht erbringen
können.
•
Aufgabe der Rentenversicherung ist es, ein vorzeitiges Ausscheiden der
Versicherten aus dem Erwerbsleben zu vermeiden. Hierfür erbringt sie
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben.
•
Die Unfallversicherung ist bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten für
Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und
zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft verantwortlich.
•
Die Träger der Kriegsopferversorgung und der Kriegsopferfürsorge
übernehmen für ihre Leistungsberechtigten die Leistungen zu medizinischen
Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft.
•
Die Bundesanstalt für Arbeit mit ihren Arbeitsämtern übernimmt Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben, sofern hierfür nicht die Rentenversicherung, die
Unfallversicherung oder die Kriegsopferfürsorge zuständig ist.
•
Die Sozialhilfe, für die die Sozialämter der Städte und Gemeinde oder die
überörtlichen Träger der Sozialhilfe zuständig sind, tritt bei allen Bereichen der
Rehabilitation und Teilhabe ein, soweit kein anderer Rehabilitationsträger
zuständig ist.
•
Die Jugendhilfe mit ihren örtlichen Jugendämtern erbringt Leistungen zur
Teilhabe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, soweit kein anderer
Träger zuständig ist.
Alle sie hatten und haben sehr verschiedene Vorstellungen von dem, was unter
Behinderung, Rehabilitation und Teilhabe am Leben zu verstehen ist. Hinzu kommt,
dass sie in Jahrzehnten gelernt haben, dass im Zweifelsfall nicht sie selbst, sondern
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andere Träger zuständig seien. Patienten und Klienten wurden eher abgewiesen als
angenommen. Außerdem war es oft so, dass ein behinderter oder von Behinderung
bedrohter Mensch nur in den Genuss der Leistung eines Trägers kam, also z.B. nur
Reha-Leistungen von der Unfallversicherung erhielt, andere notwendige Teilleistungen
z.B. von der Bundesanstalt für Arbeit nicht erhielt, weil er ja schon eine Reha-Leistung
von der Unfallversicherung bekam. Diese Praxis will das SGB IX abstellen. Im
Folgenden werde ich einige markante Punkte des SGB IX skizzieren.
15. Service-Stelle
Die Service-Stellen, die nach dem Wortlaut des Gesetzes "in jedem Landkreis, in jeder
kreisfreien Stadt eingerichtet werden", bieten allen Rat- und Hilfesuchenden ihre
Dienste an. Die Service-Stellen beraten über die in Frage kommenden Leistungen,
klären die Zuständigkeiten, helfen bei der Antragstellung für eine Leistung oder
Teil-Leistung und unterstützen auf Wunsch den Hilfesuchenden auch während der
Leistungserbringung.
16. Psychosoziale Hilfen bei medizinischer Rehabilitation
Unter medizinischer Rehabilitation werden auch psychologische und pädagogische
Hilfen verstanden, soweit sie einer medizinischen Rehabilitation dienlich sind, oder
soweit sie Krankheitsfolgen vermeiden oder überwinden helfen. Genannt werden in
§ 33 SGB IX Hilfe zur Unterstützung bei der Krankheits- und
Behinderungsverarbeitung, Aktivierung von Selbsthilfepotentialen, Beratung von
Partnern und Angehörigen, Vermittlung von Kontakten, Hilfe zur seelischen
Stabilisierung und Förderung der sozialen Kompetenz, Training lebenspraktischer
Fähigkeiten sowie Anleitung und Motivation zur Inanspruchnahme von Leistungen der
medizinischen Rehabilitation.
