1 Wolfgang Ullrich Bilder für die ganze Welt. Zur Idee einer
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1 Wolfgang Ullrich Bilder für die ganze Welt. Zur Idee einer
Wolfgang Ullrich Bilder für die ganze Welt. Zur Idee einer Globalisierung des Visuellen seit einem Jahrzehnt dominiert die Globalisiertungs-Debatte viele Bereiche und Diskussionen – wieder einmal, denn ist keineswegs das erste Mal, daß eine Globalisierung der Wirtschaft diskutiert wird und, davon ausgehend bzw. damit zusammenhängend, die Idee einer einheitlichen Weltkultur auftaucht zumindest seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gab es in der westlichen Kultur in beinahe regelmäßigen Abständen immer wieder Globalisierungs-Debatten – und Visionen einer Weltkultur – sowohl befüchtet wie gewünscht – immer aber für unmittelbar bevorstehend gehalten eine berühmte Schrift wie das Kommunistische Manifest von 1848 läßt sich sogar nur vor dem Hintergrund einer solchen Debatte verstehen – der Appell an die Arbeiter aller Länder, sich zu vereinigen, ist direkter Ausdruck davon doch welche Rolle spielen Bilder innerhalb der wechselvollen Debatten über eine Globalisierung? während es einen Begriff wie 'Weltliteratur' bereits seit den 1820er Jahren gibt, fehlt ein Begriff von 'Weltkunst' sehr lange, was natürlich vor allem mit mangelnden Reproduktionsund Verbreitungstechniken zu tun hat (ähnlich gibt es lange keinen Begriff von 'Weltmusik') dennoch: müßte nicht zumindest die Idee von so etwas wie einer Globalisierung des Visuellen präsent gewesen sein? müßte nicht sogar behauptet worden sein, daß sich nichts so leicht interkulturalisieren lasse wie Bilder – viel leichter zumindest als Sprache, als Bräuche oder Werte? und – so könnte man weiter fragen – gibt es nicht auch sogar schon viel länger Bilder, die mit globalem Anspruch entstanden sind? – lange vor den ersten Debatten über Globalisierung und Weltkultur? man denke nur an das Christentum mit seinem Missionsauftrag keine andere Religion – Weltreligion! – hat einen vergleichbaren universellen Anspruch schon in der Bibel findet sich bekanntlich die Aufforderung an die Christen, sich für eine weltweite Verbreitung ihres Glaubens einzusetzen, ja zum guten Christen gehört das Missionieren dazu vgl. Mk 16, 15.16: "Und er sprach zu ihnen: Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung! Wer gläubig geworden und getauft worden ist, wird errettet werden; wer aber ungläubig ist, wird verdammt werden." dieser Missionsanspruch unterscheidet das Christentum von anderen Religionen, gerade auch vom Islam der entscheidende Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß nach islamischer Vorstellung allen Menschen bereits bei der Schöpfung der Islam vorgelegt wurde, sie also Kenntnis davon haben, ja eine religiöse Universalität bereits gegeben ist – während die Christen davon ausgehen, daß die Menschen erst mit dem Wort Gottes bekannt gemacht werden müssen und auch nur eine Chance auf Erlösung haben, wenn sie sich dazu bekennen => im Christentum herrscht eine viel größere Missionsunrast, durchaus aus einem Motiv der Fürsorge für die Mitmenschen heraus – eine Universalität muß erst geschaffen werden im Islam gibt es dafür das Streben, das politische Umfeld zu schaffen, um es den Menschen überall zu ermöglichen, sich auch zum Islam zu bekennen und seine Werte durchzusetzen (eher politischer als religiöser Missionarismus) => es liegt nahe, im Christentum eigens Überlegungen oder gar Theorien zu der Frage zu suchen, ob und wie sich die erstrebte Universalität des Glaubens gerade auch mit Hilfe von Bildern erreichen lasse 1 doch besonders viel findet sich dazu gar nicht, ja die Missionspädagogik ist sogar erst in den letzten Jahrzehnten auf stabilere Grundlagen gestellt worden – bis dahin haben die einzelnen Missionstationen unabhängig und je nach Einsatzort anders operiert, wobei Bilder oft keine entscheidende Rolle spielten – und keinen einheitlichen Stilvorgaben folgten dafür nützten Missionare immer wieder gerne den technischen Fortschritt, um ihre Botschaften mit der Autorität des Geheimnisvollen zu versehen die Laterna Magica, mit der auf Glasplatten gemalte Bilder auf Wände projiziert werden konnten, wurde im 17. und 18. Jahrhundert von Menschen in Afrika oder Asien als Wunderwerk empfunden: was sich zeigte, war nicht materiell greifbar, sondern bloße Erscheinung später, ab dem 19. Jahrhundert, kamen zunehmend auch fotografische Lichtbilder (Lantern Slides) zum Einsatz, die die Predigten oder Vorträge unterstützten, indem sie die Aufmerksamkeit des Publikums fesselten hier zwei Beispiele für Lichtbilder aus dem späten 19. Jahrhundert, die vermutlich in Indien zum Einsatz kamen und sich noch im Archiv der Basler Mission befinden [Dia links: Jesus auf dem Ölberg] [Dia rechts: Witwe von Kailasch] doch das Christentum ist nicht der einzige Bereich, wo sich die Idee interkulturell gültiger Bilder bereits vor Globalisierungsdebatten vermuten läßt man denke an die Ideale des Klassizismus, die als allgemeingültig ausgegeben wurden und damit eigentlich auch keine territoriale Beschränkung kennen durften Schiller etwa formulierte in seinem "Brief eines reisenden Dänen" (1785), in dem von einem Besuch der Mannheimer Antikensammlung berichtet wird, folgendes: "Ich kann diesen Saal nicht