Braune Kader - Jens Kuhlemann
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Braune Kader - Jens Kuhlemann
Jens Kuhlemann Braune Kader Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission und der DDR-Regierung (1948-1957) Internetausgabe Stand: 20.07.2012 Quellenangabe – Der folgende Text wurde entnommen aus: Kuhlemann, Jens: Braune Kader. Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission und der DDR-Regierung (1948-1957). Gekürzte, sich aktualisierende Internetausgabe der gleichnamigen Dissertation (Universität Jena, 2005). Berlin. Ab 2012 in: http://jenskuhlemann.wordpress.com Der Autor Jens Kuhlemann, geboren 1970 in Verden (Aller). Studium der Geschichte, Germanistik, Politikwissenschaft und Völkerkunde in Göttingen und Johannesburg (Südafrika), privater Studienaufenthalt in Cambridge (England). Im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes 1999-2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena, 2004 ebenda Lehrbeauftragter. 2005 Promotion zum Dr. phil. mit „magna cum laude“ bei Prof. Lutz Niethammer. 2006/07 Mitarbeiter von Prof. Norbert Frei bei der Historikerkommission des Auswärtigen Amtes zur Erstellung der Studie „Das Amt und die Vergangenheit“. 2007 Lehrbeauftragter an der Universität Lüneburg. Seit 2008 Studienrat an der Staatlichen Internationalen Schule Berlin. Themenrelevante Veröffentlichungen Moralisch bedenklich. Theodor Heuss: ein Journalist im Nationalsozialismus. In: Süddeutsche Zeitung (24.10.2003, S. 11). Kiesingers Propagandakrieg. Zur NS-Vergangenheit von Kurt Georg Kiesinger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (07.05.2004, S. 9). Mit dem Teufel im Bunde? Die KPD/SED und die bürgerlichen Fachkräfte in den Deutschen Zentralverwaltungen (1945-1948). In: Hitzler, Ronald / Hornbostel, Stefan / Mohr, Cornelia (Hrsg.): Elitenmacht. (Soziologie der Politik, Band 5). Wiesbaden 2004, S. 149-176. Braune Kader. Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission und der DDR-Regierung (1948-1957). (Band 1: Soziales, Bildung und Beruf; Band 2: Politische Orientierungen; Band 3: NS-belastete hohe Staatsfunktionäre.) Dissertation, Universität Jena, 2005. Differenzierte Biografien, differenzierte Integration. Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission und den DDR-Regierungsdienststellen (1948-1957). In: Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Vol. 35 (2010) 3, S. 95-116. „Das Amt“ blendet die Rolle der Stasi aus. Zum Buch „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Auswärtigen Amts in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (05.11.2010, S. 9). Erscheint voraussichtlich 2013 erneut in: Sabrow, Martin / Mentel, Christian (Hrsg.): Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Frankfurt am Main 2013. Jens Kuhlemann Braune Kader Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission und der DDR-Regierung (1948 – 1957) Gekürzte und sich aktualisierende Internetausgabe. Vorwort zur Erstausgabe (Dissertation) 2005 Nationalsozialisten und Kommunisten, die Hand in Hand den Sozialismus aufbauen – das mutet an wie die leibhaftige Verschmelzung von Feuer und Wasser. Ein rot-braunes Paradoxon, das irritiert. Impuls genug, um Erklärungen dafür zu finden und Licht ins Dunkel zu bringen. Doch muss sich jeder Mensch, der sich in einer Zeit voller Gewalt und Not, Unterdrückung und Naturzerstörung in akademische Elfenbeintürme hineinträumt, die Frage gefallen lassen, welchen Nutzen die Welt von seinen selbstverliebten Gedankenspielchen hat. Denn es ist unsere Aufgabe, Lebendbedingungen zu verbessern. Jeder sollte seine 7000 Eichen pflanzen und seine Handvoll Salz vom Meeresstrand auflesen. An diesen Vorsatz habe ich jedenfalls im Laufe der etwa sechsjährigen Arbeit an diesem Forschungsprojekt viele Male denken müssen. Zu oft hatte ich dabei das Gefühl, ihm einsam hinter Papierbergen verborgen nicht nachgehen zu können. Doch irgendwann entwickelte sich aus der anfänglichen bloßen Neugier auf die Geschichte ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR die Erkenntnis einer tieferen Sinngebung. Denn es ist die Geschichte einer Wandlung der Gesellschaft und ihrer Individuen, wie wir sie immer wieder aufs Neue erleben. Die Verläufe und Ergebnisse solcher Transformationen können uns heute helfen zu verstehen, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind. Darüber hinaus zeigen sie, wie sich durch Umbrüche die Strukturen des Zusammenlebens in der Gegenwart und Zukunft erneuern. Wenngleich dieses Buch nur eine kleine Facette ist, brauchen Menschen das Wissen über solche Vorgänge, um selbst schöpferisch und verantwortlich an ihnen mitzuwirken. Zu freundschaftlichem Dank verbunden bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Lutz Niethammer, der mir überhaupt erst ermöglichte, dieses Unternehmen zu beginnen und mich ein ums andere Mal durch seine Fähigkeit in Erstaunen versetzte, schon aus wenigen Unterhaltungen stichhaltige Analysen über den Stand der Dinge ziehen zu können. Mein Dank geht weiterhin an das Historische Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, das Bundesarchiv / Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR und die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Außerdem an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Förderung im Rahmen einer vergleichenden Studie zur „Wiedereingliederung von NS-Staatsbediensteten und NS-Belasteten in die Verwaltungsapparate der frühen Bundesrepublik und der SBZ/DDR“. Für Tipps und Anregungen danke ich darüber hinaus Christoph Boyer, Jürgen Danyel, Jens Gieseke, Stefan Hornbostel, Helga A. Welsh sowie den Doktoranden am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte in Jena, für die Hilfe bei der Redaktion Peter Eckermann. Mein besonderer Dank gilt schließlich noch meiner Mutter, die mich nicht nur in der Schlussphase dieser Arbeit vertrauensvoll unterstützt hat und mir Mut machte, als es an mir lag, ihr welchen zu bereiten. Berlin und Dörverden, im Dezember 2003 Jens Kuhlemann Vorwort zur Internetausgabe ab 2012 Nach mehreren Jahren, in denen sich mir viele andere Aufgaben gestellt haben, möchte ich die Dissertation „Braune Kader“ in der nun vorgelegten gekürzten Form einem breiteren Publikum zugänglich machen. Den Anstoß hierfür gab eine Tagung zum Thema „Integration und Ausgrenzung? Der Umgang der SED mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern“ im Dezember 2009 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Eingeladen hatte der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung.“ Die Veranstaltung unterstrich, dass die Frage, wie sich die kommunistischen Machthaber in der SBZ/DDR und nationalsozialistisch belastete Kader miteinander arrangierten, nach wie vor im Fokus der Forschung steht. Auch außerhalb der Wissenschaft steht der Umgang mit politisch belasteten Personen immer wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Dieses Buch kann dabei helfen, die Diskussion darüber auf ein stabiles Fundament zu stellen und die Bandbreite der Urteile zu erweitern. Bewusst möchte ich durch die Veröffentlichung der gekürzten Fassung von „Braune Kader“ im Internet möglichst vielen Rückmeldungen den Weg bereiten. Das Fachpublikum ist dabei ebenso wie der interessierte Laie aufgerufen, Kommentare beizusteuern. Im Idealfall nehmen diese Reflexionen nicht nur auf den Ausgangstext Bezug, sondern reagieren auch auf die verschiedenen Sichtweisen anderer Betrachter. Die Essenz dieser Auseinandersetzungen könnte so zu einer fortlaufenden Bereicherung meiner Studie beitragen. Dabei sind optimierende Textmodifikationen, die auf Anregungen von außen zurückgehen, erklärtes Ziel der hier gewählten Art und Weise der Publizierung. Im Sinne dieser Netzinteraktion ist das im Untertitel ungewohnte Partizip Präsens der „sich aktualisierenden“ Internetausgabe zu verstehen. Dazu zählt natürlich auch die sukzessive Berücksichtigung anderweitiger neuester Forschungsergebnisse. Geschichtsschreibung ist so im besten Sinne multiperspektivisch und imperfekt. Von ganzem Herzen möchte ich zu guter Letzt meiner Ehefrau danke sagen, nicht nur für viele Stunden, in denen ich die Freiheit bekam, mich um weit weniger wichtige Dinge als meine Familie zu kümmern. Berlin, im Juli 2012 Jens Kuhlemann Für Irmgard Inhaltsverzeichnis 0 Einleitung 0.1 0.2 1 Fragestellung Forschungsstand Vorgeschichte sowie gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2 9 Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien Von Fragebögen und dem Wunsch zu schweigen Diskriminierung und Ächtung Anzeigen und Denunziationen Personalbestand und Fachkräftemangel Quantitative Ausmaße der Beschäftigung ehemaliger Mitglieder der NSDAP, SA, SS und sonstiger NS-Organisationen 16 18 24 24 37 47 62 71 77 Das soziale und politische Profil der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR 87 2.1 90 Soziales, Bildung und Beruf 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9 2.1.10 Frauen Alter Soziale Herkunft Bildung und Weiterbildung Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes Berufliche Karriereverläufe Wendepunkte im beruflichen Werdegang Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen 93 98 104 117 132 139 149 164 181 193 2.2 Politische Eigenschaften und Entwicklungen unter den Bedingungen kommunistischer Kaderpolitik 2.2.1 203 NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation 205 2.2.2 NS-belastete Verwandte und Freunde 226 2.2.3 Kriegsgefangenschaft, Antifa-Schulung und Emigration 231 2.2.4 Erkenntnis, Abkehr und Neuorientierung 251 2.2.5 Politischer Werdegang nach 1945 263 2.2.5.1 Eintritt in die Nachkriegsparteien 263 2.2.5.2 Parteizugehörigkeit nach 1945: statistische Auswertung 269 2.2.5.3 Politische Ämter und Funktionen nach 1945 277 2.2.5.4 Politische Fortbildung 281 2.2.5.5 „Fortschrittliche“ Kader 285 2.2.5.6 Politisch Zurückhaltende und ideologisch „Schwache“ 296 2.2.5.7 „Reaktionäre“ Kader 305 2.2.6 Agenten und Saboteure 318 2.2.7 Westkontakte 334 3 Ergebnis und Ausblick 347 4 Abkürzungsverzeichnis 358 5 Quellen- und Archivverzeichnis 362 6 Literaturverzeichnis 364 Jens Kuhlemann – Braune Kader 0 9 Einleitung Ehemalige Nationalsozialisten in der DDR-Regierung – ein Reizthema, keine Frage. Wenn ich jemandem im Laufe der vergangenen Jahre von meinen Forschungen erzählte, reichten die Reaktionen von verschmitzter Genugtuung über ungläubiges Staunen bis hin zur Aufgabe der letzten mit der DDR verbundenen positiven Illusionen. Niemanden ließ diese widersprüchlich anmutende Vorstellung gleichgültig. Ein Umstand, der in der Anziehungskraft der – vermeintlichen – Zerstörung eines Mythos liegen muss. Denn er rührt am antifaschistischen Selbstverständnis des einzigen sozialistischen deutschen Staates in der Geschichte und damit am vielleicht wichtigsten Grund für die Existenzberechtigung der DDR. Die Geschichte der NS-Belasteten in der Nachkriegszeit ist vom gesellschaftlichen und persönlichen Wandel geprägt, vom Spannungsverhältnis zwischen der Wiedereingliederung der Täter, der Rücksichtnahme auf die Opfer und den Ansprüchen der Sieger.1 Allerorten stand die Frage im Raum, wer wie viel Verantwortung an der Katastrophe des Nationalsozialismus trug, wer mit Vergebung und wer mit Bestrafung rechnen konnte. »Es gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein erlebt hat, frage sich heute im stillen selbst nach seiner Verstrickung«.2 Mit diesen Worten sprach Richard von Weizsäcker in seiner berühmt gewordenen Rede zum 8. Mai 1985 das schwierige Thema Schuld und Sühne der Deutschen an – oder tat er es vielleicht doch nicht? Wir suchen vergeblich nach abgestuften Schuldzuweisungen und Sanktionen, nach Resozialisierungsbedingungen, wie sie im Rahmen der Entnazifizierung und, wie wir sehen werden, in veränderter Form auch danach vorkamen. Dieser Umstand ist ein Indiz dafür, dass die Rede unter anderem deshalb so begeistert aufgenommen wurde, weil sie möglichst vielen möglichst wenig weh tat. Das war gut so, denn es bewahrte Stabilität und inneren Frieden. Aus demselben Grund war es aber auch unzureichend, denn die Wahrheit beim Namen zu nennen klingt anders. Der Umgang mit Trägern des „ancien régime“ nach einem Systemwechsel läuft letztlich immer auf die Frage hinaus, welchen Beurteilungsmaßstab die neuen Machthaber und die Menschen im Allgemeinen an die Vergangenheit anlegen. Wie verdammenswert ist sie? Wie radikal soll die Abwendung von ihren Idealen und ihren Protagonisten sein? Bei all dem ist entscheidend, welchen Spielraum die Erfordernisse der Gegenwart und Zukunft lassen, um das Vergangenheitsbild in der Gesellschaft durchzusetzen. Gerade Moralvorstellungen sind hierbei in einer pluralistischen Welt unterschiedlich ausgeprägt. Um so schwieriger ist es für einen Historiker, eine konsensfähige Bewertung der damaligen Geschehnisse vorzunehmen. Meine ethischen Einschätzungen können am Ende auch nichts anderes als subjektiv gefärbte Äußerungen darstellen, die eine weitere Auseinandersetzung anstoßen sollen. Viel wichtiger als eine Diskussion auf moralischer Ebene ist für die Wissenschaft jedoch der Versuch, die historischen Akteure in ihrem Handeln zu verstehen. Dabei geht es um das Wechselspiel von Macht und Opposition, im Staat wie auch individuell. Dieses Spannungsfeld wird im Folgenden am Beispiel des zentralen Staatsapparates der SBZ/DDR untersucht. Die reformierte Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) stellte dabei nicht nur eine Art „Zentralregierung“ der SBZ dar, die freilich völlig abhängig von der sowjetischen Besatzungsmacht war. Die DWK bildete auch das wesentliche Vorläuferorgan der DDR-Regierungsdienststellen. Zusammen mit den drei bis dahin verbliebenen Deutschen Zentralverwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung ging die DWK im Oktober 1949 1 2 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 21 f. Weizsäcker, Mai, S. 19; zur Analyse und Wirkung der Rede siehe: Fischer, Lexikon, S. 232-235. Jens Kuhlemann – Braune Kader 10 relativ nahtlos in die DDR-Regierung über.3 Es handelte sich vor wie nach der Staatsgründung um die höchste zentrale Schaltstelle der staatlichen Verwaltung mit erheblichem Einfluss auf das öffentliche Leben in Ostdeutschland. Zwar waren die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) bzw. die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) und die SED-Führung in der Entscheidungshoheit rechtlich beziehungsweise faktisch übergeordnet. Doch die Deutsche Wirtschaftskommission, der Ministerrat und die Ministerien leiteten ihre Bedeutung aus der Rolle als funktionaler Dienstklasse ab, die die Anordnungen der Machthaber ausführen sollte. Sie standen darüber hinaus einer Vielzahl nachgeordneter Wirtschaftsbetriebe und staatlicher Einrichtungen vor. Der Untersuchungszeitraum ersten Grades umfasst mit quellenbedingt unterschiedlicher Intensität die Jahre 1948-1957. In dieser Zeitspanne waren die untersuchten NS-Belasteten in der zentralen Staatsverwaltung beschäftigt. Die Analyse weicht jedoch von diesem Zeitfenster ab, wenn die Beschreibung bestimmter Wandlungen und Kontinuitätslinien es erfordert.4 Ein solches Vorgehen läuft auf die Betrachtung aller für die jeweiligen Biografien relevanten Phasen hinaus. Der chronologische Rahmen zweiten Grades bewegt sich damit vom Kaiserreich über die Weimarer Republik zum Nationalsozialismus und zur SBZ/DDR bzw. Bundesrepublik, im Einzelfall bis zur Berliner Republik. Um die Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten in die staatliche Verwaltung zu analysieren, ist die formative Phase der SBZ/DDR, die vom Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis zum Mauerbau 1961 reichte, von besonderer Bedeutung. Dabei spielt das Jahr 1948 eine entscheidende Rolle. Zu diesem Zeitpunkt erfuhren die Zentralisierung staatlicher Gewalt innerhalb der SBZ sowie die Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes samt Zementierung der innerdeutschen Teilung eine radikale Zuspitzung. Die SED trat dabei während der Stalinisierung immer deutlicher als dominanter Statthalter der UdSSR hervor. Sie wollte die kommunistische Weltanschauung und Gesellschaftsordnung diktatorisch gegen davon abweichende durchsetzen, auch innerparteilich im Zuge der Entwicklung zur „Partei neuen Typus“.5 Die Sowjetische Militäradministration ordnete in diesem Zusammenhang mit dem Befehl Nr. 32 vom 12. Februar 1948 an, fast alle Zentralverwaltungen in der Deutschen Wirtschaftskommission zusammenzufassen. Sie verlieh der DWK außerdem das Recht, verbindliche Instruktionen für die gesamte Besatzungszone zu erlassen. Das war eine wichtige Voraussetzung für den im selben Jahr verabschiedeten Zweijahrplan.6 Weitere Anzeichen für den offenen Ausbruch des Kalten Krieges waren der Rückzug der UdSSR aus dem Alliierten Kontrollrat, die Währungsreform und der Beginn der Berliner Blockade.7 Schließlich 3 4 5 6 7 Die Zentralverwaltung für Gesundheitswesen war bis November 1948, dem Zeitpunkt ihrer Eingliederung in die DWK, ebenfalls eigenständig. Das Ressort wurde im Rahmen dieser Untersuchung erst als DWKHauptverwaltung berücksichtigt. Bauerkämper, Eliten, S. 52. Dahinter verbarg sich die Umwandlung in eine Kaderpartei bolschewistischen Musters, die Aufhebung der Parität von ehemaligen SPD- und KPD-Mitgliedern sowie die Schaffung eines Politbüros zur operativen Parteiführung. Die Mitglieder waren durch Kritik und Selbstkritik verstärkt ideologisch-politisch zu erziehen, von der Parteilinie divergierende Meinungen wurden nicht toleriert. Unter den Mitgliedern fanden Säuberungen statt, eine Kandidatenzeit wurde eingeführt, die führende Rolle der KPdSU anerkannt. Im Sinne des „Demokratischen Zentralismus“ sollten Funktionäre zwar „gewählt“ werden, unterstanden aber einer strengen Parteidisziplin und mussten bemüht sein, die Parteibeschlüsse am Arbeitsplatz oder in sonstigen Funktionen umzusetzen. Erhöhte Klassenwachsamkeit sollte zum verstärkten Kampf gegen Spione, Agenten und Saboteure, „Schumacherleute“ und negative bürgerliche Einflüsse führen, siehe: Rössler, Aspekte, S. 132; Staritz, Gründung, S. 212-216; Staritz, Sozialismus, S. 156 ff.; Glaeßner, Herrschaft, S. 94. Die zweite Parteikonferenz der SED erklärte „den Staatsapparat“ zum Hauptinstrument für den Aufbau des Sozialismus und zur Förderung des neuen Staatsbewusstseins, siehe: Boyer, Bürohelden, S. 270. Zum Zusammenhang zwischen Zentralisierung des Staatsapparates und Durchsetzung der Parteibeschlüsse bis in die untersten Verwaltungseinheiten siehe: Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 349 f. Die UdSSR verließ am 20. März 1948 den Alliierten Kontrollrat, der damit handlungsunfähig wurde. Am 16.6.1948 folgte der Rückzug aus der Alliierten Kommandantur in Berlin. Die Währungsreform vollzog Jens Kuhlemann – Braune Kader 11 verkündete die SMAD mit ihrem Befehl Nr. 35 vom 26. Februar 1948 den offiziellen Abschluss der Entnazifizierung in der SBZ.8 Wenige Monate später geschah das Gleiche in Berlin. Die Sowjets erklärten die Maßnahmen zur personellen Säuberung der öffentlichen Verwaltung und anderer Bereiche von ehemaligen Nationalsozialisten für beendet. Die Wiedereingliederung NS-Belasteter in das gesellschaftliche Leben und hier speziell in den Staatsapparat erfolgte ab diesem Zeitpunkt also unter dem Eindruck eines unerbittlichen innen- und außenpolitischen Machtkampfes. Das Ende des Untersuchungszeitraumes ersten Grades bestimmt zum einen ein erheblicher Rückgang der Quellendichte im Laufe der fünfziger Jahre. Zum anderen ereigneten sich 1958/1959 für die DDR-Regierung und ihre Personalpolitik wichtige Zäsuren. Dazu zählten maßgeblich der Abbruch des zweiten Fünfjahrplanes und die umfassende Restrukturierung des Wirtschafts- und Staatsapparates. Ein großer Teil der Industrieministerien wurde dabei in die Staatliche Plankommission überführt.9 Neben inhaltlichen Gründen rechtfertigen schließlich pragmatische Überlegungen einen zeitlichen Schnitt. Denn über ein Jahrzehnt hinweg lassen sich politische Entwicklungen bereits gut darstellen. Ganz entscheidend für das Verständnis der Triebfeder der Wiedereingliederungspolitik ist der Marxismus-Leninismus, der bis zu den fünfziger Jahren durch Thesen Lenins und Stalins ergänzt wurde. Die Kaderpolitik wie das gesamte Menschenbild der Kommunisten fußten auf dieser Weltanschauung. Sie war nach ihrer Auffassung eine Wissenschaft mit Wahrheitsmonopol und Zwangsläufigkeitscharakter, die keinen Platz für Pluralismus ließ.10 Grob vereinfacht erwirtschafteten danach relativ wenige Kapitalisten als Besitzer von Produktionsmitteln Profite, die sie akkumulierten, während die von ihnen ausgebeutete Masse der Lohnarbeiter verelendete. Aus diesem Spannungsverhältnis resultierte ein an Schärfe zunehmender Kampf verschiedener gesellschaftlicher Klassen – dem Kapital bzw. der Bourgeoisie auf der einen Seite gegen das Proletariat auf der anderen. Der Faschismus war so gesehen eine Radikalisierung der Interessen imperialistischer Wirtschaftskreise und das Bürgertum Ausdruck sozialer Schichtzugehörigkeit wie auch politischer Gesinnung.11 Eine wahrhaftige Demokratie entstand angeblich dann, wenn das werktätige Volk in einem Staat die Oberhand gewann. Dies war nach Auffassung der SED in der DDR der Fall. In den westlichen Staaten, in der Bundesrepublik zusätzlich verkörpert durch den Faschismus tragende „Alt-Nazis“, sei der Klassenfeind hingegen weiterhin an der Macht gewesen und knechtete das Volk. Lenin ging insofern über Marx hinaus, als er voraussetzte, dass das revolutionäre Bewusstsein gerade in der Masse der Unterdrückten zunächst nicht vorhanden sei.12 Daher 8 9 10 11 12 sich im Juni 1948, die Berlin-Blockade begann am 23./24.6.1948, siehe: Weber, Geschichte, S. 159 f.; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 22. Zur Periodisierung siehe auch: Foitzik, Inventar, S. 45 f. Weber, Geschichte, S. 297 ff. Zur Durchsetzung parteistaatlicher Interessen und zu ideologischen Grundlagen des Freund-Feind-Schemas des MfS und im Rechtsleben der SBZ/DDR siehe: Dilcher, Ideologie; Eschebach, Elemente, S. 205 f.; Vollhals, Nomenklatur, S. 222; Gieseke, Genossen, S. 208; Kowalczuk, Stalin, S. 173 f. Bekannt ist die Formel Georgi Dimitroffs, wonach der Faschismus eine offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und am meisten imperialistischen Gruppen des Finanzkapitals in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus sei. Der Faschismus habe sich als eine politische Bewegung und ideologische Strömung entwickelt, die die Klasseninteressen der Monopolbourgeoisie zum Ausdruck brachte und von dieser entscheidend gefördert wurde. Ihr Ziel sei es gewesen, die Politik der Ausplünderung des eigenen Volkes und der imperialistischen Expansion gegen wachsende Widerstände des Volkes und vor allem der revolutionären Arbeiterbewegung mit Mitteln der Aggression und Unterdrückung fortzusetzen. In diesem Zusammenhang habe die Monopolbourgeoisie auch den Zweiten Weltkrieg entfesselt. Einen „Masseneinfluss“ habe der Faschismus hauptsächlich im Kleinbürgertum gehabt, siehe: Schütz, Wörterbuch, S. 171; Kleßmann, Relikte, S. 255. Richert, Macht, S. 261. Jens Kuhlemann – Braune Kader 12 lässt sich meines Erachtens der „aufgeklärtere“ Teil als kommunistische „Bewusstseinselite“ oder „Wertelite“ bezeichnen. Auf dieser Trennung gründete sich die Beherrschung der „zurückgebliebenen“ proletarischen Massen durch eine Avantgarde aus Berufsrevolutionären bzw. die Partei der Arbeiterklasse, die über dem Staat stand und sich subjektiv im Bewusstsein einer besonderen Mission zur Führung geeignet und berechtigt ansah.13 Die „Diktatur des Proletariats“ sollte die Bourgeoisie in der Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus unterdrücken und die Entwicklung einer klassenlosen Gesellschaft, dem Kommunismus, beschleunigen.14 Voraussetzung dafür war parteikonformes und –gelenktes Handeln. Das galt umso mehr für die Kader, die die Gesellschaft durchdringen und an ihren Arbeitsplätzen politische Beschlüsse der Partei und Regierung gehorsam und treu umsetzen sollten. Sie sollten damit den Sozialismus konkret aufbauen und Herrschaft ausbauen und sichern.15 Lenin forderte daher die restlose Zerschlagung des alten Staatsapparates im Zuge der Revolution, billigte aber Übergangsphasen.16 Sozialistische (Kader-) Politik war also hochgradig ideologisiert und sehr eng mit sozialen Prozessen verbunden.17 Kennzeichnend für ein solches totalitäres Herrschaftssystem ist nach Clemens Vollnhals der rigoros durchgesetzte Primat der Politik, monopolisiert im politischen und ideologischen Führungsanspruch der herrschenden Staatspartei. Die Abschaffung der Gewaltenteilung, rechtsstaatlicher Grundsätze und individueller Freiheitsrechte, wie sie bürgerlichen Demokratien zu eigen sind, geht damit einher.18 Gesetze waren in der DDR zwar nicht irrelevant. Viel bedeutender als ihr Wortlaut war jedoch der politische Nutzen für die Machtelite.19 Dabei bedürfen totalitäre Regime zwecks Stabilisierung und Erhalt sowohl der permanenten Massenbeeinflussung, Kontrolle, Repression und Ausgrenzung als auch der Integration, die auf vielfältigen ideologischen wie sozialpolitischen Komponenten beruht.20 Im Ergebnis ließ sich die angestrebte Totalität des Marxismus-Leninismus bzw. der Vorgaben der Machtelite in der SBZ/DDR real nie erreichen. Vor allem private Lebensräume boten Nischen.21 Im Folgenden wird beispielhaft näher auf die Gründe dafür einzugehen sein. Die Kader-, Entnazifizierungs- und Wiedereingliederungspolitik nach 1945 lag – von den Sowjets abgesehen – maßgeblich in der Hand deutscher Altkommunisten. Sie waren von der Stalinisierung des Kommunismus, der Verfolgung im Nationalsozialismus oder der Emigration geprägt. Ihr psychotisch anmutendes Misstrauen und ihre Kontrollobsessionen sind mit Sicherheit zum großen Teil hierauf zurückzuführen.22 Letztlich ist aber nicht genau bestimmbar, ob und in welchem Maße persönliche Leiden in der NS-Ära zu einer außergewöhnlich feindlichen Haltung von Personalleitern gegenüber ehemaligen NSDAPMitgliedern führten. Eine Kaderpolitik mit perfektionistischem Anspruch sollte jedenfalls eine Wiederholung von Vernichtungserfahrungen oder -gefahren unmöglich machen und eine 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 In diesem Zusammenhang siehe die Debatte „Sozialisationshypothese versus Statushypothese“ in: Lenk, Elite, S. 27 f.; Richert, Macht, S. 26, 260; Zimmermann, Überlegungen, S. 351; vgl. Machatzke, Einstellungen, S. 350; Kaina, Wertorientierungen, S. 353. Richert, Macht, S. XXXVII f.; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 72. Nach Stalin hatte der Staat drei Hauptfunktionen: die Abwehr der äußeren und innerstaatlichen Klassenfeinde und Gewährleistung der politischen Sicherheit der Klasse, dann die Koordinierung der Massen und schließlich die Verwendung als Hauptinstrument des wirtschaftlichen Aufbaus, siehe: Richert, Macht, S. XXXVIII f.; Zimmermann, Überlegungen, S. 322, 353; Ross, Karrieren, S. 111; Kowalczuk, Stalin, S. 192 f., 194; Stern, Porträt, S. 244 ff. Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. XIII, 97, 104 f. Kocka, Sonderweg, S. 37. Vollhals, Nomenklatur, S. 238; Pollack, Widersprüchlichkeit, S. 131. Vgl. Scholten, Offiziere, S. 132. Vollnhals, Ministerium, S. 498. Welsh, Eliten, S. 145; Boyer, Kaderpolitik, S. 30; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 85; Kocka, Gesellschaft, S. 547, 551 f. Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 57; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 71; Glaeßner, Herrschaft, S. 291. Jens Kuhlemann – Braune Kader 13 allgemeine Kontrollierbarkeit garantieren. Deshalb wurde auch nach einem strengen FreundFeind-Schema jede Abweichung von einer einheitlichen Parteilinie als Schwächung der eigenen Reihen und Stärkung des Gegners radikal bekämpft.23 Quantitativ waren Traditionskommunisten für den Staatsapparat, aber auch für die SED unrepräsentativ. Sie stützten ihren Einfluss auf die Macht der Siegernation Sowjetunion sowie auf die antifaschistische Reputation als Gegner und Opfer des NS-Regimes.24 Aufgrund der diktatorischen Herrschaftsordnung und der Abhängigkeit der Kader von der Staatspartei ließen sich die Personalvorstellungen der kommunistischen Machtelite ohne konsensuales Vorgehen oder Rücksicht auf Wähler wie in der bundesrepublikanischen Demokratie verfolgen.25 Das betraf insbesondere die Zusammensetzung der Funktionseliten.26 Das Kadersystem funktionierte trotzdem, weil es Raum für den persönlichen Aufstieg ließ. Es baute außerdem auf Ängsten vor Willkürakten und Zwängen auf, sich mit den realen Lebensbedingungen zu arrangieren, sofern man nicht in den Westen floh.27 Frühzeitig verzichtete die SED-Spitze dabei in erheblichem Maße auf fachliche Effizienz zu Gunsten politisch vorteilhaft erscheinender Mitarbeiter.28 Deren Lebensläufe sollten in erster Linie eine ideologisch „richtige“ Ausrichtung sowie ehrliche Verbundenheit zur Arbeiterklasse und ihrer Partei erkennen lassen.29 Durch die sukzessive Platzierung loyaler Kräfte an wichtige Schaltstellen war unmittelbar ab 1945 zunächst die Macht zu erobern und zu sichern.30 Über die Parteidisziplin erteilte die SED-Führung dann ihre Order zwecks Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft.31 Kader bildeten also einen enorm wichtigen Teil des Herrschaftssystems. Denn zumindest vor Ort und im Alltag waren sie es, die nach Stalins bekanntem Diktum „alles entscheiden“.32 Die Kader hatten dabei als „Rädchen“ im „Apparat“, einer nicht zufällig mechanischen Metapher, steuerbar zu sein und wie geplant zu funktionieren.33 Ihre Aufgabe war, als Transmissionsriemen den Willen der Machthaber in alle Bereiche der Gesellschaft hineinzutragen. Aus ideeller Überzeugung sollten sie kämpferisch und mit Hingabe Arbeitsabläufe optimieren, ihre marxistischleninistischen Kenntnisse ständig verbessern und andere Menschen in diesem Sinne anleiten. Hierzu war eine sorgfältige Auswahl und Veredelung des „Menschenmaterials“ notwendig.34 Gleichzeitig galt es, Personen, die in der Verwaltung etc. das System des Klassenfeindes unterstützt hatten und sich der neuen Linie auch nach wiederholten 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 Insofern wirkten in der SED Geheimbundtraditionen fort, ohne die das Selbstverständnis als Kaderpartei nicht zu verstehen ist, siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 351; Eschebach, Elemente, S. 205 f. Niethammer, Erfahrungen, S. 107 f. Welsh, Eliten, S. 139 f.; vgl. Cammack, Assessment. Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 201. Zimmermann, Überlegungen, S. 350. Erich Mielke äußerte etwa 1946 auf einer Konferenz der DVdI-Leitung mit den Polizeichefs der Länder mit Blick auf Polizisten, es sei besser, »eine Zeitlang mit weniger guten Fachkräften zu arbeiten, aber dafür die Sicherheit zu haben, daß die demokratische Entwicklung konsequent weitergeführt wird«, zitiert nach: Wenzke, Wege, S. 211. Alf Lüdtke kritisiert, dass bei der Untersuchung von Herrschaft die Wahrnehmungen, das Verhalten und die Lebensläufe der Menschen bislang zu wenig Beachtung finden, siehe: Lüdtke, DDR, S. 8; Glaeßner, Herrschaft, S. 220. Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 38; Wenzke, Wege, S. 207; Erler, Sicherheitspolitik, S. 75; Boyer, Kader, S. 12; Glaeßner, Herrschaft, S. 300; vgl. die Einschränkungen bei: Rössler, Justizpolitik, S. 182; zur Modifizierung des SED-Führungsanspruchs seit Mitte der fünfziger Jahre siehe: Glaeßner, Herrschaft, S. 80. Merker, Zentralverwaltungen, S. 18; Richert, Macht, S. 50. Stalin formulierte es 1935 so: »Man muß endlich begreifen, daß von allen wertvollen Kapitalien, die es in der Welt gibt, das wertvollste und entscheidendste Kapital die Menschen, die Kader sind. Man muß begreifen, daß unter unseren heutigen Verhältnissen „die Kader alles entscheiden“.«, zitiert nach: Zimmermann, Überlegungen, S. 351. Boyer, Kader, S. 7. Schütz, Wörterbuch, S. 318, 599 f.; Zimmermann, Überlegungen, S. 322, 348; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 52 ff. Jens Kuhlemann – Braune Kader 14 Umerziehungsbemühungen zu verschließen schienen, zu entfernen, damit die alte kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaftsordnung nie wieder entstehen konnte.35 Der Begriff „Kader“ bezog sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich auf Führungskräfte und Spezialisten, wurde und wird aber auch auf alle anderen Mitarbeiter im Politik-, Staats- und Wirtschaftsbereich ausgeweitet.36 Als Angehörige der Funktionseliten bzw. der Dienstklasse war ihr entscheidendes Merkmal, dass sie in unterschiedlichem Umfang im Auftrag der Machtelite Herrschaft ausübten. Deren Vertrauen genossen sie je nach feststellbarer Gesinnung sowie den fachlichen und organisatorischen Qualitäten.37 Insofern handelte es sich bei den Kadern vor allem in der SBZ und frühen DDR um eine relativ heterogene Gruppe, die aufgrund ihrer eingenommenen oder potenziellen Positionen den gleichen personalpolitischen Richtlinien unterzogen wurden.38 Dabei hielten sich die alten Eliten je nach Branche unterschiedlich lang neben den manchmal so benannten „neuen Menschen“.39 Die Kaderpolitik strebte nach dem gläsernen Menschen, dem auf seine biografische Anatomie hin völlig durchleuchteten Mitarbeiter, über den man alles weiß und der einen daher nicht (in feindlicher Absicht) überraschen kann. Undurchsichtige Elemente waren möglichst zu meiden, um kein Risiko einzugehen. Lebensläufe wurden geradezu nach positiven und negativen Anteilen seziert und einander gegenübergestellt.40 Detaillierte Statistiken zu einzelnen Merkmalen sollten helfen, die politische Zuverlässigkeit berechenbar zu machen.41 In der Kaderpolitik waren biografische Merkmale so wichtig, weil sie der SED vor dem Hintergrund des Klassendenkens Aufschluss über soziale und politische Orientierungen zu geben schienen. Ein intensives Kennenlernen war dazu Voraussetzung. Dabei waren den Betroffenen die jeweiligen Kriterien für die Auswahl und die Karriereverläufe in der DDR nicht in allen Einzelheiten bekannt.42 Sie sollen im Verlauf dieser Arbeit einzeln vorgestellt werden.43 Nach Art einer „Kaderwaage“ wurden die kaderpolitischen Plus- und Minuspunkte einer Biografie gemäß dem Maßstab der anvisierten Arbeitsgebiete und Verwendungsdauer gegeneinander abgewogen. Bestimmte Belastungen durften für sich genommen nicht zu groß ausfallen. Das Gleiche galt für mehrere Negativmerkmale, die in ihrer Kombination zumindest für bestimmte Tätigkeitsbereiche 35 36 37 38 39 40 41 42 43 Merker, Zentralverwaltungen, S. 42; Zimmermann, Überlegungen, S. 332, 351; Boyer, Kader, S. 8. Ursprünglich bezeichnete das Wort „Cadre“ im Zuge der französischen Revolution einen „Rahmen“ von Berufssoldaten, die ihre Kenntnisse und Erfahrungen an ungeübte Rekruten weitergaben. Es umspannte eine Gesamtheit von Offizieren und Unteroffizieren, die in ihrem Kompetenzbereich Soldaten führen und zu einem Ganzen formen sollten. Eine außermilitärische Bedeutung begann der Begriff mit Lenin zu erlangen, indem er für die Partei eine „starke Kerntruppe“ verlangte, um sich besser zu organisieren. Stalin schließlich erstreckte die Kader auf Leitungs- und Verwaltungskräfte aus der Arbeiterklasse, die von der Partei des Proletariats heranzubilden waren. Zu variierenden Definitionen und Begrifflichkeiten der Kaderpolitik und ihrer Instrumente inklusive Kadernomenklatur siehe: Müller / Hodnett, Kader, Sp. 453 f., 461 f.; Glaeßner, Herrschaft, S. 94, 222; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 379; Zimmermann, Überlegungen, S. 322-325, 327, 329 f.; Gieseke, Genossen, S. 207; Roß, Eliten, S. 186 f.; Richert, Macht, S. 266 ff.; vgl. Boyer, Kader, S. 7; vgl. den militärischen Bereich Ostdeutschlands, in dem vor allem Generäle und Offiziere, mitunter aber auch Unterführer und Mannschaften unter den Kaderbegriff fielen, in: Wenzke, Wege, S. 206 f. Herz, Dienstklasse, S. 232; Bourdieu, Kapital, S. 52. Zimmermann, Überlegungen, S. 324. Roß, Eliten, S. 184. Siehe beispielhaft die Auflistungen in Form von Kaderspiegeln mehrerer Pgs. im Regierungsapparat, in: DO 1 / 26.0, 6565, Ministerium für Industrie, HA Steine und Erden, Personalleitung, Aktenspiegel, vom 02.10.1950; ebd., Ministerium für Industrie, HA Chemie, Personalleitung, Kaderspiegel Hans S[...], vom 02.10.1950; ebd., Ministerium für Industrie, HA Chemie, Personalabteilung, Kaderspiegel Oswald G[...], vom 02.10.1950; DO 1 / 26.0, 17173, Ministerium der Finanzen, Georgino, Bericht über die Kaderarbeit des Ministeriums der Finanzen für das Jahr 1954, vom [07].01.1955, S. 19 f. Wenzke, Wege, S. 206, 240. Bericht, S. 23; vgl. Lorenz, Elitenwandel, S. 87. Zu Kriterien der Kaderpolitik siehe: Müller / Hodnett, Kader, Sp. 456; Boyer, Kader, S. 8 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 15 unakzeptabel erschienen. Trotz immer wieder auftauchender Pauschalisierungen sollte diesbezüglich bei ehemaligen Nationalsozialisten eigentlich individuell verfahren und von Fall zu Fall entschieden werden, inwiefern eine Wiedereingliederung möglich war.44 Für ihre Resozialisation in die sich wandelnde Gesellschaft – begrifflich im Grunde ein seltsamer Widerspruch, da der ursprüngliche soziale Rahmen nicht mehr existierte – gewann dabei eine „positive“ Entwicklung nach 1945 gegenüber einer „negativen“ vor Kriegsende im Laufe der Zeit an Bedeutung.45 Marxismus-Leninismus und Kaderpolitik wurden grundsätzlich in allen Positionshöhen und gesellschaftlichen Bereichen wie Staat, Partei, Wirtschaft, Militär etc. angewandt, je nach Bedeutung für die Machtfrage nur in unterschiedlicher Intensität. Dies schloss die Funktionseliten oder die Dienstklasse mit ein. Eine einheitliche, allgemein anerkannte Definition dieser Begriffe fehlt. Der Elitebegriff bereitet bei der Anwendung auf kommunistische Diktaturen Probleme.46 Denn ihrem Selbstverständnis nach waren die Kommunisten als Angehörige der sozial bislang untersten und am meisten benachteiligten proletarischen Schicht, wie in ihren Augen auch die gesamte DDR-Gesellschaft, egalitär.47 „Eliten“ galten dort als überhebliche Oberschicht in einem bürgerlich-kapitalistischen Ausbeutersystem und ein Volk mit Eliten nur als bedingt selbst handlungsfähig.48 Zu antielitären Vorbehalten kam die Ausschaltung bzw. der Exodus zahlreicher Eliten hinzu. Das führt in der Forschung sogar zu der Frage, ob die DDR ein Land ohne Eliten war. Gleichwohl gab es eindeutig elitäre Elemente wie eine verschieden stark ausgeprägte Nähe zur Macht und ein entwickeltes ideologisches Bewusstsein, was die Masse von „antielitären Eliten“ unterschied.49 Unter der sozialistischen Dienstklasse lassen sich im vorliegenden Fall diejenigen Angehörigen des Staatsapparates zusammenfassen, die mehr als rein technische Arbeiten verrichteten und über einen – wenn auch noch so kleinen – inhaltlichen Gestaltungsspielraum verfügten. Innerhalb dieser Gruppe ragten die Funktionseliten als operative Spitze mit einem größeren Maß an Kontroll- und Entscheidungsbefugnissen heraus. Sie bestanden aus Mitarbeitern in strategischen Positionen. Systemstabilisierend setzten die Funktionseliten die politischen Leitlinien, Gesetze und Verordnungen der Machtelite um, die wiederum aus der SED-Spitze und der sowjetischen Besatzungsmacht bestand.50 Wegen der in Grundsatzfragen praktisch fehlenden, aber bei ihrer Realisierung vorhandenen dauerhaften Einflussnahme auf gesellschaftlich bedeutsame Entscheidungen war die Macht der DDR-Funktionseliten ambivalent.51 Dennoch ist die Erforschung ihrer Rolle im Herrschaftssystem eminent wichtig, 44 45 46 47 48 49 50 51 DC 1 / 2570, XVIII/1/2, Ulbricht, an ZKK, Lange, vom 17.01.1949. DO 1/8/01, Bl. 5; DO 1 / 26.0, 17163, [MdI,] HA Kader, Abteilung Finanzen und Volksbildung, Analyse der Kaderarbeit des Ministeriums für Arbeit im 2. Quartal 1954, vom 29.07.1954, S. 2; DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium des Innern, Personalabteilung, Vierteljährliche Berichterstattung, an MdI, Abteilung Personalstatistik, vom 04.07.1950, S. 5. Zur Definition verschiedener Elitebegriffe siehe: Bauerkämper, Elite, S. 19 f.; Noack, Eliten, S. 785 f.; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre; Stammer, Elitenproblem; Schluchter, Elitebegriff; Schelsky, Arbeit; Scheuch, Continuity; Geißler, Umbruch; Herz, Dienstklasse, S. 231. Welsh, Eliten S. 138. Hübner, Einleitung, S. 12. Arnd Bauerkämper in dem Workshop „Wertorientierungen und Lebensstile des Führungspersonals in Politik, Kultur und Wirtschaft der SBZ/DDR“ am 13.06.1997 im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; vgl. Gieseke, Mitarbeiter, S. 129; zur vertikalen und horizontalen Integration bzw. dem Verhältnis von Führungsgruppen und Bevölkerung einerseits und dem Verhältnis von verschiedenen Teileliten untereinander andererseits siehe: Kaina, Wertorientierungen, S. 352; Bauerkämper, Elite, S. 27 f. Rubin, Reinhold: Unerläßliche Transmissionsriemen der SED. In: Das Parlament 53 (26.12.1997), S. 13; zu Studien über (politische) DDR-Eliten siehe: Schneider, Funktionselite, dort insbesondere S. 33. Nach einer relativ engen Definition weisen sich Eliten durch ihre gesellschaftliche Macht aus, die zudem über die notwendigen Mittel zur Durchsetzung von Entscheidungen verfügen. Ein anderes Kriterium ist die gesellschaftliche Reputation. All dies war bei funktionalen Eliten in der DDR nur begrenzt vorhanden. Jens Kuhlemann – Braune Kader 16 zumal Untersuchungen der politischen Elite Gefahr laufen, nicht nur das gesellschaftliche Umfeld, in dem die Elite agiert und aus dem sie kommt, sondern auch die organisatorische Umsetzung des Führungswillens in der Gesellschaft zu vernachlässigen.52 Als Resümee lässt sich ziehen: Klassenkampf war gleich Machtkampf, und Machtpolitik war gleich Kaderpolitik. 