istanbul - chilli:freiburg:stadtmagazin

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reise Eurasien
Die Megastadt
am Bosporus
Ein Besuch in der europäischen Kulturhauptstadt von 2010 – Istanbul
E
s ist nur eine Brücke, unter
uns liegt der Bosporus, die
Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer, hinter
uns Europa, vor uns Asien. Einen Kilometer lang ist die erste BosporusBrücke, es gibt auch einen Fußweg,
der ist aber nach ungezählten Suiziden schon lange gesperrt. Istanbul
ist die einzige Metropole der Welt,
die sich auf zwei Kontinenten befindet. 13,1 Millionen Einwohner hat
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das türkische Institut für Statistik
im März 2011 gemeldet. „Da können
Sie sicher noch ein paar Millionen
dazunehmen“, sagt der Taxifahrer.
„In der Stadt und an den Rändern leben sicher 20 Millionen Menschen“,
erzählt unser Reiseleiter Umut Kus.
In Istanbul geboren, lebt Kus schon
seit vielen Jahren in Hannover. Er
kennt sich trotzdem aus in der alten
und neuen Geschichte dieser atemberaubenden Metropole.
Während unseres Besuchs eröffnet der
Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk
gerade sein „Museum der Unschuld“,
das erste Museum der Welt, das einen
Roman greifbar macht, seinen Roman
„Istanbul“. Kein Literatur-Museum, ein
Roman-Museum, wie die Wochenzeitung Die Zeit trefflich schreiben wird.
Von Unschuld geprägt ist die Stadtgeschichte indes beileibe nicht: Kriege,
Plünderungen, Brände zeichnen die
Geschichte von Byzanz, Konstantinopel
und schließlich Istanbul (was so viel wie
„In die Stadt“ bedeutet) aus. Vor allem
wegen der vielen Baustile der Griechen
und Römer, Byzantiner und Osmanen, Türken und Europäer erklärte die
Unesco die historische Altstadt Sultanahmet 1985 zum Weltkulturerbe. 2010
wurde der Ballungsraum am Bosporus
europäische Kulturhauptstadt – wofür
sich zugegebenermaßen leichter Gründe finden lassen als für Freiburg, das sich
vielleicht ebenfalls bewerben will.
Brücken überspannen auch das Goldene
Horn, die Wasserstraße, die vom Bosporus abzweigt und viele europäische
Stadtteile trennt. Es ist ein bisschen so
wie im Roten Meer, aus dem der SuezKanal (der Bosporus) und der Golf von
Akaba (das Goldene Horn) werden. Die
Galata-Brücke verbindet das Viertel
Eminönü im Stadtteil Fatih mit dem
Hafenviertel von Karaköy (Galata) im
Stadtteil Beyoglu. Oben auf der zweigeschossigen Betonbrücke (übrigens
vom deutschen Bauingenieur Fritz Leonhardt entworfen) stehen die Angler
und fangen Fisch, unten gibt es zahlreiche Restaurants und Bars in allen Preisklassen, vor allem für Touristen. „Sie
haben hier mal vor der aktuellen Brücke
eine Galatabrücke gebaut, die sich für
größere Schiffe öffnen sollte, das hat
genau einmal geklappt, dann musste
man die wieder abbauen und eine neue
bauen“, erzählt Kus. Die alte hat man
ein bisschen weiter hinten im Goldenen
Horn von den beiden Landseiten aus als
Denkmal wieder aufgebaut – mit einem
großen fehlenden Stück in der Mitte.
Die Folge: Unfähige Autofahrer fuhren
Fünfsternehotel
ohne Genehmigung
drauf und versanken mit ihren Karossen
dann im Wasser. Kus zuckt die Schultern.
