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LIMES – Literatur- und Medienwissenschaftliche Studien – Kiel 
Jan-Oliver Decker
MADONNA: WHERE’S THAT GIRL?
Starimage und Erotik im medialen Raum
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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Gestaltung: Daniela Zietemann
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany
ISBN 3-933598-90-7
Inhalt
Vorwort ..............................................................................................
. Einleitung ...................................................................................... 
.
Das Beispiel BEAUTIFUL STRANGER:
Wo kann Madonna was bedeuten? ................................................ 
.
Analyseebenen ............................................................................... 
. Zur Rolle der Kotexte in Musikvideos mit Madonna ............... 
.
Zur Hierarchie von Musik, Sprache und Filmbildern
in Musikvideos mit Madonna........................................................
.
Illustrative, strukturelle, explikative und konnotative
Kohärenzbildung und die Bedeutung des medialen Raums:
das Beispiel LUCKY STAR ........................................................... 
.
Dominanz des auditiven Kanals über die Filmbilder
und die Bedeutung des visuell vorgeführten Raumes:
das Beispiel LOVE DON’T LIVE HERE ANYMORE ................. 
.. Zum Begriff des semantischen Raums ........................................... 
.. Der semantische Raum und die Grenzüberschreitung in
LOVE DON’T LIVE HERE ANYMORE .................................
.
Dominanz der Filmbilder über den auditiven Kanal: das Beispiel
AMERICAN PIE und das Phänomen der Überdeterminierung ......
. Zur Rolle der Kontexte in Musikvideos mit Madonna ............ 
.
Mediale Referenzen als Phänomene der Intertextualität:
das Beispiel MATERIAL GIRL ..................................................... 
.
Starimage als relevantes Phänomen eines textgebundenen
kulturellen Wissens in Madonnavideos........................................... 
.
Zur Verarbeitung von Madonnas faktualem Image:
Das Beispiel HUMAN NATURE ............................................... 
.
Die Verarbeitung von Madonnas innerfiktionalem Image:
Das Beispiel LIKE A VIRGIN aus THE GIRLIE SHOW 
LIVE DOWN UNDER .............................................................. 
.
Die Verarbeitung von Madonnas innerfiktionalem Image
im Spielfilm: Das Beispiel Bloodhounds of Broadway .............. 
.
Musikvideos als Verarbeitung von populärkulturellem Wissen:
das Beispiel VOGUE .................................................................... 
. Strategien der Kohärenzbildung und die Konstruktion
von Bedeutungsknoten in Madonnavideos............................... 
. Raummodelle – Zur Konzeption von Raum
und Person in Madonnavideos ................................................. 
.
Bild – Abbild – Bildraum: Die Beispiele THIS USED TO
BE MY PLAYGROUND und A League of Their Own .............
.
Die Errichtung eines modellhaften Initiationsraumes:
das Beispiel EXPRESS YOURSELF ............................................ 
.
Die Errichtung eines modellhaften Transitionsraumes:
das Beispiel LIKE A PRAYER ..................................................... 
.
Errichtung eines modellhaften Raums der Selbstausgrenzung:
das Beispiel OPEN YOUR HEART ............................................ 
.
Resümee: Raummodelle und die Konzeption
der Künstlerin Madonna .............................................................. 
. Die Vermittlerin von Werten und Räume der Initiation ....... 
.
Mutterrolle und Wertvermittlung:
das Beispiel PAPA DON’T PREACH ......................................... 
.
Mütterlichkeit und Integration: das Beispiel SECRET ................
.
Tochter und Künstlerin: das Beispiel OH FATHER .................... 
.
Mythisierung – Kunst – Spiritualität: das Beispiel FROZEN ....... 
.
Künstlerin – Familienrolle – Spiritualität ..................................... 
. Die Überwinderin kultureller Grenzen
und Räume der Transition ........................................................
.
Romantische Liebe vs. offensive weibliche Sexualität:
das Beispiel LIKE A VIRGIN .....................................................
.
Harmonisieren differenter Zeicheninventare durch
künstlerische Kommunikation: das Beispiel FEVER .................... 
.
Vereinigung von Mutterrolle und Erotik im allegorischen
Transitionsraum: das Beispiel CHERISH .....................................