0.1 Fragestellung Mit Blick auf die Quellenlage und die angewandte Methodik sei an dieser Stelle auf umfangreiche Darstellungen in der Dissertationsschrift verwiesen.53 Die Ziele dieser wissenschaftlichen Untersuchung sind jedoch vorab unbedingt zu erläutern. Im Weiteren skizziere ich daher zunächst die Fragestellung, die ihr zugrunde liegt. Nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 stand nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch die SBZ/DDR vor der Aufgabe, die ehemaligen NS„Volksgenossen“ in eine systemtreue Bevölkerung zu verwandeln. Hinsichtlich des Staatsapparates kam das Erbe des Berufsbeamtentums hinzu. Nach Beendigung der Entnazifizierung mussten in diesem Zusammenhang Millionen von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP und ihrer Gliederungen in die postfaschistische Gesellschaft wiedereingegliedert werden. Wie und mit welchem Ergebnis ging dies unter den Bedingungen einer sich rasch herauskristallisierenden stalinistischen Diktatur vonstatten? Erfolgte tatsächlich eine Reintegration der „passiven“, d.h. der so genannten nominellen NSDAP-Mitglieder in Beruf und Gesellschaft, wie es die Rechtslage und die Verlautbarungen von Spitzenpolitikern offerierten? Blieben demgegenüber „aktive“ Nationalsozialisten weiterhin von wichtigen Funktionen ausgeschlossen? Von vordringlichem Interesse ist, in welchem Ausmaß und unter welchen Konditionen die SED-Führung ihre alten „Erzfeinde“ in Kernbereiche des Herrschaftssystems vorrücken ließ.54 Aus der Beantwortung dieser Fragen für die höchsten Staatsorgane erhoffe ich mir auch verallgemeinerbare Rückschlüsse für andere Sektoren als die Verwaltung sowie für die ostdeutsche Gesamtbevölkerung.55 Die Analyse dieser Vorgänge geschieht schließlich vor dem Hintergrund der Formierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der gesamten SBZ/DDR, nur eben mit Fokus auf die Eliten. Wie sah dabei das Mischungsverhältnis der „alten“ und der „neuen“ Eliten in der Regierung aus? Inwiefern zirkulierten sie oder reproduzierten sich?56 Welche Reibungspunkte offenbarte der Synchronismus von Kontinuität und Wandel in der Transformationsphase vom NS-Regime zur DDR? Gemeint sind unter anderem Konflikte mit den Opfern des Nationalsozialismus und der SED-Basis, die eine Politik der Reintegration NS-Belasteter auslöste.57 Gab es unbeabsichtigte Entwicklungen und Widerstände? Inwiefern besaß die Heranziehung nationalsozialistisch belasteter Funktionseliten lediglich einen Übergangscharakter? In welchem Maße gehörten frühere Mitglieder der NSDAP und anderer kompromittierter Organisationen dauerhaft zur „neuen“ 52 53 54 55 56 57 Nicht immer bzw. gar nicht gegeben waren diese Merkmale zum Beispiel bei politisch oppositionellen Gegeneliten, kulturellen und Bildungseliten, siehe: Hübner, Einleitung, S. 9 f.; Welsh, Eliten S. 138. Zimmermann, Überlegungen, S. 346-348. In der genannten Reihenfolge in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 23-38, 39-44. Gieseke, Frage, S. 131 f. Zumal der staatliche Sektor ja andere Bereiche wie die Wirtschaft dominierte, siehe: Zank, Zentralverwaltungen, S. 255. Welsh, Kaderpolitik, S. 107. Danyel, SED, S. 182. Jens Kuhlemann – Braune Kader 17 Intelligenz, deren Herausbildung in der DDR-Staatsverwaltung bislang kaum erforscht wurde?58 Grundlegend für die Beantwortung dieser Fragen ist das Spannungsverhältnis zwischen politischen Säuberungswünschen einerseits sowie ökonomischen und verwaltungstechnischen Sachzwängen andererseits, also die Differenz zwischen Prinzipien und Pragmatismus. Über die Verteilung der Personalressourcen verfügte im Wesentlichen die SED, auch gegen den Willen breiter Bevölkerungsschichten. In diesem Zusammenhang spreche ich von „Kaderverantwortlichen“. Dahinter verbergen sich verschiedene Personalleiter und Kontrollgremien im Partei- und Staatsapparat sowie bei der sowjetischen Besatzungsmacht, die die Kaderpolitik in teilweise hierarchischer Ordnung beaufsichtigten. Die Pgs. hingegen hatten nur wenig in der Hand. Sie besaßen nicht die Macht des freien Urnengangs oder der juristischen Prozessführung, wie es in einem Rechtsstaat üblich ist. Außerdem verloren sie einen Großteil ihrer alten Förderer in der Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Justiz. Wo lag nun angesichts dessen die Schnittstelle: Welche Personen galten als integrationsfähig und welche nicht? Über welche Handlungsspielräume verfügten Staat und Partei im Rahmen ihrer Machtausweitung? Letzteres ist aus Sicht der früheren Nationalsozialisten ebenfalls unter die Lupe zu nehmen. Welche Motive bewegten sie, sich den Kommunisten anzudienen und sich unter dem Banner von Hammer und Zirkel für den Aufbau der neuen „antifaschistischdemokratischen Ordnung“ einzusetzen?59 Inwiefern gab es Biografiefälscher, die ihre wahre NS-Vergangenheit verheimlichten, und welche Konsequenzen drohten ihnen? Unzureichend erforscht ist außerdem die Verwendung realer oder vermeintlicher NS-Belastungen gegen politische Gegner der SED.60 Von entscheidender Bedeutung für die Wiedereingliederung NS-belasteter Personen in den zentralen Staatsapparat war die Kaderpolitik. Das Menschen- und Weltbild, das hinter ihr stand, ist der Schlüssel zum Verständnis der immer wieder auftauchenden Phänomene, dass Stützen des NS-Regimes in der DDR die Chance zu einer zweiten Karriere erhielten. Aus diesem Grund widme ich der Systematik der Kaderpolitik in all ihren Einzelheiten größte Aufmerksamkeit. Wie war dieser Schaltplan geordnet und was war die antreibende Kraft, die ihn mit Leben füllte? Hierzu gehört eine möglichst genaue Rekonstruktion kaderpolitischer Merkmale sozialer und politischer Art. Gab es zum Beispiel Karrieremuster unter den ehemaligen Parteigenossen der NSDAP, die zeitgenössisch auch einfach „Pgs.“ hießen? Welche Eigenschaften brachten sie mit sich, die für eine Arbeit in den Regierungsdienststellen qualifizierten? Welche politisch-ideologischen Einstellungen und Wandlungen kamen vor? Was geschah mit den nicht Anpassungsfähigen und –willigen?61 Spielte ein Hang zum Totalitären, wie er für Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen markant war, eine Rolle oder gab es mit der kommunistischen Machtelite mehr Trennendes als Verbindendes?62 Zurecht weisen Historiker darauf hin, dass eine Erforschung früher DDR-Eliten nicht ohne Berücksichtigung der Zeit vor dem Ende des NSRegimes zu bewerkstelligen ist.63 Daher sind sämtliche Aspekte nach Möglichkeit über die Zäsuren 1918, 1933 und 1945 hinweg zu verfolgen. Aus Kapazitätsgründen werden die im engeren Sinne politischen Erfahrungen und Verhaltensweisen ehemaliger Nationalsozialisten aus der Zeit vor 1945 in der hier vorliegenden gekürzten Ausgabe jedoch nicht dargestellt, das Gleiche gilt für zahlreiche grafische Abbildungen der im Text erläuterten statistischen Erhebungen, darüber hinaus für vier umfangreichere individuelle Beispiele zu hohen Staatsfunktionären und zusammenfassende Kurzbiographien zu weiteren in der Untersuchung 58 59 60 61 62 63 Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 67. Niethammer, Entnazifizierung. Danyel, SED, S. 182. Vgl. Welsh, Eliten, S. 143. Gieseke, Frage, S. 131 f., 147. Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 67. Jens Kuhlemann – Braune Kader 18 erwähnten NS-belasteten Kadern; es sei hier auf die entsprechenden Ausführungen in der Dissertation verwiesen.64 Alle kaderpolitischen Detailbeschreibungen sollen zum Versuch einer Merkmal- und Typenbildung führen. Wie homogen oder heterogen war die Gruppe der im Staatsapparat tätigen NS-Belasteten im Vergleich zur übrigen Dienstklasse? Der Umgang mit der Vergangenheit durch die ehemaligen Nationalsozialisten, die SED und andere ist in diesem Zusammenhang zu umreißen, natürlich unter Berücksichtigung des jeweiligen Erkenntnishorizontes. Darüber hinaus ist zu ergründen, ob und wie sich die Ansprüche an die Biografie der Mitarbeiter des zentralen ostdeutschen Verwaltungsapparates veränderten. Zu beachten ist hierbei der Einfluss außen- und innenpolitischer Rahmenbedingungen auf die Personalpolitik. Andererseits steht die Frage im Raum, ob die Kader- und Reintegrationspolitik, so wie sie sich ereignete, die DDR festigte oder eher destabilisierte. So gut es geht, sollen dabei neben den Eliten die Erfahrungen des Volkes und die Kontinuität der Gesellschaft Beachtung finden, um so die Voraussetzungen, auf die das SED-Regime stieß, zu erhellen.65 All diese Facetten führen schließlich zur Neubewertung des antifaschistischen Gründungskonsens´ der DDR, eines Staates, der die restlose Überwindung des nationalsozialistischen Erbes propagierte. In welchem Maße sind Korrekturen an diesem Bild vorzunehmen?66 Welche Lehren lassen sich schließlich mit Blick auf andere Transformationsprozesse ziehen? Egal ob dies vergangene, gegenwärtige oder kommende betrifft – wie wandeln sich Menschen und wie erneuern sich Gesellschaften? 0.2 Forschungsstand Seit Dezember 2003, dem Redaktionsschluss der Dissertationsauflage dieses Buches, hat es einige Forschungsarbeiten gegeben, die den Themenkomplex der Integration von NSBelasteten nach 1945 in Deutschland bzw. speziell in der DDR aufgreifen.67 Von diesen hat die Studie der Unabhängigen Historikerkommission des Bundesaußenministeriums „Das Amt und die Vergangenheit“, an der ich in bescheidenem Maße mitarbeiten durfte, das größte Medienecho hervorgerufen. Sie beschreibt die Geschichte des Auswärtigen Dienstes im Nationalsozialismus, den Umgang mit dieser Vergangenheit nach Wiedergründung des Auswärtigen Amtes 1951 und die Frage personeller Kontinuität bzw. Diskontinuität nach 1945. Leider hat die Kommission in ihrem Buch bei der Personalpolitik auf einen Vergleich mit dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR verzichtet. Ein solcher Vergleich mag für die Beantwortung der vorgegebenen Fragestellungen nicht unbedingt erforderlich gewesen sein. Als echtes Defizit erscheint jedoch, dass die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit bis auf den Aspekt der Veröffentlichung diverser „Braunbücher“ über westdeutsche Funktionsträger in Staat und Gesellschaft komplett ausblendet wird. Heikle Fragen nach dem Wissen des MfS über die NS-Belastung bundesdeutscher Diplomaten und nach dem Gebrauch dieses Wissens bei der Verfolgung ostdeutscher Interessen bleiben deshalb offen.68 64 65 66 67 68 Kuhlemann, Kader (2005), insb. S. 345 ff., 842 ff., 1014 ff., Statistik-Diagramme zu bestimmten Themen finden sich in der Dissertation in den gleichnamigen Kapiteln. Niethammer, Erfahrungen, S. 95 f. Gieseke, Frage, S. 131 f. Zur Übersicht auf den damaligen Forschungsstand siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 14-22. Conze, Amt, S. 12; zur Kritik an der Studie und ihrer fast völligen Ignorierung von BStU-Unterlagen siehe: Kuhlemann, Jens: „Das Amt“ blendet die Rolle der Stasi aus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 05.11.2010, S. 9. Mit Blick auf bundesrepublikanische „zweite Karrieren“ siehe auch: Gassert, Kurt Georg Jens Kuhlemann – Braune Kader 19 Mit Blick auf das ostdeutsche Gegenstück zum Auswärtigen Amt haben eigene Recherchen ergeben, dass der Anteil der den Kaderabteilungen bekannten ehemaligen NSDAP-Mitglieder am Verwaltungspersonal des DDR-Außenministeriums (ohne technische Kräfte) im Dezember 1949 bei Null lag. Im Februar 1950 erreichte ihr Wert kurzzeitig 5,1%, sank dann wieder und schwankte ab Juni 1951 bis Dezember 1957 zwischen Null und knapp über 1% (absolut: höchstens acht Personen pro Erhebungszeitpunkt).69 Darüber hinaus ist das Bekanntwerden einer verheimlichten NSDAP-Mitgliedschaft im Fall einer jungen Angestellten belegt, die umgehend aus dem Ministerium ausschied.70 Bei den Auslandsvertretungen lag der NSDAP-Anteil an den Verwaltungsangestellten 1956-1958 bei höchstens 2,8% (entspricht maximal acht Pgs. absolut) und war also ähnlich niedrig.71 Der Anteil ehemaliger Wehrmachtsoffiziere im DDR-Außenministerium sank in den Jahren 1951 bis 1956 von 2,6% auf 0,7% (ohne technisches Personal). Eine durchgängige Bezifferung des Anteils früherer Beamten bis Ende der fünfziger Jahre ist wegen häufig wechselnder Erhebungskategorien schwierig. Er lag jedoch – egal, ob mit oder ohne technische Kräfte – bezüglich der Verwaltungsangestellten meist bei weniger als 1%, selbst die „Spitzenwerte“ rangierten bei unter 2%.72 Auf die Erläuterung weiterer kaderpolitischer Merkmale der NSBelasteten bzw. derer im MfAA, die die SED wie frühere Offiziere und Beamte zu den Ausführenden der NS-Politik zählte, wird an dieser Stelle aus Kapazitätsgründen verzichtet. Die vorstehenden Angaben unterstreichen aber bereits den radikalen Bruch der DDR mit Angehörigen der NS-Dienstklasse, insbesondere dem diplomatischen Corps des Reichsaußenministeriums, deren Mitglieder in zahlreichen Fällen im neuen Auswärtigen Amt in Bonn weiterwirkten. Passend hierzu fanden sich im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten vom Anfang des Jahres 1950 abgesehen (Hauptabteilungsleiter Bernhard Mutius, persönlicher Referent von Minister Dertinger) bis 1954 die ohnehin selten vertretenen ehemaligen NSDAP-Mitglieder nur in den unteren und mittleren Segmenten der Verwaltungsangestellten, d.h. bis hinauf zum Referent und Oberreferent, darüber hinaus bei den technischen Kräften. Erst ab 1955 drangen die ersten 1-2 Pgs. wieder in die Gruppe der 69 70 71 72 Kiesinger; zur Kritik an der Vergangenheitsbeurteilung des Biografen siehe: Kuhlemann, Jens: Kiesingers Propagandakrieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 07.05.2004, S. 9; in diesem Zusammenhang ferner: ders.: Moralisch bedenklich. [Theodor Heuss: ein Journalist im Nationalsozialismus.] In: Süddeutsche Zeitung, vom 24.10.2003, S. 11. DO 1 / 26.0, 17099, LXXXI/49/7/1 [1.12.1949]; DO 1 / 26.0, 17101, XCVIII/50/4/3 [10.2.1950], CIX/50/6 [1.3.1950], CIII/50/6 [31.3.1950], CVIII/50/4 [30.4.1950], CX/50 [31.5.1950], CXI/50 [30.6.1950]; DO 1 / 26.0, 17107, CXXXIV/50/2/1 [31.7.1950], CXXXIX/50/2/1 [31.8.1950]; DO 1 / 26.0, 17104, CXLVIII/[...]/4/3 [30.9.1950], CXLIX/50/2/1 [31.10.1950]; DO 1 / 26.0, 17107, CLXX/50/1/1 [30.11.1950]; DO 1 / 26.0, 17341, 39/51/4/1 [31.12.1950]; DO 1 / 26.0, 17346, 88/51/7/2, Bl. 21 [31.3.1951]; DO 1 / 26.0, 17348, 114/51/3/2, Bl. 20 [30.6.1951]; DO 1 / 26.0, 17359, 291/51/7/1, Bl. 19 [30.9.1951]; DO 1 / 26.0, 17321, 1/52/8/1, Bl. 18 [31.12.1951]; DO 1 / 26.0, 17330, 39/52/8/1, Bl. 19 [31.3.1952]; DO 1 / 26.0, 17331, 53/52/8/1, Bl. 20 [30.6.1952]; DO 1 / 26.0, 17334, 83/52/8/1, Bl. 27 [15.9.1952]; DO 1 / 26.0, 17304, 1/53/8/1, Bl. 29 [15.12.1952]; DO 1 / 26.0, 17307, 28/53/8/1, Bl. 29 [15.3.1953]; DO 1 / 26.0, 17308, 37/53/7/1, Bl. 31 [15.6.1953]; DO 1 / 26.0, 17312, 52/53/7/1, Bl. 31 [15.9.1953]; DO 1 / 26.0, 17470, IV/53, 1/54/7/6, Bl. 27 [15.12.1953]; DO 1 / 26.0, 17476, 29/54/5/4, Bl. 25 [15.6.1954]; DO 1 / 26.0, 17476, IV/54, 2/55/5/1, Bl. 24 [15.12.1954]; DO 1 / 26.0, 17453, IV/55, 1/56/4/4, Bl. 18 [15.12.1955]; DO 1 / 26.0, 17447, 1/57/4/4, Bl. 17 (Angaben ohne Staatssekretär und Stellvertreter des Ministers) [15.12.1956]; DO 1 / 26.0, 17445, IV/57, 1/58/1/1, Bl. 18 f. [15.12.1957]. DO 1 / 26.0, 17305, 12/53/2/1, S. 7, Ministerium des Innern, HA Personal, Namentliche Aufstellung der aus politischen und kriminellen Gründen aus den Regierungsdienststellen ausgeschiedenen Personen im Verlaufe des Jahres 1952, vom 27.01.1953; DO 1 / 26.0, 17304, vermutlich zu 4/53/2/1 gehörig, Bl. 12 (nach anderer Nummerierung Bl. 15), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Leiter der Personalabteilung, Rathmann, Erläuterungen zum Berichtsbogen B, Spalte 22/23, Berichtsperiode v. 15.9.1952 bis 15.12.1952, vom 30.12.1952. DO 1 / 26.0, 17447, 1/57/4/4, Bl. 18 [15.12.1956]; DO 1 / 26.0, 17445, IV/57, 1/58/1/1, Bl. 19/1 [15.12.1957]; DO 1 / 26.0, 17446, 9/58/1/1 [15.12.1958]. Quellen siehe Anmerkung 3. Jens Kuhlemann – Braune Kader 20 leitenden Angestellten vor.73 Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten gehörte also zu denjenigen Ressorts, in denen besonders hohe kaderpolitische Ansprüche galten. Die Repräsentanten der DDR im Ausland sollten selbst im Vergleich zu anderen DDRMinisterien auf überdurchschnittliche Weise einen Schnitt mit der faschistischen Vergangenheit Deutschlands verkörpern. Ein weiterer Beleg hierfür ist, dass das MfAA zum 1.12.1949 das einzige Ministerium war, das nicht nur keine ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder beschäftigte, sondern auch keine Angehörigen irgendwelcher anderen NSOrganisationen, ja nicht einmal Mitglieder der HJ.74 Die DDR-Forschung hat in jüngster Zeit die Frage personeller Kontinuitäten von NSBelasteten vor allem mit Blick auf lokale und regionale SED-Parteifunktionäre sowie am Beispiel des Führungspersonals diverser Wirtschaftsbetriebe untersucht. So haben sich Heinrich Best, Axel Salheiser und Sandra Meenzen mit SED-Funktionären in Thüringen befasst, die vor 1945 der NSDAP angehört hatten.75 Bemerkenswert ist dabei hinsichtlich der untersuchten 263 Ersten und Zweiten Bezirks- und Kreissekretäre der SED, dass 36 der NSDAP angehört hatten und dass – mit einer einzigen Ausnahme – deren Mitgliedschaft zur Nazi-Partei in internen SED-Unterlagen nicht auftaucht. Es handelte sich also im großen Stil um Biografiemanipulationen. Im Unterschied zur DDR-Staatsverwaltung fällt in diesem rein politischen Sektor der Anteil an Pgs. auf, die besonders jung waren (der ganz überwiegende Teil wurde in den Zwanziger Jahren geboren und kam offenkundig aus der HJ zur NSDAP).76 Dies passt zu der Beobachtung, dass die SED als mutmaßlich ideologisch leichter erziehbares Rekrutierungsreservoir vor allem junge Menschen im Blick hatte. Demgegenüber wiesen alte Fachkräfte in der Staatsverwaltung wegen ihrer Berufskompetenz, die sie sich durch langjährige Praxis erworben hatten, ein überdurchschnittlich hohes Alter auf.77 Diese Merkmale wiederum hatten Auswirkungen auf den Grad der Verantwortlichkeit für das eigene politische Handeln und die Umstände der NSDAP-Mitgliedschaft, die die Kaderverantwortlichen mit anderen Kaderkriterien abwogen. Axel Salheiser, Armin Müller, Dietmar Remy und weitere Historiker haben sich außerdem mit (Dis-)Kontinuitäten ehemaliger Nationalsozialisten in den Leitungen von DDRWirtschaftsbetrieben befasst. Müller stellt bei neun großen Unternehmen eine Häufung von Entlassungen solcher Geschäftsführer, Vorstände und Eigentümer, die NSDAP-Mitglied waren, relativ rasch in der SBZ-Phase fest. Die „Brückenfunktion“ hin zum Typ des sozialistischen Managers aus der neuen Intelligenz wurde entweder zunächst von Managern ausgefüllt, die bei Kriegsende betriebsintern in ähnlichen Funktionen wie die Vorgenannten standen, aber keine Pgs. waren, bzw. spätestens ab 1948 durch andere Leiter aus der Gruppe der alten Intelligenz, die ebenfalls nicht der NSDAP angehörten. Letztere schieden dann in der Regel erst Ende der 1950er Jahre aus. Es handelte sich also in diesen Wirtschaftsbetrieben mit Blick auf alte Fachkräfte in Führungspositionen nicht um einen schnellen und radikalen, sondern um einen länger andauernden Elitenwechsel. Das Austauschtempo in den obersten Hierarchien war damit deutlich langsamer als in den DDR-Regierungsdienststellen.78 Dies unterstreicht die Feststellung, dass die Machtelite auf umso strengere „Personalsauberkeit“ 73 74 75 76 77 78 Quellen siehe Anmerkung 3. DO 1 / 26.0, 17099, LXXXI/49/7/1 [1.12.1949]. Best, Ersten; ders., Formation; ders., Parteiherrschaft; ders. / Salheiser, Shadows; Best / Meenzen, SEDFunktionäre; Meenzen, Klassenbewusstsein. Meenzen, Klassenbewusstsein, S. 52 f.. Siehe Kapitel „Alter“. Salheiser und Müller lassen leider beide die zahlreichen Kaderstatistiken zu DDR-Wirtschaftsbetrieben aus den 1950er Jahren, die das Ministerium des Innern verwahrte, unberücksichtigt. Quellenangaben zu den genannten Statistiken in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 35; Müller, Brüche; ders., Netzwerke, S. 141-145, 157 f.; Salheiser, Inequality; ders., Elite; ders., Rekrutierungsmuster; Remy, Funktionselite; ders., Kaderauswahl; Stutz, Swastika; Wagner-Kyora, Selbst. Jens Kuhlemann – Braune Kader 21 achtete, je wichtiger Institutionen macht- und sicherheitspolitisch waren. Wirtschaftsbetriebe gehörten hier zu den als sekundär eingestuften Einrichtungen. Unterschiedliche Einschätzungen innerhalb der Forschung bestehen vor allem bei zwei Gesichtspunkten: zum einen bei der Frage der Aussagekraft und Zuverlässigkeit DDR-intern erstellter Personalstatistiken; zum anderen in Hinblick auf die These vom „gemeinsamen Beschweigen“ einer NS-Vergangenheit durch den Betroffenen selbst sowie durch den oder die zuständigen SED-Verantwortlichen. So vertritt Sandra Meenzen die These, dass die SED eine NSDAP-Zugehörigkeit bei vielen Thüringer SED-Parteisekretären zwar gewusst, aber nicht in den Kaderakten vermerkt habe. Sie führt an, dass die hohe Zahl der Fragebogenfälscher, die ihre NSDAP-Mitgliedschaft verborgen hatten, in dieser Funktionärsgruppe anders nicht erklärbar sei. In diesem Sinne schreibt auch Axel Salheiser mit Blick auf den laut ZKDS bei Null liegenden Anteil ehemaliger Pgs. bei Kombinatsdirektoren, dass es verbreiteter Praxis entsprochen habe, dass die Kaderabteilungen eine NSDAP-Zugehörigkeit von Funktionsträgern trotz besseren Wissens nicht in den Zentralen Kaderdatenspeicher eingegeben hätten. Zur Begründung nennt Salheiser, es habe eine Gefahr bestanden, dass sonst bei Bekanntwerden der genauen Integrationsausmaße ein Rückschlag für die antifaschistische Propaganda der DDR zu erwarten gewesen sei. Außerdem hätte in einem solchen Fall die Autorität der Kader gegenüber unterstellten Mitarbeitern in den Betrieben Schaden nehmen können.79 Unklar bleibt hierbei die Frage, wie realistisch es war, dass die Öffentlichkeit oder einfache Betriebskollegen die entsprechenden Dokumente hätten in die Hände bekommen können. Die von Sandra Meenzen genannten Quellenfunde, die angeblich ein gemeinsames Beschweigen belegen, scheinen mir zum einen zahlenmäßig wenige zu sein. Zum anderen beziehen sie sich nur auf extrem kurze Aussagen Beteiligter, die sich im jeweiligen Fall auch anders interpretieren lassen. Bemerkenswert bleibt gleichwohl der hohe Prozentsatz an Fragebogenfälschern unter den Thüringer SED-Sekretären, die zuvor Pg. waren. Mein Erklärungsansatz für dieses Phänomen ist, dass bei den hauptamtlichen Parteifunktionären eine besonders strenge Kaderpolitik Anwendung fand – und ehemalige Pgs. daher von vornherein nur geringe Chancen hatten, in diese Gruppe aufzusteigen. Wer trotzdem eine solche Parteikarriere anstrebte, hat eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft besser verheimlicht. Mit Blick auf die Kombinatsdirektoren führt auch Axel Salheiser nichts an, was über eine Vermutung bzw. Interpretation hinausgeht. Die Abwesenheit ehemaliger Pgs. in dieser einen von mehreren im ZKDS erfassten Kadergruppen scheint mir eher Ausdruck des Bestrebens der SED zu sein, die Führungsposten besonders wichtiger Einrichtungen mit überdurchschnittlich vertrauenswürdigen Kadern zu besetzen. Um die Fähigkeiten von Fachleuten mit politisch zwiespältigem Hintergrund zu nutzen, wurden diese meist in der unteren Führungsebene oder in mittleren Positionen eingesetzt, wie das bei den Fachdirektoren der Kombinate zutraf. In unteren Hierarchie-Stufen finden sich laut Salheiser demgegenüber vergleichsweise wenige frühere Pgs. Das ist meines Erachtens nicht mit unterschiedlicher Kodierungspraxis zu erklären, sondern damit, dass auf unteren Posten belastete Kräfte leichter durch unbelastete zu ersetzen waren als in darüber rangierenden Personalsegmenten.80 Um die skizzierten Thesen zu überprüfen, sind letztlich weitere Studien zu den Wirtschaftskadern (in den Kombinaten) und zu SED-Funktionären in anderen DDRBezirken unter stärkerer Heranziehung von BStU-Unterlagen erforderlich. Aufgrund dieser Ausführungen überzeugen mich die Thesen vom gemeinsamen Beschweigen einer NSDAP-Mitgliedschaft durch Kader und Kaderleiter sowie von der internen Manipulation der Kaderstatistiken nicht. Ich halte in beiden Punkten andere Erklärungen für wahrscheinlicher. Während meiner mehrjährigen Recherchen zum zentralen Staatsapparat ist mir kein einziger Fall bekannt geworden, bei dem ein Kaderleiter eine ihm 79 80 Meenzen, Klassenbewusstsein, S. 51, 54, 60-64, 66-76; Salheiser, Inequality, 125 f. Siehe Kapitel „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 22 bekannte NSDAP-Zugehörigkeit eines Mitarbeiters nicht auch aktenkundig gemacht hätte. Jedenfalls habe ich keine Quelle gefunden, die das Szenario eines gemeinsamen Beschweigens durch Personalverantwortliche und dem betroffenen Kader wörtlich beschreibt – und andere Forscher meines Wissens nach auch nicht. Nach meinen Erfahrungen haben die Kaderabteilungen in der DDR und ganz besonders das MfS bei ehemaligen Nationalsozialisten vielmehr alles dafür getan, jede kaderrelevante Information schriftlich niederzulegen. Wenn man einem Pg. wohlgesonnen war, hat man ihm eine positive Beurteilung gegeben, aber seinen biografischen Makel nicht unterschlagen. Die Gefahr für Kaderleiter oder andere SED-Funktionäre, von der Parteiführung oder der DDRStaatssicherheit im Falle einer gemeinschaftlichen Verheimlichung von NS-Belastungen verfolgt zu werden und Strafen zu erhalten, war dann doch zu groß.81 Außerdem waren zu viele verschiedene Personen und Einrichtungen mit ein und derselben Personalie befasst, als dass sich eine NSDAP-Mitgliedschaft mit guter Aussicht auf Erfolg gegenüber höheren Personalstellen hätte verbergen lassen können. Sehr oft wusste der eine Personalverantwortliche nichts von den Erkenntnissen des anderen und am Ende liefen alle Fäden beim MfS zusammen. Hätte ein Kaderleiter versucht zu verheimlichen, was andere Personalstellen und der Staatssicherheitsdienst längst wussten, wäre er in erhebliche Erklärungsnot geraten. Die SED forderte Ehrlichkeit gegenüber der Partei. Sie wollte den gläsernen Kader und lenkbare Apparate, schon allein um Pg.-Konzentrationen zu vermeiden sowie westaffine Sabotage- und Spionagetätigkeiten faschistoider Elemente auszuschließen. Deshalb war es für sie wichtig, dass die Kaderleiter, die in der Regel aus den Reihen besonders zuverlässiger Kommunisten stammten, intern nur solche Kaderunterlagen anfertigten, die den tatsächlichen Kenntnisstand der Personalverantwortlichen wiedergaben. Das ändert nichts daran, dass das MfS oft mehr über eine NS-Vergangenheit wusste als die Kaderabteilung vor Ort. Die „normalen“ Kollegen wurden sowieso nicht über Biografien ihrer Mitarbeiter eingeweiht. Darüber hinaus war das Überprüfungsnetz der Stasi und SED oft lückenhaft und viele Fragebogenfälscher wurden erst spät oder gar nicht erkannt.82 Im Rahmen der Forschungen zum Komplex der Strafverfolgung von NS-Verbrechern in der DDR ist vor allem die Arbeit von Henry Leide zu nennen. Er resümiert, dass viele NSVerbrechen ungesühnt blieben, wenn es dem SED-Regime im Systemkampf mit dem Westen opportun erschien. Diese Maßgabe bestimmte den Umgang mit Rechtshilfeersuchen aus dem Westen sowie aus Ostblockstaaten, die (Nicht-)Eröffnung offizieller Ermittlungsverfahren, die Amnestierung von NS-Tätern im Zuge der Entstalinisierung, die Anwerbung von NSBelasteten als Informanten und Agenten in Ost und West oder die Propagandakampagnen gegen westdeutsche Funktionsträger. Hinsichtlich geheimdienstlicher Tätigkeiten waren die Ergebnisse allerdings „eher durchwachsen“, wie Leide feststellt. So sei die Kooperation der Angeworbenen von Selbstschutz bestimmt gewesen, zu den einstigen Eliten des „Dritten Reiches“ seien sie in der Regel nicht vorgedrungen oder hätten über sie nur spärliche Informationen geliefert. Gerichtsprozesse gegen DDR-Bürger seien nur eingeleitet wurden, wenn die Tatschwere eine lebenslängliche oder Todesstrafe praktisch garantierte. Im Ergebnis ließ sich so die Anzahl der Verurteilungen auf einige wenige, schnell abgeurteilte Fälle reduzieren, um das Bild vom konsequenten Antifaschismus in der DDR zu stützen. Leide wie auch Jens Gieseke konstatieren, dass dieser Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe eine systematische Aufarbeitung der Vergangenheit in der DDR blockiert habe. Die unmittelbare Verantwortung für die NS-Verbrechen sei in die Bundesrepublik abgeschoben worden. Die verdeckte Integrationspolitik, die Loyalität gegenüber der SED voraussetzte, habe den eigenen Anspruch auf antifaschistische Konsequenz und damit eine wesentliche 81 82 Siehe Kapitel „NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“. Siehe Kapitel „Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien“ sowie „Agenten und Saboteure“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 23 Machtlegitimation der SED konterkariert.83 In diesem Sinne drehen sich noch eine Reihe weiterer Beiträge um die Kompatibilität des zunehmend besser beschreibbaren Ausmaßes der Integration von ehemaligen Nationalsozialisten mit dem antifaschistischen Selbstverständnis der DDR.84 Nicht nur für den Bereich der personellen Kontinuitäten ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR, sondern auch für diejenigen in der Bundesrepublik sind jüngere Forschungen zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP zu nennen. Eine Reihe von Wolfgang Benz herausgegebenen Beiträgen bestätigt ältere Forschungsergebnisse, wonach grundsätzlich niemand ohne persönliche Mitwirkung und Wissen der NSDAP beitreten konnte. Auch die Gültigkeit der Parteizugehörigkeit der 1944 von der Hitlerjugend kommenden Neumitglieder wird bejaht. Gleichwohl mögen manche Autoren in einzelnen Fällen Abweichungen vom Standardprozedere des Aufnahmeverfahrens nicht ganz ausschließen. Sie stützen sich hierbei z.B. auf die häufig überlastete Mitgliederverwaltung, auf Fehler durch örtliche Hoheitsträger, die Auswirkungen der Aufnahmesperren oder auf die Wirren der letzten Kriegsmonate.85 Im Weiteren sind die Neuauflagen des „Braunbuch DDR“ von Olaf Kappelt und die erweiterte Ausgabe des Buches „Nazis in der DDR“ von Detlef Joseph mit dem Titel „Hammer, Zirkel, Hakenkreuz“ zu nennen. Beide Arbeiten haben sich jedoch sowohl in der Methodik als auch in der einseitigen Beurteilungsweise im Geiste der Diskreditierungs- bzw. Rechtfertigungspraktiken mit Blick auf den politischen Gegner im Kalten Krieg praktisch nicht verändert, so dass ich meine bereits früher geäußerte Kritik an ihnen aufrecht erhalte.86 Leider beinhalten auch gängige Personenlexika nach wie vor eine Reihe von falschen oder irreführenden Inhalten zu den Biografien NS-belasteter DDR-Kader. So berücksichtigt etwa die Neuauflage von „Wer war wer in der DDR?“ in keiner Weise die Ergebnisse meiner Dissertation über leitende Staatsfunktionäre.87 Als eigene jüngere Publikation ist abschließend auf einen Artikel in einer Ausgabe der Zeitschrift „Historical Social Research / Historische Sozialforschung“ mit dem Schwerpunkt „Integration oder Ausgrenzung: ehemalige Nationalsozialisten in der DDR“ hinzuweisen. Er stellt die Ergebnisse der diesem Buch zugrunde liegenden Doktorarbeit in leicht überarbeiteter Form dar.88 Resümierend ist festzuhalten, dass die Geschichte nationalsozialistisch belasteter Personen in der DDR weiterhin das Interesse der Forschung auf sich zieht. Nachdem immer mehr Fallstudien vorliegen, die meines Erachtens noch stärker auf die Systematik der Kaderpolitik eingehen sollten, gewinnt dabei zunehmend die Frage nach den Auswirkungen auf das antifaschistische Selbstverständnis der DDR an Bedeutung und Beachtung. Auch hier sind aber noch erhebliche Potenziale zu verzeichnen. 83 84 85 86 87 88 Gieseke, Staat, S. 91 f.; Leide, NS-Verbrecher, S. 413-418; vgl. Joseph, Henry Leide. Siehe außerdem: Meyer-Seitz, Verfolgung; Rüter, Strafverfolgung; Weinke, Verfolgung. Ahbe, DDR-Antifaschismus; Leo, Schweigen. Benz, Parteigenosse; Wenzel, NSDAP; Wegehaupt, Funktionäre; Haar, Sozialstruktur; Wetzel, NSDAP; Weigel, »Märzgefallene«; Widmann, Willkür; Nolzen, »Jugendgenossen«; Königseder, Ende; Kellerhoff, Erfindung. Kappelt, Braunbuch (2009); Joseph, Hammer; zur Kritik siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 16 f. Müller-Enbergs, DDR (2010); vgl. insb. die Angaben in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 17 und Anhang 1: Kurzbiographien, S. 1014 ff. Kuhlemann, Biografien. Jens Kuhlemann – Braune Kader 24 1 Vorgeschichte sowie gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen Die folgenden Kapitel behandeln Voraussetzungen, die für den Untersuchungsgegenstand grundlegend sind. Sie beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung wie auch auf die Institution der Deutschen Wirtschaftskommission bzw. der DDR-Regierung. Dazu gehört die Theorie der Gesetze und Richtlinien, die dann mit der realen Umsetzung kontrastiert wird. Von besonderem Interesse ist hierbei die Phase der Entnazifizierung, nach deren Abschluss weitere Säuberungen folgten. Dies schließt einen genaueren Blick auf die sozialen Konflikte ein, die sich aus der Ausgrenzung ehemaliger Nationalsozialisten ergaben. 1.1 Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien Die Grundlagen der Bestrafung und personellen Bereinigung Deutschlands von Nationalsozialisten und ihren Zuträgern gingen auf die Außenministerkonferenz in Moskau 1943, das Treffen von Roosevelt, Stalin und Churchill im selben Jahr in Teheran sowie die Beschlüsse von Jalta und Potsdam 1945 zurück.89 Erklärtermaßen galt es, den deutschen Militarismus und Nazismus zu zerstören und sicherzustellen, dass Deutschland nie wieder in der Lage sein werde, den Weltfrieden zu stören. In der deutschen Nachkriegsverwaltung waren demnach alle nazistischen Staatsbediensteten zu entfernen und durch demokratische Kräfte zu ersetzen. Es sollte sich bald herausstellen, dass die Westmächte und die Sowjetunion verschiedene Faschismus- und Demokratiebegriffe propagierten.90 Die Alliierten unterschieden davon unbenommen frühzeitig zwischen Kriegsverbrechern und aktivistischen Nationalsozialisten einerseits sowie den Mitläufern und der schweigenden Mehrheit des deutschen Volkes andererseits. Nach der deutschen Kapitulation übernahmen die Siegermächte offiziell die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Für die Entnazifizierung von Bedeutung waren die Aufteilung des Landes in vier Besatzungszonen und die Bestimmung, dass die einzelnen Befehlshaber in ihren Zonen die Entscheidungshoheit ausübten. Berlin erhielt einen Sonderstatus und wurde analog in vier Sektoren aufgeteilt.91 Dieses Prinzip begünstigte eine uneinheitliche Durchführung der politischen Säuberung. 89 90 91 Zur maßgeblichen, zwischen September 1944 und Mai 1945 entstandenen amerikanischen Besatzungsdirektive JCS 1067 siehe: Kleßmann, Staatsgründung, S. 352 f.; Niethammer, Entnazifizierung, S. 62, 66 f., 149 f., 508 f.; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 10, 98-100; zur vorausgegangenen, im Frühjahr 1944 angefertigten Direktive CCS 551 und zu den Säuberungsforderungen des Morgenthau-Planes vom September 1944 siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 9; Niethammer, Entnazifizierung, S. 56 f.; vgl. ferner die Anweisung Nr. 3 der Finanzabteilung der britischen Militärregierung vom März 1945, in: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 101-105; zur Konferenz von Teheran (November / Dezember 1943) siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 7 f.; vgl. Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 968 f.; zur Potsdamer Konferenz siehe: Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 61. Kurt Rabl führt an, dass die Sowjetunion an einen Demokratiebegriff westlicher Prägung gebunden gewesen und die Entwicklung in der SBZ anfangs auch in diese Richtung verlaufen sei, siehe: Rabl, Durchführung, S. 252-254. Bedeutsam war hierbei die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, siehe: Herbst / Ranke / Winkler, Bd. 2, S. 872; Wille, Entnazifizierung, S. 11; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 14. Jens Kuhlemann – Braune Kader 25 Auch die KPD/SED und der Block der Parteien in der sowjetischen Besatzungszone sprachen sich ab 1945 bei verschiedenen Gelegenheiten dafür aus, zwischen der Masse der ehemaligen NSDAP-Mitglieder, die nach einer Umerziehung wiedereingegliedert werden sollten, und den für Faschismus und Krieg verantwortlichen Naziverbrechern zu trennen. Als aktivistisch galt, wer in der NSDAP oder einer anderen NS-Organisation ein Amt mit politischer Verantwortung bekleidet oder sich anderweitig als Träger der NS-Politik betätigt hatte. Die übrigen „nominellen“ NSDAP-Mitglieder sollten nach Meinung der deutschen Parteien von einer Bestrafung ausgenommen und als Staatsbürger anerkannt werden. Dabei sprachen sie die Erwartung aus, dass die Pgs. mit ihrer politischen Vergangenheit vollkommen brechen und sich tatkräftig am Wiederaufbau beteiligen. Sie sollten jedoch in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben nur dann eine Beschäftigung finden, wenn andere Bewerber gleicher Eignung nicht vorhanden waren.92 Die Entnazifizierung auf dem Gebiet der SBZ verlief in den ersten Wochen nach Einmarsch der Besatzungstruppen zunächst spontan und improvisiert. Örtliche Militärkommandeure bedienten sich dabei neu entstandener deutscher Antifa-Ausschüsse. In Zusammenarbeit mit ihnen wurden von April 1945 bis zur Einsetzung der Landes- und Provinzialverwaltungen im Juli 1945 erste Säuberungsmaßnahmen vorgenommen, besonders bei Schlüsselpositionen.93 Dieser Phase folgte eine Reihe von Ländergesetzen und – verordnungen. Die Bedeutung der bestehenden Säuberungsausschüsse ging zugunsten der Landesinnenministerien zurück. Auch die Länder standen aber natürlich weiterhin unter der Aufsicht der sowjetischen Militärregierung, die das letzte Wort hatte.94 Allerdings besaß die SMAD keine eigenen, über die eingangs erklärten Grundsätze hinausgehenden elaborierten Entnazifizierungsrichtlinien. Daher sollten die Länder entsprechende Bestimmungen erarbeiten.95 Nicht alle unterschieden anschließend gleichermaßen zwischen aktiven und nominellen NSDAP-Mitgliedern. Am strengsten verfuhren Mecklenburg und Brandenburg. Am tolerantesten gebar sich Thüringen. Dort wie auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt fanden Belastungskataloge Anwendung, die sich weitgehend auf Eintrittsdaten, Ämter und Funktionen stützten. Sie ermöglichten mal mehr, mal weniger eine Weiterbeschäftigung und eine Abstufung von Bestrafungen.96 Trotz aller Schwierigkeiten, zwischen aktiv und nominell zu trennen, erhielt der Großteil der ehemaligen Pgs. im öffentlichen Dienst bis zu dieser Zeit die Entlassung, vor allem diejenigen in leitenden Funktionen.97 Der größte Teil des Verwaltungspersonals wurde dennoch übernommen.98 Gleichzeitig führten Fachkräftemangel 92 93 94 95 96 97 98 Zu den Richtlinien der KPD-Führung vom 5. April 1945, den Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945, zur Entschließung der Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien vom 30.10.1945 und zum Beschluss der SED zur Frage der nominellen Pgs. vom 20. Juni 1946 siehe: NY 4036 / 717, Bl. 22, Artikel „Strengste Bestrafung der Naziverbrecher“, undatiert [November 1945]; Wille, Entnazifizierung, S. 17, 4550; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 172, 174, 186 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 12-15; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 970, 972; Welsh, Wandel, S. 59-61; Stern, Porträt, S. 61, 100 f.; Kowalczuk, Stalin, S. 183. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43; Wille, Entnazifizierung, S. 15 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 1 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 969 f.; Welsh, Wandel, S. 21 ff.; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 141 ff.; vgl. anglo-amerikanische Säuberungsbeispiele bei: Wille, Entnazifizierung, S. 28 ff. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. XXIII; Wille, Entnazifizierung, S. 54 f. Zank, Wirtschaft, S. 47 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 50. Wille, Entnazifizierung, S. 51 f.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 11 f.; zu Thüringen siehe: Welsh, Wandel, S. 43 ff., 48, 181 ff.; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43 f., 180 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 9 f., 11 f.; zu Sachsen siehe: Welsh, Wandel, S. 50 f., 53, 177 ff.; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 175-177; vgl. Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 10-12. Zank, Wirtschaft, S. 54; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 15, 18; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 975; Welsh, Wandel, S 56; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 44-48, 164, 191-193, 224 ff.; Wille, Entnazifizierung, S. 55 ff., 63-65. Zank, Wirtschaft, S. 52 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 26 und Versorgungsnöte zu Umgehungen der Entlassungsbestimmungen und zumindest zu temporären Weiterbeschäftigungen.99 Die Länder verabschiedeten darüber hinaus per Gesetz eine Jugendamnestie. Sie gestand all denen, die nach dem 1. Januar 1919 geboren waren und der NSDAP oder ihren Gliederungen nur nominell angehört hatten, die vollen staatsbürgerlichen Rechte zu. Entnazifizierungsverfahren waren bei diesem Personenkreis nicht mehr anzuwenden. Bestimmte Berufe blieben ihnen jedoch trotzdem vorenthalten. Die Jugendamnestie begründete keine Ausnahmen von den späteren SMAD-Befehlen 201, 204 und 35 sowie den Gleichstellungsgesetzen.100 Neben der Verfolgung der hauptverantwortlichen NS-Täter mit Hilfe des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und der Kontrollratsdirektive 38 erlangte schließlich die Direktive 24 besondere Bedeutung.101 Sie trug das Datum vom 12. Januar 1946, wurde aber in der SBZ erst Monate später bekannt und kam dort etwa ab Dezember 1946 zoneneinheitlich voll zum Tragen.102 Mit der Direktive 24 beschlossen die Siegermächte erstmalig eine für ganz Deutschland geltende, sehr detail- und definitionsreiche Entnazifizierungsrichtlinie. Sie bezog sich neben den aktivistischen auch auf die Masse derjenigen NS-Belasteten, die gemeinhin als Nominelle angesehen wurden. Betroffen waren Unterstützer, Angehörige und Funktionsträger der NSDAP, von NS-Organisationen, der Justiz und Wirtschaft sowie des Staatsapparates. Die zwangsläufig oder nach Ermessen zu verhängenden Entlassungen und Ausschlüsse waren nach Organen, Positionshöhen, Zugehörigkeitszeiten und Aktivengrad in der NS-Ära gestaffelt. Im Vergleich zu den bis dato maßgeblichen Länderregelungen in der SBZ ging mit der Direktive 24 eine Verschärfung der Säuberungsbestimmungen einher.103 Ihre Anwendung in der SBZ wurde wahrscheinlich aus innenpolitischen Gründen verzögert, weil die Ausweitung des Betroffenenkreises zu vermehrten Spannungen führte. Sie kam dann aber aus außenpolitischen Beweggründen doch noch zur Ausführung. So konnten die Sowjets im März 1947 gestärkt in die Moskauer Außenministerkonferenz gehen und boten den Westalliierten weniger Angriffsfläche wegen einer vermeintlich zu nachlässigen Säuberung.104 Tatsächlich wollte die SMAD der sich abzeichnenden Tendenz zur Wiedereinstellung von Pgs. entgegentreten. In der Praxis kam es allerdings erneut zu Unklarheiten und unterschiedlichen Auslegungen der Direktive 24.105 Die Entnazifizierung in (Ost-)Berlin vollzog sich aufgrund des besonderen Status der Stadt etwas anders als in der SBZ. Eine Verfügung Marschall Shukows vom 30. Juni 1945 verschärfte dort die begonnene Entnazifizierung. Sie beinhaltete, alle NSDAP-Mitglieder ausnahmslos und umgehend aus den Diensten des Berliner Magistrats zu entlassen. Für Personalfragen waren beim Magistrat, wie fast überall in wichtigen Organen der SBZ/DDR, politisch zuverlässige KPD/SED-Mitglieder zuständig. Für ehemalige Pgs. bestand eine Pflicht zur Registrierung und zu Sonderarbeitseinsätzen. Zur Umsetzung der Direktive 24 erließ die Alliierte Kommandantur die Anordnung Nr. 101a vom 26. Februar 1946. Sie sah ein System aus diversen Entnazifizierungs- und Berufungskommissionen vor, die sich aus Deutschen mit antifaschistischer Reputation zusammensetzten. Das letzte Wort lag in den 99 100 101 102 103 104 105 Welsh, Wandel, S. 48 f., 51 f., 87 ff.; Wille, Entnazifizierung, S. 51, 66 f., 136; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 16 f.; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 974; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 44, 175-177; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 245 f., 255. Amos, Justizverwaltung, S. 147, 183 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 129 f., 137, 148-150; vgl. Welsh, Wandel, S. 49. Zum Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20.12.1945 siehe: DP 1 / VA 462; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 20 f., 62 f.; Broszat, Siegerjustiz, S. 484, 486; zur Kontrollratsdirektive 38 vom 12.10.1946 siehe: NY 4036 / 749, Bl. 22; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 22 f., 97-124. Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 975; Wille, Entnazifizierung, S. 144. Benser, Prozeß, S. 706; Rabl, Durchführung, S. 263; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 21 f., 64-81; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 107-118. Welsh, Wandel, S. 67-68; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 436 f. Wille, Entnazifizierung, S. 135, 150-152; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 342. Jens Kuhlemann – Braune Kader 27 einzelnen Stadtsektoren bei der jeweiligen Besatzungsmacht.106 Bis zum 30. September 1947 lag die Quote der Antragsbefürwortung, d.h. einer Entscheidung zugunsten der Pgs., bei zwei Dritteln aller behandelten Fälle. Über die Hälfte aller gestellten Anträge war zu diesem Zeitpunkt aber noch unbearbeitet.107 Das Berliner Verfahren galt als schwerfällig. Die SED war mit den Säuberungserfolgen dennoch relativ zufrieden.108 Im Nachgang zur Entwicklung in der SBZ lösten sich die berufsspezifischen Entnazifizierungskommissionen dann zum 1. Januar 1949 auf bzw. unterhielten nur noch Abwicklungsstellen.109 Am 23. Februar 1949 beschloss der Magistrat schließlich einstimmig den allgemeinen und sofortigen Abschluss der Entnazifizierung im Ostsektor Berlins. Die verbliebenen Entnazifizierungskommissionen stellten ihre Arbeit endgültig zum 28. Februar 1949 ein. Die Berufungskommission beendete ihre Tätigkeit zum 31. März 1949. Bis zu diesen Terminen sollten sämtliche Anträge dahingehend überprüft werden, ob Anhaltspunkte vorliegen, wonach die Appellanten sich eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, den Frieden, die Sicherheit anderer Völker oder das deutsche Volk schuldig gemacht hatten. Diese Fälle waren dem Generalstaatsanwalt beim Kammergericht zu übergeben. Alle anderen laufenden Verfahren – also die weitaus meisten – wurden eingestellt.110 Auch in West-Berlin erließen die alliierten Kommandanten im Februar 1949 den Befehl zur Beendigung der Entnazifizierung.111 In der SBZ fand die Entnazifizierung bereits ein Jahr früher ihr Ende. Es wurde eingeleitet durch den Befehl Nr. 201 der SMAD vom 16. August 1947.112 Die Gründe für den Erlass des Befehls waren außenpolitischer und mehr noch innenpolitischer Natur. Der OstWest-Gegensatz verschärfte sich. Eine einheitliche Linie im Alliierten Kontrollrat in der Frage der Entnazifizierung war nicht zu erreichen und die schlechte Versorgungslage in der SBZ hatte sich durch Demontagen, Enteignungen und Entlassungen weiter zugespitzt. Die Machthaber mussten daher gesellschaftliche Spannungen abbauen, um die Lage zu konsolidieren. Die Entnazifizierung war hierbei ein wesentlicher Ansatzpunkt. Die Pgs. erhofften sich erneut eine Rehabilitierung und die Rückkehr in die alten beruflichen Positionen. Außer den Nazi- und Kriegsverbrechern gewährte der Befehl 201 allen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern neben dem aktiven das passive Wahlrecht. Sein Erlass sollte die bis dahin auf Grundlage der Direktiven 24 und 38 unzureichend beachtete Differenzierung der praktizierten Säuberung überwinden und die Nominellen, Minderbelasteten und NS- 106 107 108 109 110 111 112 Schon der sowjetische Stadtkommandant Bersarin hatte per Erlass vom 28. April 1945 eine Registrierung bestimmter NS-belasteter Personen und am 25. Mai 1945 die Reorganisation von Polizei und Justiz angeordnet. Relevant war ferner die Anordnung 209 der Alliierten Kommandantur. Eine umfassende Untersuchung der Entnazifizierung in der Hauptstadt fehlt bislang, siehe: DY 30 / IV, 2/13/4, Bl. 127, 129, 133, 165-168, 176-180; DR 2 / 643, Bl. 68 f.; DR 2 / 825; Wille, Entnazifizierung, S. 19 f., 51, 75. Es gingen bis dato 62.989 Anträge bei den Entnazifizierungskommissionen ein. Davon waren 27.894 behandelt worden, wobei 18.653 befürwortet und 9241 abgelehnt wurden. In der Literatur wird nicht angegeben, in welchem Maße die oberen Instanzen Entscheidungen korrigierten und ob die genannten Zahlen den Stand nach den entsprechenden Korrekturen wiedergeben, siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 75 f., 121 f.; siehe auch: Statistik des Alliierten Kontrollrats über die Entnazifizierung in den vier Besatzungszonen und in Berlin gemäß der Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 1. Januar bis zum 30. Juni 1946, in: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 164 f.; DY 30 / IV, 2/13/4, [SED,] Abt. Landespolitik, an DJV, Benjamin, vom 09.02.1948 (darin: Anhang, betr. Entnazifizierung in Gross-Berlin, vom 27.01.1948, Abschrift). Besprechung über den Befehl 201 und die damit verbundenen Aufgaben der Partei vom 30. Oktober 1947, in: Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 191. National-Zeitung, Artikel „Keine Sonder-Arbeitsvermittlung für Pgs?“, vom 05.01.1949. National-Zeitung, Leitartikel „Berlin macht Schluß mit der Entnazifizierung“, vom 24.02.1949; NationalZeitung, Leitartikel „Wie Berlin die ehemaligen Pgs behandelt“ und Bericht „Die Gesamtpersönlichkeit entscheidet“, vom 11.03.1949. National-Zeitung, Artikel „SPD und Entnazifizierung“, vom 21.01.1949; National-Zeitung, Beitrag „Die Komödie der Entnazifizierung in Westberlin“, vom 22.02.1949. Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 26 f., 147-158; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 206 ff. Jens Kuhlemann – Braune Kader 28 Verbrecher stärker voneinander trennen.113 Eine allgemeine gerichtliche Belangung der Nominellen wurde für unzulässig erklärt. Die übrigen Entnazifizierungsverfahren sollten beschleunigt werden. Innerhalb von drei Monaten waren alle NS-Aktivisten aus öffentlichen und halböffentlichen Posten sowie den entsprechenden Stellen in der Wirtschaft zu entfernen. Wegen der Vielzahl der zu behandelnden Fälle ließ sich diese Frist jedoch nicht einhalten.114 Parallel zu SMAD-Befehl 201 ermöglichte der Befehl 204 vom 23. August 1947 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, wieder im unteren und mittleren Justizdienst tätig zu werden. Die Posten der Richter und Staatsanwälte blieben weiterhin ausgenommen.115 Mit dem SMAD-Befehl Nr. 35 vom 26. Februar 1948 fand die Entnazifizierung in der SBZ schließlich endgültig ihren offiziellen Abschluss. Die erfolgte Entmachtung der „Inspiratoren des deutschen Faschismus und Militarismus“ durch Entzug aller politischen und wirtschaftlichen Positionen und Vorrechte habe angeblich eine umfassendere Heranziehung derjenigen Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen erlaubt, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatten und imstande und gewillt waren, am demokratischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau mitzuwirken. Die Entnazifizierungskommissionen in der SBZ waren demnach vom 10. März 1948 an aufzulösen. Beschwerden und Berufungen waren in den Berufungskommissionen (Landesentnazifizierungskommissionen) bis zum 10. April 1948 abzuschließen und diese dann ebenfalls aufzulösen. Zahlreiche Verfahren, die sich bis zu dieser Frist nicht abwickeln ließen und bei denen keine ausreichenden Gründe zur Einleitung eines Gerichtsprozesses vorlagen, wurden eingestellt. Verfahren gegen „Kriegsund faschistische Verbrecher“ waren gemäß Befehl 201 durch die deutsche Kriminalpolizei und deutsche Gerichte durchzuführen. Alle sonstigen dem Befehl 35 entgegenstehenden Entnazifizierungsbestimmungen wurden außer Kraft gesetzt. Ehemalige Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen, die ihre Posten in öffentlichen Ämtern und Betrieben verloren, aber ihre Wahlrechte laut Gesetz nicht eingebüßt hatten, konnten sich demnach im Laufe der Zeit „durch ehrliche und loyale Arbeit“ als Zeichen der Sühne die Rückkehr zu ihrer Tätigkeit im Verwaltungsapparat verdienen. Die Justiz- und Polizeiorgane sowie leitende Posten im Verwaltungsapparat waren hiervon zunächst ausgenommen. Unterm Strich stellte der Befehl 35 auch aktiveren NS-Anhängern eine Neueinstellung in Aussicht. Ein Anspruch auf Beschäftigung erwuchs hieraus jedoch nicht. Bei der Bevölkerung, den Parteien und Massenorganisationen fand das Ende der Entnazifizierung breite Zustimmung.116 Im Ergebnis kommt Wolfgang Meinicke auf eine Zahl von 520.734 Personen, die von Beginn bis Ende der Entnazifizierung am 10. März 1948 entlassen oder nicht wieder eingestellt 113 114 115 116 Wille, Entnazifizierung, S. 163-166, 200. Zank, Wirtschaft, S. 50; Wille, Entnazifizierung, S. 171 f., 178 f., 185, 191, 193-195. Befehl 204 hob den entgegenstehenden Befehl 49 vom 4.9.1945 auf. Nach einer internen Anweisung sollten Personen, die nach Befehl 49 vom Justizdienst ausgeschlossen wurden, nicht dorthin zurückkehren. Bei Richtern und Staatsanwälten brachte auch Befehl 35 (Beendigung der Entnazifizierung in der SBZ) keine Änderung mit sich, obwohl die SMAD Ausnahmegenehmigungen erteilen konnte. Hierzu und zum vorangegangenen Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30.10.1945 siehe: Broszat, Siegerjustiz, S. 488; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 21, 166 f.; Rössler, Aspekte, S. 133 f.; Welsh, Justiz, S. 224; Amos, Justizverwaltung, S. 146, 183; DP 1 / VA 980, Bl. 5 f. (7 f.), DJV, Schiffer, betr.: Auswirkung des Befehls 35 des Obersten Chefs der SMAD vom 26. Februar 1948 auf die politische Überprüfung der Justizangehörigen, an die Landesregierungen bzw. deren Justizministerien, vom 05.04.1948. DP 1 / VA 980, Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration und Oberbefehlshabers der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Nr. 35 über die Auflösung der Entnazifizierungskommissionen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, vom 26.02.1948; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 257 f.; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 212-214. Kurz nach Erlass des Befehls 35 erging eine Amnestie auf Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 43 aus Anlass des 100. Jahrestages der Märzrevolution von 1848, durch die alle Gerichtsverfahren, bei denen eine Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr zu erwarten war, nicht mehr zur Durchführung kommen sollten bzw. von der Personen profitierten, die zu einer Strafe von bis zu einem Jahr Gefängnis oder Internierungslager verurteilt waren, in: Wille, Entnazifizierung, S. 198 f., 204 f.; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 260; Zank, Wirtschaft, S. 51, 56; Welsh, Wandel, S. 189 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 29 wurden.117 Dabei hat es offenbar Mehrfachzählungen gegeben. Neuere Schätzungen gehen von insgesamt 200.000 Entlassungen aus.118 Die meisten Angehörigen des untersuchten NS-Samples durchliefen ein Verfahren zur Entnazifizierung in Berlin, relativ wenige in der SBZ und nur einzelne in Westdeutschland.119 Der Begriff „Entnazifizierung“ bedeutete dabei einerseits die Säuberung der Apparate, andererseits die Befreiung der Pgs. vom Makel der besonderen Mitverantwortung an der Existenz des NS-Regimes. Vor 1948/49 befürworteten die Arbeitgeber, darunter die Deutschen Zentralverwaltungen unter Billigung der SMAD, eine Einstellung oder Weiterbeschäftigung ehemaliger NSDAP-Mitglieder nur vorbehaltlich ihrer erfolgreichen Entnazifizierung. Sie und die Pgs., die in Berlin wegen ihres Widerspruchs gegen eine Entlassung auch „Appellanten“ hießen, baten angesichts des allgemeinen Bearbeitungsstaus oft um eine Beschleunigung ihrer Verfahren. Vertreter der Zentralverwaltungen120 und anderer Behörden121 setzten sich unter Hinweis auf „bemerkenswerte Kenntnisse und Erfahrungen“ und ihre Bedeutung für den Betrieb oft für bestimmte ehemalige NSDAPMitglieder ein. Das gleiche taten viele Entlastungszeugen, Antifa-Ausschüsse und Parteigremien in Form von Unbedenklichkeitsbescheinigungen.122 Dabei stellten sie den Pgs. einen guten politischen Leumund aus. Idealerweise beinhaltete er Passivität und Opposition während des Nationalsozialismus und eine pro-demokratische Haltung und aktive Mitarbeit nach 1945. „Amtlichen“ Bewerbungsbefürwortungen und Einstellungen in die zentrale Staatsverwaltung ging eine Überprüfung der schriftlichen Überlieferung zum politischen Vorleben voraus. Darüber hinaus holten die Behörden mündliche Auskünfte ein.123 In einer Reihe von Fällen waren die Prüfungen jedoch mangelhaft. Das lag nicht nur daran, dass Unmengen an Materialien durch Kriegseinwirkungen vernichtet und Zeugen verschwunden waren.124 Oft fehlte es einfach an Sorgfalt und Zeit, Erkundungen einzuholen, so dass angesichts des wachsenden Personalbedarfs die Kontrollen nicht so lückenlos ausfielen wie geplant und häufig nachgeholt werden mussten. Manchmal eilte die Verwaltung bei 117 118 119 120 121 122 123 124 Meinicke erwähnt, die Gesamtzahl der Entlassungen trotz intensiver Bemühungen nicht ermittelt zu haben, siehe: Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 978; ders., Entnazifizierung (1983), S. 54 f.; vgl.: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 220 f. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 53; vgl. Welsh, Wandel, S. 14, 81 f.; Zank, Wirtschaft, S. 51 ff.; vgl. Wille, der noch die Zahl von ca. 450.000 aus dem Beruf ausgeschiedenen oder nicht wieder eingestellten Personen ins Spiel bringt, in: Wille, Entnazifizierung, S. 208-210. Ein Beispiel für Westdeutschland (Hans Lutz) und für (scheinbar) nicht durchgeführte Verfahren (Martin Bierbass, Erwin Melms) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 52. Beispiele (Ernst Kaemmel, Otto Schl., Erich T., Friedrich Z.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 52. So der Berliner Bürgermeister Friedensburg und der public safety branch der OMGUS Berlin bei Herbert So. sowie die Universität Berlin bei Ernst Kaemmel. Hierzu und zu weiteren Beispielen (Johannes A., Helmut Wikary) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 52 f. Der Berliner Magistrat hatte es den Kommunalbeamten verboten, weiterhin derartige Zeugnisse auszustellen. Zuständig hierfür wurde etwa im Juli 1945 der Aktionsausschuss des antifaschistischen Blocks im jeweiligen Verwaltungsbezirk der Stadt Berlin. Beispiele (Ernst Kaemmel, Herbert Seifert, Hans Forsbach, Walter E., Helmut A.), auch aus der SBZ, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 53. Neben den jeweiligen Personalabteilungen nahmen in der SBZ/DDR vor allem das Kommissariat K 5, DVdI / MdI, ZKK / ZKSK und MfS Überprüfungen vor. Beispiele (Kurt V., Werner P., Otto Kl., Heinz Fr., Ferdinand Beer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 53 f.; Vollnhals, Nomenklatur, S. 226. Eine gesonderte Aktenführung zu Pgs. war nicht nachzuweisen. Vgl. den Umstand, dass im Bestand der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle ausgerechnet die Unterlagen zweier ehemaliger NSDAPMitglieder – darunter Josef Schaefers – aus der HV Chemie fehlen, obwohl sie die Bestandskartei aufführt. Das ist entweder nur ein Zufall und kein Indiz für eine Zusammenführung von Personaldokumenten NSBelasteter innerhalb des Staatsapparates. Oder es handelte sich um Material, das nachträglich auf das Ministerium für Staatssicherheit überging, in: DC 1 / 2565. Zur Nutzung westdeutscher Publikationen siehe beispielhaft die Überprüfung der Angaben über Ernst Kaemmel in Olaf Kappelts „Braunbuch DDR“ im Rahmen eines großen Suchvorgangs durch das Ministerium für Staatssicherheit im Jahr 1982, in: BStU, MfS, HA IX/11, SV 3/82, Band 17, Bl. 3, 4, 7. So bei Gerhard F., Walter Pi. und Erich T., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54. Jens Kuhlemann – Braune Kader 30 Einstellungen mit solchem Tempo voraus, dass die Führung der KPD/SED erst im Nachhinein informiert wurde, was eigentlich nicht sein sollte.125 Auch für die Entnazifizierungskommissionen zählten außer formalen Mitgliedschaften das Verhalten und die Gesinnung. Den Pgs. ging es vor allem um die Sicherung der Arbeitsstelle, aber auch um die Wiederherstellung ihrer Ehre.126 Die Prüfungen im Entnazifizierungsverfahren umfassten Ermittlungen in der Nachbarschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz, bei politischen Vereinigungen und auf Ämtern. Neben schriftlichen Erklärungen gab es mündliche Verhandlungen. Fast alle früheren NSDAP-, SAund SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission erhielten einen positiven Entnazifizierungsbescheid.127 Nur in wenigen Fällen kam es zunächst zu einer Ablehnung, die dann jedoch in der Berufung revidiert wurde oder aufgrund einer Verfahrenseinstellung keine nachteiligen Auswirkungen entfaltete.128 Bei denjenigen DWK-Angestellten, deren Entnazifizierungsverfahren in der SBZ stattfanden, verhielt es sich ganz ähnlich wie bei jenen in Berlin. Sie konnten fast alle nach erfolgreicher Beurteilung ohne Abstriche ihrer gewohnten Berufstätigkeit nachgehen.129 Nur in wenigen Fällen wurden beruflich einschränkende Auflagen verhängt. Dazu gehörte das Verbot, leitende Funktionen auszuüben oder eine Stellung im Personalwesen zu bekleiden.130 Insgesamt war das Ausmaß der Beschäftigung ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den Deutschen Zentralverwaltungen vor 1948 aber minimal und lag zusammengerechnet bei unter einem Prozent des Gesamtpersonals.131 Die Entnazifizierung stellte für die Kommunisten ein Mittel der politischen und sozialen Umwälzung dar, in der Gesellschaft wie im Staatsapparat. Der Personalaustausch war hierbei ein Aspekt neben der Bodenreform, Justizreform, Schulreform oder der Enteignung und Verstaatlichung von Wirtschaftsunternehmen.132 Die Erlangung und Festigung der Macht unter der Prämisse des Klassenkampfes war das entscheidende Kriterium. Die personelle Entnazifizierung befand sich dabei stets im Zwiespalt, einerseits die Nominellen in die Gesellschaft zu integrieren, andererseits ihre massenhafte Neu- und Wiedereinstellung im Staatsdienst zu verwehren.133 Es gab jedoch zumindest in bestimmten Bereichen den Zwang zur nachsichtigen Säuberung, weil ohne die Hilfe NS-belasteter Fachkräfte die allgemeine Versorgung völlig zusammengebrochen wäre.134 Die Entnazifizierung wurde deshalb in verschiedenen Bereichen unterschiedlich gehandhabt, in der Verwaltung zum Beispiel weniger streng als in der Justiz. Allgemein bewirkten die Überdehnung des Betroffenenkreises und die Verkomplizierung der Verfahren durch eine aufwendige gerichtsähnliche Ausrichtung, dass die Entnazifizierung nur langsam vorankam. Ein teilweise willkürlicher Verlauf war nicht zu verhindern. Viele Deutschen lehnten die Entnazifizierung daher samt Bestrafungen und Einsatz minderqualifizierter Ersatzkräfte ab und leisteten passiven Widerstand. Unter ihnen bestand überwiegend Einigkeit über eine großzügige 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 Beispiele (Günther Kromrey, Wilhelm Salzer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54. Zu Kromrey siehe auch Kapitel „Aktiver Widerstand“. Siehe Entsprechendes bei Walter R., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54. Siehe die Fälle Günther Kromrey, Ernst Kaemmel, Karl-Heinz Gerstner, Franz Woytt, Ferdinand Beer, Helmut Wikary, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54 f. Siehe insbesondere den Fall Rudolf Lang, zu abgelehnten Entnazifizierungsanträgen ferner die von Friedrich S., Gerhard B., Franz H., Walter R., Erich T., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 55. Beispiele (Egon Wagenknecht, Ernst Hennig) und Quellenangaben zu weiteren Fällen (Olaf S., Otto Kr., Otto Ka., Alfred Kr.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 55. Beispiele (Ernst Schinn, Walter E., Kurt V.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 55. DY 30 / IV, 2/13/2, Bl. 158-167, [ZS? Abteilung Personalpolitik?,] Bericht über die parteipolitische Zusammensetzung der Verwaltungskader in den 13 Zentralverwaltungen und der zentralen Kommission für Sequester, vom 07.08.1946 (Abschrift); Kuhlemann, Teufel. Vgl. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 49; Welsh, Wandel, S. 8 f. Niethammer, Entnazifizierung, S. 18; Welsh, Wandel, S. 82. Zank, Wirtschaft, S. 55 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 31 Rehabilitierung der Masse der „kleinen Pgs.“ Die Entnazifizierungskommissionen kamen dem in der Praxis entgegen und beurteilten zum Beispiel auch kleinere Amtsträger der NSDAP mit Milde.135 Trotz aller Defizite hatte die Entnazifizierung weitreichende Auswirkungen.136 Der größte Teil der Schlüsselfunktionen in der SBZ war umbesetzt worden. Zahlreiche Zwangmaßnahmen wie Freiheits- und Vermögensentzug, Entlassungen und Versetzungen sowie weitere berufliche und politische Einschränkungen waren ergangen.137 Mit dem offiziellen Ende der Entnazifizierung in der SBZ war jedoch noch keineswegs ein Ende der kommunistischen Machtausweitung verbunden. Der Staats- und Wirtschaftsapparat war noch nicht gänzlich „auf SED-Linie“ und von Personen durchdrungen, die sich die Politik der Einheitspartei auf die Fahnen schrieben. Die Säuberung setzte sich daher mit den Mitteln der Kaderpolitik fort. Bereits die Entnazifizierung besaß einen Doppelcharakter.138 Die Entfernung ehemaliger Nationalsozialisten verband sich mit der möglichst umfangreichen Besetzung freiwerdender Stellen durch Kommunisten im Rahmen der „antifaschistischdemokratischen Umwälzung“.139 Ab 1948/49 galt es zwar weiterhin, zuverlässige SEDAnhänger in die Apparate einzubauen. Doch waren im Zeichen der Stalinisierung fortan vermehrt bürgerliche Mitarbeiter bzw. Angestellte, die sich dem Führungsanspruch und den gesellschaftlichen Vorstellungen der SED widersetzten, auszuschalten.140 Frühere NSDAPMitglieder bekamen dadurch die Chance, bei entsprechenden Loyalitätsbekundungen dauerhaft integriert zu werden. Andererseits hielt damit die Phase ihrer Resozialisierung weiter an.141 Die internen Richtlinien der DWK zur Personalpolitik und diejenigen der ab 1948 verbliebenen Zentralverwaltungen orientierten sich an den genannten Vorgaben. Sie richteten sich auch gegen nicht NS-belastete sowie westlich denkende Kräfte. Stattdessen waren Arbeiter und politisch „fortschrittliche“, d.h. SED-treue Personen einzustellen.142 In der Deutschen Wirtschaftskommission konstatierte die HA Personalfragen und Schulung betreffs Beschäftigung und Einstellung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, dass Grundlage hierfür der Befehl 201 war. Unabhängig davon sollten in der Verwaltung nur Mitarbeiter mit „demokratischer Überzeugung“ tätig sein. Bewerbungen ehemaliger Pgs. konnten demnach bei vorliegendem Bedarf für nicht leitende Stellungen Berücksichtigung finden, wenn 1.) ein geeigneter antifaschistischer Kandidat für den zu besetzenden Posten nicht zu finden war, 2.) der Bewerber nachweisen konnte, im Sinne der Befehle 201 und 35 nur nominelles Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, 3.) der Bewerber „den Nachweis einer ehrlichen Mitarbeit am 135 136 137 138 139 140 141 142 DO 1 / 26.0, 17344, 60/51/2; Welsh, Wandel, S. 172 f.; Welsh, Entnazifizierung, S. 74; Wille, Entnazifizierung, S. 17; vgl. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 56. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 55. Wille, Entnazifizierung, S. 176. Welsh, Wandel, S. 11; zum Anwachsen des Anteils der SED-Mitglieder im Staats- und Verwaltungsapparat siehe: ebd., S. 83 f. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43. Der Begriff „Stalinismus“ ist ebenso wie „Entstalinisierung“ unscharf und umstritten, siehe: Schütrumpf, Stalinismus, S. 82. Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 5 f.; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 969; Materialien, Bd. III/1, S. 104. Zur DWK-Richtlinie S 7 / 48 siehe: DO 1 / 26.0, 2461, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 1, vom 14.04.1948 (darin enthalten: DWK, Sekretariat, Beschluß S 7 / 48, vom 24.03.1948; DWK, HA Personalfragen und Schulung, Erläuterungen zum Beschluß S 7 / 48, vom 15.04.1948); DC 15 / 773, DWK, Sekretariat, Kontrollabteilung, Kontrolle der Sekretariatsbeschlüsse, Bericht Nr. 2, vom 10.05.1948, S. 7; DC 15 / 315, Bl. 9-19, Beschluß S 7 / 48 (Entwurf) und Erläuterungen; zur DVV siehe: DR 2 / 935, Bl. 13-15, Richtlinien für die Personalpolitik in der Verwaltung, undatiert (Abschrift, vom 30.08.1948); zur DVdI und zum MfS siehe: DO 1/7/143, Bl. 44., DVdI, Mickinn, an Mielke, darin enthalten: Entwurf „Richtlinien der Personalpolitik“, vom 17.09.1946; Gieseke, Frage, S. 133 f., 136. Jens Kuhlemann – Braune Kader 32 antifaschistischen demokratischen Aufbau seit Mai 1945“ erbrachte und 4.) der Bewerber „ein unbestrittener tüchtiger Berufsarbeiter“ war.143 Auf der 1. Staatspolitischen Konferenz von Werder (Havel) am 23./24. Juli 1948 verkündete die SED den Anspruch auf die „führende Rolle“ in Staat und Gesellschaft.144 Dazu erarbeitete die Konferenz mit Blick auf die Durchführung des Zweijahrplanes Richtlinien für die Personalpolitik in der Verwaltung, über die Kontrolle der Personalabteilungen und den Ausbau der Schulung. Die SED verfolgte in Wirtschaft und Verwaltung eine Effizienzsteigerung, die spätestens mit dem Zweijahrplan begann und beim Fünfjahrplan 1950 sowie ab der 2. Parteikonferenz 1952 im Vordergrund stand.145 Die Ziele der Konferenz von Werder wurden zwar nach Meinung der SED anschließend nur ungenügend erreicht, weil sie zu wenig bekannt gemacht, diskutiert, mithin popularisiert worden seien.146 Gleichwohl blieben die Beschlüsse von Werder für die fünfziger Jahre verbindlich.147 Der Apparat sollte demnach angesichts der Verschärfung des Klassenkampfes zuverlässiger werden. Der politisch bewusste Verwaltungsfunktionär war erwünscht, der nicht nur verwaltet, sondern dem Fortschritt dient. Neben fachlicher Sachkenntnis rückte das Wissen über die Staatslehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin in den Vordergrund. Die Arbeiterklasse, der SED-Anteil und sonstige „positiv“ eingestellte Kräfte waren in der Verwaltung zu stärken. Jüngere Kräfte, möglichst Parteiaktivisten, sollten eine neue Intelligenz bilden. Nicht belastete ehemalige Angehörige der NSDAP oder ihrer Gliederungen sollten in Betrieben und Massenorganisationen mitwirken können. Entscheidend war die politische Zuverlässigkeit und fachliche Qualifikation. Gleichzeitig waren Gegner der neuen Ordnung, fernzuhalten oder herauszusäubern. „Agenten, Spione, Schumacherleute“, aber auch unfähige Verwaltungskader waren zu ermitteln und zu entfernen. Gefürchtet waren heimlich oder offen reaktionäre Fachleute. Gerade solche, die besonders gute Arbeit leisteten, hielt man für besonders gefährlich, weil sie am besten wussten, wie man Sabotage betreiben konnte.148 Nachfolgende Richtlinien der SED entsprachen diesen Vorgaben.149 Mit Gründung der DDR setzte sich die stufenweise Wiedereingliederung NS-Belasteter fort. Als eine ihrer ersten Handlungen überhaupt verabschiedete die Volkskammer das „Gesetz über den Erlaß von Sühnemaßnahmen und die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte für ehemalige Mitglieder und Anhänger der Nazipartei und Offiziere der faschistischen Wehrmacht“ vom 11. November 1949.150 Zur Zielgruppe gehörten auch solche Personen, die 143 144 145 146 147 148 149 150 DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49, vom 25.03.1949; Boyer, Kader, S. 25 f.; zur entsprechenden Handhabung in nachgeordneten Dienststellen siehe: DM 3 / 284, DWK, HV Post und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung betr. Abschluß der Entnazifizerung, (veröffentlicht im Amtsblatt Nr. 17), vom 17.04.1948; DP 1 / VA 980, DWK, HV Post und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung Nr. 64/1948 betr. Abschluß der Entnazifizerung, vom 01.05.1948; DO 1 / 26.0, 2472, s.v. „Allg. Richtlinien“, [DWK, HA Personalfragen und Schulung,] betr.: Rivisions- [sic] und Treuhandverwaltung Dresden, vom 10.09.1948. Foitzik, Inventar, S. 51; Boyer, Kader, S. 18-28; Amos, Justizverwaltung, S. 66. Schulz, Elitenwechsel, S. 217. DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 32 ff., [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert; vgl. Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 244 f., 381 f., 383. Boyer, Kaderpolitik, S. 21. Boyer, Kader, S. 20-22; ders., Kaderpolitik, S. 19 f. DO 1/7/47, Bl. 12 ff., Richtlinien für die Durchführung der Personalarbeit der staatlichen Verwaltung in der gesamten SBZ (Entwurf), undatiert; ebd., Bl. 49-52, SED, Zentralsekretariat, an DVdI, Fischer, vom 09.08.1949 (Abschrift); ebd., Bl. 66, [DVdI,] HA Verwaltung, Begründung zu den Richtlinien für die Durchführung der Personalarbeit der staatlichen Verwaltung in der gesamten SBZ, vom 01.09.1949; DO 1 / 26.0, 17591, SED, Zentralsekretariat, Abteilung für staatliche Verwaltung, Hentschel, an Deutsche Verwaltung des Innern, Gloth, vom 30.07.1949; DO 1 / 26.0, 2472, s.v. „Berichte“, [DWK, HA Personalfragen und Schulung,] vom 14.10.1948; vgl. Richert, Macht, S. 36 ff., 269 ff. Im Oktober 1949 stimmte das SED-Politbüro zunächst einem Entwurf für eine „Verordnung über Gewährung der staatsbürgerlichen Rechte an ehemalige Nazis“ zu. Dieser wurde dann vom Politbüro Anfang des folgenden Novembers in leicht überarbeiteter Fassung als Gesetzentwurf im Rahmen einer Jens Kuhlemann – Braune Kader 33 aufgrund des Befehls 201 zur Durchführung einfacher Arbeiten oder zu Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr verurteilt worden waren. Ausgenommen blieben „Naziaktivisten und Kriegsverbrecher, die sich durch falsche Angaben über ihre Person, durch Flucht oder andere Mittel“ einer Verfolgung entzogen hatten. Das Gesetz galt ferner nicht für Personen, die wegen ihrer Taten im Nationalsozialismus zu mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe, aufgrund der Direktive 38 oder unter Berufung auf Artikel 6 der DDR-Verfassung („Boykotthetze“) verurteilt wurden. Der begünstigte Personenkreis sollte wieder entsprechend seiner beruflichen Qualifikation eingesetzt werden können, um dem Mangel an Fachkräften entgegenzuwirken. Auch der öffentliche Dienst und die gesellschaftlichen Organisationen standen gemäß der fachlichen Eignung offen. Das schloss leitende Funktionen ein. Es entstand jedoch auch diesmal keinerlei Anspruch auf eine Wiederbeschäftigung, geschweige denn auf Einsetzung in früher eingenommene Positionen. Die DDR verfolgte also keine Politik der Wiedergutmachung und leistete auch keinen Schadenersatz. Die Betroffenen erhielten vielmehr die Chance, wieder von vorne anfangen zu dürfen. Dabei mussten sie sich den üblichen Bewerbungsprozeduren unterwerfen und den neuen kaderpolitischen Ansprüchen genügen. Laut Gleichstellungsgesetz weiterhin ausgenommene Berufsbereiche waren die innere Verwaltung und die Justiz, soweit Ausführungsbestimmungen nicht Ausnahmen zuließen.151 Das Gesetz gab darüber hinaus denjenigen, die auch nach Abschluss der Entnazifizierung kein aktives oder passives Wahlrecht hatten, eben dieses zurück. Das Risiko hierbei war gering. Denn seitdem die SED die Macht in den Händen hielt, konnten ihr die früheren Pgs. über Wahlen keinen Schaden mehr zufügen. Zur Begründung des Gesetzes sagte Walter Ulbricht SED-intern, seit Kriegsende sei genügend Zeit vergangen. Viele frühere Mitglieder der NSDAP hätten ihre politischen Auffassungen geändert und als einfache Arbeiter oder als Fachleute Aufbauarbeit geleistet. Außerdem habe sich die neue Ordnung soweit stabilisiert, dass ein derartiger Schritt möglich sei.152 Des Weiteren hoffte man, die Loyalität der Pgs. durch deren Dankbarkeit zu erhöhen. Das Gleichstellungsgesetz sollte die DDR innenpolitisch weiter stabilisieren. Dabei nutzte die SED die Modalitäten der NSReintegration zum eigenen Machtausbau und konnte gleichzeitig mit Erstarken der eigenen Vorherrschaft eine Pg.-Wiedereingliederung in zunehmendem Maße riskieren. Im Oktober 1952 hob das „Gesetz über die staatsbürgerlichen Rechte der ehemaligen Offiziere der Wehrmacht und der ehemaligen Mitglieder und Anhänger der Nazi-Partei“ die letzten Beschränkungen, wie sie das Gesetz von 1949 vorsah, auf.153 Spätestens von nun an wurden den ehemaligen Mitgliedern der NSDAP oder ihrer Gliederungen sowie 151 152 153 Regierungsvorlage zur Behandlung auf der 5. Tagung der Provisorischen Volkskammer gebilligt, siehe: DY 30 / IV, 2/2/51, Protokoll Nr. 51 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 18.10.1949, Bl. 79, 116 f.; DY 30 / IV, 2/2/54, Protokoll Nr. 54 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 1.11.1949, Bl. 28, 36; DA 1 / 1041/10; siehe ferner: NY 4036 / 656, Bl. 107-109; DO 1 / 26.0, 2462, Ministerium des Innern, Allenstein, an Zentralvereinigung der Gegenseitigen Bauernhilfe, Abteilung Personal, vom 03.01.1950; DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950, S. 5; DO 1 / 26.0, 2476, Ministerium für Maschinenbau, Rechtsabteilung, Spitzner, an MdI, vom 06.08.1951, s.v. „X-Z“; DO 1 / 26.0, 8580, Ministerium des Innern, HA Staatliche Verwaltung, an HA Personal, vom 12.09.1950; DO 1 / 26.0, 8580, Ministerium des Innern, HA Staatliche Verwaltung, betr.: 2. Durchführungsbestimmung zum Gesetz über den Erlass von Sühnemaßnahmen usw. vom 11.11.1949, vom 14.09.1950; Frei, Karrieren, S. 311; Wille, Entnazifizierung, S. 213; Boyer, Kader, S. 26; Amos, Justizverwaltung, S. 147. NY 4036 / 735, Bl. 341; vgl.: DO 1 / 26.0, 8580, s.v. „S“, Ministerium des Innern, HA Staatliche Verwaltung, betr.: 2. Durchführungsbestimmung zum Gesetz über den Erlass von Sühnemaßnahmen usw. vom 11.11.1949, vom 14.09.1950; DY 30/IV, 2/5/201, Bl. 59 f.; DO 1 / 26.0, 2462, Ministerium des Innern, Allenstein, an Zentralvereinigung der Gegenseitigen Bauernhilfe, Abteilung Personal, vom 03.01.1950; DA 1 / 1041/10, S. 2, 4; Zank, Wirtschaft, S. 52. NY 4036 / 656, Bl. 119, Ulbricht an die Vorsitzenden der SED-Landesvorstände, vom 12.08.1949. DY 30 / IV, 2/2/229, Protokoll Nr. 129/52 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 2.9.1952, Bl. 10, 14; DY 30 / IV, 2/2/232, Protokoll Nr. 132/52 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 16.9.1952, Bl. 3, 10 f.; DA 1 / 1123; 1365/64. Jens Kuhlemann – Braune Kader 34 Wehrmachtsoffizieren die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte gewährt wie allen anderen deutschen Staatsbürgern. Alle entgegenstehenden Bestimmungen wurden aufgehoben. Von diesem letzten juristischen Integrationsakt ausgenommen blieben erneut solche Personen, die wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit Freiheitsstrafen verbüßten.154 Resümierend lässt sich feststellen, dass innerhalb kurzer Zeit, nämlich zwischen 1947/48 bis 1952, der ganz überwiegende Teil der NS-Belasteten Stück für Stück offiziell mehr politische und berufliche Beteiligungsrechte erhielten. Nur wenige Jahre nach der Niederlage Hitler-Deutschlands und dem Beginn der Entnazifizierung waren ehemalige Pgs. rein rechtlich den übrigen Bürgern wieder gleichgestellt.155 Der Zwang, neue Rekrutierungspotenziale zu erschließen, führte dazu, dass die Partei- und Staatsführung immer denjenigen bislang ausgeschlossenen Ex-Nationalsozialisten ein Integrationsangebot machte, die vergleichsweise am geringsten belastet waren. Zugleich ließ sie sie in diejenigen Bereiche vordringen, die macht- und sicherheitspolitisch weniger bedeutend waren als andere. Dabei besaßen solche Pgs. die besten Chancen für eine dauerhafte Wiedereingliederung, die sich der ideologischen Weltanschauung und der Politik der kommunistischen Machthaber gegenüber am aufgeschlossensten zeigten. Eine NS-Vergangenheit stellte aber auch in den fünfziger Jahren einen Prüfstein dar. Immer wieder glitten SED-Funktionäre in pauschale „Schwarz-Weiß-Malerei“ ab und wünschten sich möglichst Pg.-freie Apparate.156 Manchmal zeigten sich Dienststellen auch einfach unsicher in der Frage, welche Biografien integrierbar waren.157 Dabei betonten die Kaderverantwortlichen, nicht schematisch alle Personen mit NS-Merkmalen über einen Kamm scheren zu wollen, sondern individuell ein Bild aller kaderpolitischen Gesichtspunkte zu erstellen und dann die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Wenn am Ende dieser Bewertung sämtliche Belastungen oder Verdachtsmomente zu schwerwiegend erschienen und die Betreffenden ein Sicherheitsrisiko darstellten, waren sie abzuweisen oder auszuwechseln. In politisch besonders sensiblen Bereichen geschah das notfalls selbst dann, wenn kein geeigneter Ersatz zur Verfügung stand.158 Unter dieser Maßgabe folgte der Entnazifizierung im zentralen Staatsapparat eine ständige Säuberung, die punktuelle Höhepunkte erfuhr. Dies geschah nach Meinung der SED im Angesicht einer Verschärfung des Klassenkampfes. Die Angst vor feindlichen Spionen und Saboteuren wie überhaupt die an Dynamik gewinnende 154 155 156 157 158 Weber, DDR, S. 213; Danyel, SED, S. 188-190, 195. Im Entwicklungszusammenhang der Wiedereingliederung NS-Belasteter ist auch die Freilassung von mehreren tausend Strafgefangenen Mitte der fünfziger Jahre zu betrachten, die sowjetische Militärtribunale und deutsche Gerichte als Kriegsverbrecher verurteilt hatten, siehe: SAPMO-BA, DY 30 / 3376, Bl. 82, Bericht über die Ergebnisse der Tätigkeit der Kommission des Zentralkomitees zur Überprüfung von Angelegenheiten von Parteimitgliedern, vom 06.06.1956. Zum Beispiel wertete das MdI 1958/59 die Entfernung ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Bezirk Neubrandenburg als positiv. Die Neueinstellung von Pgs. im Bezirk Cottbus galt jedoch als Verstoß gegen die Beschlüsse des V. Parteitages. Ulbricht hatte auf dem Parteitag zwar gesagt, dass die SED nicht gegen die Tätigkeit ehemaliger Offiziere sei (NSDAP-Mitglieder wurden anscheinend nicht explizit erwähnt). Aber es wurde eine strenge Prüfung angemahnt, ob sich die Betreffenden nach 1945 positiv entwickelt haben und für den Staatsapparat geeignet sind, siehe: DO 1 / 26.0, 17446, 10/58/1/1, Analyse der Operativstatistik vom 15.10.1958 (Bericht vom 06.01.1959). Als in der DWK die HV Post und Fernmeldewesen den ehemaligen SS-Angehörigen Walter M. einzustellen beabsichtigte, fragte sie bei der HA Personalfragen und Schulung nach, ob dagegen Bedenken bestehen. Die Hauptabteilung verweigerte eine solche Auskunft und antwortete stereotyp, dass jede Dienststelle die Verantwortung für ihr Personal selbst trägt, siehe: DO 1 / 26.0, 2472, DWK, HV Post und Fernmeldewesen, an DWK, HA Personalfragen und Schulung, vom 31.08.1949; siehe auch Kapitel „Zugehörigkeit zur SS und sonstigen NS-Organisationen“. DO 1 / 26.0, 17566, Ministerium der Justiz, Abteilung Kader, Arbeitsbericht für das II. Quartal 1953 laut personalpolitischen Richtlinien des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik vom 28. August 1952, vom 30.06.1953, S. 10. Jens Kuhlemann – Braune Kader 35 Stalinisierung führte Ende der vierziger Jahre bis in die fünfziger Jahre hinein zu intensiven Säuberungsmaßnahmen.159 Die permanente personelle Bereinigung war ein konstitutives Herrschaftsinstrument kommunistischer Systeme.160 Insofern überrascht es nicht, dass der Säuberungsprozess, der mit der Entnazifizierung begann, nach deren offizieller Beendigung in modifizierter Form weiterging. Die fortgesetzte „Kaderhygiene“, d.h. die ständige Optimierung des Apparates durch Personalwechsel und Kaderpflege zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, der ideologischen Festigkeit und des Gehorsams gegenüber der Machtelite, betraf die Staatsorgane ebenso wie die Wirtschaft und die politischen Zusammenschlüsse.161 Wenn auch unter den jeweiligen Kaderleitern in variierender Intensität, wurde jede Normabweichung als Ausgangspunkt für eine Gefährdung der Herrschaftsgrundlagen angesehen. Sie war zu kontrollieren oder auszuschalten.162 Dabei wurden Fehlentwicklungen konkreten Personen angelastet, da übergeordnete Grundsatzentscheidungen der Partei praktisch als unantastbar galten.163 Säuberungen verbesserten die Kontrollierbarkeit und Lenkbarkeit der Kader. Denn neben der Ausmerzung von Gegnern disziplinierten und aktivierten sie die verbleibenden Mitarbeiter.164 Die politischen Idealvorstellungen zur Zusammensetzung der Verwaltung fanden ihre Grenzen natürlich in den fachlichen Ansprüchen und im Fachkräftemangel. Dadurch konnten sich viele alte, bürgerlich geprägte Spezialisten teilweise noch jahrelang in ihren Positionen halten.165 Dennoch wurden sie, sofern sie sich weltanschaulich als nicht ausreichend anpassungsfähig erwiesen, nach Möglichkeit durch jüngere, politisch geschulte Kräfte ersetzt.166 Diejenigen Kader, die die Überprüfungen bei der Einstellung und die nachfolgenden Säuberungen überstanden, konnten sich im Vergleich zu den Gestrauchelten als „höherwertig“ ansehen.167 Oft versuchten Kaderverantwortliche, die Säuberungsprozesse so gut es ging verdeckt durchzuführen und mit scheinbar unpolitischen Ereignissen zu verbinden. Beispielsweise wurde die Reorganisation der Deutschen Wirtschaftskommission im Frühjahr 1948 zur Personalsäuberung genutzt.168 Ein weiterer Anlass waren Sparzwänge im Zuge der Währungsreform, die ab Ende 1948 eine Personalreduzierung nach sich zogen.169 Das Durchleuchten der Mitarbeiter betraf die ehemaligen NSDAP-Mitglieder ebenso wie alle anderen Kader im Personal der Deutschen Wirtschaftskommission.170 In der DWK hieß es in 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 94 ff.; Wenzke, Wege, S. 231. Welsh, Kaderpolitik, S. 127. Boyer, Kader, S. 17 f.; Welsh, Wandel, S. 85, 167; Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 101. Säuberungen sollten im leninistischen Sinne die ideelle Reinheit und Geschlossenheit der „Kampfreihen der Partei“ herstellen. Ziel war die Eliminierung von (potenziellen) Gefahrenherden. Abweichungen von der Parteilinie galten als Schwächung des eigenen Lagers, siehe: Kleßmann, Resistenz, S. 460; Foitzik, Säuberungen, S. 401 ff., 421. Zimmermann, Überlegungen, S. 344. Staritz, Sozialismus, S. 158, 164 f., 167. Hübner, Manager, S. 57, 67, 70. Richert, Macht, S. 273. Lenk, Elite, S. 29 f.; vgl. Gieseke, Genossen, S. 211. Hierzu wurde eine Kommission der Abteilung Personalpolitik beim Zentralsekretariat der SED eingesetzt. Ihr Ziel war die »Qualifizierung des Bestandes der Kader der zentralen Wirtschaftsverwaltungen durch Entfernung unzuverlässiger Elemente und unzulänglicher Kräfte und deren Ersetzung durch neue aktive Kräfte aus den Ländern«. Darüber hinaus wurde die Umsetzung falsch eingesetzter Mitarbeiter innerhalb der DWK angestrebt sowie die Einplanung für Weiterbildungen mittels Lehrgängen an Parteischulen, Fachschulen, der Verwaltungsakademie etc., siehe: NY 4182 / 976, Bl. 38; DC 15 / 713, Bl. 28 RS, Ansprache des Herrn Rau am 30.3.1948 an alle Mitarbeiter des Hauses, vom 30.03.1948. DC 15 / 754, Bl. 10, 13; DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 32 ff., [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert; Boyer, Kader, S. 27; Amos, Justizverwaltung, S. 96 f.; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 385 f.; zur Währungsreform in der SBZ siehe: Schneider, Kriegswirtschaft, S. 47. Ein Beispiel (Herbert So.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 62. Jens Kuhlemann – Braune Kader 36 diesem Zusammenhang zu einigen NS-Belasteten, sie seien nicht entbehrlich, solange keine geeignete Ersatzkraft vorhanden ist. Sie waren daher vorerst an ihren Plätzen zu belassen, sollten aber ausgewechselt werden, sobald geeigneter Ersatz vorlag.171 Zu anderen bestanden gegen eine Weiterbeschäftigung keine Bedenken.172 Weitere pointierte Säuberungsgelegenheiten boten die Staatsgründung samt Transformation der DWK in die DDR-Regierungsdienststellen oder die Folgezeit des Aufstandes am 17. Juni 1953. Erneut wurden auch die ehemaligen Nationalsozialisten unter die Lupe genommen.173 Häufig gestaltete sich eine Auswechselung mangels Alternativen schwierig, obwohl sie eigentlich vorgesehen war.174 Der Kampf um eine Verzögerung oder gar Aufhebung von Personalveränderungen ging soweit, dass sich im Falle einiger NS-Belasteter hohe Funktionäre zu ihren Gunsten einschalteten. Meist waren dies die Vorgesetzten in der Behörde oder Dienststellenleiter gegenüber dem MdI und der SED-Führung. Aber auch innerhalb der SED bestanden unterschiedliche Auffassungen zu Art und Umfang der Bereinigungen.175 Tendenziell legte der SED-Parteiapparat strengere Maßstäbe bei der Beurteilung ehemaliger Nationalsozialisten an als die Staatsverwaltung. Dabei kam es durchaus zu gewissen Auseinandersetzungen. Denn die Behörden legten den Schwerpunkt ein wenig mehr auf eine reibungslose Funktionalität und die in der SED-Hierarchie tonangebenden Altkommunisten eher auf einen ideologisch sauberen Personalkörper.176 Offen zutage traten diese nicht grundsätzlich voneinander abweichenden, aber unterschiedlich flexibel gehandhabten Personalvorstellungen bei den SED-Säuberungen, insbesondere bei der Mitgliederüberprüfung 1951.177 In den DDR-Regierungsdienststellen waren ehemalige Nationalsozialisten dabei deutlich häufiger von Sanktionsmaßnahmen betroffen als „normale“ SED-Angehörige. Mehr als doppelt so oft wurde die Zurückversetzung in den Kandidatenstand oder die Streichung der Mitgliedschaft ausgesprochen. Rund viermal mehr als im Durchschnitt wurde der Parteiausschluss verhängt.178 Im Zusammenhang mit anderen Negativmerkmalen wurde eine NS-Vergangenheit aus diesem Anlass in etlichen Fällen neu bewertet und führte zu Sanktionen.179 Bei den Angehörigen des NS-Samples ging ein 171 172 173 174 175 176 177 178 179 So die zuständigen DWK-Hauptverwaltungen über Ferdinand Beer, Ernst Hennig und Franz H.; auch Bernd Veen wurde von der SED, Abteilung Personalpolitik, in die Gruppe „bei Ersatz auszuwechseln“ eingestuft. Gleiches widerfuhr Egon Wagenknecht im Zuge der Stellenplaneinsparung 1948/49, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, DWK, HV Wirtschaftsplanung, Beurteilung über Ferdinand Beer, vom 28.06.1949; DO 1 / 26.0, 17601, DWK, HV Wirtschaftsplanung, Beurteilung über Ernst Hennig, vom 28.06.1949; DY 30 / IV, 2/2.027/6, SED, Abteilung Personalpolitik, an Merker, betr.: HV Land- und Forstwirtschaft, vom 06.01.1949; Kuhlemann, Kader (2005), S. 63. So die HV Chemie im Juni 1949 über Josef Schaefers, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, DWK, HV Chemie, Beurteilung über Josef Schaefers, vom 20.06.1949. Ein Beispiel (Werner P.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 63. Vor der Amnestierung 1956 warf die Partei dem infolge des 17. Juni 1953 festgenommenen Justizminister Max Fechner vor, er habe „NSDAPBelastete in das Ministerium einzuschleusen“ versucht. Das war offenbar eine Anspielung auf seinen persönlichen Referenten Günter Scheele, siehe: Hoefs, Kaderpolitik, S. 164; Amos, Justizverwaltung, S. 136; zu Scheele siehe Kapitel »Die „doppelten Parteigenossen“ und ihre illegale Untergrundarbeit: Eintritt im Auftrag der KPD und SPD«. Siehe den Fall Helmut Wikary, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 63. Ein Beispiel (Günther Kromrey) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 63. Entsprechende Auseinandersetzungen zu Franz Woytt und Kurt V. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 64. Das ZK ordnete im Oktober 1950 eine Überprüfung der Parteimitglieder und Kandidaten an, die bis zum Juli 1951 erfolgte. Details zur quantitativen Mitgliederentwicklung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 64; Herbst / Ranke / Winkler, DDR, S. 897; Wenzke, Wege, S. 259; Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 102; Foitzik, Säuberungen, S. 412-414. Von allen SED-Mitgliedern in den Ministerien verweigerten 0,12% die Überprüfung und 0,1% traten vor der Überprüfung aus. Einzelheiten zur Häufigkeit der jeweiligen Beschlüsse siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 64. Insofern widerspreche ich Jürgen Danyel, der meint, eine NS-Belastung habe bei Säuberungen in der SED nur dann eine Rolle gespielt, wenn die betreffenden Mitglieder keine oder falsche Angaben darüber gemacht hatten, wofür die Richtlinien den Ausschluss vorsahen, siehe: Danyel, SED, S. 183 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 37 Ausscheiden aus der SED fast immer auf eine Säuberung zurück. Nur in zwei Fällen war ein freiwilliger bzw. aus eigener Initiative erfolgender Parteiaustritt nachweisbar.180 Die schweren Parteistrafen zogen unweigerlich auch berufliche Konsequenzen nach sich. Gestrichene oder ausgeschlossene Regierungsangestellte, ehemalige Pgs. inbegriffen, mussten ihren Arbeitsplatz in der Regel unverzüglich räumen.181 Teilweise wurden sie in nachgeordnete Dienststellen oder in die Wirtschaft versetzt, wo sie erneut Gelegenheit erhielten, sich zu bewähren.182 Die meisten früheren Nationalsozialisten in der SED bekamen ihr Parteidokument jedoch ohne jegliche Sanktionen zurück.183 Resümierend lässt sich sagen, dass sich bereits während der Entnazifizierung die offiziellen Wiedereingliederungsmöglichkeiten an ehemalige NSDAP-Mitglieder allmählich mehrten und 1952 in die völlige rechtliche Gleichstellung mündeten. Dem stand jedoch eine interne Säuberung entgegen. Die Notwendigkeit der fachlichen Effizienz setzte den Säuberungsbemühungen dabei Grenzen. Der Doppelcharakter der Entnazifizierung setzte sich nach ihrem Abschluss im Rahmen der Kaderpolitik fort, indem Gegner der SED entlassen und Unterstützer protegiert wurden. Die Pgs. waren hiervon ebenso betroffen wie andere Kader. 1.2 Von Fragebögen und dem Wunsch zu schweigen Spätestens ab 1949 war die gezielte Frage nach der früheren Partei- und Organisationszugehörigkeit in Personalfragebögen bei den Betroffenen besonders umstritten. Sie verkörperte das Verlangen der Personalabteilungen nach gläsernen Kadern. Zur Zeit der Entnazifizierung diente die Beantwortung der Frage der Einstufung in eine Belastungskategorie samt der damit verbundenen Strafen und Beschränkungen.184 Nach dem offiziellen Ende der Entnazifizierung entfiel dieser Grund. Dennoch wurde die Mitteilungspflicht in der DDR beibehalten, um das Personal kaderpolitisch möglichst gut einschätzen zu können. Wer sich um eine Arbeitsstelle bewarb oder bestimmte Leistungen beantragte, musste auch weiterhin Auskunft über eine eventuelle NSDAP-Mitgliedschaft erteilen. Das sorgte für beträchtliche Unruhe in der Bevölkerung. Die ganz überwiegende Mehrheit der ehemaligen Nationalsozialisten empfand die Frage danach nämlich als unvereinbar mit dem Befehl Nr. 35 und erst recht mit dem Gleichstellungsgesetz vom November 1949. Vor allem in Letzterem sah sie unter Berücksichtigung eng umgrenzter Ausnahmen das Ende jeglicher Benachteiligung und Diskriminierung aufgrund einer persönlichen NS-Vergangenheit. Die ehemaligen Pgs. verstanden es als Handreichung für den so sehnlich erwünschten beruflichen und gesellschaftlichen Neuanfang, so wie es führende ostdeutsche Politiker auch immer wieder propagierten. Ein „new deal“ schien möglich. Er versprach, Hunderttausende von der Last der überdurchschnittlichen Mitverantwortung am Nationalsozialismus zu befreien. Das neue Gesetz verhieß das Untertauchen in der großen Masse, die Erlaubnis zum Verbergen der eigenen Verstrickung mit dem NS-Regime und damit die „Egalisierung“ der Schuldfrage. Das Bedürfnis der Pgs. nach einer Geste der 180 181 182 183 184 Details zu Helmut Wikary und Egon Wagenknecht siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 65. Siehe den Fall Konstantin Pritzel, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 65; zu Regierungsangestellten, die auf Grund der SED-Mitgliederüberprüfung entlassen wurden, siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17349, 124/51/3/1, 125/51/3/1. Ein Beispiel (Herbert Seifert) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 65. Beispiele (Harald Schaumburg, Hans Forsbach, Ferdinand Beer, Helmut Wikary, Erwin Melms) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 65. Die SMAD hatte frühzeitig damit begonnen, detaillierte Fragebögen auszugeben, siehe: Rössler, Aspekte, S. 137. Jens Kuhlemann – Braune Kader 38 Versöhnung, nach einer Reinwaschung der braunen Flecken im eigenen Lebenslauf, nach Vergebung und Beendigung der Sanktionen war groß. Doch die DDR-Behörden hielten daran fest, dass sich ehemalige NSDAP-Mitglieder als solche zu erkennen geben mussten. Sie verlangten im Rahmen der Kaderpolitik über den gesamten politischen Lebenslauf jedes Individuums genaue Informationen. Entwicklungsmöglichkeiten waren auszuloten, Gefahren mussten eingeschätzt werden. Weiterhin als Personen identifiziert zu werden, die zumindest moralisch mehr als andere für die Verbrechen des NS-Regimes verantwortlich gemacht wurden, war für die Pgs. natürlich äußerst unangenehm. Die NS-Belasteten fürchteten, dass kaum ein Arbeitgeber sie aus politischen Ressentiments einstellen würde. Wirtschaftliche Nachteile durch eine ausbleibende Karrierefortsetzung wären die Folge gewesen. Auch die psychischen Belastungen aufgrund eines nicht enden wollenden Rechtfertigungszwanges und der Furcht vor anhaltenden sozialen Ausgrenzungen spielten eine Rolle.185 Die offizielle Gleichberechtigung durch das Gesetz drohte also eine theoretische Angelegenheit zu bleiben, da die Basis weit weniger zur Versöhnung bereit war als die politischen Spitzen.186 Manche Fragebögen wiesen zwar im Laufe der Zeit keine spezielle Rubrik zur NSDAP und den NS-Gliederungen mehr auf. Die Frage nach sämtlichen Parteien und Organisationen, denen die Bewerber irgendwann einmal angehört hatten, lief jedoch auf das Gleiche hinaus. Die Pgs. stellten insofern praktisch keinen Unterschied im Vergleich zu ihrer Entnazifizierung fest. Sie sahen sich genötigt, auch künftig faktisch benachteiligende Angaben zu machen. Dabei hatten sich hochrangige DDR-Politiker mehrfach in der Öffentlichkeit dazu bekannt, den Nominellen die Chance zur Teilnahme am Aufbau des Landes bei fast völliger rechtlicher und politischer Gleichberechtigung zu gewähren. Die Pgs. verstanden darunter ganz eindeutig den Verzicht auf einen politischen Offenbarungseid. Dieses Problem beschäftigte auch frühzeitig die Parteien. Auf der 36. Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses der „zentralen Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien“ am 26. Oktober 1948 wurde auf Antrag der LDP über Fragebögen debattiert. Die Liberaldemokraten vertraten die Ansicht, ins Einzelne gehende Fragen nach einer Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Organisationen seien durch den Abschluss der Entnazifizierung in der SBZ überflüssig geworden. Es würde ausreichen, nur noch danach zu fragen, ob der Befragte das aktive und passive Wahlrecht hat. Das traf auf die nominellen Pgs. zu. Außerdem sollte man erfahren dürfen, ob und wenn ja welche Beschränkungen durch den Spruch einer Entnazifizierungskommission auferlegt wurden. Darüber hinaus schien der LDP die Frage nach der Zugehörigkeit der Verwandten zur NSDAP oder ihren Gliederungen „doch sehr nach der früheren Sippenhaftung, die die NSDAP sich zu Eigen gemacht hatte, zu riechen“. Sie empfahl den völligen Verzicht darauf. Es wurde ergänzend darauf hingewiesen, dass es für den Aufbau eines neuen demokratischen Staates nötig sei, auch die NS-Belasteten zur Mitarbeit heranzuziehen. Die fortdauernde Frage nach der NSDAP-Zugehörigkeit würde die Pgs. jedoch diffamieren und aus ihnen Menschen zweiter Klasse machen. Man brächte sie 185 186 DC 15 / 754, Bl. 18 RS. Ein ehemaliges NSDAP-Mitglied fasste die Hoffnungen, die mit dem Gleichstellungsgesetz verbunden wurden, in einem Brief an Ministerpräsident Otto Grotewohl wie folgt zusammen: »Voller Dankbarkeit gegenüber Ihrer Person nahmen alle ehemaligen Pg´s davon Kenntnis, denn es war eine Erleichterung für jeden, den das Gesetz betraf«. Schon in den folgenden Sätzen offenbart sich aber die Enttäuschung über die vielfach erfahrene Diskrepanz zwischen dem offiziell verlautbarten Anspruch, dem ganz persönlichen und der Realität: »Aber wie sieht nun die Angelegenheit in Wirklichkeit aus? Von Ihnen in großzügiger Weise endlich über Vergangenheit ein Schlußstrich gezogen, ist man an vielen Stellen noch nicht soweit, was die Personalfragebogen bezeugen. Bewirbt man sich um irgendeine Stellung, so bekommt man einen Fragebogen mit 27 Fragen vorgelegt, worunter sich auf Seite 3 des Bogens folgende Frage befindet: „Welcher Partei gehörten resp[ektive] gehören Sie an?“ Entgegen Ihrem Gesetz ist man hier trotz Ihrer festgelegten Durchführungsbestimmungen wieder gezwungen, das was von Ihnen abgeschafft wurde, wieder anzugeben, wenn auch die Fragestellung jetzt eine andere ist«, siehe: DO 1/ 26.0, 2476, s.v. „B“, Rudolph B[...], an Grotewohl, vom 22.01.1951; ebd., MdI, Wieland, an Rudolph B[...], vom 09.03.1951. Jens Kuhlemann – Braune Kader 39 damit in eine Kontrastellung zu den demokratischen Kräften. Viele hätten schon vor Kriegsende die Wahrheit erkannt und begonnen, sich durch körperliche Arbeit seit 1945 „ein Recht in diesem neuen Staat zu erwerben“.187 Während die Repräsentanten der übrigen Parteien die Frage nach der politischen Organisationszugehörigkeit von Verwandten ebenfalls kritisierten oder als verzichtbar bezeichneten, widersprachen sie einem Verzicht auf die Auskunftspflicht zur früheren Parteizugehörigkeit des den Fragebogen Ausfüllenden. Es kamen Sicherheitsbedenken und die Frage zum Ausdruck, ob man den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern schon so sehr vertrauen konnte, dass eine Kontrolle ihrerseits unnötig war. Mit einer Reduzierung auf die Frage nach dem aktiven und passiven Wahlrecht und eventuellen Entnazifizierungsauflagen hätte man automatisch die Nominellen, die ja auch nach den Verlautbarungen der SED zu reintegrieren waren, anonymisiert und damit unbehelligt gelassen. Das war, was die SEDVertreter im Ausschuss nicht wollten. Sie strebten ein kaderpolitisches Gesamtbild ohne Lücken an und vertraten im Ausschuss deshalb die Ansicht, die Frage nach dem Wahlrecht sei nicht ausreichend und man könne auf die Frage nach der gesamten politischen Entwicklung nicht verzichten. Auch der Vorschlag, gezielt nur bei sensiblen Arbeitsfeldern und leitenden Positionen nach früheren Parteimitgliedschaften zu fragen, sollte sich nicht durchsetzen. Namentlich Wilhelm Pieck (SED) und – im Gegensatz zu weiten Teilen seiner Partei – Otto Nuschke (CDU) setzten dabei einen neuen Bewährungsmaßstab an und erklärten im Grunde, dass auch die bereits Entnazifizierten sich noch nicht hinreichend bewährt hätten.188 Am Ende kam es schließlich zu keiner Beschlussfassung des Gemeinsamen Ausschusses der zentralen Einheitsfront. Die Auskunftspflicht zur politischen Vergangenheit blieb bestehen. Das hielt Vertreter der LDP, CDU und seit ihrer Gründung der NDP nicht davon ab, in den Folgejahren weiter auf dieses Problem hinzuweisen.189 Sie stellten sich auf die Seite der Ex-Nationalsozialisten, die beklagten, dass sie den in Aussicht genommenen Arbeitsplatz nicht mehr erhielten, sobald sie ihre ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft bekannt geben mussten. Vor allem die Nationaldemokratische Partei entwickelte sich diesbezüglich zum Sprachrohr der enttäuschten Pgs. Das Parteiblatt „National-Zeitung“ prangerte zum Beispiel Anfang 1949 an, dass sich ehemalige NSDAP-Mitglieder auch nach Ende der Entnazifizierung in Berlin genötigt sahen, bei der Arbeitssuche ihre NS-Vergangenheit zu verharmlosen, sie zu unterschlagen oder sich sogar zum Widerständler zu stilisieren. Denn die Rechtfertigungs- und Inszenierungspraxis aus der Entnazifizierung habe sich anlässlich der behördlichen Personalfragebögen, die Erklärungen zur politischen Betätigung verlangten, und durch geforderte politische Referenzen fortgesetzt. Dabei half es auch nicht, dass eine besondere Kennzeichnung der Arbeitsbücher der früheren Pgs. seit Beendigung der Entnazifizierung in Berlin untersagt war und die Polizei in neu ausgestellte Personalausweise 187 188 189 Die LDP kritisierte auch Fragen nach dem früheren Militärdienst. In der Einbeziehung der Verwandtschaft lag zudem ein Unterschied zum amerikanischen Entnazifizierungsfragebogen, siehe: NY 4036 / 716, Bl. 182-191, Protokoll der 36. Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses der zentralen Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien am 26.10.1948. Siehe eine ausführliche Darstellung und Kommentierung der auf dieser Sitzung vertretenen Positionen zur Fragebogenthematik in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 68-72. Otto Kamps (LDP), Minister für Handel und Versorgung in Sachsen-Anhalt, soll 1950 die Ansicht vertreten haben, bei Beurteilungen einzelner Personen anlässlich des Einbaus in führende Positionen der Verwaltung, Wirtschaft etc. nicht nach einer NSDAP-Mitgliedschaft oder der Zugehörigkeit zum Berufssoldatentum zu fragen, wenn es sich um LDP-Angehörige handelte, während er bei SED-Mitgliedern vehement einen entgegengesetzten Standpunkt vertreten habe. Im CDU-Blatt „Neue Zeit“ gab es am 30.10.1949 eine Glosse gegen Fragen nach der früheren Parteizugehörigkeit, siehe: DO 1 / 26.0, 3716, MdI Sachsen-Anhalt, Übersendung der Personalunterlagen von Otto Kamps, an MdI, Warnke, vom 11.08.1950 (darin: Charakteristik, vom 07.08.1950); NY 4090 / 508, Bl. 281, Analyse der Glossen auf der ersten Seite der CDU-Zeitung „Neue Zeit“, undatiert [1949]. Jens Kuhlemann – Braune Kader 40 keine „Trockenstempel“ zwecks Registrierung ehemaliger NSDAP-Mitglieder mehr anbrachte.190 Bei aller Parteinahme scheint sich die NDP-Spitze dennoch bald den Realitäten gestellt zu haben. So agitierte zwar auch der Parteivorsitzende Lothar Bolz 1949 in der Öffentlichkeit noch populistisch gegen das „Fragebogenunwesen“. Er verlangte, nur noch die Frage nach der Wahlberechtigung zu stellen und Ausnahmen hiervon allein bei Stellen zu machen, die früheren NSDAP-Mitgliedern offiziell verwehrt waren. Außerdem sollte jede gesonderte Kennzeichnung von Fragebögen, Karteiblättern und Mitgliedsbüchern etc. für ehemalige Pgs. grundsätzlich verboten sein.191 Intern fuhr man jedoch zumindest zeitweilig eine gemäßigtere Linie. Vincenz Müller, stellvertretender Vorsitzender und politischer Geschäftsführer der NDP, bezeichnete nämlich ein Jahr später in einer Eingabe an MdI-Staatssekretär Warnke die umfangreichen Fragestellungen zur politischen und militärischen Vergangenheit des Einzelnen und der Verwandtschaft in Fragebögen zwar als Mangel bei der Durchführung des Gleichstellungsgesetzes. Er kritisierte, dass sogar Sozialämter vor Erteilung von Schwerbeschädigtenausweisen oder Gewerbebehörden bei Zulassung zu einem privaten Gewerbe die Ausfüllung solcher Fragebögen verlangten. Jedoch forderte Müller – vielleicht auch mit Blick auf das politisch Erreichbare – vom Ministerium des Innern keinen generellen Verzicht mehr auf diese Fragen. Er verlangte stattdessen nur noch, dass alle Stellen, die zur Ausgabe von Fragebögen berechtigt waren, die vom MdI herausgegebenen Fragebögen verwenden und keine anderen, die ihm anscheinend in ihrer Ausführlichkeit zu weit gingen. Müller war also offenbar nur noch um Schadensbegrenzung bemüht und nicht mehr darauf aus, einen Totalverzicht auf die Frage nach der politischen Vergangenheit zu erwirken.192 In den Deutschen Zentralverwaltungen, der DWK und im DDR-Regierungsapparat mussten die Angestellten nach Beendigung der Entnazifizierung ebenfalls Personalfragebögen ausfüllen, die nach der Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen NS-Organisationen fragten. Sie bezogen sich auf die Betreffenden selbst sowie auf ihre Familienangehörigen.193 An dieser Praxis wurde in den Ministerien bis zum Ende der DDR festgehalten. Noch in den achtziger Jahren verlangten die Personalbögen Auskunft über die Zugehörigkeit zur ehemaligen NSDAP und ihren Gliederungen, nach Mitgliedsdauer und Funktionen.194 Nach Abschluss der Entnazifizierung hatten die Personalabteilungen der Arbeitgeber, in diesem Fall die der staatlichen Verwaltung, die Aufgabe der politischen Säuberung und „Kaderhygiene“ von den Entnazifizierungskommissionen übernommen. Der Umfang der Fragen zur politischen 190 191 192 193 194 National-Zeitung, Artikel „Behörden setzen ein altes Spiel fort“, vom 15.01.1949; National-Zeitung, Bericht „Die Gesamtpersönlichkeit entscheidet“, vom 11.03.1949. Bolz nannte als Beispiel den Fragebogen für die Personalstatistik der Landesregierung Sachsen-Anhalt. Er enthielt nicht weniger als 144 Punkte, von denen sich rund die Hälfte mit der politischen Vergangenheit und gegenwärtigen Orientierung, Betätigung und Parteizugehörigkeit befassten, siehe: National-Zeitung, Beitrag „Erst Fragebogen –“, vom 04.03.1949; National-Zeitung, Beitrag „Fragebogen, gedruckt im Februar 1949“, vom 15.03.1949. Das MdI vermerkte, dass bei Einstellungen in der gesamten staatlichen Verwaltung und volkseigenen Wirtschaft der vom MdI eingeführte Personalbogen galt, und wertete Abweichungen hiervon als Übergangserscheinungen, siehe: DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950, S. 3. Der in der DJV verwendete Personalfragebogen wurde ab 1948 mit 60 weiteren Fragen ergänzt, die die Mitgliedschaft in NS-Organisationen betrafen. Dies betraf auch das familiäre Umfeld (Eltern, Geschwister, Kinder, Ehepartner usw.). Weiterhin wurde nach Dienstdauer, Dienststellen, Art der Tätigkeit etc. gefragt. Vgl. einen Fragebogen für Nomenklaturmitarbeiter beim Staatssekretariat für Berufsausbildung von ca. 1952, in dem nicht nach der NSDAP-Zugehörigkeit gefragt wurde. Wahrscheinlich handelte es sich nur um einen zusätzlichen Fragebogen, der nicht mehr alle kaderpolitisch relevanten Punkte umfasste, in: DO 1 / 26.0, 17599, Einheit 39, Staatssekretariat für Berufsausbildung, Fragebogen; Amos, Justizverwaltung, S. 94 f., 245 ff. Ebenso nach der Zugehörigkeit zur Wehrmacht oder anderen militärischen Formationen und den Dienstgraden, Auszeichnungen, Einsatzorten, der Zugehörigkeitsdauer sowie einer eventuellen Kriegsgefangenschaft im 2. Weltkrieg und Lagerschulungen, siehe: DP 1 / VA 8459. Jens Kuhlemann – Braune Kader 41 Vergangenheit fiel daher nicht geringer aus als vorher. Für das Personal der DWK und der Zentralverwaltungen sind allerdings keine Beschwerden bekannt. Dies verwundert nicht, da dort zum einen vergleichsweise wenige NSDAP-Mitglieder beschäftigt waren. Zum anderen stand bis zum Ende der Entnazifizierung, während der ein Großteil von ihnen in den Verwaltungsapparat gelangte, die Frage nach der früheren Parteizugehörigkeit unzweifelhaft in Einklang mit den offiziellen Rahmenbedingungen. Diese beiden Faktoren galten spätestens für die DDR-Regierung nicht mehr. Doch auch von früheren Nationalsozialisten, die sich ab 1949 für eine Stelle beim zentralen Staatsapparat bewarben oder dort bereits tätig waren, sind keine kritischen Schreiben überliefert. Den Grund hierfür darin zu sehen, dass in den OstBerliner Ministerien ausschließlich solche ehemaligen NSDAP-Mitglieder vorstellig wurden, die aus besonderer Einsicht heraus die Vergangenheitsnachfrage vorbehaltlos akzeptierten, scheint zu gewagt. Gleichwohl hat die sorgfältige Auswahl ehemaliger Pgs., die in den Regierungsdienststellen arbeiten durften, dazu beigetragen, dass diese – bei allen Ausnahmen – tendenziell politisch loyaler eingestellt waren als andere NS-Belastete. Nicht auszuschließen ist, dass entsprechende Schreiben einfach verloren gegangen sind. Oder aber die Pgs. wagten im zentralen Regierungsapparat überhaupt keine Beschwerdebriefe abzufassen – wegen der dort im Vergleich zu anderen Dienststellen besonders stark ausgeprägten Kontroll- und Disziplinierungsmethoden und aus Angst vor Sanktionen. Nichtsdestoweniger liegen etliche Eingaben früherer NSDAP-Angehöriger aus dem gesamten Gebiet der DDR vor, die bei untergeordneten Dienststellen und Betrieben um Arbeit nachsuchten oder dort bereits tätig waren. Diese Schreiben nebst den Reaktionen der Arbeitgeber und Behörden geben einen guten Einblick in die unterschiedlichen Vorstellungen zur Umsetzung der Wiedereingliederungspolitik – einerseits von Seiten der NS-Belasteten selbst, andererseits von Seiten der Personalverantwortlichen. Da zu diesen Vorgängen darüber hinaus Stellungnahmen des Ministeriums des Innern existieren, lassen sich für die ehemaligen Nationalsozialisten im zentralen Regierungsapparat Rückschlüsse ziehen. Denn das stetige Verlangen des MdI nach lückenloser Auskunftserteilung über die NS-Vergangenheit legt nahe, dass in den Ost-Berliner Ministerien der gleiche Maßstab galt. Darüber hinaus dürfen wir davon ausgehen, dass sich in den Köpfen so mancher Regierungs-Pgs. ähnliche Gedanken abspielten, wie sie in den Petitionen früherer Nationalsozialisten aus politisch weniger wichtigen Dienststellen zum Ausdruck kamen. Deren Schreiben waren, wie zu sehen sein wird, in einem bittstellerischen oder unsicheren, manchmal aber auch erstaunlich selbstbewussten und anklagenden Tonfall gehalten. Sie richteten sich meistens an Präsident Wilhelm Pieck oder an Ministerpräsident Otto Grotewohl. Seltener erhielt das Ministerium des Innern solche Eingaben direkt zugesandt. Am Ende bekam sie die HA Personal jedoch alle zur weiteren Bearbeitung überwiesen. Die Petenten wünschten sich dabei im „Kampf“ gegen untere Behörden eine verbindliche Auskunft von höchster Stelle, ob die Frage nach den eigenen NS-Belastungen im Personalfragebogen zu beantworten war oder nicht.195 Sie baten unter Hinweis auf das Gesetz und die Wiedereingliederungsangebote der Spitzenpolitiker darum, auf solche Bekenntnisforderungen zu verzichten. So sollte in Gleichberechtigung mit allen anderen Mitbürgern nicht einmal die theoretische Möglichkeit der persönlichen Benachteiligung im Berufsleben bestehen. Einige NS-Belastete wandten sich zunächst an andere Ministerien, Landes- und Lokalverwaltungen, Betriebe und Massenorganisationen. Bei diesen herrschte nach Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes von 1949 vielerorts Unklarheit über die Auswirkungen der neuen Rechtslage. Die Handhabung des Gesetzes erfolgte durch die verschiedenen Behörden in der DDR völlig uneinheitlich. Einige beharrten im Sinne der SED-Führung auf der Beantwortung der Frage nach den ehemaligen politischen Organisationszugehörigkeiten und dem Militärdienst. Andere hielten dies wie die ehemaligen 195 DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „NO“, Bernhard N[...], an Amt für Information, vom 08.11.1951; ebd., MdI, Wieland, an Bernhard N[...], vom 11.12.1951. Jens Kuhlemann – Braune Kader 42 NSDAP-Mitglieder für unvereinbar mit dem neuen Gesetz.196 Um das Durcheinander zu lichten, baten mehrere Dienststellen das Ministerium des Innern direkt um Auskunft, wie das Gleichstellungsgesetz in der Praxis anzuwenden sei. Noch fast zwei Jahre nach seiner Verabschiedung berichtete zum Beispiel das Ministerium für Maschinenbau davon, dass immer wieder Zweifel auftauchten, ob aufgrund des Gesetzes über den Erlass von Sühnemaßnahmen die Frage nach der Parteizugehörigkeit vor 1945 noch zulässig sei.197 Mehrere lokale Behörden und Betriebe hätten dies verneint und den entsprechenden Passus in ihren Personalfragebögen gestrichen. Andere Betriebe, die weiterhin Auskunft darüber verlangten, sahen sich mit Angestellten konfrontiert, die unter Berufung auf das Gesetz und ihnen den Rücken stärkende Presseartikel eine Beantwortung auslassen oder ablehnen. Bezeichnend war dabei nicht nur der hier angedeutete Widerstand an der Pg.