Als wäre das für Istanbul nichts Besonderes. Eine Stunde später fahren wir am
Riz Carlton vorbei, ein Fünfsternehaus,
gut 40 Stockwerke – für das es nie eine
Baugenehmigung gab. An den Stadträndern entstehen ganze Stadtteile ohne
behördliche Erlaubnis, die Gecekondus,
über Nacht erbaute Häuser. Sie dürfen
offenbar einer alten Tradition zufolge
stehen bleiben. Und vor Wahlen versprechen dann die jeweiligen Kandidaten, dass sie dieses oder jenes Viertel
an die Kanalisation anschließen – um die
Stimmen der Bewohner zu kassieren.
Der Albtraum der Istanbuler ist ein trockener Bosporus. Ihn beschreibt Pamuk
in seinem Roman „Das schwarzen Buch“.
„Es gibt nicht nur Pamuks Buch, es gibt
viele Sagen, die das Ende des Bosporus
verkünden. Das ist zwar alles Quatsch,
aber wenn es so wäre, geht es steil bergab mit Istanbul“, weiß auch Kus. Wer
nach Istanbul kommt, der sollte sich die
Hagia Sofia ansehen, natürlich, die Blaue
Moschee (die schönste von knapp 2800
in Istanbul), den Topkapi-Palast, die Istiklal Caddesi, die Einkaufs- und Flaniermeile mit historischer Straßenbahn, die
am verkehrsumtosten Taksi-Platz endet,
den 30 Fußballfelder großen Basar (in
dem ein kleinerer Stand mit 20 Quadratmetern unter einer Million türkischer Lira
nicht zu haben ist) auch, aber eines darf
der Gast auf gar keinen Fall versäumen:
Eine Schifffahrt auf dem Bosporus, mit
auch unter alten Seebären gefürchteten
Strömungen, hoch zum Schwarzen Meer,
runter zum Marmarameer, vorbei an den
alten Befestigungsanlagen Rumeli Hisari
(wo die Meerenge mit 660 Metern ihre
engste Stelle hat), vorbei am sagenreichen Mädchen- oder Leanderturm, der
dicht bei der asiatischen Seite im Eingangsdelta zum Bosporus steht und ein
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s
s
Fotos: © Lars Bargmann
reise Türkei
REISE megacities
Blickfänge: Wer zu Gebetszeiten in die
Blaue Moschee (oben) will, muss seine
Kamera verstecken. Die Hagia Sofia ist
der Pflichttermin für Normaltouristen.
An der Einfahrt in den Bosporus teht der
sagenumwobene Mädchen- oder Leanderturm. Auf der Galatabrücke angeln
oben Einheimische den Fisch, der unten
in Brückenrestaurants gegessen wird.
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Wahrzeichen dieser pulsierenden, melancholischen, chaotischen, latent desinteressierten, nie schlafenden Stadt ist,
in der mittlerweile die halbe Türkei lebt.
Dieses geopolitisch so hochinteressante
EU-Anwärterland, das im Westen auf
den ersten Blick harmlose Nachbarn wie
Griechenland und Bulgarien hat, aber
auch Syrien, den Iran und Irak. Wenn die
Türkei einst in die EU kommt, dann hat
die EU ihre Außengrenzen gleichsam vor
Damaskus, Teheran und Bagdad.
Oben im Mädchenturm gibt es eine
kleine Bar, wir stehen erst mit Kaffee,
später mit Bier draußen, am Nachmittag
kommen die großen Schiffe aus dem
Schwarzen Meer vorbei, vormittags ziehen die Tanker aus dem Marmarameer
ins Schwarze Meer. Gegenverkehr gibt
es keinen. Am Ufer warten die gelben
Taxis. Die Lizenzen sind heiß begehrt.
Die Istanbuler Stadtregierung um Bürgermeister Kadir Topbas (Architekt) von
der islamisch-konservativen AKP gibt für
so eine riesige Metropole, für die größte
Stadt auf europäischem Boden, nur eine
sehr geringe Zahl Konzessionen fürs Gewerbe her.