verlassen, ohne mich noch einmal an dem Triumph zu ergötzen, den die schöne Kunst Griechenlands über das Schicksal einer ganzen Erdkugel feiert. (...) [Es] lebt jene goldene Zeit noch in diesem Apoll, dieser Niobe, diesem Antinous, (...) eine unwidersprechliche ewige Urkunde des göttlichen Griechenlands, eine Ausfoderung dieses Volks an alle Völker der Erde."1 es ist die Schönheit der Form und die darin ausgedrückte Humanität, die der Klassizismus für weltweit gültig, für allen Menschen vermittelbar, hält – und es ist der Opfertod Christi, den das Christentum als eine Tat ansieht, die Jesus für grundsätzlich alle Menschen vollbracht hat tatsächlich sind beide, Klassizismus und Christentum, wegen ihrer ähnlichen Ansprüche immer wieder aneinander geraten – noch öfter indirekt und implizit als ausdrücklich eine literarisch virtuos und besonders subtil abgefaßte Version dieses Konflikts findet sich übrigens in dem jüngsten Buch des letztjährigen Literaturnobelpreisträgers J.M. Coetzee in seinem im Mai 2004 erschienenen Buch "Elizabeth Costello", das in acht Lehrstücken eine fiktive ältere Autorin, eben Elizabeth Costello, vorstellt, die in jeweils intellektuell herausfordernde Situationen gerät, gibt es eine Erzählung, in der die Titelheldin nach langen Jahren ihre Schwester wieder trifft diese, ursprünglich Klassische Philologin, ist zur Missionsschwester geworden und nach Afrika gegangen, um dort an einem Hospital zu arbeiten und eine Missionsstation zu leiten Elizabeth Costello besucht ihrer Schwester in dieser Station – von vornherein voller Skepsis, da sie, als westliche Intellektuelle, Mißtrauen gegenüber dem Missionswesen hat – und sich der Tradition von Aufklärung und Humanismus verpflichtet fühlt besonders irritiert sie, als sie einen Mann in der Missionsstation trifft, der seit Jahrzehnten nichts anderes macht als Jesusfiguren zu schnitzen diese sind stereotyp, nur in der Größe unterschiedlich, synkretistisch aus verschiedenenen europäischen Vorbildern zusammengesetzt – und für den Verkauf bestimmt, um der Missionsstation zu Einnahmen zu verhelfen etwas anderes zu schnitzen, weigert sich der Mann, als ihn Elizabeth Costello danach frägt 1 Friedrich Schiller: "Brief eines reisenden Dänen" (1785), in: Ders.: Werke in drei Bänden, München 1966, Bd. 1, S. 738f. 2 sie stört nicht nur das Stereotype an den Schnitzereien, sondern vor allem auch, daß sie alle den leidenden Christus zeigen, der unter größten Schmerzen seinen Opfertod erleidet darüber kommt sie in eine Diskussion mit ihrer Schwester – sie findet, die Kunst müsse den Menschen das Schöne zeigen – das sei der Maßstab und Ausdruck von Menschlichkeit – die Betonung von Leiden und Verzerrung hingegen sei primitiv, mittelalterlich, führe nur zu einer Einschüchterung und weiteren Unterdrückung der Menschen => sie spricht sich für die Ideale des Klassizismus aus, findet die Sklupturen der Griechen als vorbildlich – als dasjenige, was aus Europa weltweit exportiert werden müßte ihre Schwester widerspricht natürlich heftig, weist darauf hin, daß die Kolonialherren ja durchaus auch die Griechen mitgebracht hätten – daß die Menschen sich damit aber nicht identifizieren konnten, anders als mit Christus und sie ermahnt ihre Schwester mit folgenden Worten: "Denke dran, es ist ihr Evangelium, ihr Christus. Das haben sie aus ihm gemacht, sie, die einfachen Menschen. Das haben sie aus ihm gemacht, und das hat er aus sich machen lassen. Aus Liebe. Und nicht nur in Afrika. Solche Szenen kannst du auch in Brasilien erleben, auf den Philippinen, sogar in Rußland. Die einfachen Menschen wollen die Griechen nicht. Sie wollen kein Reich der reinen Formen. Sie wollen keine Marmorstatuen. Sie wollen jemand, der leidet wie sie. Wie sie und für sie."2 => hier geht es genau um die Frage, womit sich besser um die Welt kommen läßt – mit Bildern der Schönheit oder mit Bildern von Leid und Schmerz – mit Bildern, die eine allgemeingültige und elementare Formsprache anstreben, oder mit Bildern, die auf eine Emotionalisierung setzen, ja die Szenen zeigen, in die sich möglichst viele Menschen unmittelbar hineinversetzen können => letztlich geht es auch um zwei Formen von Reduktionismus, worin die Grundlage für globale Bilder gesehen wird – jeweils findet die Beschränkung auf einen unterstellten Universalismus statt – einen Universalismus der Formen und einen Universalismus menschlicher Gefühlslagen doch, wie schon angedeutet, lange Zeit wurde darüber nicht eigens nachgedacht – die Idee einer Globalität oder Globalisierbarkeit führte nicht zu Diskussionen, wie idealerweise Bilder auszusehen haben, die diesem Anspruch genügen können erst im 20. Jahrhundert änderte sich das – und die 1920er und 30er Jahre sollten sich als Hochzeit solcher Diskussionen erweisen – sie stehen im folgenden auch im Mittelpunkt zuerst jedoch gab es nicht einmal Versuche, speziell Bilder zu entwickeln, die interkulturell Resonanz finden können – vielmehr tauchte die Überlegung auf, ob nicht bereits bestehende Bilder verschiedener Kulturen als Medium taugen könnten, um wechselseitiges Verstehen zu fördern und um damit eine friedliche Weltkultur vorzubreiten der amerikanische Philosph John Dewey entwickelte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Theorie, wonach jede Gestaltung allgemein nachvollziehbar