-Basis. Darüber hinaus war die Rückfrage beim MdI symptomatisch für die Scheu anderer Dienststellen in der DDR, Verantwortung zu übernehmen, die Vorgaben möglicherweise „falsch“ anzuwenden und dafür eine Strafe zu riskieren.198 Die Betriebsgewerkschaftsleitung des Berliner Akademie-Verlags bat das Ministerium des Innern sogar um Entschuldigung, sich erst eineinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes zu erkundigen, ob denn die Frage nach der Zugehörigkeit zur NSDAP und ihren Gliederungen noch erlaubt sei. Die BGL sei zuvor vom FDGB unterrichtet worden, dass dies nicht geschehen soll. Es interessierte sie daraufhin „nicht mehr, was der einzelne Kollege früher war, sondern wie er heute zu unserem demokratischen Staat steht“. Deshalb forderten die Gewerkschafter von ihren Mitarbeitern lediglich die Beschreibung der politischen Entwicklung nach 1945. In dieser Frage vertrat der dortige Personalchef jedoch eine andere Auffassung. Es gab also auch innerhalb der Dienststellen Konflikte über die korrekte Behandlung ehemaliger Nationalsozialisten, so dass die BGL im Wunsch nach Schlichtung das Ministerium des Innern um Mitteilung bat, „ob unsere Meinung die richtige ist“.199 Solche Vorgänge belegen auf der einen Seite, dass viele Personalleiter sich eine tatsächliche Wiedereingliederung der Nominellen ohne Anonymisierung ihrer NS-Belastung nicht vorstellen konnten. Die öffentlich abgegebenen Integrationsversprechen vor Augen, zeigten sie sich etwas orientierungslos. Von den vielen Kaderabteilungen abgesehen, die nicht hundertprozentig sicher waren, welchen Umfang die Informationspflicht einnahm, ist es nicht verwunderlich, dass auch zahlreiche Pgs. nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. Es ist daher nicht auszuschließen, dass manche Personen in dem guten Glauben waren, auf der Grundlage des Gleichstellungsgesetzes ihre NSDAP-Mitgliedschaft nicht mehr angeben zu müssen, obwohl danach gefragt wurde, und die Nichtnennung bis auf weiteres unerkannt blieb. So gesehen hätte es sich also um eine nicht vorsätzlich begangene Fragebogenfälschung gehandelt. Diejenigen wiederum, die um die Auskunftspflicht wussten und ihre politische Vergangenheit dennoch verheimlichten, könnten sich beim Entdecktwerden hinter dieser Ahnungslosigkeit versteckt haben. Wahrscheinlich klärten die Personalabteilungen, die 196 197 198 199 Zu Letzteren zählten neben direkt betroffenen Verwaltungen und Betrieben auch mehrere Arbeitsämter und Dienststellen der Volkspolizei, siehe: DO 1/ 26.0, 2476, s.v. „B“, Rudolph B[...], an Grotewohl, vom 22.01.1951. DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „X-Z“, Ministerium für Maschinenbau, Rechtsabteilung, Spitzner, an MdI, vom 06.08.1951. Derartige Rückfragen an maßgeblicher Stelle mögen zwar stets auch Teil behördenüblicher Vorgänge gewesen sein. Im vorliegenden Fall wird das ausweichende Verhalten eigentlich fachkundiger Personen jedoch noch dadurch unterstrichen, dass ausgerechnet die Rechtsabteilung des Ministeriums für Maschinenbau das MdI um eine „grundsätzliche Stellungnahme“ ersuchte, um künftige Anfragen dieser Art richtig zu beantworten, siehe: DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „X-Z“, Ministerium für Maschinenbau, Rechtsabteilung, Spitzner, an MdI, vom 06.08.1951. DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „NO“, Akademie-Verlag GmbH, Betriebsgewerkschaftsleitung, an MdI, vom 24.04.1951. Jens Kuhlemann – Braune Kader 43 sowieso von Zeit zu Zeit neue Fragebögen zur Ausfüllung an ihre Mitarbeiter verteilten, jedoch schon bald über die gewünschte Linie auf. Auf der anderen Seite unterstreichen die genannten Beispiele die faktische Bedeutung der HA Personal als übergeordnete rechtspolitische Entscheidungsstelle für Personalfragen. Obwohl das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit stets betont wurde, waren unter ihrer Aufsicht stehende Behörden oftmals viel zu unsicher und unselbständig, um in einem Land, in dem die höchsten Führungszirkel entschieden, was „richtig“ und was „falsch“ war, eigenständig zu handeln und für eigene abweichende Meinungen dann auch den Kopf hinzuhalten.200 Neben den „Pg.-freundlichen“ Beispielen finden sich aber auch solche, bei denen Funktionäre von Anfang an genau darüber im Bilde waren, dass das Merkmal „NSbelastet“ weiterhin eine wichtige kaderpolitische Rolle spielte und deshalb danach zu fragen war. Sie gaben den Auskunftspflichtigen zumeist aber nur ausweichende Antworten auf ihre Vorhaltungen, dass gemäß den öffentlichen Verlautbarungen und der neuen Gesetzeslage eine Frage nach der früheren Parteizugehörigkeit nicht mehr am Platze sei. In diesen Fällen scheuten sich die Personalverantwortlichen, die wirklichen personalpolitischen Maßstäbe offenzulegen.201 Lehnten Personalbearbeiter Pg.-Bewerber wegen ihrer politischen Vergangenheit ab, so versuchten sie also überwiegend, diesen Umstand zu verbergen und den abgelehnten Kandidaten einen anderen Grund für ihre Zurückweisung als den der früheren Parteizugehörigkeit zu nennen. Zu groß erschien die Kluft zwischen den offiziellen Integrationsangeboten und ihrer intern verhaltenen Umsetzung, zu schlimm der innenpolitische Schaden und Vertrauensverlust, der entstehen konnte. Nur selten scheinen Behörden ehemaligen NSDAP-Angehörigen direkt ins Gesicht gesagt zu haben, dass sie wegen ihrer ehemaligen Parteimitgliedschaft für wichtige Tätigkeitsfelder nicht in Frage kamen. Ein Beispiel hierfür ist der Fall einer jungen Frau, die im Jahr 1951 ihre Erfahrungen mit dem Gleichstellungsgesetz schilderte. Sie fiel eigentlich unter die Jugendamnestie und gab an, vom BDM automatisch in die NSDAP überführt worden zu sein sowie bereits 1945 die Bescheinigung eines nicht näher benannten Jugendausschusses erhalten zu haben, nicht mehr unter die Sonderbestimmungen für ehemalige Pgs. zu fallen: »Trotzdem wurde mir jetzt bei einer Bewerbung um eine andere Arbeitsstelle wieder vorgehalten: als ehemaliges Mitglied der NSDAP können wir sie nicht an der Stelle einsetzen, wo eine Verantwortung zugrunde liegt. Ich erwiderte hierauf, daß dieses doch infolge Erlasses der Regierung hinfällig geworden sei – doch es erfolgte die übliche Gegenrede: nach den Vorschriften usw. Ich bitte nunmehr um eine ganz konkrete Auskunft: müssen Angaben, betreffend dieser ehemaligen Zugehörigkeit nun noch gemacht werden oder kann diese Angabe unterbleiben«.202 Am Ende bemerkte sie noch, Funktionsträgerin in mehreren Massenorganisationen der DDR zu sein. Leider verrät die Quelle nicht, um welche speziellen Posten sich die betreffende Frau bewarb. Es muss sich jedoch um Funktionen gehandelt haben, die eine anleitende oder kontrollierende Tätigkeit beinhalteten. Ihr war dabei durchaus bewusst, dass ein guter politischer Gesamteindruck wichtig war. Sie wies auf ihr jugendliches Alter und politisches Engagement hin und folgte damit absolut den Grundgedanken der Abwägung kaderpolitischer 200 201 202 Vgl. Jessen, Partei, S. 42. Eine solche Geheimniskrämerei um einzelne kaderpolitische Merkmale galt allgemein, wenngleich die Intensität bei den diversen Gesichtspunkten unterschiedlich stark ausgeprägt war, siehe: DO 1/ 26.0, 2476, s.v. „H“, Max H[...], an Präsidialkanzlei, vom 09.03.1951; ebd., MdI, Wieland, an Max H[...], vom 23.08.1951. Ich gehe in diesem Fall davon aus, dass sich die Besagte nicht zum wiederholten Mal für eine Stelle bewarb, die unter die wenigen nach dem Gesetz über den Erlaß von Sühnemaßnahmen respektive seinen Ausführungsbestimmungen verbleibenden Ausschlussbereiche fielen. Sonst hätte sie wohl auch eine andere Ablehnungsbegründung zu hören bekommen, siehe: DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „S“, Hildegard S[...], an Pieck, vom 22.06.1951; ebd., MdI, Wieland, an Hildegard S[...], vom 23.08.1951. Jens Kuhlemann – Braune Kader 44 Merkmale. Dennoch ergingen gleich mehrfach Ablehnungen, ob von verschiedenen Stellen oder ein und derselben ist unklar. Jedenfalls scheint die wiederkehrende Zurückweisung mit stets derselben Begründung der ehemaligen NSDAP-Angehörigen wie eine Infizierung vorgekommen zu sein, gegen die sie sich nicht zur Wehr setzen konnte. Wie eine Aussätzige, die die Mitmenschen aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen hatten, scheint sie sich gefühlt zu haben. Die Verhältnisse in ihrer Lebenswirklichkeit ließen die erfolglos Arbeit Suchende schnell zu dem Schluss kommen, dass eine Berufung auf das Gesetz sinnlos war. Die Illusion der tatsächlichen Gleichstellung verflog, so dass sie am Ende nicht mehr die Frage stellte, ob denn das Gesetz einen solchen Ausschluss überhaupt rechtfertigte. Alles, was in dieser Situation noch helfen konnte, war nach Wegen zu suchen, der Offenbarung der Vergangenheit zu entgehen. Durfte man sie verbergen, schien die Chance eines echten Neuanfangs gegeben. Musste man sie offenlegen, half auch kein Gesetz mehr, Gleichberechtigung, wie sie die Betroffenen verstanden, herzustellen. Mit kaum verhohlenem Sarkasmus schilderte ein anderer Petent seine Erlebnisse mit der versprochenen Gleichberechtigung: »In dem Betrieb, in dem ich zur Zeit beschäftigt bin, bekam ich als nette Osterüberraschung einen Fragebogen zur Beantwortung in die Hand gedrückt [...]. Hierzu nun meine Stellungnahme: Zu was will man heute, 6 Jahre nach Beendigung des Krieges von mir wissen, was ich bei der Wehrmacht gewesen bin? Bei der großen klaren innen- und außenpolitischen Linie, die wir heute eingeschlagen haben und die nur den Friedensweg zeigt, dürfte diese Frage vollkommen fehl am Platze sein«. Zu seiner politischen Vergangenheit schrieb er: »Ich bin ehemaliges Mitglied der N.S.D.A.P. Laut amtlicher Verfügung sind alle nominellen Pg. den übrigen Staatsbürgern gleichgestellt. Wenn nun diese Gleichstellung in die Tat umgesetzt sein soll, warum dann immer wieder diese Fragestellung? Hieraus ersehe ich nur, daß ich laut Verfügung gleichgestellt bin, aber in der Wirklichkeit immer wieder als das Mitglied der N.S.D.A.P. gebrandmarkt werde. Wenn wir heute die große Friedenslinie verfolgen, um Deutschland den Frieden zu erhalten, dann muß der Friede zuerst im Innern gesichert sein. Können wir ehemaligen Pg. aber an den Frieden glauben, wenn nur immer diese Fragebogen wieder vorgelegt, gleich Knüppeln zwischen die Beine geworfen werden«. Der Vortragende bat um einen vollständigen Verzicht auf Erkundigungen nach der politischen Vergangenheit: »Geschieht dieses nicht, so fühlen wir uns immer wieder nur als geduldete Staatsbürger II. Grades, welche ihre Pflichten gegenüber dem Staat erfüllen dürfen, aber keine Rechte haben.«203 Sehr deutlich kommt in diesen Zeilen eine Verbitterung über das bereits vergangen geglaubte Anprangern der Pgs. zum Ausdruck, das nun durch fortgesetzte Ermittlungen zur eigenen Biografie kein Ende zu nehmen schien. Geradezu zynisch mutet der Vergleich einer Neuauflage von Fragebögen mit einer Osterüberraschung an. Doch manchen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern blieb nach den für sie schlimmen Erfahrungen der Schuldzuweisung und der aus ihrer Sicht öffentlichen Herabwürdigung, der Entfernung vom Arbeitsplatz und der dadurch um so größeren wirtschaftlichen Not wohl nur noch der Humor eines Lammes auf der Schlachtbank, dem man am Ende auch noch den Glauben an die Wiederauferstehung nimmt. Insbesondere die Opfer des Nationalsozialismus teilten dieses weit verbreitete Selbstmitleid ehemaliger Nationalsozialisten natürlich ganz und gar nicht. Davon unbeschadet bemühte der Petent mehrfach den Begriff des Friedens. Er zog dabei eine Verbindung von der damals allgegenwärtigen Rhetorik vom Erhalt des Weltfriedens hin zum Bild des inneren Friedens, nach dem es ihn sowohl für die Menschen im Land als auch für seine eigene Seele verlangte. Es sollte endlich Ruhe herrschen, Schluss sein mit der Inquisition. Diese ehemaligen Nationalsozialisten wollten ein normales Leben führen, frei von Existenzangst und Ehrverlust, wie sie das von ihnen so empfundene Kainsmal des „einmal Nazi, immer Nazi“ gnadenlos für den Rest des Lebens aufzubürden schien. 203 DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „S“, Kurt S[...], an Pieck, vom 28.03.1951; ebd., MdI, Wieland, an Kurt S[...], vom 23.08.1951. Jens Kuhlemann – Braune Kader 45 Während sich die meisten Petitionen klar um den Streit drehten, ob eine Mitgliedschaft in der NSDAP anzugeben war, hinterfragten andere, welche Art von Mitgliedschaft zu nennen sei. Es entstand ein unwürdiges Gefeilsche um Definitionen, alles mit dem Ziel, die eigene Rolle im Nationalsozialismus unbedeutender zu machen und sich aus der Offenbarungspflicht herauszuwinden. So schrieb ein Petent an Präsident Wilhelm Pieck, bei Kriegsausbruch ein Jahr lang einen monatlichen Beitrag von 1,50 RM an den NS-Opferring abgeführt sowie die Aufnahme in die NSDAP beantragt zu haben. Auf der Suche nach einer Arbeitsstelle mochte der Betreffende diese Begebenheiten Anfang der fünfziger Jahre nicht angeben und führte dazu Folgendes aus: »Einesteils will ich nun selbstverständlich in den Fragebogen keine falschen Angaben machen, andererseits möchte ich aber auch nicht mehr Angaben machen als erforderlich sind, da dadurch mein Fortkommen bestimmt unnötig erschwert wäre. Die nationalsozialistische Anschauung war nie die meinige, ich bezahlte nie einen Parteibeitrag, hatte nie ein Amt in der NSDAP und war nie Uniformträger. Auch ein Entnazifizierungsverfahren hat nicht stattgefunden. Kann man nun in meinem Falle trotzdem sagen, dass ich „Angehöriger“ der NSDAP. war? Ich bin der Meinung, dass ich kein Parteimitglied und auch nicht einmal ein Anwärter war, denn bei der Stellung des Aufnahmeantrages und innerhalb des rd. ½ Jahres danach wurde man doch nicht gleich Anwärter, sondern es bestand doch höchstens eine Aussicht; ausserdem ruhte doch während der Militärzeit die politische Angelegenheit, was ja auch daran zu erkennen ist, dass ich nie einen Parteibeitrag zahlte? Auch die Angelegenheit, was der Opferring eigentlich war, ist mir nicht klar. Ich habe die Sache als Zahlung eines Spendenbeitrages angesehen, der der NSDAP. zufloss, aber dadurch wurde ich doch niemals Mitglied der NSDAP. Kann man nun die Opferring-Beitragszahlung als Angehöriger einer Organisation bezeichnen?«204 Die Fragezeichen in seinem Brief scheinen nahezulegen, dass sich der Vortragende seiner Sache nicht ganz so sicher war, wie er es eigentlich sein wollte. Dennoch bemühte er sich, sein damaliges Handeln zu relativieren und suchte nach Beweisen dafür, dass er eigentlich gar kein Nationalsozialist war. Der Auskunft Suchende bestritt, jemals Parteimitglied oder auch nur Anwärter gewesen zu sein. Dabei erscheint es ein wenig naiv, dass der Betreffende glaubhaft machen wollte, es hätte eine Art Anwartschaft auf die Anwartschaft gegeben. Das war natürlich nicht der Fall, sondern mit Stellung eines Mitgliedsantrages ging die gleichzeitige Verleihung des Anwärterstatus einher. Dieser sollte in der Regel nicht länger als ein Vierteljahr andauern. Gleichwohl ging der Petent wenige Monate nach Stellen des NSDAP-Mitgliedsantrages zur Wehrmacht und verblieb dort bis zum Kriegsende. Tatsächlich ist es üblich gewesen, dass das Parteiverhältnis während des Kriegsdienstes ruhte. Allerdings wurde es nicht beendet. Eine Parteimitgliedschaft hat also nach Lage der Dinge höchstwahrscheinlich bestanden und war mitteilungspflichtig.205 Der Besagte machte jedoch durch sein Verhalten deutlich, keine bloßstellenden Fragen akzeptieren zu wollen. Mit dem Mut eines Mannes, der wenig oder gar nichts mehr zu verlieren hat, versuchte er, sich durch jede noch so kleine Lücke hindurchzuzwängen, um aus der Falle des Jägers zu entkommen. Er verliert sich dabei in Verharmlosung und Anbiederung. Dies ist im Angesicht echter existenzieller Nöte bei sehr vielen Menschen ein gängiges und nachvollziehbares Verhaltensmuster und deswegen zwar nichts Bewundernswertes, aber auch nichts Bösartiges, sondern einzig ein je nach Standpunkt bemitleidenswert oder erbärmlich wirkender Überlebensreflex des Unterlegenen. Etwas seltsam ist dabei, dass er alles offenbarte, was er eigentlich für sich behalten möchte. Vielleicht steckte dahinter die Vorstellung, dem Präsidenten vertrauen zu können. Vielleicht 204 205 DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „CD“, Willi D[...], an Pieck, vom 28.03.1951; ebd., MdI, Riemer, an Willi D[...], vom 12.06.1951. Weitere Einzelheiten zu diesem Fall siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 81; zu Parteianwärtern und ruhenden Mitgliedschaften siehe Kapitel „Parteianwärter, ruhende Mitglieder sowie zeitliche Anfänge und Beendigungen der NS-Organisationszugehörigkeit“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 46 war es auch eine Variante der „Sucht nach Schuldbekenntnissen“ im Stalinismus, wie man sie besonders deutlich von Gefangenen und Verhörten kannte, die sich aus Angst oder infolge einer Gehirnwäsche bestimmter Vergehen bezichtigten, die sie nie begangen hatten. Vielleicht war es auch einfach nur die Furcht, Fehler zu begehen und dafür schwer bestraft zu werden. Am Ende wies das Ministerium des Innern den Betroffenen darauf hin, dass die Möglichkeit bestehe, bei jeder Bewerbung Erläuterungen zu den Umständen der eigenen NS-Belastung zu machen.206 Dazu äußerte dieser: »Wenn ich nun [...] stets grössere Darlegungen hinzufüge, wird mir dies wohl nie helfen; ich stehe immerhin schlechter, als wenn ich in den Fragebogen Opferring und NSDAP. nicht aufzuführen brauche, was um so wichtiger ist, als ich ein älterer Angestellter bin«. Die HA Personal blieb jedoch auch in diesem Fall hart und machte deutlich, dass sowohl an der Nennung des NSDAP-Aufnahmeantrags als auch der Zahlungen an den Opferring im Fragebogen kein Weg vorbeiführte. Dies war konsequent und lag in der Linie der individuellen Kaderbetrachtung. Danach waren eingegangene Mitgliedschaften nicht alleine von Bedeutung. Auch Aktivitäten unterhalb der Schwelle einer Organisationszugehörigkeit fanden Eingang in das persönliche Kaderkonto. Das Ministerium des Innern ging in seinen Antwortschreiben nicht auf die offensichtliche Diskrepanz zwischen Rechtslage und Wirklichkeit ein. Es versuchte stattdessen, durch allgemeine Wendungen zu beschwichtigen. Die HA Personal antwortete auf die beschriebenen Eingaben praktisch immer mit den gleichen Standardformulierungen, die lediglich am Rande auf individuelle Gegebenheiten der Vorsprechenden eingingen. Darin vertrat sie die Meinung, dass ausnahmslos alle Bürger, die in der staatlichen Verwaltung oder volkseigenen Wirtschaft beschäftigt sein wollen, Aufschluss über ihre fachliche und gesellschaftliche Entwicklung geben müssen. Es sei gerade ein Zeichen der rechtlichen Gleichstellung gewesen, wenn ehemalige NSDAP-Mitglieder genau die gleiche Behandlung wie alle anderen Bewerber erfahren. Darüber hinaus versicherte die Hauptabteilung Personal, dass nach dem Gleichberechtigungsgesetz von 1949 aus der ehrlichen Beantwortung der Fragen nach der früheren Partei- und Organisationszugehörigkeit, und zwar gleichgültig, ob dies eine nationalsozialistische oder irgendeine andere betraf, „keine personalpolitischen Nachteile erwachsen“.207 Lediglich bei einer späteren Aufhellung zunächst vertuschter Umstände könnten auch aus nominellen Zugehörigkeiten Schwierigkeiten erwachsen. In der Betonung, dass eine NS-Belastung keine Sonderkategorie mehr darstellte, sondern fortan in einer Reihe mit anderen Parteien und Organisationen wie den bürgerlichen oder Arbeiterparteien der Weimarer Republik stand, meinte das Ministerium des Innern einen weiteren Gleichstellungsbeleg ausmachen zu können. Dies bezog die Hauptabteilung Personal ausdrücklich sowohl auf eine ehemalige Mitgliedschaft als auch auf eine Anwartschaft oder nur Anmeldung zur NSDAP. In der Konsequenz waren ehemalige Zugehörigkeiten zur NSDAP und den NSGliederungen weiterhin zu nennen. Die einzige Änderung in Fragebögen, die die HA Personal in Reaktion auf das Gleichstellungsgesetz vornahm, war die Streichung von Fragen, die den Vorgang der Entnazifizierung nach 1945 betrafen.208 Dem Bekanntwerden einer NSDAPMitgliedschaft oder einer anderen Belastung aus der Zeit des NS-Regimes folgte selbstverständlich ein Vermerk in der Kaderakte, und das auf Lebenszeit. Zwar mussten alle Bewerber die gleichen Fragen beantworten. Doch die Pgs. hatten keine andere Antwort als 206 207 208 Der Vortragende hatte sich zuvor bereits an die HA Justiz, Abteilung Rechtsprechung beim Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg gewandt und um wohlwollende Klärung gebeten. Diese wiederum hatte sich zu einer Stellungnahme als „nicht berufen“ betrachtet, was ein erneutes Zeugnis für die fehlende Selbständigkeit an sich kompetenter Dienststellen in den Ländern und den untergeordneten Verwaltungsebenen darstellt, siehe: DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „CD“, Willi D[...], an Pieck, vom 28.03.1951; ebd., MdI, Riemer, an Willi D[...], vom 12.06.1951. DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „K“, Günter K[...], an MdI, vom 14.08.1951; ebd., MdI, Wieland, an Günter K[...]., betr.: Frage nach Parteizugehörigkeit auf Personalbogen, vom 16.08.1951. DO 1 / 26.0, 8580, s.v. „M“, [MdI,] HA Personal, an [MdI,] HA Staatliche Verwaltung, vom 14.06.1950. Jens Kuhlemann – Braune Kader 47 eine benachteiligende parat – und das wussten alle Beteiligten sehr genau. Eine Begründung für die politische Auskunftspflicht lieferte das MdI nicht, außer der, dass die staatliche Verwaltung „ein berechtigtes Interesse“ an einer lückenlosen Kenntnis der gesellschaftlichen Entwicklung ihrer Mitarbeiter habe.209 Diese Auskunft war für die Nominellen zu „mager“, als dass sie die Zweifel aus dem Weg räumen konnte, die frühere Organisationszugehörigkeit oder Weltanschauung solle von nun an zu keinen Behinderungen mehr führen. Denn warum fragten die Personalabteilungen danach, wenn es nicht irgendeine Rolle spielte? Und wenn es also weiterhin von Bedeutung war, so konnte ein bekannt gewordenes NS-Engagement nur negative Folgen haben. Die staatlichen Stellen vermochten die Betroffenen nicht von ihrer – gelogenen – Version zu überzeugen, dass sie das Wissen über politische Belastungen zwar sammeln, dann aber nicht gebrauchen wollten. Somit hatten viele ehemalige Pgs. auch mindestens zwei Jahre nach Gründung der DDR und der offiziellen Gleichstellung das Gefühl, das andere gleicher waren als sie. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich auch nach dem Ende der Entnazifizierung ehemalige Nationalsozialisten aus kaderpolitischen Gründen gezwungen sahen, gegenüber Arbeitgebern Erklärungen zur persönlichen NS-Vergangenheit abzugeben. Diese Mitteilungspflicht untergrub die gesetzlich versprochene Wiedereingliederung, da sie in zahlreichen Fällen zu einer real anhaltenden Ausgrenzung führte. Die früheren NSDAPMitglieder waren darüber enttäuscht und nicht wenige suchten nach Möglichkeiten, diesem Schicksal aus dem Weg zu gehen. Versuche, Spitzenpolitiker dahingehend beim Wort zu nehmen, ein Beschweigen der eigenen politischen Biografie zu erlauben, scheiterten jedoch. Die NS-Belasteten hatten also im übertragenen Sinne einer alten Redewendung allen Grund, die Griechen weiterhin zu fürchten, auch wenn sie Geschenke brachten. 1.3 Diskriminierung und Ächtung Der Zwang, Reparationsleistungen abzuliefern, Wirtschaftspläne zu erfüllen und die allgemeine Versorgung wieder in Gang zu bringen, nötigte die Machtelite dazu, den ehemaligen Nationalsozialisten in der SBZ/DDR ein Reintegrationsangebot zu machen. Darüber hinaus suchten die Parteien nach neuen Mitgliedern. Stufenweise eröffneten die rechtlichen Rahmenbedingungen mehr Beteiligungsoptionen im gesellschaftlichen und beruflichen Leben. Doch viele Menschen, ob Kommunist, NS-Gegner, Opfer des Faschismus oder Normalbürger, wollten diese Beschlüsse der Staats- und Parteiführung nicht mittragen. Sie waren irritiert, opponierten und leisteten passiven Widerstand gegen ihre Umsetzung. In den Behörden, Betrieben, Parteiorganen und sonstigen politischen Organisationen geschah das durch Ignorierung, Verschleppung, Vortäuschung falscher Tatsachen oder brüske Verweigerung.210 Bereits 1946 äußerte Otto Grotewohl auf einer Sitzung des SED209 210 Bereits im März 1949 schrieb die DWK, HA Personalfragen und Schulung, an die NDP, dass man den vielfach von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP vorgetragenen Wunsch, die Frage nach der politischen Vergangenheit und Zugehörigkeit zu politischen Organisationen nicht mehr zu stellen, dahingehend beantworten könne, dass die Betriebs- und Verwaltungsleitungen zwecks Übertragung eines Arbeitsgebietes genaue und umfassende Personalkenntnisse über den Betreffenden haben müssten. Die ehrliche Beantwortung dieser Frage auch für ehemalige Pgs., soweit sie lediglich nominelle Mitglieder waren, sei kein Hinderungsgrund für eine Einstellung gewesen, siehe: DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49, vom 25.03.1949. Die Diskussion zur Reintegrationspolitik war in der Bevölkerung und Presse lebhaft und kontrovers. An der Basis der VVN regte sich ebenfalls Unmut über den Kurs der SED gegenüber den Pgs. Jürgen Danyel weist darauf hin, dass die Spannungen innerhalb der SED, die die Wiedereingliederungspolitik begleiteten, weiterer Erforschung bedürfen, siehe: Danyel, SED, S. 190, 192 f., 196. Jens Kuhlemann – Braune Kader 48 Parteivorstands Verständnis für die Ressentiments vieler SED-Mitglieder, die an die Pg.Frage »aus der durchaus psychologisch erklärlichen Situation des sozialistischen Kämpfers, der in den Nationalsozialisten das politische Schwein sieht, mit dem er sich noch nicht abfinden kann«, herangingen. Er forderte eine »geistige Auflockerung und ideologische Klärung« sowie ein Vorgehen mit politischem Weitblick, das auf eine stärkere Einbeziehung und Nutzbarmachung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder hinauslief.211 Solche Vernunftappelle konnten die Emotionen an der Basis jedoch noch lange Zeit nicht besänftigen. Noch Jahre später gab es dort starke Vorbehalte.212 Durch das Parteivolk der SED ging ein Riss. Zahlreichen altgedienten Sozialisten, Verfolgten des NS-Terrors, ehemaligen KZ-Häftlingen und Widerstandskämpfern fiel es besonders schwer, den aktiveren Trägern der Hitler-Diktatur die Hand zu reichen. Ihnen galten die Ex-Nationalsozialisten als Fremdkörper, die in den neuen Organisationen eines antifaschistischen Staates nichts zu suchen hatten. Zumindest nicht in einflussreicheren Positionen mit einiger Reputation und solange es Personalalternativen gab. Entsprechend kam es gerade dann zu Beschwerden, wenn sie dennoch wieder in bessere Arbeitsstellen vorrückten. Die „Kulturschranke“ („Mit denen nicht!“) machte aus jedem Pg. einen Paria: einen Unberührbaren und faktisch Entrechteten.213 Auch hohe Parteifunktionäre wie Wilhelm Pieck bekamen bei Kundgebungen so manche Unmutsbekundung über die Linie gegenüber den Nominellen zu hören. Mahnschreiben gegen eine zu milde Behandlung folgten.214 Die SED wiederum wertete solchen Widerspruch mitunter als „Sektierertum“.215 Es ist völlig klar, dass diese Konfliktsituation ein wichtiger Grund für die Kaderverantwortlichen war, über das tatsächliche Ausmaß der beschäftigten NS-Belasteten Stillschweigen zu bewahren. Weder die Personalabteilungen noch die ehemaligen NSDAP-Mitglieder selbst hatten ein Interesse daran, ihre Biografie „an die große Glocke zu hängen“. Denn bei Bekanntwerden sämtlicher Hintergründe hätte es einen nicht zu unterschätzenden Aufruhr in den Reihen der SED gegeben. Eine Delegitimierung der Staatsdoktrin und eine gewisse Destabilisierung des Machtgefüges konnten die Folge sein. Das wäre innenpolitisch und angesichts des Ost-WestKonfliktes von großem Nachteil gewesen. Da die Auseinandersetzungen um die Wiedereingliederung von Pgs. jedoch nicht zu leugnen waren, behalf sich später zum Beispiel die Geschichtsschreibung in der DDR mit einem Kunstgriff. Sie versuchte den Eindruck zu erwecken, als habe es sich weitgehend um eine übergangsweise Eingliederung der Nominellen in den Jahren bis 1948 und daher auch nur um vorübergehende Proteste gehandelt. Die Frage einer späteren oder dauerhaften Reintegration ehemaliger NSDAPAngehöriger wurde einfach ausgespart.216 Die Machthaber in der SBZ/DDR befanden sich durchaus in einem Dilemma. Sie waren zur Etablierung und Stabilisierung ihres Herrschaftssystems einerseits auf ein bestimmtes Maß an Integration der Ex-Nationalsozialisten angewiesen. Andererseits griffen sie zur 211 212 213 214 215 216 Aus der Rede Otto Grotewohls auf der Sitzung des Parteivorstandes der SED vom 18. bis 20. Juni 1946, in: Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 90 f. Grotewohl sagte auf dem 1. NDP-Parteitag 1949, die Pg.-Integration stoße „auf Widerstand in meiner Partei. Nicht in meiner Parteiführung.“ Siehe: DY 16 / 2786, 24 b; vgl. ebd., 85. Vgl. Hebel, Stephan: Die frohe Botschaft des gesamtdeutschen Pfarrers Gauck. In: Frankfurter Rundschau, vom 15.05.1997, S. 3. Wille, Entnazifizierung, S. 126 f. DY 30 / IV, 2/11/167, Bl. 4. Wolfgang Meinicke schreibt mit Bezug auf die Periode der Entnazifizierung, die »zeitweilige Einbeziehung der nominellen Mitglieder in den einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fand nicht immer die Zustimmung der Bevölkerung. So forderte ein Teil von ihnen die generelle Bestrafung aller Mitglieder der NSDAP. So falsch diese Forderung nach undifferenzierter Behandlung der Nazis auch war, kam darin bereits ein Moment des emotionalen Eintretens für die Beseitigung des diskreditierten faschistischen Systems zum Ausdruck.« Hieran hätten die Arbeiterparteien im Weiteren anknüpfen können, siehe: Meinicke, Berücksichtigung, S. 24. Jens Kuhlemann – Braune Kader 49 Machtsicherung aber auch auf Repression und Ausgrenzung dieser Personengruppe zurück.217 Es kam darauf an, einen geeigneten Mittelweg zwischen beiden an sich entgegengesetzten Politikrichtungen zu finden. Dabei forderte ein bedeutsamer Teil der kommunistischen Wertelite unter den SED-Mitgliedern eine schärfere und anhaltende Ächtung. Weite Teile der Bevölkerung, die unter der gesellschaftlichen und beruflichen Ausstoßung ehemaliger Angehöriger von NS-Organisationen litten, drängten hingegen auf eine rasche Umsetzung der Wiedereingliederungsvorgaben und weitere Versöhnungsgesten. Von Interesse ist das Zusammenprallen dieser Interessenkonflikte im mikrosoziologischen Rahmen am Arbeitsplatz, in den Parteien, Massenorganisationen etc. Denn es sind dies Orte der Kommunikation, Kontrolle, Kooperation und Disziplinierung. Dabei bewirkten die Rahmenbedingungen eines diktatorischen Systems, dass Entfaltung und Reflexion individueller geistiger Einstellungen zur Pg.-Frage nach außen hin grundsätzlich nur in streng vorgegebenen Bahnen stattfanden. Denn offen vorgebrachte grundsätzliche Kritik an der Linie der Parteiführung konnte für den Einzelnen gefährlich werden. Daher suchten sich Kritiker einer ihrer Meinung nach zu früh und zu umfassend einsetzenden Reintegration NSBelasteter inoffizielle Kanäle, um ihren eigenen Vorstellungen Geltung zu verschaffen und diejenigen des SED-Politbüros zu unterlaufen. Begünstigt wurden solche Umgehungsstrategien durch das Geheimnis, das man aus der Kaderpolitik und ihrer Umsetzung machte. Denn der Ausschluss der allermeisten Regierungsangestellten und SEDMitglieder von den Kommunikationsnetzen des „inner circle“ zog nach sich, dass das Verständnis für „oben“ gefällte Beschlüsse und zugleich das Vertrauen in die Entscheidungsträger Schaden nahm.218 Das Verschweigen des wahren Ausmaßes der Pg.Beschäftigung im Staatsapparat hatte also nicht nur einen „beruhigenden“ Effekt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Kooperationsbereitschaft in dem Maße wächst, wie die gleichen Informationen, die zu gewissen Bestimmungen führten, verfügbar sind und diese nachvollziehbar machen.219 In diesem Zusammenhang haben viele SED-Mitglieder das negative Pg.-Bild, das sie an den Pranger stellten, auch ganz bewusst immer wieder neu produziert. So konnten sie nicht nur mit all ihrem Hass und Schmerz auf den Judas zeigen, sondern sich außerdem über dessen fast ritualisierte Verfemung eine moralische Überlegenheit verschaffen.220 Auf der anderen Seite klagten viele Nominelle darüber, dass die Realisierung der Wiedereingliederungsrichtlinien weder ihrem Wortlaut noch ihrem Geist entsprach. Dabei verwiesen sie immer wieder darauf, dass sich die überwiegende Mehrzahl der Pgs. seit 1945 am Wiederaufbau beteiligt hatten, oft in harter, körperlicher Arbeit. Sie hätten bewiesen, mit der Vergangenheit gebrochen und aus ihren Fehlern gelernt zu haben. Selbstkritische Stimmen ehemaliger NSDAP-Mitglieder, selbst nach Abschluss der Entnazifizierung wegen ihrer moralischen Belastung noch keine gleichwertigen Bürger zu sein, waren 1949 in dieser Deutlichkeit eher selten.221 Die meisten Pgs. litten sehr unter ihren Strafen, Berufsbeschränkungen und ihrer allgemeinen Ächtung. Viele NS-Belastete brachten führenden SED-Politikern gegenüber zum Ausdruck, glücklich zu sein, wenn sie von ihren Mitbürgern nicht mehr mit Verachtung bestraft würden. Sie wünschten sich sehnlichst ein Ende der Beschimpfungen wie „Nazilump“ und „Nazischwein“.222 Hierzu ein paar Beispiele aus der Bevölkerung: Im Jahr 1946 erreichten Wilhelm Pieck mehrere Schreiben anlässlich seiner Rede zur Feier seines 70. Geburtstages, in der er die kleinen Pgs. zur Mitarbeit am neuen Staat aufrief. Ein nach eigenen Angaben einfacher und 217 218 219 220 221 222 Vgl. Vollnhals, Ministerium, S. 498. Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 315. Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 315. Vgl. Eschebach, Elemente, S. 208. National-Zeitung, Beitrag „Man hat uns nicht vergessen“, vom 21.04.1949. Aus der Rede Otto Grotewohls auf der Sitzung des Parteivorstandes der SED vom 18. bis 20. Juni 1946, in: Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 90 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 50 nie aktiver NSDAP-Angehöriger, dessen Vermögen aber dennoch beschlagnahmt wurde, beschuldigte „örtliche und persönliche Gegner“ der Denunziation um des eigenen Vorteils willen. Er fühlte sich ungerecht behandelt, forderte mehr Vernunft im gegenseitigen Miteinander der Pgs. und Nicht-Pgs. und schrieb: »Ich stehe im 69. Lebensjahr, meine Frau im 65. Wir haben ein ganzes Menschenalter nichts anderes getan, als gearbeitet und damit unsere Pflicht. Wir haben geholfen, wo wir nur konnten, Gutes getan, wo es notwendig war und dafür sollen wir nun auf die Straße gesetzt werden, zu Bettlern gemacht, enterbt und entrechtet. Und da wäre wohl nun der Hebel anzusetzen, wenn das deutsche Volk wieder einmal zu Einigkeit und Ruhe kommen soll [...]. Der beabsichtigte Aufbau unseres so schwer getroffenen Vaterlandes kann nur dann zur Wirklichkeit werden, wenn erst einmal der Hass, dieser grenzenlose und abgrundtiefe Hass, den der Eine gegen den anderen in sich trägt, beseitigt wird.