.
Musik als interkultureller Transitionsraum:
das Beispiel LA ISLA BONITA ...................................................
.
Harmonisierung – Metanarrativität – Medialität ......................... 
. Die Gestalterin von Abweichung und Räume
der Selbstausgrenzung ...............................................................
.
Die Ausgrenzung sexueller Abweichung in die Fantasie:
das Beispiel JUSTIFY MY LOVE ............................................... 
.
Die Ausgrenzung sexueller Abweichung in den medialen
Raum Musikvideo: das Beispiel EROTICA ..................................
.
Die Psychologisierung der erotischen Abweichung:
das Beispiel BAD GIRL und das Profil des Opfers ....................... 
.
Die Medialisierung der sexuellen Abweichung:
das Beispiel TAKE A BOW und das Profil des Stars .................... 
.
Erotische Abweichung und mediale Ausgrenzung –
medialer Raum und Starimage ...................................................... 
. Initiation – Transition – Selbstausgrenzung: konkrete,
verkörpernde Person vs. mediale, verkörperte Person
in Madonna: Truth or Dare ................................................ 
.
Oszillierender Textstatus und oszillierende Person ....................... 
.
Initiation – Transition – Selbstausgrenzung .................................
.
Mediale Verfasstheit der Person ................................................... 
. Rekonstruktion eines Modells zur Entwicklung
der Konzeption der Person im Starimage Madonnas............ 
.
Die Initiationsphase (–) ................................................. 
.. Madonnas zeichenhafter Eintritt in die Welt populärkultureller
medialer Kommunikate: das Beispiel BORDERLINE ................. 
.. Die Konzeption der Person in der Initiationsphase .......................
. Die Transitionsphase (–) ................................................. 
. Der Übergang von der Transitionsphase in die Phase
der Selbstausgrenzung ................................................................... 
. Die Phase der Selbstausgrenzung (–) ............................
. Die Unterphase Desintegration (–) ................................ 
.. Konkrete Person vs. mediale Künstlerin in der Desintegrationsphase: die Beispiele RAIN und BEDTIME STORY ....................
.. Die Musikvideos mit als abweichend bewerteter Erotik
in der Desintegrationsphase ...........................................................
.. Die Konzeption der Person in der Desintegrationsphase im
Medienverbund – Mediale Künstlerin und erotischer Kode vs.
konkrete Person und veräußertes Innenleben: das Beispiel
THE GIRLIE SHOW – LIVE DOWN UNDER .......................
. Der Übergang von der Desintegrationsphase in die Integrationsphase
durch Ausgrenzen des erotischen Diskurses und Integration
der Person in neue Diskurse und alte Paradigmen: das Beispiel
DROWNED WORLD/SUBSTITUTE FOR LOVE .................
. Die Unterphase Integration ..........................................................
.. Die kritische Funktion des »Stars« im medialen Universum
in der Integrationsphase: das Beispiel RAY OF LIGHT ................
.. Die Musikvideos der Integrationsphase ......................................... 
. Imagewandel vs. Wandel der Konzeption der Person ...........
Anhang ........................................................................................... 
. Primärtexte mit Madonna ....................................................... 
.
Musikvideos in chronologischer Folge .........................................
.
Konzertmitschnitte in chronologischer Folge ...............................
.
Filmographie in chronologischer Reihenfolge ..............................
.
Bücher von Madonna ..................................................................
.
Alben von Madonna....................................................................
. Texte über Madonna ................................................................ 
.
Audiovisuelle Texte über Madonna ..............................................
.
Bücher über Madonna.................................................................
.. Biographien .................................................................................
.. Fanbücher ...................................................................................
. Forschungsliteratur ....................................................................
.
Allgemeine Forschungsliteratur ...................................................
.
Forschungsliteratur zu Musikvideos ............................................. 
.
Forschungsliteratur zu Madonna ................................................. 
Vorwort
Die hier nun in Buchform vorliegende, überarbeitete und aktualisierte
Arbeit entstand unter dem Titel »Where’s That Girl? – Raumsemantik in
Musikvideos und ihre Funktionalisierung von Erotikdiskursen am Beispiel
Madonna«, die im Sommer 2002 als medienwissenschaftliche und kultursemiotische Dissertation an der Philosophischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel angenommen und im Sommer 2003
mit dem Preis für die beste Arbeit der Philosophischen Fakultät der
CAU Kiel ausgezeichnet wurde.