etwas über menschliche Befindlichkeiten aussagt – und daher als interkulturell verständliche Sprache zu begreifen ist – alle Bildwerke sind 'globalisierbar', weil sie etwas Allgemeinverständliches besitzen, was aber erst durch eine Schulung formalen Sehens erfahrbar wird so sei es einem Betrachter bei jedem Werk möglich, Einblick in eine besondere, ihm selbst zunächst fremde, dann aber allgemein verständliche Welthaltung zu nehmen dadurch könne er seine eigene Perspektive transzendieren, erweitern oder relativieren – und so seine Beschränktheit zugunsten einer kosmopolitischeren Perspektive überwinden: "Gerade weil die Kunst (...) eine unter der Oberfläche liegende Idee und ein Ideal allgemeinen menschlichen Verhaltens ausdrückt, ist die für eine Zivilisation charakteristische Kunst das Mittel, mitfühlend in die elementarsten Bereiche der Erfahrung ferner und fremder Zivilisationen einzudringen. Durch diesen Umstand wird auch die menschliche Bedeutung 2 J.M. Coetzee: Elizabeth Costello, Frankfurt/Main 2004, S. 183. 3 ihrer Künste für uns selbst erklärt. Sie bewirken eine Verbreiterung und Vertiefung unserer eigenen Erfahrung, indem sie diese weniger lokal und provinziell sein läßt, insofern als wir mit ihrer Hilfe die fundamentalen Haltungen in anderen Formen der Erfahrung ergreifen."3 sein idealistisch-humanistisches Konzept einer kunst- und bildbasierten Völkerverständigung vermochte Dewey auch praktisch umzusetzen so inspirierte und beriet er den Chemiker und Unternehmer Albert Barnes, der in seiner Fabrik in Pennsylvania seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine große, interkulturell ausgerichtete Sammlung anlegte und damit das Ziel einer (moralischen) Erziehung der Arbeiter und Angestellten verfolgte insbesondere wollte Barnes verhindern, daß die Rassenkonflikte, die die aus verschiedenen Ethnien stammenden Arbeiter seiner Firma austrugen, die Arbeitsprozesse stören und die Effizienz des Betriebs mindern => er ließ Pflicht-Kurse für die Mitarbeiter abhalten, um im Sinne Deweys deren Differenzierungsfähigkeit zu schulen und Mitgefühl sowie Toleranz zu erhöhen innerhalb der Sammlung finden sich Bilder von Renoir, Cézanne oder Matisse genauso wie gotische Schnitzaltäre, afrikanische Masken, persische Vasen oder Chippendale-Kommoden daß zwischen freier und angewandter Kunst nicht unterschieden wurde, ergab sich aus der von Dewey und Barnes gemeinsam vertretenen Überzeugung, in jede Gestaltung seien gleichermaßen menschliche Grunderfahrungen in jeweils spezifischer Manier eingegangen die Anordnung der Exponate nahm sich dabei wie eine einzige Gesamtinstallation aus, bei der Werke möglichst unterschiedlicher Herkunft in direkte Nachbarschaft zueinander gebracht wurden [Dia links] [Dia rechts] da Barnes die einzelnen Wände zudem ziemlich symmetrisch anlegen ließ, erschienen die Exponate als Einheit, ja wurden zu Teilen eines Großen und Ganzen => jede Wand bot sich als eigener Kosmos dar Violette de Mazia, eine der engsten Mitarbeiterinnen von Barnes schrieb dazu 1942: "Wie vorhergesehen, wird die Neugier des Kursteilnehmers üblicherweise durch die unorthodoxe Gruppierung von offensichtlich sehr unterschiedlichen Gemälden sowie anderen Kunstwerken geweckt. Er will unsere Gründe dafür verstehen, daß wir alte und neue Meister im selben Raum oder auf derselben Wand in unmittelbare Nähe zueinander gebracht haben oder daß wir eine persische Vase auf eine Mitgiftkommode aus Pennsylvania gestellt haben, flankiert von einem Paar früher amerikanischer Feuerböcke und direkt plaziert unter einem großen Triptychon von Matisse. Irritiert von diesem Bruch gegenüber üblichen Weisen der Präsentation von Kunstwerken und auf der Suche nach neuer Orientierung fängt der Kursteilnehmer bald damit an, bei den verschiedenen Exponaten Ähnlichkeiten in der Linienführung, Farbwahl oder im Rhythmus zu bemerken. Er entdeckt ihren gemeinsamen Nenner an menschlichen Werten sowie ihren gemeinsamen Ursprung in der menschlichen Natur. Auf diese Weise findet er den Schlüssel zur besonderen Harmonie dieser ungewöhnlichen, aber absichtsvollen Arrangements, und erhält vermutlich einen Anreiz zu eigener kreativer Tätigkeit. (...) Um den Effekt von Monotonie zu vermeiden, bedarf es genügend vielfältiger Einzelstücke, wobei das angemessene Gleichgewicht gewahrt werden muß, damit eine befriedigend einheitliche Wirkung in der Gesamtanordnung gelingt."4 wegen der Einbindung jedes Sammlungsstücks in eine Gesamtchoreographie durften einzelne Werke der Barnes Collection übrigens auch nicht verliehen oder in Büchern reproduziert werden, wären sie dann doch nicht mehr in der gewollten Anordnung rezipiert worden, womit sie ihre Funktion als 'tools' innerhalb eines Erziehungsprogramms eingebüßt hätten (erst in den 1990er Jahren entschloß sich die Barnes Foundation nach heftigen Diskussionen, einige 3 John Dewey: Kunst als Erfahrung (1934), Frankfurt/Main 1988, S. 384. Violette de Mazia: "An Experiment in Educational Method at the Barnes Foundation" (1942), in: John Dewey et al. (Hgg.): Art and Education. A Collection of Essays (1954), Collingdale 1978, S. 140f. 4 4 der Werke auf Tour zu schicken, um mit den Einnahmen eine Renovierung des Sammlungsgebäudes finanzieren zu können) vor allem bemühte Barnes sich um eine Förderung der Schwarzen, damit