Je ne regrette rien - Fraternitas Winterthur

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Je ne regrette rien - Fraternitas Winterthur
Kurzgeschichtenwettbewerb 2012 der Fraternitas Winterthur – Rang 1: «Je ne regrette rien» von Ricardo Stalder
Je ne regrette rien
Ricardo Stalder
Da lag es, nur eine Armlänge von mir entfernt. Es
war perfekt, so schön, so edel. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so Vollendetes gesehen. Leicht gekrümmt und an den Enden schmaler
lag das Prachtstück auf dem Teller. Goldbraun,
knusprig und glänzend war die Kruste und versprach ein luftig und leichtes Inneres. Ein feiner
Duft stieg mir in die Nase. Zuerst war er kaum
spürbar, doch dann wurde er immer stärker. Das
Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich konnte
dem Drang nicht widerstehen und griff nach dem
Gebäck. Ein leichtes Knuspern war zu hören, ein
Krümel löste sich und fiel zu Boden.
Aus dem Stimmengewirr dringt kaum hörbar ein
Lied an meine Ohren. Ich folge der Stimme bis
zur Mitte des kleinen Platzes. Zwischen den Ständen, im Schatten einer Linde, steht eine kleine
Frau mit schwarzen Locken und singt aus vollem
Herzen. Der Klang ihrer Stimme schwebt über
dem Pflaster und steigt durch das Geäst der Bäume und flirrt in der klaren Luft über dem Platz.
Die Menschen gehen an der zierlichen Sängerin
vorbei und eilen ihren Geschäften nach. Niemand
hört hin, niemand bliebt stehen. Trotzdem verleiht
ihr lieblicher Gesang dem Ort eine unverwechselbare Aura, wie Hintergrundmusik in einem Film,
die auch erst wahrgenommen würde, wenn sie
fehlte.
Trotz meiner Lust zögerte ich einen Augenblick.
Da zischte von meiner rechten Schulter eine
Stimme: „Worauf wartest du? Tu es!“ Und von
meiner linken Schulter hörte ich ein Flüstern, das
mir ins Gewissen redete: „Nein, denk doch mal an
deinen Bruder.“ Denn das Croissant, das da vor
mir so verführerisch glänzte, gehörte nicht mir.
Mein Bruder war heute früh aufgestanden, hatte
es in der Bäckerei gekauft und für sich in der Küche bereitgelegt. Wie lange war es her, dass ich
das letzte Mal ein Croissant gegessen hatte? Ein
halbes Jahr? Vielleicht ein ganzes? Es schien mir
eine Ewigkeit her zu sein, seit ich diese Köstlichkeit geschmeckt hatte. Und jetzt, allein und unbeobachtet in der Küche, sah ich den direkten Weg,
das lange Warten zu beenden. Ich führte also
langsam das Gebäck zum Mund und biss gierig
und genüsslich zugleich hinein. Die Ermahnungen
von der linken Schulter waren ungehört verhallt.
Zu gross war die Verführung. Als der erste Bissen
meinen Gaumen berührte, ging ein Feuerwerk von
Zucker, Ei und Butter los. Die Augen geschlossen, gab ich mich ganz und gar dem herrlichen
Geschmack hin. Ich schwebte auf Wolke sieben,
und der Raum um mich herum verschwand.
Die Frau scheint zum Platz zu gehören wie die
Buden, die Maler und die Linden. Sie kommt mir
vertraut vor, als hätte ich sie schon oft so singen
gehört. Ihr Name jedoch will mir nicht einfallen.
Aber bald merke ich, dass sich wie von selbst
Worte in mir formen. Und schon ertappe ich mich
dabei, wie ich leise in ihr Lied einstimme: „Non,
rien de rien. Non, je ne regrette rien.“
Die Küchentür wurde aufgerissen, und ich zuckte
zusammen. Obwohl ich dagegen ankämpfte, verblassten langsam meine Erinnerungen an den Pariser Platz. Ich war zurück in der Küche, die noch
immer genau so aussah, wie ich sie verlassen hatte. Mein Bruder stand im Türrahmen. Er schwieg,
blickte zum Tisch, blickte zu mir, blickte wieder
zum Tisch. Dann brüllte er los: „Wo ist mein
Croissant, es lag genau auf diesem Teller!“ Er
kochte vor Wut.
Ich stand da, mit vollem Mund, wie eingefroren,
das halbe Croissant noch in der Hand. Langsam
schluckte ich den Bissen hinunter, aber ich brachte keinen Ton über die Lippen. Vielleicht hätte ein
Wort von mir meinen Bruder besänftigen können.
Trotzdem blieb ich stumm und zuckte bloss mit
den Schultern. Ich schämte mich ein wenig, aber
ich bereute nichts. Nie im Leben hätte ich mir den
Gaumenschmaus und die Erinnerung an Paris entgehen lassen können.
Plötzlich finde ich mich auf einem sonnendurchfluteten Platz wieder, viele Leute und lautes Gerede umfangen mich. Maler und andere Künstler
preisen laut und wortreich ihre Werke an, nicht
weit entfernt ragt die Kuppel einer weissen Kirche
in den wolkenlosen Himmel.
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