Beim Abfassen und bei der Fertigstellung dieser Arbeit habe ich von
vielen Seiten Rat und Unterstützung erhalten. Zuerst möchte ich von
Herzen meinen Betreuern Prof. Dr. Marianne Wünsch aus Kiel und
Prof. Dr. Hans Krah aus Passau danken, die nicht nur meiner Art zu
denken wesentliche Impulse und Anregungen gaben, sondern deren
fachliche und freundschaftliche Anteilnahme an mir und meiner Arbeit
mich gefördert und ermutigt haben, wissenschaftliches Neuland zu betreten. Meinen Eltern Ursula und Roland Decker danke ich, weil sie mir
den nötigen finanziellen Freiraum verschafft und mir frühzeitig den Wert
geistiger Ausbildung und Unabhängigkeit vermittelt haben. Meinem
Freund Andreas Kohlmorgen danke ich für seine treue Wegbegleitung
durch alle persönlichen Höhen und Tiefen, die man während einer Promotion durchläuft, und seinen festen und unerschütterlichen Glauben
an mich und meine Fähigkeiten. Ohne ihn wäre ich nicht der und dort,
wer und wo ich heute bin. Dem Land Schleswig-Holstein und der zentralen Kommission zur Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchses danke ich für die Gewährung eines zweijährigen
Promotionsstipendiums.
Ferner möchte ich allen Personen danken, die meine Arbeit in Teilen
unterstützt und begleitet haben: Franz Adam danke ich für kompetentes
Korrekturlesen; seine Ratschläge und seine Kritik halfen, Unklarheiten
auszuräumen und die Arbeit stilistisch zu verbessern. Ebenso danke ich
Kai Sina für seine redaktionelle Mithilfe und kompetentes Digitalisieren
von Bilddateien. Franco Maiorano danke ich für Hilfe beim Italieni-
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Vorwort
schen. Meinem Verleger Steve Ludwig und seiner Mitarbeiterin Daniela
Zietemann danke ich für ihre vorbildliche Betreuung in der Publikationsphase. Meinen Freundinnen Kirsten Geißelbrecht, Katja Kirste und
Heike Jäger und ihren Partnern danke ich, dass sie es während der Promotion mit mir ausgehalten und es ertragen haben, sich immer wieder
mit mir über Madonna zu unterhalten.
Zu besonderem Dank bin ich Warnermusic Deutschland verpflichtet,
die mir in kooperativer Bereitschaft Videomaterial von und mit Madonna zur Verfügung gestellt haben, das anderweitig nicht zugänglich gewesen wäre. Ohne dieses Material fehlten dieser Arbeit Untersuchungsobjekte, die sie ärmer gemacht hätten; denn diese Arbeit orientiert sich vor
allem anderen an den Medienprodukten mit Madonna und versteht sich
im besten Sinne als eine »produktempirische« Arbeit. Damit leistet diese
Arbeit zweierlei: Erstens liefert sie Einzelanalysen von Madonnavideos,
die auch unabhängig voneinander gelesen und in den Zwischenergebnissen kontextualisiert werden können. Zweitens liefert diese Arbeit in
ihren theoretischen Überlegungen einen übergeordneten Argumentationsrahmen, der Verfahren der Musikvideo- und Starimageanalyse miteinander vernetzt und die zeichentheoretische Funktionsweise von Musikvideos und Starimages als textuell manifeste Strategien fundiert und beleuchtet. Der medienübergreifende narratologische und interdisziplinär
aus literatur- und medienwissenschaftlichen Zugängen gespeiste Ansatz
der Arbeit bedingt dabei, dass einzelne Fachbegriffe und auf einzelne
Aspekte konzentrierte Forschung größtenteils in den Fußnoten terminologisch geklärt und diskutiert werden.