diese nicht länger als Nachkommen von Sklaven wahrgenommen würden die weißen Mitarbeiter sollten begreifen, daß die Sammlungsstücke, die etwa aus Afrika kamen, ebenbürtig den Gemälden oder dem Kunstgewerbe des Abendlands sind, um daraufhin ihre Vorurteile abzubauen; zugleich konnte die Anordnung der Exponate dazu beitragen, das Selbstbewußtsein der Schwarzen zu heben => es handelt sich um einen humanistischen Ansatz, der von der Gleichheit aller Menschen ausgeht – und Bildwerke dazu nutzt, diese Gleichheit bewußt zu machen ungefähr zur selben Zeit entwarf ein anderer Philosoph in Europa einen ersten Ansatz für Bilder, die deshalb interkulturell verständlich sein sollten, weil sie auf elementare Formen reduziert sind das Ziel bestand dabei sogar darin, eine präzise funktionierende internationale Bildsprache zu entwickeln (ohe Kurse und eigenes Sehen!) – so wie es zur selben Zeit ja intensive und höchst engagierteExperimente mit künstlichen Sprachen gab (Esperanto, Volapük) bei diesem Philosophen handelt es sich um Otto Neurath, der dem Wiener Kreis angehörte dieser verfolgte insgesamt das Projekt, die Sprache von allen Irrationalismen, ja von allen Elementen zu befreien, die nicht intersubjektiv überprüfbar sind die Sehnsucht nach einer eindeutigen Sprache übertrug Neurath auf sein Konzept einer internationalen Bildsprache, die sich insbesondere dazu eignen sollte, komplexe empirische Tatsachen und Verhältnisse einfach – in Form von Piktogrammen – auszudrücken [Dia links] [Dia rechts] Neuraths Ausgangspunkt war der Plan für ein Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien, das ökonomisch-gesellschaftliche Themen so verhandeln sollte, daß auch einfache Bürger oder Kinder etwas davon verstehen können – damit stellte sich dieses Projekt in eine aufklärerische Tradition – einige der Piktogrammtafeln sollten auch handlungsanweisend wirken interessant: immer wieder in der Geschichte der Idee globalisierbarer Bilder spielt es eine wichtige Rolle bzw. wird es zum Kriterium, daß einfache, ungebildete Menschen oder Kinder als Maßstab für Verständlichkeit fungieren (vgl. die Missionsschwester bei Coetzee, die das Urteil der "einfachen Menschen" für relevant erklärt) => was in einer Kultur alle verstehen, gilt als prädisponiert dafür, auch in anderen Kulturen verstanden zu werden => der Reduktionismus globalisierbarer Bildformen ist ein Versuch, so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden – nur daß dieser ziemlich unterschiedlich aussehen kann, je nach dem, ob eben z. B. abstrakte Grundformen oder existenzielle menschliche Grunderfahrungen als das einzig Verbindende zwischen Menschen angesehen werden in rund fünfzig Texten, die Neurath über sein Konzept einer internationalen Bildsprache zwischen den 1920er und 1940er Jahren verfaßte, taucht immer wieder, gebetsmühlenartig bzw. wie ein Claim, der Satz auf: "Worte trennen, Bilder verbinden" und es zeigt sich immer wieder der enorm anspruchsvolle, oft auch utopistische Ansatz Neuraths – ein Beispiel aus dem Jahr 1937: "Wann wird das Mittelalter zu Ende sein? Sobald alle Menschen an einer gemeinsamen Zivilisation teilhaben können und die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten verschwunden ist. Das Leben in jener Zukunft wird voller gelebt und verstanden werden. (...) Unsere Generation erschließt für dieses neue Leben von morgen durch viele Tätigkeiten in viele Richtungen den Weg. Teil dieser Vorbereitung ist die Verbesserung unserer kulturellen Verständigung, die mit der Umformung unseres ganzen Erziehungsplans beginnt. (...) Ohne viele neue Wege der Verständigung und Erziehung können wir nicht erhoffen, unser Kulturleben zu demokratisieren. (...) Wir brauchen eine neue Art der Informationsvermittlung, 5 eine Methode, die einfach zu lehren und zu lernen und gleichzeitig umfassend und exakt ist. Was ich 'konsequente Visualisierung' nennen möchte, ist solch ein Weg. Visuelle Eindrücke sind in unserem 'visuellen' Zeitalter immer wichtiger geworden, besonders für ungeschulte Erwachsene und Kinder. Die üblichen visuellen Methoden – selbst die sorgfältigsten Tafeln und ausgearbeitetsten Ausstellungsobjekte – sind oft eher verwirrend als aufklärend, weil ihre Elemente nicht vertraut sind. Es ist fast so, als ob die Menschen für jede neue Mitteilung eine neue Sprache zu lernen hätten. Eine Lösung ist Isotype [=International System of Typographic Picture Education], eine Methode mit einem besonderen visuellen Lexikon und einer besonderen visuellen Grammatik, d. h. eine neue visuelle Welt, die unserer Buch- und Wortwelt vergleichbar ist."5 => Demokratisierung und Internationalisierung als zwei Ziele, die mit ein und demselben Mittel, nämlich jener Bildsprache verwirklicht werden sollen ferner die Vorstellung, etwas zu haben, was ganz einfach, direkt und ohne großes Vorwissen selbst komplexe Zusammenhänge zu klären erlaubt – und was damit auch enorm zeitsparend ist – im Idealfall hätten sich auch längere Handlungsfolgen, komplexere Begriffe oder gar Argumentationen visualisieren lassen [Dia links] [Dia rechts] => das Konzept von so etwas wie den Bildgraphiken im 'FOCUS' ist hier bereits vorgedacht aber ebenso liegt das Konzept von etwas wie dem dtv-Bildatlas der Philosophie in Neuraths Überlegungen begründet (übrigens: Neurath entwickelte