«223 In einem anderen Brief beklagte eine Lehrerin: »Wieviele würden gerne Ihrem Aufrufe folgen, aber es wird ihnen unmöglich gemacht; sie werden mit Hass verfolgt, aus ihrem Beruf gerissen und wirtschaftlich vollständig ruiniert. [...] Es entspricht meines Erachtens nicht einer brüderlich-demokratischen Gesinnung, wenn man Lehrerinnen fristlos entlässt, alten Lehrerinnen ihre sauer verdiente Pension entzieht und ihnen, nachdem man ihnen alles Vermögen und alle Ersparnisse genommen, nicht einmal „Wohlfahrt“ bewilligt, sie also sozusagen dem Hungertode preisgibt, weil sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben, nämlich sie waren gänzlich unpolitisch und ahnten und durchschauten nicht, was damals gespielt wurde; so sind sie damals in die NSDAP eingetreten [...]. War dies Verbrechen – der Mangel an politischer Einsicht – so groß, daß man so unmenschlich grausam gegen sie verfährt? Es soll doch nicht wieder Hass gesät werden jetzt, wo das Menschheitsideal der Humanität auf die Fahne der politischen Parteien geschrieben ist! Wie kann man wieder Glauben und Vertrauen haben, wenn die Taten nicht den Worten entsprechen? Ach, könnte man doch hoffen, daß ein wirklich humaner Geist die politischen Parteien beseelte, dann würden Ihrem Aufruf sicher Viele folgen!«224 Die Frau eines Reichsbahnbeamten und Pgs. schrieb, zu ihrer Vertreibung aus Schlesien käme jetzt noch die Entlassung ihres Mannes hinzu: »Sie sprachen so gut von Humanität in Ihrer Rede. Wir, die wir alles verloren haben, sind wir nicht schon genug gestraft? Noch die Lebensmöglichkeit einem zu nehmen, man muss ja verzweifeln und den Glauben an die Menschheit verlieren. Wo bleibt die Gerechtigkeit, von der so viel gesprochen wird? [...] Es sieht ja fast so aus, als wenn wir aus dem Osten nur die Schuld an dem Kriege hätten und nur die Lasten tragen müssen. Heimische, die sich sogar aktiv betätigt haben und ihre Wohnung noch besitzen und sich in Polen große Reichtümer wie teure Pelze, Möbel und kostbare Pianos erbeutet haben, dürfen im Dienst bleiben. Es muss doch endlich mal diese große Gerechtigkeit walten, von der dauernd die Rede ist. Die antifaschistischen Parteien wollen es doch besser machen und nicht mehr Hass in die Welt säen. Aber nur mit Güte und Liebe, gerade das fehlte den Nazis so sehr, kann man etwas erreichen und das haben wir von Euch erwartet.«225 Die eigene Mitschuld der erwähnten Pgs. sei gering gewesen. Sie hätten sich nicht aktiv engagiert, in gutem Glauben oder aus Zwängen heraus den NSDAP-Eintritt vollzogen und sich sogar wegen oppositioneller Handlungen Ärger eingehandelt. Zusammenfassend baten alle Wilhelm Pieck unter Berufung auf seine eigene Rede, zu seinem Wort zu stehen und für Milde oder ein Ende der Vergeltung zu sorgen. Nur so sei eine „wirkliche“ Wiedereingliederung der Nominellen möglich gewesen. Jetzt war das Jammern groß. Es scheint, als ob der Verlust an Mitleid durch ein Übermaß an Selbstmitleid kompensiert wurde.226 Doch war wirklich jede Strafe 223 224 225 226 NY 4036 / 749, Bl. 57 f., Wilhelm O[...], an Pieck, vom 12.01.1946 (Abschrift). NY 4036 / 749, Bl. 59, Gertrud D[...], an Pieck, vom 12.01.1946 (Abschrift). NY 4036 / 749, Bl. 60 f., Cläre H[...], an Pieck, vom 14.01.1946 (Abschrift). Vgl. Hebel, Stephan: Die frohe Botschaft des gesamtdeutschen Pfarrers Gauck. In: Frankfurter Rundschau, vom 15.05.1997, S. 3. Jens Kuhlemann – Braune Kader 51 unangemessen? Ohne hier die konkreten Fälle im Einzelnen nachprüfen zu können, müssen wir das verneinen. Viele Mitläufer und Täter stilisierten sich nach dem Ende des NS-Regimes zu Opfern. Andererseits existierte natürlich eine Art Willkür des Krieges und auch der Nachkriegszeit, die nicht nur das jeweilige Strafmaß variierte, sondern auch den betroffenen Personenkreis. Doch hätte es anders sein können? Die Antwort lautet „Nein“. Diese Kommentierung mag ich nicht zurückhalten, wenngleich es hier natürlich darauf ankommt, das Handeln der historischen Akteure nachvollziehbar zu machen. Allen Briefen gemeinsam ist, dass sie eine große Ungerechtigkeit beklagten. Das eigene Schicksal erschien zu hart und zu grausam – auch wenn die Verfasser manchmal unpersönlich in der dritten Person von sich selbst erzählten, so als gehörten sie nicht wirklich zu den NSBelasteten dazu. Ihre Verfehlungen seien menschlich gewesen. Sie waren nach eigenen Angaben nicht stark und weitsichtig genug gewesen oder einer Täuschung erlegen. Ansonsten hätten die Autoren einen untadeligen und anständigen Lebenswandel geführt, wie es wertvolle Gesellschaftsmitglieder tun und nicht wirkliche Verbrecher. Gleichwohl hätte man sie unter Verlust der Ehre und materieller Werte wie solche behandelt. Die Lebensleistung und Lebensgrundlage sei ihnen aberkannt worden, was eine völlig unangemessene Ahndung gewesen sei. Zumal andere Personen viel schwerer belastet waren, aber geringere oder gar keine Strafen erhalten hätten. Dahinter steckte die Forderung nach einer Korrektur der vermeintlich in blinder Wut verhängten, undifferenzierten und rücksichtslosen Sanktionen. Voraussetzung dafür war natürlich eine allgemeine Versöhnung der Bürger miteinander. Halb als Wunsch, halb als Drohung erinnerten die mit dem NS-Regime Verstrickten daran, dass nur so Einigkeit und Stabilität im gesamten Volk zu erreichen sei. Die Pgs. würden sich nur dann mit dem neuen Staat identifizieren, wenn er ihnen Vorteile verschafft beziehungsweise Nachteile verhindert. Doch hatten ehemalige Nationalsozialisten ein Recht, auf Solidarität, Nachsicht und Vergebung zu pochen? Sie bestanden auf dem Gegenteil von dem, was sie selbst – und sei es nur symbolisch – mit zu verantworten hatten, nämlich die Verfolgung politischer Gegner. Sie beriefen sich auf humanistische und demokratische Ideale, die die NSDAP einst mit Füßen trat. In einem Rechtsstaat besitzen Angeklagte juristisch gesehen natürlich Bürgerrechte wie die auf einen fairen Prozess, Gleichheit vor dem Gesetz und Verhältnismäßigkeit der Sanktionen. Doch moralisch und politisch stand es ihnen nicht zu, Forderungen zu stellen. Auf diesen Ebenen waren sie darauf angewiesen, dass die Opfer der Hitler-Diktatur Gnade gewährten oder die Machthaber ihnen im gesamtstaatlichen Interesse unter die Arme griffen. Im Kontext dieser Untersuchung ist im Weiteren von besonderem Interesse, welche Vorbehalte und Ausgrenzungen gegenüber NS-Belasteten am Arbeitsplatz, insbesondere im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR, vorkamen. Es sei hier vorausgeschickt, dass ehemalige Nationalsozialisten in der DWK und den Ministerien, sobald sie erst einmal in einem Beschäftigungsverhältnis standen, in arbeitsrechtlicher Hinsicht keine feststellbaren Nachteile im Vergleich zu den übrigen Angestellten erlitten.227 Es galt grundsätzlich die gleiche Behandlung bei Gehaltsvergabe, Kündigungsfristen, Urlaub, Krankengeld etc.228 Nach Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes von 1949 stufte das MdI darüber hinaus eine gesonderte Behandlung von Personalunterlagen ehemaliger Pgs. als illegal ein.229 In der SBZ 227 228 229 Vgl. die Regelung des Berliner Magistrats hinsichtlich vor 1945 abgeleisteter Dienstzeiten, Details in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 90. Die Anrechenbarkeit früherer Dienstzeiten war bei früheren Beamten ein Dauerthema. Das MdI verneinte Ansprüche aus der Zeit vor 1945, egal ob die Beamten in der NSDAP waren oder nicht. Insofern erfuhren Pgs. und Nicht-Pgs. eine Gleichbehandlung, siehe das Beispiel eines Lehrers und Pgs. in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 90 f. Im April 1949 hieß es in der „National-Zeitung“, dass der FDGB Mitgliederkarten ehemaliger Nomineller besonders kennzeichnete, siehe: National-Zeitung, Leitartikel „Unsere Forderung: Gleichberechtigung!“, vom 14.04.1949; DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „R“, MdI, HA Personal, Bemerkungen zum vorliegenden Entwurf „zur Praktischen Durchführung der Personalrichtlinien der DDR“, vom 06.11.1950. Jens Kuhlemann – Braune Kader 52 kam sie vereinzelt noch vor. Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch vielmehr die Frage, inwiefern man frühere NSDAP-Mitglieder überhaupt in bestimmte Positionen vorrücken ließ. Darüber hinaus ist von Bedeutung, wie der zwischenmenschliche Umgang im Berufsalltag aussah und welche Bedeutung die NS-Vergangenheit beim Ausscheiden aus dem Apparat besaß. Der negativ besetzte Begriff „Diskriminierung“ erscheint mir dann angebracht, wenn Ex-Nationalsozialisten trotz Wiedereingliederungsangeboten beziehungsweise rechtlicher Möglichkeiten in der Realität einzig wegen ihrer politischen Biografie weiterhin eine Benachteiligung erfuhren. Und solche Fälle kamen sehr häufig vor. Es gibt diverse Beispiele dafür, dass überall in der DDR selbst anpassungsbereiten Pgs. die Beschäftigung in der Verwaltung oder in diesem Zusammenhang auch die Mitgliedschaft in der SED zumindest zeitweilig verwehrt blieb. Ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, die sich politisch betätigen oder ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen wollten, legte man vielerorts Steine in den Weg.230 Es kam sogar vor, dass selbst Familienangehörige ehemaliger NSDAPMitglieder wegen ihrer verwandtschaftlichen Beziehung nicht einmal zu ehrenamtlichen Tätigkeiten in den Massenorganisationen zugelassen wurden.231 Die persönliche NSVergangenheit diente darüber hinaus intern als Stützargument, um anderen kaderpolitischen Negativaspekten dieser Person mehr Gewicht zu verleihen, ihre Karriere zu behindern und ihnen Ressourcen vorzuenthalten.232 Ihre Vergegenwärtigung suggerierte eine Kontinuität „reaktionären“ Denkens und Handelns, um ein schädliches Verhalten in der DDR zu erklären.233 Die Diskriminierung früherer NSDAP-Angehöriger wurde dabei nicht nur vielfach von diesen selbst und ihrer bald wichtigsten Fürsprecherin, der NDP, registriert. Auch SED-intern war man sich der häufig anhaltenden inoffiziellen Ausgrenzung durchaus bewusst. Wenngleich die Parteibasis tendenziell noch weiter ging, wollten auch die Personalverantwortlichen vor allem sensible Bereiche möglichst rein von NS-Belasteten halten. Nicht zuletzt beabsichtigte die kommunistische Wertelite, dadurch das Gefahrenpotenzial einer Agenten- und Sabotagetätigkeit zu mindern. Dabei kümmerte es die Leitungskader wenig, ob die offiziellen Verlautbarungen und Richtlinien eine Wiedereinstellung von ehemaligen NSDAP-Angehörigen theoretisch erlaubten. Sie wandten 230 231 232 233 Lothar Bolz beklagte im April 1949 in einem Beitrag der National-Zeitung, dass trotz der Befehle 201 und 35 viele ehemalige Nominelle im Ungewissen darüber gehalten wurden, ob sie wahlberechtigt sind oder nicht. In zahlreichen Fällen hätten örtliche Behörden deren Wahlberechtigung verneint, ohne sich auf einen rechtskräftigen Entscheid einer Entnazifizierungskommission stützen zu können. Sie beriefen sich vielmehr auf Entscheidungen, die am 10. April 1948 nicht abgeschlossen waren, aber auch nicht an die ordentlichen Gerichte überwiesen wurden. Darüber hinaus »auf angebliche Beschlüsse, die niemandem zugestellt wurden, ja deren Ausfertigung unauffindbar ist, und gelegentlich sogar auf mündliche Entscheidungen oft nicht einmal genannter Behörden«. In anderen, eher noch häufigeren Fällen sei zwar das passive Wahlrecht im Grundsatz unbestritten gewesen. Doch seien frühere NSDAP-Mitglieder trotzdem nicht zur Wahl von „Ausschüssen öffentlicher Körperschaften“ zugelassen worden. Nominierungen zum Betriebsrat seien ebenfalls abgelehnt worden. Bolz forderte deshalb eine präzisierende Ausführungsbestimmung zu den Befehlen 201 und 35, um eindeutig festzustellen, wem das aktive und passive Wahlrecht zustand. Die DVdI legte wenige Tage danach in der Wahlordnung zum Volkskongress fest, dass lediglich „Nazi- und Kriegsverbrecher“, die in einem ordentlichen Strafverfahren per Gericht nach Befehl 201, Kontrollratsgesetz 10 oder Direktive 38 verurteilt wurden, oder denen durch Gerichtsbeschluss das Wahlrecht aberkannt wurde, nicht wahlberechtigt waren. Die NDP begrüßte diese Regelung, wonach viele Menschen, die bislang nicht wählen durften, das Wahlrecht erhielten. Allerdings bedauerten die Nationaldemokraten, dass entlassene Internierte nicht dazu gehörten, auch wenn sie eine innere Wandlung vollzogen hätten, siehe: National-Zeitung, Leitartikel „Unsere Forderung: Gleichberechtigung!“, vom 14.04.1949; National-Zeitung, Artikel „Wahlordnung zum Volkskongreß“, vom 22.04.1949; vgl. NationalZeitung, vom 23.04.1949. Dergleichen geschah der Frau eines Pgs. im Demokratischen Frauenbund, siehe: DY 30 / IV, 2/5/206, Bl. 37, Zobel, an Zentralsekretariat, vom 20.05.1949; National-Zeitung, Beitrag „Die Pg-Frau“, vom 29.01.1949. Siehe die Ablehnung einer besseren Gehaltsstufe für Hans Forsbach durch eine Kommission der Landesregierung Brandenburg, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 92. Siehe Untersuchungsberichte zu Ferdinand Beer, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 92. Jens Kuhlemann – Braune Kader 53 die Vorschriften so an, wie es politisch opportun erschien. Sofern also unbelastete Bewerber mit vergleichbarer Fachqualifikation und sonstiger guter kaderpolitischer Gesamtbewertung zur Verfügung standen, gaben SED-nahe Funktionäre diesen den Vorzug gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten.234 Selbst bei Ermessensspielräumen hegte so mancher NSGegner in den Personalabteilungen und Dienststellenleitungen emotional einen Widerwillen, ehemaligen Stützen des Hitler-Regimes beim beruflichen Neuanfang zu helfen. Vielen Nominellen bereitete diese Personalpolitik große Enttäuschung und Frustration. Sie hatten mit dem Abschluss der Entnazifizierung die Hoffnung auf ein baldiges Ende ihrer Arbeitslosigkeit oder eine deutliche Verbesserung ihrer beruflichen Situation und damit des persönlichen Lebensstandards verbunden. Ernüchtert schrieben einige an die Leitung der Deutschen Wirtschaftskommission, dass sie trotz der verbreiteten Aufforderung, sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen, keine adäquate Stelle bekamen, die ihren Kenntnissen entsprach.235 Ein sehr wechselhafter und zwiespältiger Umgang widerfuhr zum Beispiel dem DWKFunktionär Ferdinand Beer. Dieser hatte bereits 1945 kurzzeitig der ZV Land- und Forstwirtschaft angehört, musste sie jedoch bald wegen seiner NSDAP-Zugehörigkeit verlassen. Nachdem er eine Zeit lang als Waldarbeiter tätig war, arbeitete Beer ab 1946 erneut für die Zentralverwaltung. Im Zuge der Reorganisation der Deutschen Wirtschaftskommission stand schließlich die Entscheidung an, ob der Forstexperte in einer Leitungsposition verbleiben durfte. Hierzu schrieb der Leiter der HA Personalfragen und Schulung, Allenstein, an den DWK-Vorsitzenden Heinrich Rau: »Aus beruflichen Gründen war er Mitglied der Nazipartei von 1938 bis 1945 und wurde im Oktober 1947 entnazifiziert. [...] B[eer] ist ein hervorragender Fachmann, der vorbildliche Arbeiten im Zentralforstamt leistete. [...] Seine Arbeiten sind von fortschrittlichem Geist erfüllt, was zu Kämpfen mit dem Leiter des Zentralforstamtes führte. Er ist ausserdem schriftstellerisch begabt und ein guter Sprecher, der seine Gedanken klar formulieren kann und seine Mitarbeiter überzeugt. B[eer] ist durch gute Arbeit, unermüdlichen Fleiss dauernd bemüht, den dunklen Fleck in seiner Vergangenheit auszulöschen. [...] Nach Befehl 35 dürfen ehemalige PG´s in leitenden Stellungen nicht beschäftigt werden. In diesem Ausnahmefall müsste eine Entscheidung herbeigeführt werden, ob Beer als stellvertr[etender] Hauptabteilungsleiter nach der Bes[oldungs-] Gr[uppe] B 5 bestätigt werden kann.« Eine durch und durch positive Charakterisierung. Sie wies alles andere als Anzeichen auf, Beer wegen seiner NSDAPMitgliedschaft in ein schlechtes Licht zu rücken. Rau verweigerte jedoch die nahegebrachte Bestätigung und kommentierte: »Man sollte Beer zunächst in ein Forstamt senden und mit Arbeit von unten beginnen lassen. Dort wird sich zeigen, wie weit das Bemühen geht, den ´dunklen Fleck auszulöschen´.«236 Rau äußerte schwere Bedenken, Beer in die DWK zu übernehmen. Er warf ihm vor, ohne zwingende Veranlassung in die NSDAP eingetreten beziehungsweise aus dem Privatdienst in den Reichsdienst übergewechselt zu sein. Sein ebenso schneller Wechsel nach Kriegsende zu den Sozialisten habe kein günstiges Licht auf den Charakter des Forstfachmannes geworfen. Auf Weisung des Zentralsekretariates der SED wurde Beer dann aber doch übernommen.237 Er durfte in der DWK arbeiten, eine Bestätigung wurde jedoch weiterhin mit dem Hinweis abgelehnt, dass ehemalige Pgs. keine leitenden Posten bekleiden sollten. Ein Jahr später, nach einer weiteren sehr günstigen Beurteilung 234 235 236 237 National-Zeitung, Beitrag „Ein Wort an die Personalchefs“, vom 23.01.1949. Siehe das Beispiel eines heimatvertriebenen behinderten Pgs. in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 93. Es ging um die Bestätigung Beers als stellvertretender Leiter der HA Forstwirtschaft in der HV Wirtschaftsplanung, siehe: DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 12 VS + RS, [DWK, HA Personalfragen und Schulung,] Allenstein, an den Vorsitzenden der DWK, vom 21.06.1948. DC 1 / 2548, V / 1/32, [ZKK,] Kurzcharakterisierung, undatiert; zur Zustimmung des Zentralsekretariats siehe auch: DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 4, [Verfasser unklar,] Dienstleistungsbericht, undatiert. Jens Kuhlemann – Braune Kader 54 durch die HV Wirtschaftsplanung, erteilte sie das zuständige DWK-Sekretariatsmitglied Bruno Leuschner schließlich doch noch – als „Ausnahmefall“.238 Die Tatsache, dass Beer entgegen den Befehlen der SMAD in einer leitenden Funktion tätig war, ist für sich genommen natürlich ein besonders pragmatischer, „Pg.-freundlicher“ Akt gewesen. Er ging über das rechtlich Mögliche sogar hinaus, wenngleich die Beschäftigung erst nach erheblichen Widerständen und einigem Zögern erfolgte. Die eigentliche Diskriminierungsabsicht lag denn auch darin, dass Rau ganz eigene Maßstäbe bei der Bewertung der persönlichen NS-Belastung und der Rehabilitierung nach 1945 anlegte, die scheinbar kein anderer Kaderverantwortlicher teilte. Denn zum einen war Beer ja bereits 1945/46 mit einfachen Arbeiten in einem Forstamt befasst gewesen. Damit hatte er schon ein Zeichen der Sühne gesetzt und sich im gleichen Maße „bewährt“ wie Tausende anderer NSDAP-Mitglieder auch. Darüber hinaus hatte der Forstfachmann erfolgreich ein Entnazifizierungsverfahren durchlaufen. Dieses hatte eine Prüfung seiner Aktivitäten und Motivationen eingeschlossen, mit dem Ergebnis, dass er nur nominelles Parteimitglied und kein überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus war. Doch für Heinrich Rau war Bewährung nicht gleich Bewährung und ein Nomineller nicht gleich ein Nomineller. Der Altkommunist sah in Beer ein schwankendes Element, das sich freiwillig bei den Faschisten eingereiht hatte. So einen Menschen wollte er nicht so ohne weiteres in einer Institution wie der DWK an exponierter Stelle wissen. Erst nach einem Machtwort des SEDZentralsekretariates konnte Beer in der für ihn vorgesehenen Position weiterarbeiten. Dieses Beispiel zeigt auch, dass personalverantwortliche SED-Funktionäre Unstimmigkeiten bei der Behandlung von Pgs. untereinander weitgehend hierarchisch beilegten: Am Ende entschieden die Parteiführung oder, im Laufe der Zeit immer seltener, die sowjetische Besatzungsmacht. In der Öffentlichkeit vertrat die DWK hingegen ein Bild, das zwar der Rechtslage mit ihren vorübergehenden Berufsverboten für bestimmte Fachrichtungen und Leitungspositionen sowie dem Tenor offizieller Verlautbarungen entsprach, aber dennoch sehr unpräzise und allgemein blieb. So teilte sie der NDP-Nationalzeitung 1949 mit, dass die Beschäftigung nomineller Pgs. „in Verwaltungsorganen“ der Beweis für die Beachtung des Befehls 201 sei. Die Durchführung des Zweijahrplanes habe eine Mitarbeit ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der Wirtschaft geradezu erforderlich gemacht. Keine verantwortliche Betriebsleitung würde auf die durch Befehl 201 ermöglichte Heranziehung von Arbeitskräften verzichten.239 Konkrete Angaben über das tatsächliche Ausmaß der beruflichen Wiedereingliederung, etwa in der DWK, fehlten. Eine unabhängige Überprüfung der Umsetzung der Reintegrationspolitik war also nicht zu leisten. Doch die Beschwerden früherer NSDAPAngehöriger über mangelnde Integrationsfortschritte, über eine Kluft zwischen verkündeter und real erfahrener Politik hielten selbst nach Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes von 1949 an. Zahlreiche Klagen erreichten die Nationaldemokratische Partei, welche sich wiederum beim Ministerium des Innern für umfassendere Wiedereingliederungsmaßnahmen einsetzte.240 Zum einen bezogen sich die Eingaben seit Beendigung der Entnazifizierung auf Erkundigungen nach der persönlichen politischen Vergangenheit und entsprechende Personalfragebögen, die bei der Bewerbung und während einer sich anschließenden Beschäftigung auszufüllen waren.241 In Zusammenhang damit monierte die NDP, dass die Personalabteilungen oft versuchten, die Nichteinstellung früherer Nationalsozialisten mit 238 239 240 241 Die Personalabteilung der HV Wirtschaftsplanung bat im Juli 1949 um Bestätigung der Stellenbesetzung. Dazu gab sie eine günstige Beurteilung ab. Auch die HA Personalfragen und Schulung befürwortete die Bestätigung zum wiederholten Male. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 94. DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49, vom 25.03.1949. Dabei ging es unter anderem um die Frage, welche konkreten Arbeitsbereiche von den im Gleichstellungsgesetz von 1949 genannten Berufsverboten betroffen waren, siehe: DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950; ebd., [MdI, an NDPD, Müller,] vom 01.07.1950. Siehe Kapitel „Von Fragebögen und dem Wunsch zu schweigen“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 55 Sparzwängen und schlanken Stellenplänen zu begründen. Tatsächlich waren in Folge der Währungsreform grundsätzlich alle Bewerber hiervon betroffen. Doch zogen die politisch Belasteten bei der Frage, wer die wenigen Stellen einnehmen durfte oder bei Einsparungen als erster die Kündigung erhielt, überdurchschnittlich oft den Kürzeren.242 Die Betonung der wirtschaftlichen Aspekte sollte von den politischen Gründen, die zur Ablehnung führten, ablenken, da Letztere den Protest der Nominellen provoziert hätten. Um ein partnerschaftliches Wohlwollen zu demonstrieren, ermunterten die Personalabteilungen deshalb dazu, sich an anderer Stelle erneut zu bewerben. Sie verbreiteten Zuversicht, damit ehemalige Nationalsozialisten in der SBZ weiterhin eine Lebensperspektive sahen und sich die neue politische Ordnung dadurch stabilisierte. Viele Pgs. durchschauten dieses Spiel jedoch. Die NDP als ihre damals aktivste Interessenvertreterin beklagte sich beim Ministerium des Innern, dass unter Hinweis auf angebliche Stelleneinsparungen vor allem ehemalige NSDAP-Mitglieder gar nicht erst zur Einstellung kamen oder eben entlassen wurden – wobei anschließend andere Personen ihre Stelle einnahmen.243 Unter den Zurückgewiesenen sollen sich in besonderem Maße frühere Angestellte, die bereits über 50 Jahre alt waren, Lehrer, gesundheitlich eingeschränkte Personen, ehemalige Internierte und sogar Wirtschaftsfachleute befunden haben. Im Fall der Lehrer erschien die Ablehnung einer Beschäftigung unter Hinweis auf einen Stellenmangel einerseits besonders paradox, da der Wirtschaftsplan Anfang der fünfziger Jahre eine Erhöhung der Lehrerzahl um sieben Prozent vorsah. Andererseits stand der Wille zum nachhaltigen Austausch des Bildungspersonals im Raum, um das Volk umzuerziehen. Das jedoch traute die SED vielen Pgs. nicht zu. Daneben war der Mangel an spezialisierten Fachkräften in der Wirtschaft ebenfalls unübersehbar. Die Nationaldemokraten forderten eine Beseitigung dieser ihrer Ansicht nach unzulänglichen Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes. Sie wünschten unter anderem eine Verpflichtung der Volkswirtschaft, ungenutzte Pg.-Fachkräfte einzustellen. Tatsächlich lag ein großer Schatz an Fähigkeiten durch die anhaltende, gesetzlich nicht mehr legitimierte Ausgrenzung vieler NS-Belasteter brach. In Berlin werteten die Nationaldemokraten zwar bereits Anfang 1949 die Durchführungsbestimmungen zum Abschluss der Entnazifizierung als wesentlichen Fortschritt. Auf dieser Basis sei ein gleichberechtigter Wiedereinbau der ehemaligen Pgs. in das politische und wirtschaftliche Leben machbar gewesen. Doch ermahnte das NDP-Parteiorgan „National-Zeitung“ die unteren Verwaltungsinstanzen zugleich, sich auch an die neuen Anordnungen zu halten. Denn in den Ländern der SBZ hätten gerade sie die Anweisungen „von oben“ immer wieder verwässert. Trotz weitgehenden offiziellen Wegfalls der Arbeitsbeschränkungen seien der Wirtschaft dadurch wertvolle Fachkräfte vorenthalten worden.244 Immer wieder beschwerten sich frühere NSDAP-Mitglieder darüber, dass sie als gebildete Spezialisten vor allem in der öffentlichen Verwaltung als Hilfsarbeiter, Boten etc. fehleingesetzt waren. Die NDP stimmte in diesen Chor mit ein, machte sich fortlaufend für Pg.-Bewerber stark und kritisierte in aller Offenheit, dass die Arbeitsvermittlung nicht den genannten SMAD-Befehlen entsprochen und die Nominellen diskriminiert habe.245 Laut Lothar Bolz beriefen sich zum Beispiel diverse Ämter für Arbeit und Sozialfürsorge 1949 immer noch auf den alten Befehl 153 vom 29. November 1945, wonach ehemaligen NSDAP-Mitgliedern nur körperliche Arbeit vermittelt werden durfte. Sie hätten hierbei sogar Rückendeckung von Vertretern der DWK bekommen. Es sei insgesamt unstreitig gewesen, dass zahlreiche Behörden, öffentliche und auch private 242 243 244 245 National-Zeitung, Beitrag „Schluß mit der Ungewissheit!“, vom 20.04.1949. DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950; ebd., [MdI, an NDPD, Müller,] vom 01.07.1950. National-Zeitung, Leitartikel „Wie Berlin die ehemaligen Pgs behandelt“, vom 11.03.1949. DY 16 / 2786, 17. Jens Kuhlemann – Braune Kader 56 Betriebe den Befehlen der sowjetischen Besatzungsmacht zuwiderhandelten.246 Im Zuge einiger erfolgloser Bewerbungen wurde den Betroffenen sogar manchmal offen mitgeteilt, dass sie wegen ihrer ehemaligen Parteizugehörigkeit keine Berücksichtigung fanden.247 Als Plattform der enttäuschten Nominellen spielte das NDP-Parteiblatt „NationalZeitung“ eine besondere Rolle. Besonders in der Kolumne „Nationales Forum“ verschafften sie ihrem Unmut mittels Leserbrief Luft. Dies war eine der ganz wenigen öffentlichkeitswirksamen Artikulationsmöglichkeiten für NS-Belastete in der SBZ und DDR überhaupt. Die NDP-Führung nutzte diese Ventilfunktion, um sich besser als verständige Patronin empfehlen zu können. Zumindest partiell teilte sie die Meinung der verprellten NSDAP-Mitglieder auch. Auf der anderen Seite hatte die Parteispitze die Aufgabe, den verbreiteten Ärger zu kanalisieren und für die Politik der SED zu werben. Ihre Erfolgsmeldungen über NS-Belastete, die in ihren Beruf zurückgekehrt waren, konnten die anvisierte Klientel jedoch nicht über die insgesamt defizitäre Reintegration hinwegtäuschen.248 Das Ministerium des Innern wies die in sachlich-diplomatischem Ton vorgebrachten Vorwürfe der NDP zurück. Es stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Benachteiligung aufgrund der früheren Parteizugehörigkeit angeblich nicht eindeutig nachweisbar war. Alle ehemaligen NSDAP-Angehörigen hätten die rechtlich garantierte Chance, das Berufsleben mitzugestalten. Daraus erwüchse jedoch kein Anspruch auf Wiedereinnahme einer einstmals besetzten Position. Für die Pgs. hätten die gleichen personalpolitischen Grundsätze wie für alle anderen DDR-Bürger Geltung gehabt. Darunter sei insbesondere die Bereitschaft zum Aufbau einer antifaschistischen Ordnung zu verstehen gewesen. Ebenso träfen die Sparzwänge alle Angestellten gleichermaßen, ungeachtet ihrer früheren Organisationszugehörigkeit. Das Ministerium des Innern versteckte sich also hinter der Theorie von Gesetz und Richtlinien, wohl wissend, dass ihre reale Anwendung den Kommunisten genügend Spielraum ließ, die eigenen politischen Prioritäten durchzusetzen. Wie erlebten nun die betroffenen Ex-Nationalsozialisten am Arbeitsplatz vor Ort die Momente der Ablehnung? Eine beispielhafte Begebenheit liegt für das Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf vor. Es stand zum Zeitpunkt des Geschehens im Jahre 1950 unter der Aufsicht des Ministeriums für Industrie. Ein politisch Belasteter arbeitete dort seit Anfang 1949, also schon über ein Jahr lang, als Kraftfahrer. Er war 1932-1945 Mitglied der NSDAP und seit 1933 in der SS, wo er die Funktion eines Unterscharführers ausgefüllt hatte. Wegen seiner politischen Belastung hatte der Betreffende nach dem Krieg eine Haftstrafe verbüßt. Seine berufliche Wiedereingliederung schien vollzogen, bis sich eines Tages Folgendes abspielte, wie der NS-Belastete selbst berichtete: »Ich schildere den Sachverhalt so, wie er gewesen ist. Ich kam am 3. Pfingstfeiertage zur Arbeit und wurde zu meinem Abteilungsleiter [...] gerufen. Er sagte zu mir: ´Kollege [...], Du sollst sofort zum Personalbüro kommen.´ Ich ging hin. Die Angestellte [...] sagte zu mir: ´Sie sind ab sofort in die Sandputzerei versetzt.´ Darauf antwortete ich: ´Ohne mir´. Dann frug ich nach Gründen. Die Antwort darauf war: ´Weiss ich nicht´. – Ich ging zum Vertrauens- sowie zum AGL-Mann meiner Abteilung und erkundigte mich nach Gründen. ´Der AGL-Mann [...] platzte auf einmal heraus: ´Der Werksleiter und der Personalchef haben beschlossen, dass ein früherer SS-Mann keinen PKW fahren darf. Das wäre für unser Werk nicht erträglich.´ Ich ging zum Personalchef. Dieser antwortete mir durch Frau S[...]: ´Es bleibt so, wie es ist´. Da beantragte ich sofort meinen Urlaub. In dieser Zeit habe ich mich überall erkundigt, wo ich die Beschwerde führen kann. Ich war auch in der 246 247 248 National-Zeitung, Leitartikel „Unsere Forderung: Gleichberechtigung!“, vom 14.04.1949; NationalZeitung, Beitrag „Schluß mit der Ungewissheit!“, vom 20.04.1949. National-Zeitung, Beitrag „Ungezählte sind noch ausgeschlossen“, vom 20.02.1949; vgl. National-Zeitung, vom 25.03.1949. National-Zeitung, Artikel „Neulehrer oder alte Lehrer“, vom 22.03.1949; vgl. National-Zeitung, Artikel „Werk des Aufbaues“, vom 31.03.1949. Jens Kuhlemann – Braune Kader 57 Zeit meines Urlaubs noch einmal im Werk. Da kam ich mit dem Personalchef in Berührung. Bei dieser Aussprache sagte er mir: ´Es wäre ja gar nicht die politische Sache´. Denn jetzt war es auf einmal die Arbeit. Dieses widerlegte ich ihnen auch. Ich sagte, dass ich es politisch auffasse, wie es mir vom AGL-Mann gesagt wurde. Wem passt nun meine Nase nicht? Ist das der Dank, dass man Tag und Nacht 16 Monate gefahren ist? Ich kann von meiner Seite aus sagen, dass ich mich dieser Zeit angepasst habe, und v i e l l e i c h t mehr meine Pflicht getan habe, wie manch anderer, auch Verantwortungsvollere, der heute das Abzeichen trägt, und es sollte doch jeder gleich gestellt werden. Es sieht doch aber dadurch so aus, dass diese Herren nach aussen richtig denken und innerlich doch einen Hass auf solche Personen, wie ich es gewesen bin, tragen.«249 Was war geschehen? Zur Klärung bedarf es zunächst eines Blickes auf die Rolle der Personalleitung des Betriebes. Sie wird in einem internen Aktenvermerk widersprüchlich dargestellt. Denn einerseits soll sie die Einstellung ohne Kontrolle, sprich ohne Kenntnis der vorliegenden Belastung oder Bestätigung durch höhere Stellen vorgenommen haben. Andererseits lag offensichtlich keine Fragebogenfälschung vor.250 Die Personalabteilung hatte die vom Bewerber geschilderte politische Vergangenheit deshalb ursprünglich wohl als integrationsfähig eingestuft. Auf jeden Fall kam sie nach einer personellen Neubesetzung zu dem Ergebnis, dass der ehemalige SS-Angehörige ein Sicherheitsrisiko darstellte. Als Fahrer von Direktionsmitgliedern des Stahlwerkes hätte er nämlich Gelegenheit gehabt, vertrauliche Betriebsinformationen zu erfahren. Somit lag nach Meinung von Angehörigen der kommunistischen Wertelite die Möglichkeit zur Spionage vor. Bei einem aufgrund faschistischer Vorbelastung wenig vertrauensvoll erscheinenden Angestellten erschien diese Gefahr um so größer. Eine Veränderung war demnach umgehend und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten durchzuführen. Vom rein rechtlichen Standpunkt ist nicht mehr nachvollziehbar, ob die Voraussetzungen für eine Beschäftigung im vorliegenden Fall gegeben waren. Die erwähnte Haftstrafe weist darauf hin, dass das Engagement im „Dritten Reich“ nicht mehr als nominell, sondern als aktivere Betätigung eingestuft wurde. Sofern der Freiheitsentzug über ein Jahr betragen hatte, fiel der Betroffene nicht einmal mehr unter die Begünstigten des Gleichstellungsgesetzes vom Oktober 1949. Möglicherweise hätte die Anstellung also nie vollzogen werden dürfen. Doch wie dem auch gewesen sein mag: Die Arbeit des früheren Nationalsozialisten hatte anscheinend über ein Jahr lang keinen Anlass zur Klage geboten. Die Vorgesetzten beurteilten Leistung und Führung des Angestellten mit „gut“. Die völlig unerwartet angeordnete Versetzung in eine Art Putzkolonne traf ihn daraufhin entsprechend hart. Er musste plötzlich einsehen, dass seine bereits erlangte Wiedereingliederung keine Garantie beinhaltete. Seine Gleichberechtigung hing gänzlich vom Wohlwollen der Personalabteilung ab. Selbst eine Bewährung in Form eines überaus pflichtbewussten Arbeitseinsatzes war von keinem Nutzen. Ihm half auch nicht die mit den Worten, er habe sich „dieser Zeit angepasst“, dokumentierte leidenschaftslose, aber entschlossene Unterwerfungsbereitschaft. Dabei war es den Vertretern der Personalabteilung und Gewerkschaft sichtlich unangenehm, dem früheren SS-Angehörigen die wahren Gründe für ihre kurzfristige Meinungsänderung zu nennen. Zunächst traf der Angestellte auf offenbar gespielte Ahnungslosigkeit der Personalbearbeiterin. Darauf folgte das unlogische Urteil, dass eine Beschäftigung als Fahrer nicht „erträglich“ sei, aber die in der Sandputzerei schon. Schließlich versuchte der Personalleiter vom politischen auf den fachlichen Aspekt abzulenken, womit er sich nur noch mehr in Widersprüche verstrickte. Hilfe schien in einer solchen Situation nur noch bei den höchsten Stellen der Staats- und Parteiführung über entsprechende Eingaben erlangbar zu sein. Die Spitzenpolitiker standen 249 250 DO 1 / 26.0, 17567, Karl W[...], an SED-Hauptbüro, undatiert (Abschrift); ebd., [Verfasser unklar,] an Weise, vom 22.08.1950. Die Ausgrenzung NS-Belasteter begünstigte Fragebogenfälschungen, siehe: Danyel, SED, S. 178. Jens Kuhlemann – Braune Kader 58 für die Pgs. durch ihre Verlautbarungen im Wort. Sie sollten die nach Meinung der früheren Nationalsozialisten zuwiderlaufende Umsetzung der offiziellen Vorgaben korrigieren.251 Der ehemalige SS-Unterscharführer wünschte sich sehnlichst einen Schlussstrich unter die Ahndung seiner politischen Biografie. Er realisierte jedoch zu Recht, dass viele Mitglieder der SED, die wichtige Schlüsselstellungen innehatten, insgeheim eine Antipathie oder sogar regelrechte Feindschaft gegen frühere Nationalsozialisten hegten. Diesen Umstand machte der Betreffende schließlich auch dafür verantwortlich, dass er nach seinem Weggang aus dem Stahlwerk Hennigsdorf andernorts keine Arbeit mehr erhielt. Mit dieser Einschätzung lag er nicht falsch. Allerdings konnte sich der betroffene NS-Belastete wohl kaum die ganze Wahrheit, nämlich die befürchtete Spionage, als Ursache für seine Ausgrenzung vorstellen. Der tatsächliche Grund scheint dem Betroffenen auch nie mitgeteilt worden zu sein. Dazu fürchteten die Kommunisten viel zu sehr das Unverständnis und den Aufruhr der „politisch unbewussten“ Normalbürger. In den seltensten Fällen nannten die Personalabteilungen also ein Engagement in nationalsozialistischen Organisationen als wirkliche Ursache für ihre Abwehrhaltung. Teilweise stritten sie dieses Handlungsmotiv auch ausdrücklich ab. Dennoch vermuteten die Betroffenen, ihre NS-Hypothek sei der Ablehnungsgrund gewesen, beziehungsweise es war ihnen sonnenklar. Denn trotz vielversprechender Signale erhielten zahlreiche Pgs. permanent eine Absage, sobald sie die Frage nach einer NSDAP-Zugehörigkeit zu beantworten hatten. Immer wieder bekamen sie dann fadenscheinige Begründungen zu hören, wie die, dass die Stellen schon anderweitig vergeben oder gar keine freien vorhanden waren.252 Die anhaltende Benachteiligung im Berufsleben stürzte so manche ehemaligen Nationalsozialisten in Arbeitslosigkeit und arge wirtschaftliche Probleme. Ein ehemaliger SS-Angehöriger sah sich in seiner Not sogar veranlasst, persönlich beim Büro Ulbricht aufzutauchen, um sich auf diesem Weg zu beschweren und die Vermittlung irgendeiner Arbeitsstelle zu erwirken. Tatsächlich überprüften Partei- und Staatsapparat auch solche Einzelfälle und gaben den Anstoß für eine Anstellung, wenn das kaderpolitische Gesamtbild günstig erschien und es lediglich galt, den Widerwillen an der Basis zu überwinden.253 Wenn hingegen keine Aufgeschlossenheit zum neuen politischen System zu registrieren war oder die NS-Belastung zu groß erschien, verschlossen sich auch höhere Stellen der Befürwortung einer Beschäftigung.254 Zumindest sollten kaderpolitisch minderwertige Personen aus sensibleren Bereichen wie der öffentlichen Verwaltung herausgehalten werden. Die betroffenen NSBelasteten selbst zeigten Frust und Unverständnis über ihre bleibende Verstoßung. Sei es, weil sie die Kaderkriterien nicht kannten, sei es, weil sie den Anspruch der Partei und Regierung durch die Wirklichkeit vollständig konterkariert sahen. Sogar Familienangehörige von ehemaligen Nationalsozialisten beklagten sich. Auch sie sahen es als „zweite Strafe“ nach der Entnazifizierung an, wenn trotz des Gleichstellungsgesetzes von 1949 keine Wiedereinstellung ihrer Verwandten in den alten Beruf erfolgte.255 Manche ehemaligen Nationalsozialisten waren sich dabei über die Bedeutung der Erziehung und Bewusstseinsbildung im Sinne des Marxismus-Leninismus absolut im Klaren. Jedenfalls versuchten sie, sich diese Zielsetzung der Machtelite argumentativ zu Nutze zu 251 252 253 254 255 Dabei mangelte es den Petenten nicht an Selbstbewusstsein und Überzeugung im Recht zu sein. Der ehemalige SS-Angehörige schloss seine Eingabe an die SED-Führung mit den Worten „ich bitte doch, diesen Fall einmal zu prüfen und mir von der Richtigstellung Nachricht zukommen zu lassen“, siehe: DO 1 / 26.0, 17567, Karl W[...], an SED-Hauptbüro, undatiert (Abschrift). Siehe das Beispiel eines Vermessungstechnikers in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 101. Einzelheiten zum erwähnten SS-Angehörigen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 101. Ein Beispiel mit Beteiligung der LPKK Sachsen-Anhalt siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 101. Siehe den Fall eines Bürgers, der sich für seinen als Pg. aus dem Postdienst entlassenen und nicht erneut eingestellten Schwiegersohn einsetzte, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 102. Jens Kuhlemann – Braune Kader 59 machen.256 Misstrauen und Missgunst vieler SED-Funktionäre führten andererseits sogar dazu, dass schon der bloße Verdacht, sich während der Hitler-Diktatur besonders regimekonform verhalten zu haben, für eine faktische Ausgrenzung reichte. Betroffen waren zum Beispiel Personen, die bestimmte Positionen eingenommen hatten, aber trotzdem nicht der NSDAP angehörten. Sie hatten es sehr schwer, staatliche Behörden und andere (potenzielle) Arbeitgeber von ihrer einstigen Parteilosigkeit und politischen Zurückhaltung zu überzeugen. Das betraf insbesondere ehemalige Angehörige von Reichsdienststellen und Beamte. Ihre Bemühungen, sich als unbeschriebenes Blatt zu verkaufen, trieb manchmal seltsame Blüten. So kam es vor, dass sich ein früherer Amtsgehilfe der Reichsstatthalterei Posen im Jahr 1951 hilfesuchend an das Ministerium des Innern wandte. Er bat um eine Bestätigung darüber, nicht in der NSDAP gewesen zu sein. Denn sein Lebenslauf erschien unglaubwürdig und man wollte ihn beschuldigen, in der Partei gewesen zu sein.257 Das MdI stellte entsprechende Bescheinigungen natürlich nicht aus. Zum einen deshalb, weil es kaum über die notwendigen Informationsquellen verfügte. Zum anderen, weil es sich grundsätzlich gegen „Persilscheine“ aussprach, die trotz hohen Verwaltungsaufwands schnell wieder an Aussagekraft verlieren konnten. Im Übrigen erfolgten Anfeindungen und Vorbehalte gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten auch in subtiler Form beim Umgang mit NDP-Mitgliedern. So kam es vor, dass es einem Kommunisten politisch unverantwortlich erschien, wenn ein leitender Genosse, der vorgab klassenbewusst und parteiverbunden zu sein, einen SED-Funktionär in Gegenwart eines NDP-Mitgliedes diskreditierte, indem er dessen Arbeit höchst abfällig kommentierte.258 Ob der Klagende immer definitiv wusste, ob es sich bei einem anwesenden Nationaldemokraten auch um ein ehemaliges NSDAP-Mitglied handelte, sei dahingestellt. Es war wohl auch relativ unerheblich, da damals die Ansicht weit verbreitet war, zur NDP seien praktisch ausschließlich Pgs., frühere Wehrmachtsoffiziere oder anderweitig durch ihre Rolle während des NS-Regimes in Misskredit geratene Personen gestoßen. So übertrug sich die soziale Ausgrenzung NS-Belasteter auf Angehörige der neuen Blockpartei. Viele Personalleiter sperrten sich also gegen eine tatsächliche Gleichbehandlung der Nominellen bei der Auswahl von Mitarbeitern. Sie verschanzten sich offenbar auch hinter juristischen Unklarheiten und spielten auf Zeit.259 Manchmal handelten sich Behörden sogar den Vorwurf ein, die Befehle der SMAD komplett zu ignorieren.260 Bei der gesamten Betrachtung der Ausgrenzung von NS-Belasteten im Berufsleben ist zu betonen, dass so manche Kommunisten es insgeheim als grundsätzlich positive Kaderpolitik ansahen, den Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den jeweiligen Personalstämmen so niedrig wie möglich zu halten. Am liebsten hätten sie den neuen Staat ohne die Hilfe der Pgs. aufgebaut, doch das war utopisch. Konflikte mit einzelnen Funktionären und weiten Teilen der Parteibasis kamen deshalb vor, weil Letztere aus persönlicher Abneigung den Bogen häufig überspannten. Sie gingen in der Reinhaltung der Belegschaften so weit, dass sie individuelle 256 257 258 259 260 Siehe die Argumentation eines entlassenen Telegrafenassistenten, der beklagte, nicht an geeigneter Stelle eingesetzt zu werden, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 102 f. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 104. Diesen Vorwurf erhob 1950 eine Personalreferentin und beschwerte sich beim MdI über den kommissarischen Leiter der DHZ Kohle. Bei dem erwähnten Nationaldemokraten handelte es sich um Alexander Mallickh, der damals Abteilungsleiter und Hauptgruppenleiter der Deutschen Handelszentrale Kohle in Dresden und daselbst NDP-Betriebsgruppenvorsitzender war. Mallickh gehörte der NSDAP an, dann 1945-1949 der LDP und ab dem 7.2.1949 der NDP. In den Jahren 1950-1952 arbeitete er als persönlicher Referent des Ministers für Leichtindustrie Wilhelm Feldmann. Mallickh fungierte darüber hinaus als Mitglied des Hauptausschusses der NDP und als stellvertretender Oberbürgermeister von OstBerlin, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 104, dort auch weitere Quellen und Literaturangaben zu Alexander Mallickh. Zu Wilhelm Feldmann siehe die ausführliche Darstellung in: ebd., S. 870-888. Siehe einen Fall aus Sachsen, bei dem die SED-Führung bemüht war, das Gesetz nicht eng, sondern im Sinne der Nominellen auszulegen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 104. National-Zeitung, Beitrag „Schluß mit der Ungewissheit!“, vom 20.04.1949. Jens Kuhlemann – Braune Kader 60 günstige Kadermerkmale nicht als Ausgleich für braune Biografieanteile gelten ließen und den Konsolidierungszwängen der Nachkriegszeit weit weniger nachgeben wollten als andere Kommunisten. Von dieser restriktiven Haltung waren auch solche NS-Belastete betroffen, die bereits den Sprung in ein Beschäftigungsverhältnis bei der DWK geschafft hatten. Die SEDBetriebsgruppe der Wirtschaftskommission hatte zunächst sehr wenig getan, um bürgerliche Fachleute, zu denen auch die ehemaligen Nationalsozialisten zählten, für die neuen Staatsideen zu gewinnen und politisch zu entwickeln. Es hätten sich im Gegenteil Tendenzen gezeigt, Spezialisten zu bekämpfen und auszuschalten. In einer Resolution der Betriebsgruppe hieß es deshalb selbstkritisch: »Wir warnen vor diesen Auffassungen, die in der Praxis unsere Aufbauarbeit unterminieren. Die Betriebsgruppe muß sich bemühen, ein gutes Verhältnis zu den bürgerlichen Fachleuten herzustellen und sie für die Durchsetzung des Zweijahresplanes zu gewinnen.«261 In Schulungen war ihnen und anderen indifferenten Mitarbeitern das marxistisch-leninistische Gedankengut näherzubringen. Gleichzeitig sollte die ebenfalls bestehende Tendenz, sich auf „feindliche bürgerliche Elemente“ als unentbehrliche Fachleute zu stützen und ihre Entfernung aus der Verwaltung zu verhindern, auf das Entschiedenste bekämpft werden. Auch wenn die früheren NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder hier nicht direkt genannt wurden – was sich schon durch den öffentlichen Adressaten der Resolution erklären lässt –, trafen sie die bemängelten Umstände als Teil der alten Intelligenz mit aller Härte. Die SED-nahen Personalverantwortlichen im zentralen Staatsapparat dachten nicht daran, langfristig frühere Nationalsozialisten zu beschäftigen, die sich der Parteilinie gegenüber unaufgeschlossen zeigten oder fachlich keine besonderen Leistungen unter Beweis stellten. Eine ganze Reihe von Nominellen hatte jedoch angesichts der immer weitreichender erscheinenden offiziellen Reintegrationspolitik die Hoffnung gehabt, ohne Vorbedingungen und Reibungsverluste in ihre alten Positionen zurückkehren zu können. Das sollte eine Illusion bleiben. Und selbst wenn es sich bei den Regierungsangestellten um loyale und effizient arbeitende NS-Belastete handelte, glitten einige Kaderleiter in den Ministerien immer wieder in pauschale Herabwürdigungen ab. Eine Senkung des Anteils ehemaliger NSDAP-Mitglieder galt ihnen genauso wie die Reduzierung der Zahl ehemaliger Beamter als „Aufwärtsentwicklung im Sinne unserer fortschrittlichen Personalpolitik“.262 Noch Ende der fünfziger Jahre sprachen Kaderverantwortliche von einer Verschlechterung der Situation, wenn sich der Anteil ehemaliger Pgs. am Gesamtpersonal einer Regierungsdienststelle erhöhte.263 Wer sich zur Rechtfertigung auf einen Mangel an unbelasteten Fachkräften berief, stand leicht im Kreuzfeuer der Kritik.264 Wer sich gar – im Wechselspiel mit anderen Anschuldigungen – dem Verdacht aussetzte, sich für die Anstellung ehemaliger Nationalsozialisten besonders einzusetzen, ihrer Entlassung Widerstand entgegenzubringen oder sie durch Hilfestellung beim Eintritt in die SED schützen zu wollen, wusste sich kaum gegen die Hysterie stalinistischen Terrors zu verteidigen.265 Dabei befürworteten oder 261 262 263 264 265 Die zitierte Formulierung gab nur in abgeschwächter Form wieder, was der Entwurf der Resolution noch weniger ausgleichend ausdrückte. Dort stand: »Wir warnen und beseitigen die Radikalinskis, die in der Praxis damit unsere Aufbauarbeit unterminieren. Die Betriebsgruppe bemüht sich um ein gutes Verhältnis zu den bürgerlichen Fachleuten und versucht alles, sie für die Durchsetzung des 2-Jahresplanes zu gewinnen.« Siehe: DY 30 / IV, 2/6.02/36, Bl. 46 f., Resolution der SED-Betriebsgruppe der Deutschen Wirtschaftskommission, undatiert; ebd., Bl. 55, Resolution der SED-Betriebsgruppe der Deutschen Wirtschaftskommission (Entwurf), undatiert; DC 15 / 708, Bl. 8-16 Resolution der SED-Betriebsgruppe der Deutschen Wirtschaftskommission (Entwurf), undatiert [Ende 1948]. DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium der Finanzen, HA Personal, Berichterstattung für das 1. Quartal 1950, an MdI, HA Personal, vom 20.04.1950, S. 3. So hinsichtlich der SPK, wo Pgs. und Wehrmachtsangehörige betroffen waren, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 106. DP 1 / SE 0680, Arbeitsbericht für das III. Quartal 1953 der Kaderabteilung, S. 2; ebd., 2/III; DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 192. Der ehemalige Vorsitzende der SPD-Betriebsgruppe in der ZV Handel und Versorgung, der später durch die ZPKK aus der SED ausgeschlossen wurde, wehrte sich 1949 gegen den Vorwurf, ehemalige NSDAP- Jens Kuhlemann – Braune Kader 61 duldeten natürlich auch viele unverdächtige Altkommunisten, Betriebsräte oder die SMAD die Beschäftigung ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Die Verantwortung für die Anwesenheit der Pgs. im Verwaltungsapparat war also praktisch nie nur einer einzigen Person zuzuschreiben und geschah vor den Augen der Machtelite. Gegen solche Personalverantwortlichen, die nicht zum Opfer kommunistischer Disziplinierungen und Säuberungen wurden, tauchte der Vorwurf, ein „Nazifreund“ zu sein, aber einfach nicht auf – schon gar nicht mit Blick auf die fast sakrosankte SED-Führung oder die sowjetische Besatzungsmacht. Erst wenn sich jemand etwas zu Schulden kommen ließ, holte man dieses Totschlagargument zum Vorschein und die Angeklagten hatten Mühe, die eigene Vorverurteilung selbst bei Vorbringen korrekter Sachverhalte aufzuheben. Entsprechende Vorkommnisse scheint es allerdings vor allem in den ersten Nachkriegsjahren gegeben zu haben. Dennoch belegt diese „Nebenanklage auf Abruf“, dass ehemalige Nationalsozialisten vornehmlich in der frühen DDR nie in Gänze als politisch Rehabilitierte akzeptiert wurden. Denn da sich ihre Belastung auch Jahre später noch dazu eignete, auf vermeintliche oder tatsächliche Förderer auszustrahlen, war sie latent gegenwärtig. Grundsätzlich sollte eine ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft bis zum Ende der DDR einen kaderpolitischen Minuspunkt darstellen. Sie haftete den Pgs. ihr Leben lang als ständige Erinnerung an. Ihre NS-Vergangenheit erschwerte es ihnen, ein Leben als ganz „normaler“ Bürger zu führen, sobald sie in Beruf und Gesellschaft vorankommen wollten. Das Einzige, was sich tendenziell änderte, war das Gewicht, das der persönlichen Rolle vor 1945 innerhalb der personellen Gesamtbetrachtung zukam. Seit Beendigung der Entnazifizierung und mit Verschärfung des Kalten Krieges bei gleichzeitiger Stabilisierung der SED ließ sich eine nationalsozialistische Vergangenheit zunehmend leichter kompensieren. Doch Gleichgültigkeit brachten ihr gerade Altkommunisten, Widerstandskämpfer und KZ-Häftlinge zu keiner Zeit entgegen, auch wenn die eine oder andere Wunde langsam vernarbte. Auf der anderen Seite gibt es viele Beispiele dafür, dass SED-Funktionäre etliche ExNationalsozialisten bei der Stärkung des sozialistischen Lagers als gute Kampfgefährten zu schätzen lernten. Oder sie achteten manche Leute, die nicht der braunen Staatspartei angehört hatten, menschlich und politisch viel weniger als ehemalige NSDAP-Angehörige.266 Offen sprachen sie aus, dass ihnen ein ehrlicher Pg. in der Produktion lieber ist als ein „Schreibtischkommunist“.267 Sie nahmen es durchaus ernst mit dem Bewährungsgedanken. Und ob nun mit einem Rest innerer Verachtung für die ehemaligen Nationalsozialisten oder nicht: Die bedingte Resozialisierungslinie sollte sich letztlich durchsetzen, aber eben differenziert nach Arbeitsbereichen, dem Grad der NS-Belastung, der politischen Anpassungsbereitschaft und den sonstigen kaderpolitischen Abwägungsergebnissen.268 Nicht zuletzt der Umstand, dass die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und der DDR-Regierung vielfach hervorragende, nur schwer zu ersetzende Fachleute waren, die sich politisch anpassungsfähig zeigten, wird dafür gesorgt haben, dass so gut wie keine Anzeichen für deren zwischenmenschliche Herabsetzung oder sonstige Benachteiligung am 266 267 268 Mitglieder (Harald Schaumburg, Herta Ludwig, Kurt Ritter u.a.) in die SPD-Betriebsgruppe (ohne Zustimmung der Betriebsgruppe) aufgenommen zu haben, „um sie zu schützen“. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 106. Vgl. die Aussage des Vorstehers eines Postamtes, der meinte, »daß er unter den Nichtmitgliedern der Nazipartei schon größere Schweinehunde kennen gelernt habe, als unter den ehem[aligen] kleinen Pgs.« Der Kontext lässt darauf schließen, dass diese Äußerung nicht so gemeint war, dass auch unter Personen, die keiner NS-Organisation angehört hatten, nazistisches Gedankengut verbreitet war. Stattdessen hätten sich unter politisch unbelasteten Personen mitunter einfach keine ehrenwerten Menschen befunden, siehe: DO 1 / 26.0, 17513, Oberpostdirektion L, an Ministerium für Post und Fernmeldewesen, vom 01.12.1950, S. 1 (Abschrift). DO 1 / 26.0, 2473, s.v. „HA Kohle“, „Berichte“, Hans G[...], an Dahlem, vom 24.04.1949, S. 2. Weitere Ausführungen zu den „akzeptablen“ NS-Belastungen und dem Umgang mit ihnen sowie zum Sprachgebrauch („Naziverbrecher“, „aktive Nazis“, „Nominelle“, „Pgs.“, „NSDAP-Mitglieder“, „Nationalsozialisten“, „Faschisten“) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 107-109. Jens Kuhlemann – Braune Kader 62 Arbeitsplatz aktenkundig wurden. So gesehen machten die meisten von ihnen einen guten Eindruck und sollten nicht verprellt oder gar dem Klassenfeind zugetrieben werden. Das heißt allerdings nicht, dass diskriminierende Vorkommnisse auszuschließen sind. Letztlich haben aber auch nur wenige Menschen von der NS-Belastung dieser Angestellten gewusst. Selbst wenn wichtige SED-Funktionäre ihnen gegenüber Misstrauen zollten, weil sie angeblich nicht vertrauenswürdig genug waren, um geheime politische Informationen entgegenzunehmen, kam es vor, dass sie dafür andere Ursachen nannten als die frühere NSDAP-Mitgliedschaft – etwa eine bürgerliche Grundeinstellung.269 Dies ist im Umkehrschluss ein weiteres Indiz dafür, dass frühere Pgs. die Gefahr einer Ausgrenzung aufgrund ihrer politischen Vergangenheit durch anhaltende, besonders SED-loyale Kooperationsbereitschaft entscheidend mindern konnten. Bis dahin begegnete ihnen durch Widerstände an der Basis, die die Machtelite teilweise billigte, eine Kluft zwischen dem Wortlaut der Wiedereingliederungsgesetze einerseits und ihrer Umsetzung andererseits, was sich in emotionaler Aversion, Misstrauen sowie anhaltender beruflicher und gesellschaftlicher Benachteiligung ausdrückte. 1.4 Anzeigen und Denunziationen Bis in die späte Phase der DDR empfanden es viele Menschen, zumal Altkommunisten und Opfer des nationalsozialistischen Terrors, als moralische Zumutung, ehemaligen Nationalsozialisten in der DDR zu begegnen. Ein normaler oder sogar freundschaftlicher Umgang verbot sich für sie. Zu tief saßen die Wunden, die ihnen das NS-Regime geschlagen hatte. Zu stark war der Drang, Schuldige zu brandmarken. Sie versuchten, sich psychologisch und politisch im Sinne größtmöglichen Schutzes pauschal von allen, die das Verbrechersystem auf irgendeine Art und Weise gestützt zu haben schienen, abzugrenzen und diese zu bekämpfen. Eine solche Totalität ließ praktisch keine Kompromisse zu. Nur schwer verständlich war es daher für Idealisten und ehemals Verfolgte, frühere NSDAP-Mitglieder im Staatsapparat des offiziell antifaschistischen Teil Deutschlands wiederzufinden. Noch dazu, wenn sich diese einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema Faschismus entgegenstellten oder die Täter von einst zu Tätern von heute avancierten.270 Aus eigener Initiative meldeten sich deren oft entrüstete Gegner daher bei den Behörden, um ein Verfahren in Gang zu setzen. Daneben gab es Personen, die andere Motive als die zuvor genannten besaßen, sich aber voll bewusst waren, dass das Wissen über eine NS-Belastung wie eine Waffe wirken konnte. Sie versuchten, es als Druckmittel einzusetzen oder jemandem aus mitunter ganz unpolitischen Gründen zu schaden. Wie es scheint, taten sie dies manchmal auch intrigant im Rahmen einer inszenierten Hexenjagd gegen völlig Unschuldige. In der Regel offenbarten die Anzeigenden ihre Identität. Teilweise waren entsprechende Schreiben aber auch mit falschem Namen unterzeichnet oder anonym abgefasst. Die Adressaten solcher Hinweise – in der Regel staatliche Organe – gaben sich manchmal befremdet über die Namenlosigkeit der Schreibenden. Ein solches Verhalten erschien ihnen feige und kaum nachvollziehbar. Sie vertraten die Auffassung, dass „fortschrittliche“ und 269 270 Ein Beispiel (Ernst Kaemmel) aus dem MdF siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 109. So der Bundestagsabgeordnete Konrad Weiß anläßlich des Verbotes eines Kommentars über neofaschistische Erscheinungen in der DDR durch den Leiter des Presseamtes, Kurt Blecha, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied, im Jahr 1988. Darüber hinaus erwähnt Günter Fippel einen Fall, bei dem 1950 der Träger eines VVN-Abzeichens verhaftet und von einem Nazi vernommen wurde, der zuvor bei der Liquidierung von Juden und Partisanen mitgewirkt hatte, siehe: Materialien, Bd. III/1, S. 174; Fippel, Antifaschismus, S. 117. Jens Kuhlemann – Braune Kader 63 ehrliche Menschen für ihre Taten einstehen und sich nicht tarnen.271 Sofern die Vorwürfe keine Phantasieprodukte waren, brauchten die Anzeigenden jedenfalls keine Bestrafung von staatlicher Seite zu fürchten. Ein Verbergen der eigenen Identität mag mehrere Gründe gehabt haben, genauso wie die Zurückhaltung derjenigen, die zwar etwas wussten, aber eben keine Anzeige erstatteten. Einerseits war mit Sicherheit die Furcht vor der Rache der konkret Belasteten verbreitet. Andererseits hatte man Angst vor einem Verhör durch die Staatsorgane und der Not, die Kritik an der Partei- und Behördenlinie zu rechtfertigen. Um einer potenziellen Bestrafung als „Dissident“ zu entgehen, ließ sich Widerspruch daher ohne Gefahr nur anonym artikulieren. Schließlich war die Bereitschaft zur Verfolgung kleiner Parteigenossen in der Bevölkerung sehr gering. Dieser Umstand trat bereits während der Entnazifizierung deutlich zutage. Daher drohten den „Denunzianten“ die sozialen Sanktionen der Menschen im eigenen Umfeld. Die Solidarität, die viele Deutsche den Nominellen angesichts willkürlich erscheinender Bestrafung entgegenbrachten, konnte sich potenziell und real auch gegen Opfer und Gegner des Faschismus richten. Darüber hinaus schreckten die schlechten Erfahrungen mit Politik im Allgemeinen und Denunziantentum im Besonderen während des Nationalsozialismus und erneut im Stalinismus so manche Bürger ab, politische Eigeninitiative zu entwickeln. Der hohe Organisationsgrad in Parteien und Massenorganisationen steht hierzu nicht im Widerspruch. Er diente den meisten als Karrieresprungbrett, Mittel zur Ressourcenzuteilung und Minderung des staatlichen Misstrauens gegen die eigene Person. Dem stand das Leid eines Überwachungsstaates mitsamt massiven Grundrechtsverletzungen gegenüber, so dass sich viele innerlich distanzierten und nicht über das übliche Maß an erwarteten Loyalitätsbekundungen hinaus aktiven Anteil daran haben wollten. Alles in allem gab es aber immer noch eine ganze Reihe von einschlägigen Meldungen. Auch für die Gruppe der ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und den DDRMinisterien sind ein paar Vorstöße überliefert. Sie machten staatliche Organe und Amtsträger auf Bewerber oder Angestellte aufmerksam, die sich durch ihr Verhalten im „Dritten Reich“ diskreditiert haben sollen.272 Bei den Denunzianten oder neutral formuliert Anzeigenden handelte es sich meist um Personen des näheren sozialen Umfelds: Arbeitskollegen aus der Zeit vor oder nach 1945, Familienangehörige, Nachbarn und sonstige Personen, die über die politischen Orientierungen der in Rede Stehenden bestimmte Kenntnisse besaßen.273 Es scheint sich dabei vor allem um Personen gehandelt zu haben, die der SED und der politischen Entwicklung in der SBZ/DDR aufgeschlossen gegenüberstanden. Sie traten fast immer einzeln auf, nur selten als Gruppe.274 Oft war es das Ziel der Anzeigenden, ein Beschäftigungsverhältnis der Gemeldeten zu verhindern oder zu beenden. Wer aus einer NSfeindlichen Grundhaltung heraus handelte, glaubte oft entweder an einen Irrtum der Behörden oder an eine skandalträchtige Personalpolitik. Bei den gemeldeten Begebenheiten handelte es sich einerseits um Umstände, die den Personalabteilungen schon lange bekannt waren. Andererseits gelangte auch bislang Unbekanntes zur Kenntnis, was dann auf die Behandlung als Fragebogenfälscher oder auf eine Überprüfung der unmittelbar verantwortlichen Kaderabteilung hinauslief. Großes Unverständnis für die Beschäftigung eines ehemaligen NSDAP-Angehörigen und Referenten in der DWK brachte 1948 beispielsweise ein unbekannter Verfasser mit folgenden Worten zum Ausdruck: »In Parteikreisen von Berlin-Wilhelmsruh wurde Stellung genommen gegen die geübte Praxis der Personalpolitik in entscheidenden Verwaltungen und 271 272 273 274 DO 1 / 26.0, 2473, s.v. „HV Chemie“, Prüfungsbogen, betr.: Otto S[...], vom 03.05.1949. So z.B. bei Harald Schaumburg, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 111. Ein Beispiel, der das Amt für Reparationen betraf, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 111 f. Siehe eine Protestresolution, die von dreizehn Personen unterzeichnet war und sich gegen die Einstellung eines Diplom-Meteorologen in den meteorologischen Dienst der DDR richtete, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 112. Jens Kuhlemann – Braune Kader 64 öffentlichen Institutionen. Menschen, die von vornherein nicht die Garantie eines Minimums von Verlässlichkeit gewähren können, werden auf entscheidende Positionen gesetzt, trotz Warnung der Öffentlichkeit. Es handelt sich konkret um Friedrich S[...] aus BerlinWilhelmsruh, gewesener aktiver Nazi, der in einer Verwaltung beschäftigt war, auf die ich mich nicht mehr entsinnen kann. Auf Intervention der Partei durch den Amtsvorsteher von Wilhelmsruh, E[...], wurde S[...] aus der Verwaltung entlassen. Nachdem S[...] längere Zeit arbeitslos war, vernimmt nun die Öffentlichkeit von Wilhelmsruh, daß er neuerdings in der deutschen Wirtschaftskommission eingestellt ist. Die Warnung[en] durch E[...] an die maßgebenden Stellen in der D[eu]t[schen] Wirtschaftskommission blieben unberücksichtigt und S[..] steht bis heute noch im Dienste derselben.«275 Die zutage tretende Empörung macht die politische Dimension des Bekanntwerdens einer Karrierefortsetzung ehemaliger Pgs. in der SBZ/DDR deutlich. Denn für den Beschwerdeführer war eigentlich schon schlimm genug, dass die neuen Staatsorgane sie einstellten, zumal dann, wenn zuvor im Rahmen der Entnazifizierung schon einmal eine Entlassung stattgefunden hatte. Regelrechter Protest erhob sich jedoch angesichts der Tatsache, dass die Behörden trotz ihrer Kenntnisse über die NS-Vergangenheit am Beschäftigungsverhältnis festhielten, insbesondere wenn sie subjektiv betrachtet den Vorzug gegenüber politisch Unbelasteten erhielten.276 Darin lag nach Ansicht weiter Teile der Gesellschaft und – was für die SED-Führung noch ungünstiger war – zahlreicher Mitglieder der eigenen Parteibasis eine Missachtung politischer und moralischer Grundsätze. Echter Zündstoff also. Kein Wunder, dass die Kaderabteilungen bemüht waren, mit Blick auf ihre Pg.-Angestellten Diskretion zu wahren. Denn an einem innenpolitischen oder innerparteilichen Flächenbrand konnte ihnen nicht gelegen sein. Dabei hat allein der genannte SED-Unterverband von mehreren Fällen gewusst, auf die die Bevölkerung die Behörden aufmerksam gemacht hatte. Bezeichnend ist darüber hinaus die unterschiedliche Bewertung eines Verhaltens in der Hitler-Diktatur, ferner deren Gewicht im kaderpolitischen Abwägungsprozess. Dessen Grundzüge waren auch den SED-Funktionären in den unteren Parteieinheiten bekannt. So nannte der obige Verfasser den DWK-Referenten einen „aktiven Nazi“, was die Quellenlage weder bestätigen noch entkräften kann. Sofern diese Einschätzung zutraf, hätte aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen keine Anstellung erfolgen dürfen. Außerdem sprach der Klagende vielen, vielleicht sogar allen erneut in wichtige Positionen eingestellten Pgs. jegliche Vertrauenswürdigkeit ab. Die scheinbare Ignoranz der Personalleiter grenzte für so manche einfache Parteimitglieder an Verrat, ließ sie rumoren und den Konflikt weiterschwelen, den die SED-Führung offenbar nur über Disziplinierungsmaßnahmen, antifaschistische Propaganda und Totschweigen der realen Wiedereingliederungspolitik in den Griff bekommen konnte. Für eine rigorose Säuberung trat eine offenbar der SED zuneigende Person in einem anderen Fall ein. Sie schrieb an das Ministerium für Maschinenbau über einen seiner Angestellten: »Dem Ministerium scheint nicht bekannt zu sein, was es sich mit dem Obengenannten für einen Strolch ins Nest gesetzt hat. Ist dem Ministerium nicht bekannt, dass [sich] S[...] als früherer SPD-Mann sofort nach der Machtergreifung durch die Nazis bei der NSDAP meldete und dort derart eifrig war, dass er schließlich dazu ausersehen wurde, die besetzte polnische Bevölkerung zu knechten? [...] Wie ist es möglich, dass ein solcher „Genosse“ eine Stellung im Ministerium innehaben kann und sich damit noch brüstet? [...] Mit solchen Strolchen muss aufgeräumt werden!« Er regte sich noch über die Westkontakte des vermeintlichen Eindringlings auf, der scheinbar ebenfalls der SED angehörte, und wandte 275 276 ZA I 11494, A. 13, Notiz, vom 30.04.1948. So hieß es in einem Beschwerdebrief aus dem Landkreis Luckau an die Zentrale Kontrollkommission: »Wie kann es möglich sein, dass in letzter Zeit aktive Nazis in Amtsstellen kommen, während unsere verdienten Antifaschisten ohne Arbeit sind?« Siehe: DY 30 / IV, 2/5/201, Bl. 82, ZKK, an Zentralsekretariat, Abteilung Landespolitik, Plenikowski, vom 15.02.1949. Jens Kuhlemann – Braune Kader 65 sich mit seiner Beschwerde auch an das MdI und das MfS.277 Bemerkenswert, aber kaum nachprüfbar ist die Art der politischen Belastung, die hier geschildert wurde. In Verbindung mit einem Renommiergehabe über den kürzlich erklommenen Status brachte sie den Anzeigenden regelrecht zur Weißglut. Manchmal gingen bei den Ministerien Warnungen vor ehemaligen Nationalsozialisten und NS-Sympathisanten ein, obwohl gar keine entsprechende Bewerbung und auch kein Beschäftigungsverhältnis vorlag. Dabei handelte es sich um Präventivmaßnahmen, Verwechslungen oder Unkenntnis darüber, welche Dienststelle unmittelbar zuständig war. Die Eingaben konnten sich auch auf das NS-Engagement von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten beziehen. Die Durchleuchtung des persönlichen sozialen Umfeldes war ja bei den Personalverantwortlichen ebenfalls eine geläufige Methode. Man glaubte, dadurch Anhaltspunkte für die geistig-politische Einstellung der Angezeigten zu finden. Ein anonymer Schreiber führte beispielsweise über einen angeblichen Bewerber beim Ministerium für Industrie Folgendes aus: »Er war über 20 Jahre in der deutschen Bank [...] als Heizer und Portier tätig, auch in den Hitlerjahren, in der deutschen Bank galt nur der Hitlergruß und alles mußte in der Partei sein. Ob nun Herr K[...] in der Partei war, könnte ich nicht beschwören denn wir haben ihn nur außer Dienst gesehen ohne Abzeichen, aber er selbst sowohl seine Frau waren fanatische Nazi, ich weiß noch wie Mussolini befreit wurde durch die deutschen breitete die Frau die Arme aus und sagte ´es ist gerade als wäre ein Geschwür in uns aufgegangen so befreiend wirkt das auf uns, nun wird es auch wieder vorwärts gehen, so dergleichen Aussprüche hörte man öfter. [...] Die Tochter ganz Nazi, deren Mann meldete sich bei den Polizeitruppen S.S. und geriet auch dabei in jugoslawische Gefangenschaft und heute noch hören sie alle nur den Rias-Sender [...]. Herr K[...] war noch nie in einer Gewerkschaft, sie rühmen sich immer Arbeit ohne die Gewerkschaft bekommen zu haben und die SED hassen sie direkt [...]. Und sowas will sich nun in so einen Betrieb einschleichen, da denken sie dort bis 70 Jahre alt zu bleiben. Entschuldigen Sie bitte, daß ich meinen Namen nicht nenne, ich möchte schon und bin doch zu feige dazu, gelogen habe ich nicht.«278 Zur Erhärtung der Vorwürfe an den vermeintlichen Kandidaten dienten hier nicht nur die Vergehen der Verwandten, sondern hinzu kam kumulativ das pronazistische Klima an der alten Arbeitsstätte. Wer sich in einem solchen Milieu bewegte, musste dadurch beeinflusst worden sein, sich als Gleichgesinnter davon angezogen gefühlt und es vor allem auch selbst gestaltet haben – so die Suggestion. Der Anzeigende argumentierte voll und ganz in den geistigen Bahnen der Machtelite, als er Aspekte wie die Befürwortung des Krieges und der Politik des NS-Regimes mit anderen, zeitlich näheren Negativmerkmalen wie der jugoslawischen Kriegsgefangenschaft, der Affinität zum Westen und der Aversion gegenüber einer gewerkschaftlichen Bindung und der SED ergänzte. Dabei schien es dem Warnenden im Rahmen seiner „Sippenverurteilung“ gleichgültig zu sein, ob sie auf den eigentlich im Blickpunkt stehenden Bewerber zutrafen oder nur auf seine soziale Umgebung. Es sollte alles auf Ersteren zurückfallen. Am Ende ergab sich das Bild des „echten Nazis“, der uneinsichtig blieb und damals wie heute den Klassenkampf auf der Seite der Bourgeoisie und des Großkapitals führte. Das schloss die Gefahr von Sabotage und Spionage mit ein. Darüber hinaus schimmert beim Meldung Erstattenden das Motiv durch, dass es schlicht eine Ungerechtigkeit der Geschichte wäre, wenn es einem solchen NS-Aktivisten besser ergehen sollte als zum Beispiel einem Not leidenden Sozialisten. Es wird deutlich, welche Härte es für 277 278 Laut Auskunft des Bundesarchivs Aachen und nach Unterlagen des BDC gab es einen Reinhold oder Reinhard S., der als Wachtmeister bei einem SS-Polizeiregiment Dienst tat. Ob diese Person identisch mit dem im zitierten Schreiben erwähnten Reinhold S. war, konnte jedoch nicht zweifelsfrei festgestellt werden, siehe: DO 1 / 26.0, 17183, Otto K[...], an Ministerium für Maschinenbau, Zentrale Kaderabteilung, undatiert; BA Aachen; BDC, O. 431 III, S. 10. Das handschriftlich abgefasste Original ist stellenweise nur schwer entzifferbar, die Zitierung erfolgt daher ohne Gewähr, siehe: DO 1 / 26.0, 2462, s.v. „R“, [Anonymer Verfasser,] an das Wirtschaftsministerium, Personalabteilung, vom 28.6.1950. Jens Kuhlemann – Braune Kader 66 Gegner und Opfer des Hitler-Regimes bedeutete mitanzusehen, dass zahlreiche braune Enthusiasten in der DDR von Rechts wegen unbehelligt blieben und ihre Karrieren fortsetzen durften. Auch in anderen Fällen kam manchmal einfach das Anliegen zum Ausdruck, eine als unfair empfundene Situation zu beklagen. Der Schmerz, dass frühere Nationalsozialisten ein glücklicheres Lebenslos gezogen hatten, nahm dabei in Anbetracht der eigenen Not besonders bittere Züge an. Die Willkür des Schicksals, durch die manche vermeintliche oder tatsächliche Täter nach dem Krieg besser gestellt waren als viele Opfer, wirkte verheerend auf die Moral. Bestimmte Vorwürfe, mit denen sich einige Angestellten konfrontiert sahen, brachten das Fass in einer solchen Lage schließlich bildhaft zum Überlaufen. Dann packten sie in einem Rundumschlag aus, was ihrer Ansicht nach alles an Missständen existierte, jedoch bislang unbeanstandet geblieben war. Dazu zählte auch das „Anschwärzen“ von NS-Belasteten. Oder Mitarbeiter versuchten, wenn sie in die Enge getrieben wurden, ihre eigenen Verfehlungen zur Zeit der Hitler-Diktatur dadurch zu relativieren, dass sie sie mit denen anderer Personen verglichen. Wer sich dabei selbst als Opfer immer noch Schaden verursachender und Cliquen bildender Altnazis schilderte, handelte frei nach dem Motto „die wahren Schuldigen laufen frei herum und mich Leidtragenden will man hängen“.279 Der Schuldmaßstab war dabei nicht auf kleinere Vergehen begrenzt, sondern darauf angelegt, vor dem Hintergrund der totalen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die Pgs. als quasi auf ewig „uneinholbar schuldig“ Gewordene abzustempeln. Alle anderen Taten sollten davor verblassen. Besonders umfangreich scheinen solche Anklagen gewesen zu sein, wenn die Agitatoren wegen einer Entlassung oder eines Parteiausschlusses praktisch nichts mehr zu verlieren hatten und sich in ihrer Ehre gekränkt fühlten. Das heißt aber auch, dass die kritisierten Umstände schon vorher bekannt, aber den Staats- und Parteiorganen nicht mitgeteilt worden waren. Wahrscheinlich hatte die Furcht vor Nachteilen am Arbeitsplatz ein solches Schweigen bewirkt. Doch wie reagierten die Kaderverantwortlichen, wenn Anzeigen bei ihnen eingingen? Welche Auswirkungen hatten sie für die Angezeigten? Hinweise auf NS-Belastungen, die den Personalleitungen unbekannt waren, wurden zunächst einmal mit möglichst großem Aufwand überprüft. Die zuständige Personalabteilung und gegebenenfalls die SED-Betriebsgruppe gaben eine Beurteilung ab. Die Kaderakte wurde aufs Genaueste durchgesehen und jeder Unklarheit nachgegangen. Von den Mitarbeitern oder Bewerbern genannte Bürgen sollten Stellungnahmen abgeben. Schließlich versuchten Rechercheure an jetzigen und ehemaligen Arbeitsplätzen und Wohnorten zielgerichtet Informationen zu erhalten. Als glaubwürdige Informanten dienten besonders Mitglieder und Sympathisanten der SED, da bei diesen die Gefahr einer Desinformation der staatlichen Stellen am geringsten erschien. Von Nutzen war dabei die Registrierung früherer Nationalsozialisten, die anscheinend zumindest den sogenannten Hausobmännern bekannt gegeben wurde. Hausbewohner und Arbeitskollegen erteilten Auskunft über das vor und nach 1945 bemerkbare politische Engagement, die Organisationszugehörigkeit, Ausübung bestimmter Funktionen und das Verhalten gegenüber Mitmenschen. Am Ende dieser Prozedur folgten Sanktionen für die Angezeigten, wenn den Behörden gegenüber bis dato verschwiegene Belastungen zur Kenntnis kamen bzw. sich Anzeigen als wahr herausstellten oder bekannte Tatbestände auf einmal in einem anderen Licht erschienen.280 Die Kaderverantwortlichen schufen sich dabei stets ein regelrechtes Mosaik aus Informationen und verließen sich nicht nur auf eine einzige Quelle. Wenn mehrere Seiten die Anschuldigungen bestätigten, sie für denkbar hielten oder nicht entkräfteten, waren im Rahmen einer kaderpolitischen Gesamtbetrachtung negative Folgen für die in Rede Stehenden wahrscheinlich. Bei einer Beibehaltung der Angezeigten in ihren 279 280 Siehe die Ausführungen einer aus der SED ausgeschlossenen und offenbar entlassenen Mitarbeiterin einer HO-Personalabteilung, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 116. Vgl. die offensichtlich ohne Konsequenzen bleibende Beschwerde gegen einen Chemiker, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 117 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 67 Funktionen blieb den Beschwerdeführern kaum etwas anderes übrig, als die anhaltende Passivität der Behörden ohnmächtig zur Kenntnis zu nehmen. Die Möglichkeit, sich an die Medien zu wenden, so wie es in der Bundesrepublik geschah, entfiel wegen der Zensur durch die SED. Entlassungen, Versetzungen etc., die nicht aus Groll gegenüber den betreffenden Mitarbeitern veranlasst wurden, sondern allein zur Beruhigung eventuell aufgebrachter Kollegen, sind nicht bekannt, ebenso wenig Maßnahmen, um Anzeigende zum Schweigen zu bringen. Ein Beispiel für eine mehrfach bestätigte NS-Belastung samt Entlassung infolge einer Anzeige ist das eines bei der Deutschen Wirtschaftskommission beschäftigten Fahrers. Ein ehemaliger Arbeitskollege von ihm schrieb an die DWK, der Kraftfahrer sei ein äußerst aktiver Pg. bei der Firma Daimler-Benz gewesen. Die Wirtschaftskommission gab dem Meldung Erstattenden daraufhin auf, einige Zeugen namhaft zu machen. Nach einigen Bemühungen gelang es, drei Zeugen, unter anderem einen DWK-Angestellten, zu benennen. Man kann spekulieren, warum die Zeugen, insbesondere der DWK-Mitarbeiter, nicht schon vorher die Initiative ergriffen hatten. Vielleicht hatten sie eine in gewissem Maße ablehnende Haltung zur politischen Säuberung und wollten nicht aktiv „anschwärzen“, konnten sich der direkten Anfrage, als Zeugen zu fungieren, aber auch nicht entziehen. Vielleicht waren sie selbst nicht reinen Gewissens, vielleicht wussten sie auch nichts von dem Kraftfahrer, fanden den Versuch der Entfernung aber gerechtfertigt. Zur Person des bei Daimler-Benz als Kontrolleur beschäftigten S. hieß es: »Einen seiner eigenen Parteigenossen [...] hat er bei der Gestapo denunziert, weil er sich irgendwelche Äußerungen gegen das System zuschulden kommen ließ und angeblich Sabotage getrieben haben soll. Aufgrund dieser Denunziation wurde dieser Kollege verhaftet, nach kurzer Zeit aber wieder freigelassen, weil, wie er mir selbst sagte, als Pl[us] für ihn gewertet wurde, daß er bei der Wehrmacht Unteroffizier war und das E.K. erhalten hatte. Die Tatsache, daß er von dem S[...] denunziert worden ist, hat dieser Kollege mir selbst mitgeteilt. Kurz vor dem Zusammenbruch, etwa Anfang 1945, denunzierte S[...] einen Ingenieur der Halle 2 [im Daimler-Benz-Werk] namens Z[...] bei der Gestapo wegen staatsfeindlicher Äußerungen. Daß Z[...] nicht verhaftet wurde, hatte er nur dem Umstand zu verdanken, daß sein Vater in der Direktion der Daimler-Benz AG in Untertürkheim starken Einfluß hatte und durch diese Verbindungen die Angelegenheit nicht zum Schaden für Z[...] ausfiel. Mir selbst gegenüber nahm er stets eine äußerst aggressive Haltung ein, weil ihm meine Einstellung bekannt war. Er trug nachweisbar das Parteiabzeichen der NSDAP.