Kiel, im November 2004
. Einleitung
Madonna ist der bedeutendste internationale weibliche Medienstar der
letzten 20 Jahre des ausgehenden 20. Jahrhunderts und verteidigt diese
Position auch im neuen Millennium mit den Filmen The Next Best
Thing (Ein Freund zum Verlieben, USA 2000, John Schlesinger)
und Swept Away (USA 2003, Guy Ritchie) sowie dem Album MUSIC
(Maverick/Warner Records 2000) mit seinen Single-Auskopplungen
und Videos MUSIC (USA 2000, Jonas Åkerlund), DON’T TELL ME
(USA 2000, Jean-Baptiste Mondino) und WHAT IT FEELS LIKE FOR
A GIRL (USA 2001, Guy Ritchie) und dem aktuellen Album AMERI
CAN LIFE (Maverick/Warner Records 2003) sowie einem Sampler mit
den Nummer-1-Hits der letzten 10 Jahre MADONNA GREATEST HITS
VOL.  (Maverick/Warner Records 2001).
Die große Bedeutung Madonnas für die gegenwärtige Populärkultur
demonstrieren dabei nicht nur die zahlreichen Berichte der Boulevardblätter über ihre Hochzeit mit dem Regisseur Guy Ritchie und die Geburt ihres zweiten Kindes, des gemeinsamen Sohnes Rocco am 11. August 2001, sondern vor allem auch die Vielzahl medienwissenschaftli-
1
2
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4
Spielfilme werden im Folgenden immer bei Erstnennung durch Originaltitel
(deutscher Titel, Produktionsland und -jahr, Regisseur) angegeben. Die Spielfilme,
in denen Madonna eine Rolle übernommen hat, werden im Anhang der Arbeit unter
1.3 aufgeführt.
Alben mit Madonna werden im Folgenden durch TITEL (Produktionsfirma und
-jahr), die auf ihnen enthaltenen Songs ebenfalls durch TITEL angeführt. Die Alben
mit Madonna und die auf ihnen enthaltenen Songs können im Anhang unter 1.5 nachgeschlagen werden.
Musikvideos werden bei Erstnennung durch TITEL (Produktionsland und -jahr, Regisseur) genannt. Aufgelistet sind alle bisherigen Madonnavideos im Anhang unter 1.1.
Als kleine Auswahl seien hier für den deutschen Raum nur Frau im Spiegel, 2, 2001,
S. 7–11; 14, 2001, S. 16f.; 27, 2001, S.72f.; 3, 2002, S. 10f.; Das Neue Blatt 51, 2000, S.
43; Titelgeschichte in Gala 25, 2001, S. 4–9; Titelgeschichte in Stern 25, 2001, S. 42–56
angeführt.
14
Einleitung
cher Forschungsliteratur, die sich dem Medienphänomen Madonna seit
Mitte der 80er Jahre im anglo-amerikanischen und vor allem mit Beginn
der 90er Jahre auch im deutschsprachigen Kulturraum angenommen hat.
Als kurze Auswahl seien hier nur folgende Titel aus dem anglo-amerikanischen Raum genannt: Zum Beispiel untersucht E. Ann Kaplan (1987)
Madonna als postmodernes Medienphänomen aus feministisch-medienkritischer Sicht. John Fiske (2000, zuerst 1989) spürt Madonna als
sozialem Phänomen in der Fankultur nach. Der richtungweisende Aufsatz von Ramona Curry (1993, zuerst 1990) untersucht exemplarisch die
zwei Madonnavideos EXPRESS YOURSELF (USA 1989, David Fincher)
und OPEN YOUR HEART (USA 1986, Jean-Baptiste Mondino), um
deren Bedeutung für Madonnas Starimage aus medienkritischer Sicht
nachzugehen. Cathy Schwichtenberg (1993) und Fran Lloyd (1993a) geben jeweils einen Sammelband heraus, in dem sich die verschiedenen
Richtungen der cultural studies aus ihren mittlerweile unterschiedlichen
Richtungen kritisch Madonna als semiotisch-kulturellem Phänomen nähern. Lisa Frank und Paul Smith (1993) bündeln als Herausgeber analytische und künstlerische Auseinandersetzungen mit Madonnas Buch SEX
(1992). Für Pamela Robertson (1996) ist Madonna aus feministischer Perspektive schließlich Zeichen für den Tod der camp-Kultur, damit ist die
Artikulation gegenkultureller Praxis in und der subversiven Lesarten von
Texten mit Madonna durch lesbische und schwule Publikumsgruppen
gemeint. Karlene Faith (1997) repräsentiert im Überblick paradigmatisch
die Bedeutung, die Madonna für eine feministische Medienwissenschaft
im Rahmen der gender studies bis heute bekommen hat. June Sochens
(1999) Geschichte weiblicher, US-amerikanischer Entertainerinnen endet schließlich mit Madonna als letzter bedeutender Entertainerin des
20. Jahrhunderts. Auffällig ist in der Forschung, dass sich das Interesse
an Madonna vor allem zu Beginn der 1990er Jahre konzentriert. Seigworth (1993: 297f.) nimmt die so genannten Madonna-studies kritisch
unter die Lupe. Seigworth behauptet, dass die Madonna-studies dazu beigetragen haben, Madonna zum größten Popstar des 20. Jahrhunderts zu
machen, indem sie den Medienprodukten mit Madonna eine künstlerische und kulturwissenschaftliche Qualität zuweisen, die ihnen eigentlich
gar nicht zukomme.