seine Bildsprache nicht zuletzt als Wahrheitskriterium für philosophische Werke – Philosophen, deren Gedanken sich nicht visualisieren lassen, sind für ihn als unseriös – als haltlos, bloß spekulativ, geoutet – z. B. die Philosophie Heideggers mit Sätzen wie "Das Nichts nichtet") doch so utopisch-idealistisch das Konzept Neuraths war, so wirkungsvoll war es dennoch: wenn heute an Flughäfen, Bahnhöfen und öffentlichen Orten weltweit dieselben Piktogramme den Weg zu Gepäckausgabe, Busstationen oder Toiletten weisen, dann wäre das ohne die Vorarbeiten und den Grundimupls Neuraths nicht denkbar – vor allem die Ulmer Hochschule für Gestaltung und Otl Aicher setzten die Bemühungen Neuraths fort (vgl. Aichers Corporate Design für die Olympiade 1972 – erstmals Piktogramme für Sportarten etc.) [Dia links] Neurath selbst schrieb bereits: "Ein Mensch, der in ein fremdes Land kommt, ohne die Sprache zu kennen, ist unsicher, wo er sein Schiff findet oder seine Bahnkarte bekommt, wo er sein Gepäck aufgeben kann, wie er ein Telephon benutzen oder ein Telegraphenamt, eine Post, eine Toilette, ein Taxi, ein Hotel finden kann. Eine internationale Symbolsprache würde für den Reisenden im Ausland ein Segen sein. Selbst im eigenen Land sind Symbole bei Verkehrsvorschriften und als Zeichen in öffentlichen Ämtern, Museen und Parks bessere Wegweiser als Worte allein."6 Neurath selbst entwarf zusammen mit Mitarbeitern ein Grundrepertoire an Piktogrammen, die auf den ersten Blick bereits verständlich sein sollten (ein Bild, das noch nach mehrmaligem Hinschauen neue Information gibt, galt als ungeeignet) auch ließ er ein Archiv (Mundaneum) anlegen, in dem bereits existierende Piktogramme verschiedener Kulturen und Epochen gesammelt wurden – von den Hieroglyphen der Ägypter über mittelalterliche Militärgraphiken bis hin zu Kinderzeichnungen [Dia links] [Dia rechts] dieses Archiv sollte dabei helfen, Piktogramme zu finden, die tatsächlich bereits interkulturelle Tradition besitzen Neuraths Experimente fanden Anfang der 1930er Jahre auch internationale Aufmerksamkeit – vor allem interessierte sich die Sowjetunion dafür dabei spielten auch innerhalb des Kommunismus beide Formen von Grenzüberschreitung eine Rolle 5 Otto Neurath: "Bildpädagogik – eine neue Sprache" (1937), in: Ders.: Gesammelte bildpädagogische Schriften (hg. v. R. Haller und R. Kinross), Wien 1991, S. 403f. 6 Ebd., S. 405. 6 1. wollte man die Analphabeten und Ungebildeten im eigenen Land erreichen, um sie über die Fortschritte des Kommunismus zu informieren 2. wollte man internationale Propaganda machen – immerhin war das Ziel einer kommunistischen Weltrevolution gerade in der Zeit Stalins noch unbestritten Zeitungen etc. sollten idealerweise in einer internationalen Bildsprache abgefaßt sein allerdings stockten die Versuche schon bald, vermutlich weil sich zeigte, daß es doch nicht so einfach ist, etwas komplexere Zusammenhänge allein in Form von Bildzeichen darzustellen vor allem jedoch: die Piktogramme wirkten nicht emotionalisierend, ja waren ausdrücklich nüchtern, reduziert auf objektive Sachverhalte – und damit für Propaganda ungeeignet => der sowjetische Kommunismus entwickelte eine eigene Bildsprache, die auf internationale, interkulturelle Verbreitung hin angelegt war und zugleich als Propaganda fungieren konnte – den Sozialistischen Realismus zur selben Zeit, als Barnes in den USA seine Sammlung weiter ausbaute und Neurath in Wien seine Piktogramme entwarf, diskutierte man in Moskau darüber, mit was für einer Bildsprache sich die Ideale des Kommunismus am besten, nämlich ebenfalls besonders eindeutig und allgemeinverständlich, bildhaft umsetzen ließen es hätte vielleicht nahe gelegen, so etwas wie einen Fotorealismus oder zumindest eine fotografische Ästhetik anzustreben, da nach der Ansicht vieler Fotos von allen Bildern am voraussetzungslosesten zu betrachten sind doch gerade das wurde von sowjetischen Theoretikern bezweifelt: "Übrigens sind einige Genossen der Meinung, daß, wenn von den Plakaten höchste Genauigkeit, Verständlichkeit und Eindeutigkeit gefordert werden, man die Fotomontage verwenden müsse. Bei allen Verdiensten der Fotomontage ist diese Lösung des Problems falsch. Für viele unserer nationalen Republiken kann die Fotografie völlig unverständlich sein, weil die Traditionen dieser Republiken auf dem Gebiet der Bildenden Künste mit einem gewissen Schematismus und einer flächenhaft, ornamentalen Behandlung des Sujets verbunden sind. Hier sollte man nicht allein die Fotografie aufzwingen."7 man sieht: hier sind die Neurathschen Piktogramme noch nicht weit entfernt... => die Vielfalt der Sowjetrepubliken bot einen Testfall für eine globalisierbare Bildkultur, und tatsächlich ist unschwer zu erkennen, daß die Bilder des Sozialistischen Realismus oft ihrerseits "mit einem gewissen Schematismus" operieren, der dazu dient, die jeweilige Bildaussage plakativ und direkt in Szene zu setzen [Dia links] [Dia rechts] so ist z. B. die Landschaft im Mittelgrund des Gemäldes "Höher und höher" (1934) von Serafima Rjangina auf einige Elemente verkürzt, deren Symbolcharakter kaum mißverständlich sein dürfte: > Hochspannungsmasten auf einem karstigen Gebirgszug > eine elektrische Eisenbahn, die gerade die Höhen emporfährt > ein paar vereinzelte Häuser, frisch weiß verputzt => Thema ist die entschlossene Fortschrittsleistung des sowjetischen Kommunismus, der selbst die abgelegensten Winkel des Landes erreicht und mit moderner Technik – mit Strom – versorgt (Lenins berühmtes Diktum, wonach der Kommunismus "Sowjetmacht plus Elektrifizierung" sei, ist hier direkt ins Bild umgesetzt!) kein Berg ist zu steil, um den Aufstieg zu neuen Zielen hemmen zu können, und eine Ende des Fortschritts ist, wie der Bildtitel bereits andeutet, nicht in Sicht im Vordergrund wird das Aufsteigen noch anschaulicher, nämlich in einem Arbeiter und einer Arbeiterin, die einen Hochspannungsmasten erklimmen, um die Stromleitung zu verlegen 7 Janos Maca in: Diskussion über die Plakatproduktion des IZOGIZ, 13. April/4. Mai 1931, in: Hubertus Gaßner/Eckhart Gillen (Hgg.): Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 436. 7 offenbar völlig schwindelfrei gehen sie ihrer Aufgabe an exponiertem Ort nach, wirken fröhlich und sind sogar so ohne Angst, daß sie sich gegenseitig anschauen und zulächeln können die gemeinsame Arbeit gerät dadurch zum Flirt, womit ein Thema anklingt, das interkulturell verständlich sein dürfte dabei wird die Frau jedoch nicht auf Laszivität festgelegt; vielmehr ist sie genauso gekleidet wie der Mann, hat auch nicht weniger Muskeln als er, und wenn sie zu ihm aufschaut, weil sie eine Sprosse unter ihm steht, ist das kein Zeichen von Unterordnung, sondern soll zeigen, daß ihr der Aufstieg zur Gleichberechtigung nun nicht länger verwehrt ist immerhin ist die Frau auch in der Mitte des Gemäldes und vermittelt zudem zwischen der Welt der Technik und der Natur, da ihre Kleidung in denselben Farben gehalten ist wie der Bergrücken im Hintergrund (auch das ein gewisser Schematismus!) => alles ist in bester Harmonie, ja klassische Gegensätze – und damit das Zeitalter der Entfremdung – scheinen geradezu paradiesisch aufgehoben generell ist zu beobachten: alles Böse und Widrige ist aus dem Sozialistischen Realismus spurlos verschwunden, dessen Welt aus purer Lebens- und Zukunftsfreude besteht => auch hier ein reduktionistischer Ansatz – der kleinste gemeinsame Nenner sind hier Wunschphantasien der Menschen, die als anthropologische Konstanten behandelt werden (Friede, Harmonie, eine Welt voller Lächeln und sanfter Erotik) selbst wenn ein Bildtitel andeutet, daß es nach wie vor Krieg und Leid gibt, ist deren Darstellung selbst kein Thema; im Gegenteil wird der Schein der Idylle dann nur um so mehr gewahrt kommt der "Brief von der Front" (1947/62) in der Heimat, einem Dorf an, wie auf einem Gemälde von Alexandr Laktionow, dann freuen sich die Anwesenden, als hätten sie gerade die Nachricht erhalten, in einem Preisausschreiben gewonnen zu haben keine Sorge liegt auf den Gesichtern, und der Brief selbst, den ein Knabe mit der Unschuld seiner Jugend vorliest, leuchtet geradezu – er erheitert im wörtlichsten Sinn die fröhliche Stimmung setzt sich sogar bis in den Himmel fort, wo der Kondensstreifen eines Flugzeugs nicht zum Zeichen des Kriegs an der fernen Front wird, sondern die Form einer ausgelassenen Pirouette besitzt => das Gute und Schöne ist letztlich stärker als alle eventuellen Krisen und Probleme, ein Happy End vorprogrammiert – und jede Lichtkante wird zum Beweis kommunistischen Glücks es liegt nahe, solche Bilder mit dem Attribut des Kitschs zu versehen – und dies geschah sogar schon von Zeitgenossen dabei wurde gerade im Westen geargwöhnt, der Kitsch werde bewußt forciert, um den Kommunismus besonders attraktiv erscheinen zu lassen, ja um gerade die einfacheren Menschen zu verführen (sie einmal mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit!) der wohl erste, der den Kitsch-Vorwurf erhob, war der später berühmt gewordene amerikanische Kunsttheoretiker Clement Greenberg – in seinem ersten größeren Aufsatz, der 1939 unter dem Titel "Avantgarde und Kitsch" erschien anstatt neue Ikonographien oder Bildsprachen auszubilden, wiederholt der Kitsch gemäß Greenberg jeweils nur gängige und deshalb jedermann mühelos verständliche Muster – gerade das Schematische gerät unter Kitschverdacht! orientiert an der Wirkung, eliminiert ein kitschiges Werk Zwischentöne oder Mehrschichtigkeit; dafür findet eine Verdichtung eindeutiger Codes, ja eine Reduktion auf Schlüsselreize statt, was maximale Empfänglichkeit auf seiten der Rezipienten garantiert die Idyllen des Sozialistischen Realismus sind Greenberg exemplarisch für eine effektsichere Inszenierung, aus der alles Ambivalente herausgehalten wird 8 die Verkürzung der Welt auf Harmonie, Lächeln und Zukunftsoptimismus bringt mögliche Rezeptionshürden zum Verschwinden: was zu sehen ist, strengt nicht an und liefert zudem ein begehrtes Erlebnis; das wiederum vermag zu motivieren indem Kitsch so gut wie keine Voraussetzungen von seinem Publikum verlangt, kann er Grenzen – selbst Kulturgrenzen – überschreiten, ja ist seinem Wesen nach expansiv nicht ihn zu konsumieren, sondern ihm zu widerstehen, kostet Kraft und verlangt, wie Greenberg betont, wirkliche Leidenschaft. Greenberg verwendet starke Vokabeln, um die Macht, ja die Aggressivität des Kitschs zu beschreiben: "Kitsch ist nicht auf die Städte beschränkt, wo er entstanden ist, sondern hat auch die ländlichen Gebiete überflutet und die volkstümliche Kultur vernichtet. Auch von geographischen