17. BSHG und SGB IX
Im SGB IX wird noch einmal festgelegt, dass das BSHG nachrangig ist. Dies meint,
dass der überörtliche Träger der Sozialhilfe, bei uns also der Bezirk Oberbayern, erst
dann tätig werden darf, wenn für einen Klienten kein anderer Rehabilitationsträger
gefunden wurde. Diese Regelung ist nun sicherlich nicht neu. Gleichwohl wird sie in
der psychiatrischen Versorgung tagtäglich ignoriert. Weil sich die anderen
Rehabilitationsträger gerade bei psychisch Kranken geradezu notorisch für
nicht-zuständig erklären, sind die Wege zwischen Klinik und Sozialeinrichtung so kurz.
Dies meint z.B. dass eine schwer depressive Sekretärin, die kaum alleine leben kann,
recht schnell in einer BSHG-finanzierten WG landet, wo sie vor der Schein-Alternative
steht, entweder diese Leistung selbst zu bezahlen, oder sich nach der Bedürftigkeitsprüfung vom Bezirk entreichern zu lassen. Angesichts dieses Sachverhalts ist die
entsprechende Politik des Bezirks Oberbayern hervorzuheben, der weiterhin auf die
Anwendung der Entreicherungs-Mechanismen bei der Rehabilitation von psychisch
Kranken verzichtet. In diesem Zusammenhang ist jetzt der Rechtsweg gefragt.
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Kassen sollen Reha für psychisch Kranke übernehmen
Landesverband Westfalen-Lippe will ab Juli die Wiedereingliederung nicht mehr finanzieren und
verweist auf das Sozialgesetzbuch IX
MÜNSTER (akr). Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) will ab Juli die stationäre
Rehabilitation gesetzlich krankenversicherter Patienten mit psychischen Problemen nicht mehr
finanzieren. Er betrachtet die Wiedereingliederung der Patienten als eine medizinische Aufgabe deshalb sollen die Krankenkassen dafür aufkommen. Doch die Kassen weigern sich, weil es sich aus
ihrer Sicht um eine soziale Leistung handelt.
Der LWL zahlt für die Rehabilitation von psychisch kranken Menschen in 17 Häusern des betreuten
Wohnens jährlich 7,5 Millionen Euro. Die 3,3 Millionen Euro, die der Verband davon für
krankenversicherte Patienten ausgibt, sollen ab Juli die Kassen tragen. "Die Rehabilitation ist eine
medizinische Leistung, schließlich werden die Einrichtungen von Ärzten geleitet", sagt LWL-Sprecher
Frank Tafertshofer. Nach der Verabschiedung des Sozialgesetzbuches IX (Rehabilitation) dürfe der
LWL als Sozialhilfeträger für die Wiedereingliederung der krankenversicherten Patienten nicht mehr
aufkommen. Das SGB IX lege fest, daß die medizinische Rehabilitation von den Kassen finanziert
werden muß.
Die Kassen stehen aber auf dem Standpunkt, daß es sich bei der Wiedereingliederung um eine
psychosoziale Leistung handelt und das SGB IX deshalb nicht greift. "Warum soll die Gesetzliche
Krankenkasse plötzlich für etwas zahlen, nur weil sich eine Institution eine neue Rechtsauffassung
zurechtlegt?", so Michael Süllwold, Referatsleiter stationäre Einrichtungen beim Verband der
Angestellten Krankenkassen Westfalen-Lippe.
Der LWL ist nur unter einer Voraussetzung bereit, die Kosten für die Versicherten zunächst weiter zu
übernehmen: wenn sich die Kassen auf eine Musterklage zur Klärung der Finanzierungsfrage einlassen
und das Urteil für alle Einrichtungen akzeptieren. Das werden sie aber wohl nicht tun. Süllwold: "Wir
haben eine eindeutige Rechtslage."