Einleitung
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Das Interesse der Forschung an Madonna ist also durchaus selektiv und orientiert sich dominant an denjenigen Medienprodukten, die
Formen einer von ihr verkörperten aggressiven weiblichen Erotik und
Sexualität überhaupt fokussieren. Im Grunde zeitgleich zu Fanbüchern
und Biographien, die Madonnas Status als Popstar bestätigen und entscheidend prägen, flaut das Interesse der Forschung im anglo-amerikanischen Raum merklich im Verlauf der 90er Jahre ab. Sexton (1993)
stellt in seinem Sammelband noch wichtige Rezensionen, Zeitungsartikel, Chartplatzierungen und auch Forschungsansätze zu Madonna zusammen, dann hört im anglo-amerikanischen Raum die Flut der Veröffentlichungen auf. 1997 veröffentlicht das Musikmagazin Rolling Stone
seine gesammelten Berichte über Madonna; der letzte veröffentlichte
Sammelband Metz/Benson (2000) orientiert sich an Sexton (1993) und
sammelt neue, aber auch ältere Presseberichte, Kritiken, Rezensionen
und wissenschaftliche Kleinstudien. Im Gegensatz zu den stagnierenden wissenschaftlichen Monographien zum Phänomen Madonna ist im
Jahr 2000 eine Fülle neuer Biographien auf den US-amerikanischen und
europäischen Markt gekommen, wie Bego (2000), Morten (2000), Taraborelli (2000) und Victor (2000). Die wissenschaftliche Erforschung
des Phänomens ist dahingegen überwiegend in den letzten Jahren auf
Aufsätze beschränkt, hat aber deutlich auch im deutschsprachigen Raum
zugenommen und verarbeitet die US-amerikanische Forschung der frühen 90er Jahre. Ausgehend von Grigat (1995) über Bechdolf (1995) und
(1996) sowie Bergermann (1995) und (1997) bis hin zu Krützen (1999),
werden dabei sowohl medienkritische, rezeptionsorientierte, aber vor
allem auch feministische Ansätze weitergeführt und Fragen zu Madonnas Imagebildung wie exemplarisch bei Krützen (1999) ins Zentrum gerückt. Insgesamt konzentrieren sich fast alle medienwissenschaftlichen
Forschungsansätze vor allem auf die immer wieder miteinander verbundenen Feststellungen, 1. dass Madonna in den audiovisuellen Texten als
ein vieldeutiges Zeichen zu verstehen ist, das mehrere auch oppositionelle Lesarten zulässt und eine eindeutige Bedeutung verweigert, und
5
Vgl. die eher geringe Auswahl im Verhältnis zur Flut weltweiter Publikationen, die im
Anhang unter 2.2 aufgelistet wird.
16
Einleitung
2. dass sich ihr Starimage grundsätzlich immer wieder wandelt. Beide
Beobachtungen werden in der paradigmatischen Frage zusammengefasst
»Madonna, Who’s that Girl?« in der Hoffnung, damit das Phänomen zu
erklären. Who’s that Girl ist dabei zunächst ein Film (USA 1987, James Foley) und der Name eines Albums im Kontext des Filmes, in deren
Folge Biographien wie die von Mark Bego (1992) benannt werden. Außerdem wird die Frage, wer denn dieses Mädchen sei, auch in Videodokumentationen wie MADONNA: A BODY OF WORK (MTV 1996) oder
auch SAT POP GALERIE: MADONNA (3sat 1997) zum Ausgangspunkt
gemacht, um bei der Suche nach der konkreten Person hinter ihren äußeren Erscheinungsformen nur die vielen äußeren Facetten der medialen
Person aneinander zu reihen.