und national-kulturellen Grenzen hat er sich nicht aufhalten lassen. Wie andere Massenprodukte (...) ist auch der Kitsch zu einer triumphalen Reise um die Welt aufgebrochen; er verdrängt und verunstaltet die einheimischen Kulturen in einer Kolonie nach der anderen, so daß er inzwischen im Begriff ist, zu einer universalen Kultur zu werden, zur ersten universalen Kultur überhaupt."8 dabei hatte Greenberg aber nicht nur den Kitsch des Sozialistischen Realismus im Sinn, sondern natürlich dachte er dabei ebenso – und mit noch mehr kritischer Energie – an den Kitsch à la Hollywood den Kampf der Blöcke beschrieb er sogar als Kampf von zwei Formen von Kitsch, wobei er den Kitsch des Westens als noch aggressiver empfand – und damit als noch expansiver und damit letztlich als siegreich [Europa in der Kitsch-'Zange' zwischen USA und UdSSR, wie es 1935 bereits Heidegger beschrieb] nach Greenberg haben noch viele weitere Theoretiker und Schriftsteller, von Theodor W. Adorno bis hin zu Milan Kundera, den Kitsch in ganz ähnlichen Kategorien beschrieben – und als Inbegriff grenzüberschreitend-expansiver Ästhetik definiert wohlgemerkt: grenzüberschreitend wieder sowohl, was Milieus innerhalb einer Gesellschaft anbelangt, als auch was verschiedene Nationen und Kulturen betrifft neben dem Hollywood-Kitsch war es im Westen vor allem die Figurenwelt von Walt Disney, die als besonders grenzüberschreitend-kitschig angesehen wurde [Dia links] [Dia rechts] als 1928 (also einmal mehr in den späten 1920er Jahren!) die ersten Mickey-MouseZeichentrickfilme in die Kinos kamen, zeichnete sich schon bald ihr enormer Erfolg ab Elemente, die das Kindchenschema bedienen (großer Kopf, große Augen), wirken kulturübergreifend als niedlich – erst recht ist das Lächeln interkulturell verständlich (das Mickey Mouse zuerst abging – und das Disney erst auf Druck der Vertreiber 'einbaute') daß Mickey Mouse keiner bestimmten Ethnie angehört und sogar geschlechtsneutral auftritt, begünstigt die Verbreitung – Geschmacks- und Moralgrenzen werden dadurch nicht tangiert bis hin zu Teletubbies und Pokemons, ebenso bei Maskottchen und zahlreichen Werbefiguren wurden solche ästhetischen Prinzipien nicht mehr groß verändert einer der ersten, der die Eignung von Mickey Mouse als globaler Ikone, ja als Piktogramm einer internationalen Bildsprache erkannte, war übrigens Otto Neurath, der 1933 schrieb: "Mickymaus hilft bei der Aufgabe der sozialen Aufklärung."9 und Walt Disney selbst phantasierte noch früher, nämlich schon am Ende der 1920er Jahre, über die globale Präsenz seiner Mäuse [Dia links] wer dieses Foto mit Disneys Traum von der Weltkugel gesehen hat, überlegt, ob Chaplins Film "Der große Diktator" sich nicht ebenso gegen Disney wie gegen Hitler richtet – ja ob nicht zwei Formen von Diktatur, die der Gewalt und die des Kitschs gleichermaßen zum Thema gemacht werden 8 Clement Greenberg: "Avantgarde und Kitsch" (1939), in: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken (hg. v. K. Lüdeking), Dresden 1997, S. 41f. 9 Neurath: "Bildstatistik – ein internationales Problem" (1933), in: a. a. O., S. 263. 9 dazu paßt der Satz eines weiteren Kitsch-Theoretikers, nämlich Abraham Moles, der bemerkte: "Kitsch ist (...) Totalitarismus ohne Gewalt."10 später wurde ein ganz ähnliches Motiv wie das auf dem frühen Foto zum Wahrzeichen der Disney-Studios [Dia rechts] die Macht des Kitschs wurde auch sonst gerne genutzt – nicht zuletzt in der Kunst, wo einige Vertreter der Kitsch-Art, wie sie um 1980 entstand, ausdrücklich proklamierten, sie wollten die Kunst damit aus ihrem Ghetto holen und eine 'internationale Folklore' schaffen (als Reflex auf Victor Vasarély und dessen Konzept einer 'planetarischen Folklore' in den 1960er Jahren) [Dia links] so Milan Kunc, der (1978) in einigen seiner Bilder den kommunistischen und den kapitalistischen Kitsch – die Ikonen beider Systeme – miteinander verband – als Basis und Versuchslabor für eine solche 'internationale Folklore' man sieht: nicht die Griechen und die Ideale des Klassizismus, ja die Formen von Reduktionismus, die alles auf elementare Grundformen rückführen wollen, haben sich im Verlauf des 20. Jahrunderts als stärkste Variante globalisierbarer Bildwelten erwiesen [Dia rechts: John Haggerty, Mickey Mondrian (1978)] aber auch die Missionsschwester aus der Erzählung von Coetzee hat nur bedingt recht, wenn sie meinte, die Menschen gerade der Dritten Welt würden sich für Darstellungen des Leidens entscheiden – und länderübergreifend darin wiederfinden können Bilder von Schmerz, Leid und Gewalt gehören zwar zu denjenigen, die ebenfalls oft um die Welt gehen, doch sind die Bilder des Kitschs mindestens so einflußreich – und konstituieren letztlich wohl noch viel gewaltigere Märkte [Dia links] [Dia rechts] die Auswirkungen eines Totalitarismus mit Gewalt (kann hier nur angedeutet werden...) – und Totalitarismus ohne Gewalt sind die beiden wichtigsten Grundlagen für Bilder, die alle Grenzen zu überschreiten vermögen die Religion selbst setzt im übrigen schon lange eher auf ein Repertoire des Kitschs als auf eine Zelebrierung von Schmerz und Leid – man denke nur an den längst sprichwörtlichen Herz-Jesu-Kitsch, aber auch an die beiden Dias, die zu Beginn des Vortrags zu sehen waren umgekehrt operiert die Filmindustrie, die auf