Quelle: Ärzte Zeitung, 2.5.2002
18. Ansiedlung der Service-Stellen in Bayern
Der oben erwähnte Herr Fuchs erläuterte in seinem Interview ausführlich, warum er die
Auffassung vertritt, dass die sieben bayerischen Bezirke für die Ansiedlung der
Service-Stellen prädestiniert sind. Denn sie sind die einzige Institution, die in etwa das
Instrumentarium für die gemeinsamen Servicestellen kennen. Das BSHG bietet
nachrangig, gewissermaßen auf kleiner Flamme, all die Leistungen integriert an, die im
Großen die anderen Träger bisher nur separiert, auf ihren jeweils gesetzlichen Auftrag
hin angeboten haben. Außerdem ist von den Bezirken nicht zu erwarten, dass sie
spezielle Interessen haben, etwa Leistungen von der Unfallversicherung zur
Rentenversicherung zu verschieben. Sie haben nur das Interesse, dass möglichst
wenig Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen zu BSHG-Klienten
werden. Und genau für dieses Interesse haben sie auch einen gesetzlichen Auftrag.
19. Die Bedeutung des SGB IX
Man kann von der zögerlichen Umsetzung des SGB IX halten was man will. Eines ist
aber klar: In dem Maße, wie Sozialmanagement die Krankenversorgung durchplant und
definiert, in dem Maße werden Reha-Leistungen wichtiger.
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20. SGB IX und Sozialpsychiatrie
In gewisser Weise ist die Sozialpsychiatrie als Vorreiter für wesentliche Elemente des
SGB IX zu sehen. Ich habe dies bei der Vorbereitung dieses Vortrages daran gemerkt,
dass praktisch alle oben erwähnten Elemente der großen Reform im SGB V und SGB
IX in der Sozialpsychiatrie schon aufgetaucht sind. Deswegen habe ich die folgende
Idee: Könnte es nicht möglich sein, dass funktionierende gemeindepsychiatrische
Verbünde im Auftrag (der noch weitgehend nicht vorhandenen) Service-Stellen
operieren? Und: Sollte man nicht versuchen, dass nicht nur die Bezirke, sondern auch
die anderen sechs Reha-Träger Leistungen eines GPV’s finanzieren? Zu solchen
Leistungen sind sie ja sowieso verpflichtet, auch wenn sie dies sicherlich nicht gerne
hören (vgl. Punkt 14).
21. Das Integrationsamt
Viele chronisch psychisch Kranke sind schwerbehindert. Für sie stehen Leistungen im
Zuständigkeitsbereich der Integrationsämter (dies sind die früheren
Hauptfürsorgestellen) bereit. Nach meinen Erfahrungen werden diese Leistungen von
chronisch psychisch Kranken zu wenig in Anspruch genommen. Auch die
Integrationsämter müssen, wie alle Rehabilitationsträger, nun innerhalb von zwei
Wochen nach Antragstellung entscheiden, ob und inwieweit sie zuständig sind. Solche
Leistungen können auch eine Arbeitsassistenz (die ‘begleitende Hilfe im Arbeitsleben’)
beinhalten. Arbeitsassistenz wird mit dem SGB IX ausgeweitet und intensiviert. Sie
müssen eng mit den Integrations-Fachdiensten sowie den Integrationsfirmen und den
Werkstätten für Behinderte Menschen zusammenarbeiten.
22. Zukunft des SGB IX
Das SGB IX ist das erste und einzige Gesetzbuch, in dem die Verpflichtung zur
wissenschaftlichen Evaluation gleich in das Gesetz geschrieben wurde. Die ersten
Untersuchungen haben bereits begonnen. Im Gesetz steht auch, dass Ende 2004 die
Bundesregierung auf der Basis dieser Untersuchungen das SGB IX zu novellieren hat.
Drei Momente sprechen dafür, dass diese Novelle den Geist des SGB IX nicht mehr
verändern wird:
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Das SGB IX folgt dem Geist entsprechender Entwicklungen in vergleichbaren
Ländern innerhalb der europäischen Union.
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Das SGB IX hat die Rechtsstellung der Behinderten und der
Behindertenverbände deutlich verbessert. Und: Alle Behindertenverbände
begrüßen die Intention des SGB IX.
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Es gibt keine denkbare logistische Alternative zum SGB IX.
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