Festhalten lässt sich auf einer übergeordneten Ebene damit vor allem,
dass Madonna als konkrete, authentische Person mit einer faktisch nachvollziehbaren Biographie durch die Geschichte ihrer Medienprodukte
und ihr in diesen immer wieder variiertes Äußeres ersetzt wird. Die Frage, wer Madonna wirklich ist, erweist sich dabei als durch die Medienprodukte nicht zu beantworten, denn exemplarisch rücken ja dominant
die medialen Zeichen und ihre Kontexte in den Fokus. Die Frage lautet
also aus medienwissenschaftlicher Sicht weniger »Wer ist Madonna?«,
sondern vielmehr »Was bedeutet Madonna als mediales Zeichen?«. Dabei ist diese Frage eng mit der Frage nach dem medialen Ort verbunden,
an dem das Zeichen Madonna etwas bedeutet. Unter dem medialen Ort
soll hier im Folgenden zweierlei verstanden werden: 1. der vorgeführte
fiktionale und inszenierte Raum und seine Semantik in den audiovisuellen Medienprodukten mit Madonna und 2. der mediale Raum selbst, im
Rahmen dieser Arbeit vor allem das audiovisuelle Format Musikvideo,
in dem die Person Madonna mit Merkmalen und Bedeutungen versehen
wird. Die Frage »Madonna, Who’s that Girl?« stellt sich für mich also
umformuliert und pointiert vor allem als die Frage »Madonna, Where’s
that Girl?«.
6
Audiovisuelle Dokumentationen über Madonna werden durch TITEL (Produktionsfirma oder Fernsehsender und Produktionsjahr) angegeben. Vgl. die Auswahl im Anhang unter 2.1.
BEAUTIFUL STRANGER
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. Das Beispiel BEAUTIFUL STRANGER
(USA , Brett Rettner): Wo kann Madonna was bedeuten?
Das Video BEAUTIFUL STRANGER ist in mehrfacher Hinsicht repräsentativ für die Ebenen, die das mediale Phänomen Madonna bestimmen.
Zunächst einmal referiert das Video auf den Film Austin Powers: the
Spy Who Shagged Me (Austin Powers: Spion in geheimer Missionarsstellung, USA 1999, Jay Roach), eine Parodie auf die James-BondFilme. Einerseits gehört der Madonna-Song zum Soundtrack des Films,
andererseits entwickelt das narrative Video eine Geschichte, in die Austin Powers (Mike Myers) wie auch Madonna eingebunden sind. Insofern
Madonna keine Rolle in Austin Powers: The Spy Who Shagged Me
übernommen hat, kann das Video in Bezug auf den Spielfilm zunächst
als Mini-Spielfilm-Fortsetzung gelten, in der Madonna nur eine Rolle in
Art einer Komödie verkörpert.
Die visuelle Ebene des Videos führt zunächst ohne Musik die Hauptfigur des Filmes ein, den Top-Spion Austin Powers (Mike Myers). Dieser
bekommt während einer Autofahrt von seinem Geheimdienstchef Basil
(Michael York) via Bildtelefon den Auftrag, eine gefährliche Frau (Madonna) zu observieren, die schon die Agenten 007 und 008 ausgeschaltet hat, indem sie diese verführt habe. Austin sucht nun diese Frau auf,
die in einem Club als Sängerin mit dem Song BEAUTIFUL STRANGER
auftritt, um am Ende des Videos mit ihr in seinem »Shaguar«, seinem
spionagetechnisch hochgerüsteten Sportwagen, durch das nächtliche
London zu fahren. Dabei warnt er sie, dass ihre erotischen Avancen ihr
einen versohlten Hintern einbringen werden, wenn sie so weitermache,
worauf sie erwidert, dass sie sich genau das erhoffe. Offen bleibt dabei,
ob Austin nun genauso wie 007 und 008 der erotischen Faszination der
Sängerin erlegen ist und von ihr unterworfen wird oder ob die von Madonna verkörperte femme fatale ihrerseits der offensiven Erotik Austins
7
8
Dieser Film ist seinerseits ein Sequel von Austin Powers (USA 1997, Jay Roach).