internationale Erfolge spekuliert, gerne auf Darstellungen von Leid und Schmerz, hofft auf Schaulust und Mitleid – vgl. jüngst Mel Gibsons Jesus-Film zum Abschluß ein paar Bilder der Institution, die weltweit am meisten Informationen darüber gesammelt haben dürfte, welche Bildsprachen am ehesten interkulturell auf Zustimmung stoßen auch hier handelt es sich um einen religiösen Kontext, nämlich um die Zeugen Jehovas deren Zeitschrift "Wachtturm", gegründet 1881, erscheint immerhin in 148 Sprachen; andere Hefte und Bücher sind ähnlich weit verbreitet, was zeigt, wie ernst das christliche Missionsgebot hier nach wie vor genommen wird – auch hier geht es sowohl darum, Menschen möglichst vieler verschiedener Ehtnien zu erreichen als auch Menschen aller Bildungsstufen – und gerade "einfache Menschen" sowie Kinder [Dia links] [Dia rechts] aufwendiger illustriert (mit Fotos wie gemalten Bildern) ist diese Missionsliteratur erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts, und nachdem man zuerst in allen Ländern genau dieselben, von westlichem Lebensstil geprägten Bilder verwendete, gab es in den 1970er Jahren Versuche einer Dezentralisierung: zwar blieb die Ikonographie überall dieselbe, doch stellte man die einzelnen Szenen mit Statisten der jeweiligen Ethnie und in Umgebungen nach, die zur Topographie der verschiedenen Länder paßten mittlerweile ist man jedoch wieder zu einer einheitlicheren Linie zurückgekehrt, benutzt also nach Möglichkeit überall genau dieselben Abbildungen, achtet aber darauf, daß in einer Publikation – und bestenfalls sogar auf einzelnen Bildern – alle Ethnien ungefähr gleichmäßig 10 Abraham Moles: "Kitsch als ästhetisches Schicksal der Konsumgesellschaft", in: Harry Pross (Hg.): Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage, München 1985, S. 36. 10 vertreten sind und vor allem keine Ikonographien auftauchen, die in auch nur einem Land als mißverständlich oder gar anstößig empfunden werden könnten in Brooklyn/New York, der Weltzentrale der Zeugen Jehovas, werden alle Einwände der regionalen Zweige gesammelt und bei der Produktion der nächsten Illustrationen – Fotografien, gemalten Bildern oder Graphiken – berücksichtigt => die Bildästhetik der Zeugen Jehovas unterliegt einer stetigen Anpassung an die Bedürfnisse einer globalen Öffentlichkeit und ist damit klar 'nachfrageorientiert' viele Bilder der Zeugen Jehovas erscheinen collagenhaft, die verschiedenen Köpfe oder auch andere Sujets also wie ausgeschnitten und neu kombiniert [Dia links] [Dia rechts] so lächeln die Vertreter der Völkerschaften – ein Mexikaner mit landestypischem Hut, eine Japanerin im Kimono oder eine Weiße mit blonder Dauerwelle – angesichts des gekreuzigten Christus, als hätte gerade jemand einen Witz gemacht hier scheint man sich um eine Synthese von Kitsch und Leidens-Darstellung bemüht zu haben – so als ließen sich globale Dispositionen kumulieren die kräftigen Farben, die typisch für die Zeugen-Jehovas-Ästhetik sind und europäischen Augen oft etwas zu grell, übertrieben kitschig oder gar psychedelisch vorkommen mögen, sind ein Zugeständnis an die Farbvorstellungen anderer Kulturen: man kennt ein ähnliches Farbklima sonst etwa aus Bollywood bei vielen Bildern besonders auffällig: das intensive Blau man mag sich hier erinnert fühlen an ein Projekt der russischen Konzeptkünstler Vitaly Komar und Alexander Melamid als sie am Ende der 1990er Jahre zusammen mit professionellen Instituten repräsentative Meinungsumfragen durchführtrn und für vierzehn Länder das jeweilige Lieblingsbild der Menschen (sowie das unbeliebteste Bild) konstruierten, stellte sich heraus, daß weltweit ein tiefes Blau am besten ankommt und zudem besonders gerne als Himmel und Wasser auf einem Landschaftsgemälde gesehen wird – manchmal soll nach den Wünschen der Befragten sogar der Rahmen noch blau sein [Dias links: Österreich, USA, Dänemark, Kenia, Island, China, Deutschland] keine andere Farbe wirkt offenbar interkulturell ähnlich seriös und auratisierend auch wenn die Aktion von Komar & Melamid nicht zuletzt die vielen Konsumentenumfragen persiflierte, die in einer entwickelten Marktwirtschaft stattfinden, sind die Ergebnisse doch verblüffend, weil sie belegen, daß es tatsächlich so etwas wie einen interkulturellen Geschmack zu geben scheint! und man sieht: die beliebtesten Bilder fast aller an der Umfrage beteiligten Länder sind erstaunlich nah denen, die die Zeugen Jehovas Monat für Monat in die ganze Welt schicken die Vorliebe für ein intensives dunkleres Blau zeigt im übrigen auch, daß Yves Klein vielleicht ganz recht hatte, als er einen sehr ähnlichen Blauton 1960 mit dem Namen "International Klein Blue" versah und auch patentieren ließ [Dia rechts] es war das erste Mal, daß ein Künstler eine Farbe zu seinem Markenzeichen erklärte und durch die Namensgebung auch für sich allein reservieren wollte im Kontrast zu dieser Exklusivität steht das Attribut des Internationalen, mit dem Klein den Anspruch erhob, eine Farbe gefunden zu haben, deren Beliebtheit an keine Grenzen gebunden ist Kleins blau gefärbte Globus ist ein Bild des blauen Planeten – dieser aber nicht aus der Warte eines Kosmonauten gesehen, sondern aus der einen Anthropologen, der festgestellt hat, daß keine andere Farbe kulturübergreifend so viele Sympathien findet 11