„Wenn du dir in Istanbul eine Lizenz
kaufen willst, musst du eine Million Lira
hinlegen. Das ist kein Witz“, sagt unser
Reiseleiter. Eine solche Lizenz, wie auch
ein Restaurant, sind eher Statussymbole
denn gute Geldanlagen. Geld macht der
reiche Teil mit Immobilien, mit Grundstücken. Nach einer 2011er Studie von
den Wirtschaftsprüfern von PwC und
dem Urban Land Institute (ULI) sind die
Renditechancen für Immobilieninvestoren in keiner anderen Stadt so hoch wie
in Istanbul.
Istanbul hat auch ein ordentliches Nahverkehrssystem. Dominant sind die
Busse, es gibt auch große Metrobusse,
die auf dem Weg von West nach Ost
nicht an jeder Milchkanne halten, wie
Ex-Bahnchef Hartmut Mehdorn sagen
würde. Spektakulärer ist etwa die Tünel-Bahn, die auf 614 Metern Karaköy
am Hafen und den Tünel-Platz an der
Istiklal Caddesi im Stadtteil Beyoğlu
auf einem Hügel verbindet. Weil die
Tünel am 12. Januar 1875 eröffnet
wurde, ist sie übrigens die drittälteste
U-Bahn der Welt. Mit dem Eisenbahnverkehr indes steht es nicht zum Besten. In den architektonisch herrlichen
Bahnhof Sirkeci, historischer End-
Info
Istanbul
Lage: Eurasien
Flugverbindungen: Istanbul gehört am
EuroAirport Basel-Mulhouse-Freiburg zu
den am meisten gebuchten Zielen. 2011
zählt der Airport allein 240.842 Passagiere
nach Istanbul, 157.357 nach Antalya und
32.074 nach Izmir. Turkish Airlines fliegt
8 Mal/Woche an den Airport Atatürk,
EasyJet und Pegasus täglich nach Sabiha
Gökcen. SunExpress fliegt täglich nach
Antalya, Air Berlin und Pegasus freitags,
Hello montags, mittwochs und freitags.
Zudem steuern Pegasus (mi. + fr.) und
SunExpress (di. + sa.) Izmir an. Und es
gibt auch Charterflüge sowie weitere Flugmöglichkeiten mit Lufthansa via München
oder Frankfurt, mit Air France via Paris,
mit KLM via Amsterdam, mit British
Airways via London oder mit Austrian via
Wien. Alle Infos: www.euroairport.com
Nachbarländer der Türkei: Armenien,
Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien,
Griechenland, Irak, Iran, Syrien.
Einwohner: 13,1 Millionen Einwohner
(Türkisches Institut für Statistik).
Presse: In Istanbul erscheinen 34 Tageszeitungen und 14 Stadtteilzeitungen.
Moscheen: Knapp 2800.
Hoteltipps: Kempinksi (ganz großer
Geldbeutel), Hotel Conrad in Besiktas
(großer Geldbeutel), Boutique Maywood
Hotel (zentral, preiswert).
Internet: http://english.istanbul.com
punkt des Orient-Express und heute
Endhaltestelle für alle Eisenbahnlinien
auf der europäischen Seite, trudelt nur
ab und an mal eine Lok ein.
Am Abend schlendern wir direkt am Fenerbahce-Stadion vorbei, drinnen schießen die Hausherren von der asiatischen
Seite gerade das 1:0 gegen Besiktas auf
dem anderen Kontinent. Fans umarmen
sich, ein Fanartikelhändler stürmt auf
uns zu, will uns die gelb-blaue Fahne zu
einem günstigen Preis anbieten. Später
sitzen wir wieder am Bosporus, auf der
asiatischen Seite, staunen in die Spiegelbilder auf dem Wasser, schauen den
Schiffen hinterher, der verlässliche Südwestwind weht uns um die Nasen, wir
schauen ein paar Älteren stundenlang
beim Kartenspiel zu und versinken in
der Abendstimmung. Die Betten stehen
in Europa, nur eine Brücke liegt dazwiLars Bargmann
schen. 

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