Englisch »to shag« entspricht in etwa im Deutschen dem umgangssprachlichen »bumsen« im Sinn von »Geschlechtsverkehr ausüben«.
18
Einleitung
erliegt. Der intradiegetische Gesangsakt Madonnas ist also in diesem
Video zunächst nur Element, das in einen übergeordneten Handlungszusammenhang eingebunden ist. Demgegenüber dominiert aber Madonnas Gesangsakt schon rein quantitativ diese Rahmenhandlung, die
rein zeitlich gesehen nur einen Bruchteil des Videos ausmacht. Damit
tritt ein erster Widerspruch auf. Was ist relevanter für die Bedeutungsproduktion in diesem Video: der an sich nicht narrative Gesangsakt Madonnas oder die Rahmenhandlung, die den Gesangsakt narrativiert? Der
Rahmen selbst bildet nämlich eine Ausgangs- und eine Endsituation ab,
während der Gesangsakt als Transformation zu bewerten ist, die zwischen
beiden Zuständen vermittelt. Während Austin Madonna auf der Bühne
beobachtet, imaginiert er, übertrieben-lächerlich, zwischen sich und ihr
9
10
Die hyperbolisch ausagierte Erotik ist integraler Bestandteil der Filmfigur Austin Powers, die den Wert der freien Liebe aus den 60er Jahren in den 90ern zu Gunsten von
sexueller Treue und dauerhafter Paarbildung aufgibt.
Im Folgenden werden die Begriffe intradiegetisch, extradiegetisch, metadiegetisch sowie
heterodiegetisch und homodiegetisch nach den Definitionen in Grimm (1996) verwendet. Mit ihnen wird erzählanalytisch klassifiziert, welcher Perspektivierung eine Information durch die Struktur des audiovisuellen Textes selbst unterworfen wird. Zu untersuchen ist dabei für jeden audiovisuellen Text grundlegend jeweils die textspezifisch
konstruierte Erzählsituation, die mit verschiedenen Fokalisierungsstrategien zusammen die Perspektivierung steuert. Die filmische Erzählsituation ist visuell dabei im Detail oft an die Perspektiven der Kamera in einzelnen Einstellungen und ihre Verknüpfung durch Montage, den point of view im engeren Sinne, gebunden. Das heißt, dass
die Frage ›wer erzählt?‹ in audiovisuellen Medien eng mit der Frage korreliert ist ›wer
sieht?‹. Die Bestimmung der Erzählsituation dient dabei vor allem der Ermittlung, in
welchem Grade Informationen im Filmbild im Verhältnis zu anderen Informationen
mehr oder weniger vermittelt sind, und damit der Beantwortung der Frage, von welcher filmintern konstruierten Vermittlungsinstanz die einzelnen audiovisuellen Informationen untereinander hierarchisiert abhängen. Intradiegetisch bedeutet, dass präsentierte Elemente (z.B. eine verkörperte Figur in einer Geschichte) innerhalb der filmisch
dargestellten Welt, der Diegese, angesiedelt sind. Darüber hinaus beschreibt der Begriff
intradiegetisch auch, dass Informationen, die im Bild präsentiert werden, aus einer
Perspektive innerhalb der Diegese wahrgenommen werden (z.B. durch den Blick einer
anderen Figur). Extradiegetisch bezeichnet dagegen eine Perspektive, die Elemente der
Diegese aus einem Blickwinkel zeigt, der nicht innerhalb der Diegese (z.B. als subjektiver Blick einer Figur) verortet ist. Mit dem Begriff extradiegetisch werden auch alle Elemente bezeichnet, die nicht in der dargestellten Welt enthalten, sondern ihr beigeordnet sind (z.B. zu hörende Musik ohne intradiegetisch existente Musikproduktion oder
eine Erzählinstanz, die nicht Teil der vorgestellten Diegese ist). Zu trennen sind also