« Der Fahrer wurde schließlich aus der DWK entlassen.281 Viele der in den Anzeigen genannten Belastungen gingen nicht auf formale Mitgliedschaften in NS-Organisationen zurück und ließen sich daher meistens noch schwieriger beweisen als eine NSDAP-Zugehörigkeit. Sie betrafen oft Verhaltensweisen und Aussprüche, die eine Verbundenheit mit dem Hitler-Regime nahelegten und im Gegensatz zu einer angeblichen Opposition und Entfremdung standen. Oftmals waren solche Tatbestände auch nicht im Zuge der Entnazifizierung zutage getreten, zum Beispiel weil aussagewillige Zeugen nicht rechtzeitig ausfindig zu machen waren. Das wirft die Frage auf, wie stichhaltig die Beschuldigungen eigentlich waren. Trafen sie zu, waren sie das Ergebnis unterschiedlicher Maßstäbe oder frei erfunden? Wenn sich Angestellte ihrer Meinung nach ungerechtfertigt mit politisch belastenden Vorwürfen konfrontiert sahen, wehrten sie sich vehement gegen üble Nachrede. Sie seien aus Neid, persönlichem Argwohn und privaten Fehden entstanden.282 Ob es sich tatsächlich um Verleumdungen handelte oder nicht, war in so manchen Fällen für Außenstehende weder damals noch heute restlos aufzuklären. 281 282 DO 1 / 26.0, 6080, Arthur D[...], an DWK, Personalabteilung, vom 04.12.1948. Die Ex-Ehefrau des SA-Mitglieds und DWK-Oberreferenten Franz H. übermittelte der ZV Industrie im Januar 1947 persönlich Informationen, um ihn zu diskreditieren. Die Zentralverwaltung vermutete, dass dies auf Hassgefühle zurückzuführen war, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 118. Jens Kuhlemann – Braune Kader 68 Hin und wieder kamen die Behörden der SBZ/DDR jedoch trotzdem zu dem Ergebnis, dass bestimmte Anklagen, eine aktivere Rolle im Nationalsozialismus gespielt zu haben, nicht den Tatsachen entsprachen oder nicht beweisbar waren. Über einen ehemaligen DVdIMitarbeiter, der 1950 von der Leitung der Volkspolizeischule in Eggesin entbunden wurde, berichtete ein Angehöriger des Ministeriums des Innern, dass seine »Entlassung aus der Volkspolizei auf Grund von Intrigen erfolgte.« Der Anlass dafür war, dass die Frau eines Polizeioffiziers einem Beauftragten der Sowjetischen Kontrollkommission mitgeteilt hatte, »daß sie Ph. während des Krieges in Berlin im Kreise von SS-Leuten, ebenfalls als SSAngehöriger, gesehen habe. Er sei seinerzeit von der Ostfront nach Berlin befohlen worden, um dort Ausrüstungsgegenstände für ein neu einzurichtendes KZ einzukaufen. Sie hätte auch Zeugen hierfür. Einer Aufforderung, die Zeugen zu benennen, bezw. glaubwürdige Unterlagen zu erbringen, konnte sie nicht Folge leisten, angeblich, weil der infragekommende Zeuge es ablehne, da ohnehin genug solcher Leute in der VP wären.« Der MdI-Mitarbeiter schenkte dem Angeklagten Glauben, dass es sich hierbei um eine Intrige mehrerer mit der Volkspolizei in Verbindung stehender Personen handelte, von denen einige angeblich zum Zeitpunkt der Berichterstattung bereits entlassen waren.283 Der Grund, gerade diese Art von Beschuldigung zu gebrauchen, lag auf der Hand: Die Verschwörer wussten ganz genau um die politische Wirkung solcher Vorwürfe und benutzten die „Faschismuskeule“, um eine unliebsame Person zu Fall zu bringen. Dabei gereichte den Ränkeschmieden die Neigung der Personalverantwortlichen zum Vorteil, unbewiesene Verdächtigungen aus Vorsicht auch kurzfristig zum Anlass von Sanktionen zu nehmen. Stellten sich die Behauptungen oder Zeugen jedoch im weiteren Untersuchungsverlauf als nicht glaubwürdig heraus, kam es in der Regel zu einer Rehabilitierung. Die Zahl falscher Schuldzuweisungen hat sich wahrscheinlich in Grenzen gehalten, weil sie zu Bestrafungen der Anzeigenden führen konnten.284 Wenn Beschuldigungen aber tatsächlich mit böser Absicht aus der Luft gegriffen oder zumindest entstellt wiedergegeben wurden, um Arbeitskollegen zu mobben oder anderen anderweitig zu schaden, dann lernen wir daraus, dass bereits ein Gerücht oder ein aufgrund – verfälschter – Beweismittel erhärteter Verdacht geeignet war, erhebliche Konsequenzen nach sich zu ziehen. Der Beweis musste nicht eindeutig sein. Indizien und fehlende Gegenbeweise konnten ausreichen, um zumindest Schwierigkeiten zu verursachen.285 Ein weiteres Beispiel von Beschuldigung und Gegenbeschuldigung aus der zentralen staatlichen Verwaltung der SBZ betraf einen prominenten Funktionär. Es handelte sich um den Vorsitzenden der Zentralen Deutschen Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme, Fritz Lange. Er entließ 1946 wütend eine seiner Mitarbeiterinnen, wohl weil deren geschiedener Mann, der 1928-1934 Mitglied der SS und NSDAP war und dann ausgeschlossen wurde, behauptete, dass seine damalige Frau ihn wegen Abhörens feindlicher Sender ins Zuchthaus gebracht hatte. Wie die Gekündigte meinte, handelte es sich hierbei um eine böse Verleumdung ihres ehemaligen Gatten. Um die als ehrenrührig empfundene Kündigung rückgängig zu machen und offenbar auch um sich zu rächen, schrieb sie an Walter Ulbricht und beschuldigte ihrerseits Fritz Lange! Die entlassene Mitarbeiterin teilte Ulbricht mit, ein Freund Langes aus der Tschechoslowakei habe diesem einen Brief geschickt, der sich zuletzt in ihrem Besitz befand. Sie zitierte daraus: »Lieber Fritz! Von [...] hörte ich nach längerer Zeit wieder etwas von Dir und war nicht wenig erstaunt, als ich von Deiner Funktion als Präsident einer Sequesterkommission erfuhr. Sag mal, alter Nazi, wie hast Du denn das 283 284 285 DO 1 / 26.0, 17183, [MdI,] HA Personal, Abteilung Kader, Seiferth, betr.: Ergebnis des persönlichen Gesprächs mit Koll. Ph[...], vom 27.05.1953, S. 1 f. Vgl. DY 30 / IV, 2/2.027/4, Bl. 73, 75, 82-84; vgl. ebd., Bl. 103: Betroffen war ein angeblicher Denunziant, Freund Hermann Görings und Fluchthelfer Joachim von Ribbentrops. Siehe in diesem Zusammenhang auch den ausführlich dargestellten Fall eines ehemaligen Reichspostangehörigen aus Ostpreußen. Er wurde seiner Meinung nach völlig zu Unrecht von einem Kollegen angezeigt, der angeblich selbst NS-Belasteter war, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 119-123. Vgl. hierzu Fälle aus dem Eichamt Görlitz und dem DAMG Weida, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 123 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 69 gemacht? Du wirst doch nicht ableugnen, dass ich Dich und viele andere Kameraden hier nur als Kriegstreiber kenne. Als Leiter der Flugmotorenwerke warst Du bekannt dafür, den kleinen Mann immer zu übersehen. Wir denken noch mit Neid Deiner dickbelegten Speck- und Butterwecken, die Du von Faschisten als grosser Mann zugesteckt erhalten hast und die Du nur alleine zynisch-grienend verschlungen hast. Aber dessen ungeachtet denke auch mal, wenn es Dir im Roten Reiche gutgeht an Deine alten Kämpfer.« Eine „Briefbombe“ mit ganz besonders explosivem Inhalt. Die Gekündigte schrieb weiter: »Dieser Brief kam Dr. Lange abhanden und er war sehr erregt und bemüht ihn wiederzufinden. Er äusserte sich zu mir mit folgenden Worten: „der Brief muss her!; er kann mir politisch das Genick brechen!“« Schließlich fand die Mitarbeiterin den Brief nach einigen Tagen. Darüber hinaus soll Lange vorgehabt haben, einem Mann, der nach Angaben des ZDKS-Vorsitzenden „Nazi“ gewesen sei, zur Entnazifizierung zu verhelfen und ihn dann in die zentrale Sequesterkommission hineinzubringen. Lange habe sich außerdem sowjetkritisch geäußert sowie gesagt, kein Kommunist zu sein und dass es besser gewesen wäre, in die CDU zu gehen.286 Der „Freund“ richtete seine Worte an den Kommissionsvorsitzenden direkt und couragiert, dabei mit einem zynischen und spöttischen Unterton, ja geradezu burschikos und jovial. Es scheint, als sei er sich der Bedeutung seines Schreibens für Langes Karriere vollauf bewusst gewesen, als ob er geradezu die Macht genoss, die er durch eine entsprechende Enthüllung ausüben konnte, oder diejenige, die in der nicht ausgesprochenen, aber implizierten Drohung steckte, es jederzeit tun zu können. Inhalt und Stil verfehlten ihr Ziel nicht. Lange verfiel, wenn man der Anzeigenden Glauben schenkt, regelrecht in Panik. Mehrere Zeugen, die ihn nicht nur als Nazi-Kollaborateur, sondern sogar als „Kriegstreiber“ beschreiben konnten, hätten das Aus für sein Amt als Spitzenfunktionär bedeutet. Diesmal ging der Brief noch an Lange selbst, um seine einschüchternde Wirkung zu entfalten. Doch schon beim nächsten Mal hätte er, wie die anderen in diesem Kapitel skizzierten Protagonisten, sich unmittelbar an die zuständigen Behörden wenden können. Dann wäre jeder Vertuschungsversuch zu spät gekommen. Der letzte Satz des zitierten Briefes ist schließlich ein relativ eindeutiges Indiz für die zugrunde liegende erpresserische Motivation. Lange sollte sich nun, da er in der SBZ an den Fleischtöpfen saß, für das weitere Schweigen des ehemaligen Mitarbeiters erkenntlich zeigen. Die gekündigte Angestellte sah am Ende jedoch keinen Grund mehr, sich ebenfalls zurückzuhalten, erstattete Meldung und ergänzte das Ganze noch mit einigen Stützargumenten, die helfen sollten, Lange als faschistophilen, bürgerlichen Opponenten der SED und der Arbeiterklasse abzustempeln. Inwieweit all diese Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen und welche Folgen sie hatten, dazu liegen leider keine zusätzlichen Quellen vor. Ein Karrierebruch blieb auf jeden Fall aus. Doch die Möglichkeit, das Wissen über eine NS-Verstrickung als kompromittierendes Druckmittel einzusetzen und Nutzen daraus zu ziehen, wird überaus deutlich. In einem anderen Fall, dem des Schulrates und Berliner Abgeordneten Georg Wolff, der kein NSDAP-Mitglied war, spitzte sich die Lage in diesem Zusammenhang anscheinend zu. Einige Führungskader der Verwaltung und der SED mussten sich wiederholt Kritik gefallen lassen, was ihre personalpolitischen Pläne anbelangte. Der Präsident der Deutschen Verwaltung für Volksbildung, Paul Wandel, sah sich 1949 schließlich veranlasst, an Otto Grotewohl zu schreiben, es seien »ernste Bemühungen im Gange, seine Belastung aus der Nazizeit zu einer stärkeren Misskreditierung gegen uns auszunutzen«, nachdem die Presse ihn als Kandidaten für die Funktion des Staatssekretärs im neuen Ministerium für Volksbildung handelte. Die Besetzung dieser hohen Position und die dadurch größere Verbreitung der Personalie begünstigten natürlich, dass Anzeigewillige über die Medien Kenntnis erhielten 286 Die Entlassene hat den Brief aus der Tschechoslowakei wegen der Länge des Zitats und der sehr eigenen Wortwahl offensichtlich nicht dem Sinn, sondern tatsächlich dem Wortlaut nach wiedergegeben, siehe: BStU, AU 307/55, Band 5a, Bl. 15-17, [Mitarbeiterin des ZDKS-Vorsitzenden,] an das Zentral-Sekretariat der SED, Ulbricht, vom 17.08.1946 (Abschrift) Jens Kuhlemann – Braune Kader 70 und die Initiative ergriffen. Ob Wandel Unruhe an der Basis oder sonstige Erpressungen fürchtete, ist aus der zitierten Stelle nicht ersichtlich. Bereits 1946 hatte ein freier Mitarbeiter der DVV an den Präsidenten des Volksbildungsressorts geschrieben, dass Wolff über Aufsätze und Buchempfehlungen, etwa zur rassenpolitischen Unterrichtspraxis, viel zur Verbreitung und Festigung des Nationalsozialismus beigetragen habe: »Wolff war bis 1933 Vorsitzender des Deutschen Lehrervereins und hat ihn mit seine[n] über 120.000 Mitgliedern widerspruchslos und ohne Zögern dem Nationalsozialismus zugeführt. Und er tat das mit Begeisterung, denn er schrieb über die Gründung des NS-Lehrerbundes [...] in der „Deutschen Schule“ 1933 [...]: „Es war selbstverständlich, dass die Tagung zugleich zu einem Bekenntnis zu den politischen Ideen der neuen Bewegung wurde, die durch die Regierung des Volkskanzlers Hitlers Wirklichkeit geworden ist. Der tiefste Sinn der Tagung war das Bekenntnis zum Volk und zu den Fundamenten unseres deutschen Volkstums.“ Und obgleich Wolff jahrelang den D[eutschen] L[ehrer-] V[erein] nach demokratischen Grundsätzen und in parlamentarischen Formen geleitet hatte, scheute er sich nicht, zu schreiben: „Es galt die Ablehnung aller demokratischen Methoden und der Wille zum Führerprinzip.“ [...] Mich treibt keine persönliche Feindschaft zu dieser Darlegung. Aber in meiner Eigenschaft als Personalreferent der Volksschulabteilung von 1920 bis 1933 habe ich seinerzeit den Lyzeallehrer Wolff, dessen Kenntnisse und geistige Beweglichkeit ich schätze, in Verkennung seines Charakters zur Ernennung als Schulrat vorgeschlagen. Den Fehler, den ich damit beging, möchte ich jetzt korrigieren, zudem: Wolff ist jetzt als Mitglied der LDP Mitglied der Stadtverordneten Berlins und es besteht die Gefahr, dass er auf diesem Wege Einfluss auf das Berliner Schulwesen erhält. Das darf nicht sein. Für den Neubau unserer Schule ist Wolff weder als Schulrat noch als Lehrer, noch in der gemeindlichen Selbstverwaltung geeignet. Er muss aus der pädagogischen Arbeit ehestens endgültig verschwinden.«287 Der Anzeige erstattende Ex-Ministerialrat gab also als Handlungsmotiv ein schlechtes Gewissen an. Er wollte eine NS-förderliche Amtstat, die er selbst zu verantworten hatte, wiedergutmachen. Sein Vorstoß gegen eine Karrierefortsetzung Wolffs, der seinerzeit einem mitgliederstarken Pädagogenverband vorstand, erfolgte nicht aus zwischenmenschlichen Gründen. Im Gegenteil wurde die Wertschätzung bestimmter Charakterzüge betont. Der Berliner Stadtverordnete sollte vielmehr aus prinzipiellen politischen Erwägungen nicht mehr auf das Volksbildungswesen einwirken können. Die Beispiele in diesem Kapitel erlauben einen recht vielfältigen Einblick in Motive, zugrunde liegende Tatbestände, Reaktionen und Auswirkungen von Anzeigen, die eine NSBelastung zum Gegenstand hatten. Hervorheben möchte ich noch einmal die interessante Beobachtung, welch brisantes Wissen die Anzeigenden besaßen und bereit waren mitzuteilen. Es waren Informationen, die die Behörden noch nicht kannten oder die sie gerne für sich behalten hätten. In manchen Fällen war eine Anzeige eines der wenigen Mittel, um Protest gegen die Personal- und Wiedereingliederungspolitik von Staat und Partei zu erheben oder divergierende Meinungen dazu zu artikulieren. In anderen Situationen ging es um Rache, Intrigen und Erpressung. Dabei handelte es sich lediglich um die Spitze eines Eisbergs. Nur erahnen lässt sich, wie viele NS-Vergehen ostdeutscher Kader bekannt waren, aber nie ans Tageslicht kamen. 287 NY 4090 / 397, Bl. 49-51, DVV, Wandel, an SED, Grotewohl, vom 06.10.1949, darin enthaltene Anlage: G. M[...], an Wandel, vom 22.12.1946 (Abschrift). Jens Kuhlemann – Braune Kader 1.5 71 Personalbestand und Fachkräftemangel Die Reparationsleistungen an die UdSSR bestanden zur Zeit der Deutschen Wirtschaftskommission in ganz überwiegendem Maße aus beschlagnahmten Waren, die aus der laufenden Produktion in der sowjetischen Besatzungszone stammten, und nicht mehr aus demontierten Industrieanlagen. Allerdings führten neben dem Mangel an Produktionsmitteln und dem kaum noch leistungsfähigen Verkehrsnetz die teilweise sehr umfassenden Entlassungen im Rahmen der Entnazifizierung zu Störungen der Betriebsabläufe.288 Umso größer war das Interesse an der Wiedereinstellung NS-belasteter Spezialisten ab 1948/49, auch vom materiellen Standpunkt aus gesehen. Besonders dringend war der Bedarf an hochqualifizierten Spitzenkräften, die von „normalen“ Fachleuten zu unterscheiden waren, von denen es quantitativ keinen größeren Mangel in der SBZ gab.289 Doch der politische Wille zur durchgreifenden Säuberung der nationalsozialistisch verstrickten Dienstklasse schuf schon zu Beginn der Entnazifizierung einen erheblichen Mangel an funktionalen Eliten. Neben der Repression dieser Schicht verschärfte ihre Abwanderung in den Westen den fachlichen Aderlass. Dadurch verschlechterten sich auch die Möglichkeiten eines Wissenstransfers auf den potenziellen Expertennachwuchs. Die Reproduktion der Funktionseliten wurde gehemmt. Alles in allem bewirkte die massenhafte Übersiedlung nach Westdeutschland enorme Verluste an Qualifikation und Leistungsfähigkeit. Etliche Spezialisten wurden darüber hinaus in die Sowjetunion gebracht, vor allem aus der Wirtschaft. Da solche Fachkräfte auch in der staatlichen Verwaltung sehr gefragt waren, tangierte ihr Abgang nicht nur die Produktionsbetriebe. Aus dem skizzierten „brain drain“ resultierten auf der anderen Seite Aufstiegschancen für die Verbliebenen.290 In diesem Zusammenhang zwang die offene Grenze zur ökonomisch gedeihenden Bundesrepublik die Machthaber zu größerer Rücksichtnahme auf bürgerliche Kräfte. Daher betrieb sie gegenüber der alten Intelligenz eine Politik der Zugeständnisse. Ihre zu schnelle Ausschaltung hätte die Krisensituation der Aufbauphase andernfalls erheblich verschärft.291 Dabei herrschte in der SBZ eigentlich ein allgemeiner Arbeitskräfteüberschuss. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre stieg der Anteil der berufsqualifizierten Personen vor allem durch hereinströmende Kriegsheimkehrer und Heimatvertriebene an. Trotzdem ließen sich die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes nicht befriedigen. Denn es gab zum Beispiel ein Überangebot an Büro- und kaufmännischen Berufen bei gleichzeitiger Unterversorgung mit Facharbeitern in der Industrie- und Bauwirtschaft.292 Darüber hinaus konnten viele Fachkräfte wegen Mangel an Wohnraum und Verkehrsmitteln nicht immer dort eingesetzt werden, wo sie gebraucht wurden. Schließlich arbeiteten sie oft in fachfremden oder ineffektiven Positionen, 288 289 290 291 292 Die UdSSR hatte von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs am allermeisten unter der Zerstörung der heimischen Infrastruktur zu leiden. Ihr Interesse richtete sich deshalb frühzeitig auf Kompensationen wie die Demontage von Industrieanlagen. Hinzu kam die Beschlagnahme der laufenden Produktion in ihrer Besatzungszone. Sie betrug 1949 ein Fünftel der materiellen Gesamtproduktion (einschließlich der Sowjetischen Aktiengesellschaften), während Demontagen dann nicht mehr stattfanden. Dabei erreichte die SBZ Ende 1946 einen Produktionsstand von etwa 56% des Niveaus von 1936. Eine empirisch gesättigte Bilanz zu den Reparationsverlusten und Besatzungs- bzw. Bündnisverlusten der SBZ/DDR fehlt allerdings, siehe: Zank, Zentralverwaltungen, S. 253 f., 260, 272; Niethammer, Erfahrungen, S. 101. Zank, Wirtschaft, S. 49, 53-56, 58 f.; ders., Zentralverwaltungen, S. 253. Andere Experten nahmen die Westmächte vor dem Abzug aus den zeitweilig besetzten ostdeutschen Gebieten in ihre Besatzungszonen mit, teilweise auf freiwilliger Basis, siehe: Zank, Wirtschaft, S. 53; Jessen, Elitewechsel, S. 51; Kocka, Gesellschaft, S. 548. Der Loyalitätssicherung der älteren bürgerlichen Intelligenz dienten laut Oskar Anweiler beispielsweise „gewisse Privilegierungen bei der Studienzulassung der Söhne und Töchter aus diesen Kreisen“. Teilweise stützte die SED auch das elitäre Selbstverständnis bestimmter Berufsgruppen wie das von Wissenschaftlern und Ärzten, um nicht zuletzt eine Westflucht zu vermeiden, siehe: Anweiler, Hochschulpolitik, S. 84; Kleßmann, Relikte, S. 255 f.; Hübner, Einleitung, S. 19. Welsh, Wandel, S. 84. Jens Kuhlemann – Braune Kader 72 vor allem wegen der Entnazifizierung, aber auch aufgrund von demontierten und kriegszerstörten Betriebsanlagen oder fehlenden Produktionsmitteln. Anders als die Zahl der qualifizierten Fachleute stieg die der hochqualifizierten Kräfte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht an. Zwar befand sich in der SBZ anfangs ein äußerst kompetenter Stamm an Spezialisten, die vor 1945 kaum eine Einberufung zur Wehrmacht erhalten hatten. Der Mangel an hochqualifizierten Experten nahm so zumindest ganz am Anfang nur partielle Ausmaße an. Doch schon 1946 führte die kommunistisch geprägte politische Umwälzung auch in diesen Reihen zu Verlusten.293 Generell reduzierten die ideologisch begründeten Entnazifizierungsvorgaben, „bürgerlich-faschistoide Elemente“ zu entfernen und proletarischsozialistische zu fördern, das kaderpolitisch und längerfristig tatsächlich brauchbare Personalangebot erheblich – weit über das offizielle Ende der Entnazifizierung hinaus. Letztlich zog das Spannungsfeld zwischen den fachlichen Zwängen und den politischen Wünschen eine abgestufte Integrationspolitik gegenüber der alten Intelligenz nach sich, die dem Expertenmangel Tribut zollte. Eine Reinform der Stalin´schen Kaderkonzeption ließ sich auf diese Weise nicht realisieren.294 Um die öffentliche Versorgung in Gang zu setzen und am Leben zu halten, musste also in der Transformationsphase vom Nationalsozialismus zur DDR auf bürgerliche Experten zurückgegriffen werden.295 Häufig passierte das selbst dann, wenn sie kaderpolitisch nicht tragbar schienen. Unter ihnen befanden sich in vielen Fällen ehemalige NSDAP-Mitglieder, auch im zentralen Staatsapparat.296 Ideologisch war das kein Tabu. Schon Lenin hatte die Einbeziehung „klassenfremder“ Spezialisten zur Stabilisierung der Macht befürwortet und durchgeführt.297 Und so wie die Kommunisten in der SBZ/DDR hatten auch die Bolschewiki an einem Mangel an loyalen und geschulten Arbeitskräften gelitten. Deshalb kontrollierten sie die bis auf weiteres unverzichtbaren bürgerlichen Fachkräfte. Sie versuchten dabei auszuloten, inwiefern sie kooperativ und entwicklungsfähig waren. Führungspositionen im Verwaltungsapparat wurden jedoch gleich mit politisch zuverlässigen Kadern besetzt, trotz meist lückenhafter Bildung und fehlender Führungserfahrung.298 Analog mussten sich in der ostdeutschen Regierung die von der Machtelite als politische Gegner empfundenen Angestellten anpassen, oder sie kamen über den Status einer Übergangsdienstklasse nicht hinaus und erhielten schon nach relativ kurzer Zeit wieder ihre Entlassung.299 Von Beginn an sah die Politik der KPD/SED vor, bürgerliche Herrschaftsträger zu entmachten und neue Kader heranzuziehen. Das geschah zunächst zurückhaltend, dann immer offener.300 Das Risiko einer Beeinträchtigung der Elitenkooperation, hervorgerufen durch eine Konfliktlinie zwischen alten und neuen Führungskräften, ging sie ein.301 Entscheidend für den Spielraum der Kaderverantwortlichen war das Gegenangebot an politisch unbelasteten oder sogar vorteilhaften Kräften, die fachlich wenigstens die notwendigen Grundkenntnisse mitbrachten. Doch kurzfristig ließen sich solche Fachleute, die beruflich einen wirklich gleichwertigen 293 294 295 296 297 298 299 300 301 Zank, Wirtschaft, S. 42-44, 47, 57. Glaeßner, Herrschaft, S. 94. Bauerkämper, Bodenreform; Jessen, Professoren; Zwahr, Kontinuitätsbruch. Der stellvertretende DWK-Vorsitzende und Industrieminister Fritz Selbmann konstatierte 1949, dass man bis zur Ausbildung von genügend Ersatzkräften auf die alte technische Intelligenz angewiesen sei. Unter ihnen befanden sich demnach „fortschrittliche Intellektuelle“, die zahlenmäßig stärksten „neutralen“ Fachleute sowie „alte reaktionäre Kräfte, die dem Konzerndenken verhaftet sind“, siehe: Hübner, Manager, S. 70 f.; DO 1 / 26.0, 17554, s.v. „G“, [Staatliche Geologische Kommission,] Sasse, Arbeitsbericht 1952 der Staatlichen geologischen Kommission, vom 07.01.1953, S. 4. Wenzke, Wege, S. 222. Diese verwandelten sich schnell in eine „Kaste bürokratischer Kader“. Erst im zweiten Jahrzehnt nach der Machtergreifung war eine neue Sowjetintelligenz vorhanden, siehe: Müller / Hodnett, Kader, Sp. 456. DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 206 f.; DO 1 / 26.0, 17168, betr.: Amt für Wasserwirtschaft, [1953]; Boyer, Kaderpolitik, S. 15, 26. Boyer, Kaderpolitik, S. 11, 14 f. Bauerkämper, Elite, S. 27. Jens Kuhlemann – Braune Kader 73 Ersatz für die traditionelle Intelligenz darstellten, trotz großer Bemühungen nicht in ausreichender Zahl heranziehen. Eine adäquate Ausbildung und ein beruflicher Erfahrungsschatz erforderten eben viel Zeit.302 Außerdem stellte die Möglichkeit der Westflucht ein Faustpfand für die alten Fachkräfte dar, auf das die SED Rücksicht nehmen musste. Andererseits minderte die Abwanderung das Potenzial politischer Opposition in der SBZ/DDR. Die Forschung hat zwar mittlerweile festgestellt, dass die alten Eliten länger und zahlreicher wirkten als lange Zeit vermutet. Ähnliches galt für deren Milieutraditionen. Jedoch sind die sich daraus ergebenden Konsequenzen bisher kaum untersucht.303 Die Grenzen der Einbeziehung variierten je nach erlerntem Beruf und Einsatzgebiet. In der Justiz wurde mit der Ausbildung von Volksrichtern und Staatsanwälten in Sonderlehrgängen ein radikaler und vor allem sehr nachhaltiger Bruch vollzogen.304 Gleiches erfolgte bei der Polizei, die nur auf sehr wenige Beamte aus der Weimarer Republik und der NS-Ära zurückgriff.305 Extrem kurze Ausbildungszeiten von wenigen Monaten oder Wochen charakterisierte auch die Neulehrer.306 Gleichwohl war während der Formierungsphase der SBZ/DDR ein vollständiger Austausch der Dienstklasse im Schuldienst nicht möglich, ohne den Zusammenbruch der Unterrichtsversorgung zu riskieren. Bei den Lehrern musste deshalb ebenfalls auf ehemalige NSDAP-Mitglieder zurückgegriffen werden.307 Noch größer war nach 1945 der Mangel an politisch unbelasteten und zugleich fachlich hervorragenden Akademikern an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Folglich kam es zu einer „selektiven Reintegration“ nicht weniger Wissenschaftler aus dem „Dritten Reich“.308 Ähnlich sah es bei den Ärzten aus.309 Auf dem Land verfügten darüber hinaus die alten Gutsbesitzer noch längere Zeit nach ihrer Enteignung über einen gewissen Einfluss im dörflichen Milieu, und sei es nur aufgrund ihrer Autorität.310 Eine vergleichsweise moderate Säuberung fand in der Wirtschaft statt. In vielen Betrieben bewirkte das Streben nach Produktionssteigerung mindestens bis in die sechziger Jahre hinein, dass Führungskräfte und Pgs. unter den Fachleuten nicht rigoros ausgewechselt wurden. Dennoch schwächten sich die bürgerlichen Verwurzelungen auch dort ab.311 In der öffentlichen Verwaltung wurde zwar im Vergleich zur Wirtschaft stärker auf eine strikte Entnazifizierung geachtet. Dabei waren die Unterschiede zwischen der sowjetischen Besatzungsmacht und der KPD/SED meines Erachtens kleiner als manchmal vermutet.312 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 Selbst der DDR-Historiker Wolfgang Meinicke deutet den Fachkräftemangel und die kurzfristige Abhängigkeit von den alten Eliten an. Er schreibt, es standen nach Kriegsende „nicht genügend geeignete Antifaschisten zur Verfügung, die sofort die einzelnen Bereiche im Staatsapparat und in der Verwaltung übernehmen konnten“, siehe: Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 24. Niethammer, Erfahrungen, S. 100; Walter, Milieus, S. 489; Kocka, Sonderweg, S. 38; Noack, Eliten, S. 786; Kleßmann, Relikte, S. 256; Badstübner, Geschichte, S. 339; u.a. zu bildungsbürgerlichen Reminiszenzen bei Neulehrern siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 50 f., 65. Dennoch hatten KPD und auch SPD zu wenig Justizfachleute, siehe: Haferkamp / Wudtke, Richterausbildung; Hoefs, Kaderpolitik, S. 151. Schneider, Verwaltung, S. 213. Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 50. Roß, Eliten, S. 183; Mertens, Austausch. Jessen, Elitewechsel, S. 24; Glaeßner, Herrschaft, S. 306. Hockerts, Grundlinien, S. 525 f. Bauerkämper, Elite, S. 24. Schulz, Elitenwandel; ders., Elitenwechsel; Kleßmann, Staatsgründung, S. 83; Hübner, Manager; Bauerkämper, Elite, S. 23 f.; Kaelble, Gesellschaft, S. 566-568. So spricht Lutz Niethammer von den „pragmatischen Russen“ und den „ideologischen Deutschen“, weil die SED den weitgehend nationalsozialistisch belasteten öffentlichen Dienst relativ streng säuberte, während die Sowjets in den von ihnen beschlagnahmten Industriebetrieben einen „bemerkenswerten Pragmatismus in der Weiterbeschäftigung von Nazis“ zeigten, solange sie in ihrem Sinne funktionierten. Trotz der bewussten Überspitzung der Wortwahl würde ich in der Terminologie nicht soweit gehen. Zwar mögen die russischen Verantwortlichen eine graduell tolerantere Linie verfolgt haben. Was die unter ihrer Ägide stehenden Wirtschaftsunternehmen anbelangt, verfolgte aber auch die SED im Vergleich zur Verwaltung Jens Kuhlemann – Braune Kader 74 Doch in bestimmtem Maße waren sowohl nachgeordnete Verwaltungsdienststellen313 als auch der zentrale Staatsapparat auf bürgerliche und NS-belastete Kräfte angewiesen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Kaderabteilungen versuchten dabei, unter ihnen die möglichst politisch loyalen Mitarbeiter herauszusuchen und zu rekrutieren, was aber nicht immer den gewünschten Erfolg hatte.314 Dabei drängte es viele Fachleute, vor allem die exzellenten unter ihnen mit den meisten Arbeitsplatzofferten, nicht nur wegen der unterschiedlichen Säuberungsmaßstäbe gar nicht in den öffentlichen Dienst. Denn ihn kennzeichnete eine gewisse Unattraktivität. Zum einen war das Berufsbeamtentum inklusive Unkündbarkeit und Versorgungsprivilegien abgeschafft. Zum anderen bewegte sich die Bezahlung im Vergleich zur Wirtschaft auf relativ niedrigem Niveau. In der DWK führten Stellenplanstreichungen durch die SMAD im Zuge der Reorganisation im März 1948 mitsamt Herabsetzung des Gehaltsniveaus sogar zu Konflikten mit dem Sekretariat der Wirtschaftskommission.315 Schließlich zogen eine ungünstige Lebensmittelkarteneinteilung und fehlende Beziehungen, die ähnlich wie in Landwirtschaft, Handel und Industrie diverse Tausch- und Schwarzmarktgeschäfte begünstigt hätten, weitere Nachteile beim täglichen Überlebenskampf nach sich.316 Kennzeichnend für die sukzessiv nachlassende Säuberungsintensität und beginnende Wiedereingliederung ehemaliger Nationalsozialisten waren nicht nur die SMAD-Befehle 201 und 35 sowie die Gleichstellungsgesetze von 1949 und 1952. Hinzu kam die interne, ausdrückliche Unterordnung der Kaderpolitik unter den Primat der Wirtschaftsplanung auf der Konferenz von Werder. Ab 1950 stand die Personalpolitik dann im Zeichen des ersten Fünfjahrplanes.317 Die ökonomischen und machtpolitischen Konsolidierungszwänge nach innen sowie die Konfrontation mit dem westlichen Klassenfeind nach außen bewirkten eine Schwerpunktverlagerung innerhalb der Kaderpolitik. NS-Belastete mussten immer weniger den beruflichen und gesellschaftlichen Ausschluss fürchten, je mehr sie dazu bereit waren, sich für die Machtelite einzusetzen. Die anpassungsfähigen Bürgerlichen bildeten dabei zusammen mit dem jungen Kadernachwuchs eine Schicht, die nach Lutz Niethammer den Schlüssel zur Strukturgeschichte der DDR ab den sechziger Jahren darstellt: eine relativ homogene Generation mit staatsverbundener Aufstiegserfahrung und „exekutivem Aktivismus“, deren Schicksal unauflöslich mit dem Staatsobjekt verbunden und deren Erfahrung für jüngere nicht wiederholbar war.318 Um nun den Fachkräftemangel und seine Linderung in der DWK und DDR-Regierung zu beschreiben, ist ein Blick auf die allgemeine Personalentwicklung notwendig. Die folgenden Ausführungen sind darüber hinaus grundlegend für sämtliche Kapitel zu einzelnen kaderpolitischen Merkmalen. Beginnen wir bei den Planstellen und dem tatsächlich vorhandenen Personalbestand in der DWK und der DDR-Regierung.319 Ausweislich der aufgefundenen Statistikquellen arbeiteten in der Deutschen Wirtschaftskommission 4900- 313 314 315 316 317 318 319 eine zurückhaltende Denazifizierung. Auf der anderen Seite erhob die SMAD keinen Einspruch gegen die Ausrichtung der SED-Personalpolitik in der staatlichen Verwaltung – insbesondere auch die in der DWK und den Zentralverwaltungen –, sondern stimmte sie im Gegenteil eng mit den deutschen Genossen ab, siehe: Niethammer, Erfahrungen, S. 104; Kuhlemann, Teufel. Richert, Macht, S. 182. Kurt Koch, ehemaliges NSDAP-Mitglied und Direktoriumsmitglied der Deutschen Notenbank, äußerte 1951 zum Beispiel, es gebe „noch eine grosse Anzahl traditionsgebundener Kräfte“ in der Notenbank. Die personalpolitische Lage sei nicht gut gewesen. Bereits Bernd Niedbalski vertrat richtigerweise die These, dass die DWK ehemalige Beamte meistens nur bei positiver Einschätzung und wegen unentbehrlicher fachlicher Qualifikation berücksichtigte, siehe: DY 30 / IV, 2/11/174, Bl. 184; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 401; Kuhlemann, Teufel. DC 15 / 315, Bl. 7; DC 15 / 713, Bl. 20-23. Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 387. Boyer, Kader, S. 19, 28. Niethammer, Erfahrungen, S. 105. Quellenangaben hierzu sowie zu Stellen- und Gehaltsplänen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132. Jens Kuhlemann – Braune Kader 75 5900 Verwaltungsangestellte (ohne technische Kräfte).320 Das sind deutlich weniger, als die Forschung bislang angenommen hat.321 Ein leichter Rückgang der Beschäftigtenzahl zwischen dem Jahreswechsel 1948/49 und April 1949 war eine Folge der Währungsreform vom Juni 1948. Denn die „weiche“ Ostwährung machte den aufgeblähten SBZVerwaltungsapparat zu einem sehr kostspieligen Unterfangen.322 Wie schon auf der Konferenz von Werder gefordert, verfolgte die Deutsche Wirtschaftskommission daher die Einsparung von Personalkosten und den Abbau des Personalbestandes um mindestens 20% und erließ am 24. November 1948 eine entsprechende Verordnung. Damit sollte eine Effizienzsteigerung einhergehen.323 Im Ergebnis wurden an Personalstellen etwa 10% des reinen Verwaltungsapparates eingespart und an Besoldungsmitteln etwa 11%. Die Zielvorgabe der Personalsparaktion wurde also klar verfehlt.324 Der Personalrückgang zum Juni und zum Oktober 1949 ist primär das Ergebnis der sogenannten W-Aktion, auf die ich noch zurückkomme.325 In den DDR-Regierungsdienststellen stieg die Zahl der Verwaltungskader in den Jahren 1949-1957 dann von ca. 5300 auf über 18.500 an. Rechnen wir die technischen Angestellten noch hinzu, wuchs der gesamte Apparat sogar von fast 6500 auf ungefähr 23.500 Mitarbeiter.326 Eine gewaltige Expansion. Sie unterstrich die Kompetenzverlagerung von sowjetischen auf deutsche Stellen und die Zentralisierung der Staatsverwaltung. Das personelle Wachstum der Bürokratie war aber auch Ausdruck des Allzuständigkeitsanspruches, der Kontroll- und Regelungswut der SED.327 Die kaderpolitische Bedeutung der Planstellen wird durch überlieferte Zahlen zur Auslastung der Stellenpläne deutlich. So hat es bei den Verwaltungsangestellten der DDRMinisterien zunächst noch stärkere Schwankungen gegeben, 1951 und 1953 mit Minimalständen von 68% und 78%.328 Sie wurden in diesem Ausmaß durch eine parallel erfolgte Zunahme der Planstellen begünstigt. Von heute auf morgen waren neu genehmigte Arbeitsstellen natürlich nicht zu besetzen, so dass auf dem Papier kurzfristig eine größere Personallücke entstand. Dennoch spiegelt ein niedriger Auslastungsgrad insgesamt nicht nur punktuelle Planstellenerhöhungen wieder, sondern vor allem die grassierende Personalnot. Ab 1954 ließen die erwähnten Schwankungen dann nach und der Auslastungsgrad pendelte sich bei maximal 95% ein. Das galt zum Schluss auch für den Wert, der das sogenannte Fachpersonal und die technischen Kräfte einbezog und zuvor oft ein paar Prozentpunkte 320 321 322 323 324 325 326 327 328 Einige Quellen machen für dieselben Erhebungszeitpunkte leicht unterschiedliche Angaben. Es empfiehlt sich daher, die im Anhang bei Kuhlemann, Kader (2005) aufgeführten kopierten Originale abzugleichen. Eine grafische Darstellung siehe in: ebd., S. 132 f. (Abb. 1), dort auch weitere Quellenhinweise. In diesem Zusammenhang ist auf einen Brief von Wilhelm Pieck an die SMAD zu verweisen. Pieck schrieb, Ende 1948 hätte es in der DWK 6000 sogenannte „politische“ oder „Verwaltungsangestellte“ und noch einmal 3000 technische Angestellte gegeben. Zumindest die erste Zahl stimmt – wenn wir sie als aufgerundet betrachten – mit den Statistiken der HA Personalfragen und Schulung überein. Zur zweiten treffen sie keine Aussage, siehe: NY 4130 / 83, Bl. 22 f., W[ilhelm] P[ieck], an SMAD, Semenow, vom 11.12.1948. Zu Zahlenangaben bei Bernd Niedbalski und Wolfgang Zank siehe: Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 249; Zank, Zentralverwaltungen, S. 266; Kuhlemann, Kader (2005), S. 132, dort auch ein Kommentar zu den Vorgenannten; vgl. die Angaben zu den Personalbeständen in den Deutschen Zentralverwaltungen, in: Merker, Zentralverwaltungen, S. 61. Boyer, Bürohelden, S. 267 f.; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 395. Boyer, Kader, S. 20. DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 32 ff., [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert; DC 15 / 754, Bl. 10, 13; Zur Währungsreform in der SBZ siehe: Schneider, Kriegswirtschaft, S. 47; Boyer, Kader, S. 27; Amos, Justizverwaltung, S. 96 f.; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 385 f. Siehe Kapitel „Westkontakte“. Quellenangaben und Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 3), 133. Vgl. das Personal der HVA, das sich 1949-1951 von 31.000 auf 52.000 Personen vergrößerte, in: Wenzke, Wege, S. 247 f. Im Zuge der Restrukturierung der Regierungsdienststellen im Jahr 1958 kam es dann wieder zu einer Kürzung der Apparate, siehe: Richert, Macht, S. 263. Quellenangaben und Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 4), 133. Jens Kuhlemann – Braune Kader 76 höher lag als der für die reinen Verwaltungsangestellten.329 Bei den technischen Angestellten gab es eben ein weitaus günstigeres Personalangebot. Damit ist bereits aufgezeigt, dass die Rekrutierungsprobleme in den einzelnen Mitarbeiterschichten sehr uneinheitlich ausfielen. Bevor ich darauf weiter eingehe, ein Wort zur unterschiedlich starken Ausprägung der Hierarchie-Ebenen in den DDRRegierungsdienststellen. Es ist wichtig im Auge zu behalten, dass die Apparatsegmente im Laufe der Zeit verschieden groß waren. Eine Auswertung der prozentualen Anteile der einzelnen Positionshöhen am Gesamtpersonal 1950-1957 zeigt, dass sich zum Beispiel derjenige der leitenden Angestellten am Personalkörper fast verfünffachte (von 4 auf 19%).330 Darunter fielen unter anderem Hauptverwaltungs-, Hauptabteilungs-, Abteilungs- und Gruppenleiter. Diese Entwicklung könnte eine Folge der zahlreichen Umstrukturierungen und Neugründungen eigenständiger Regierungsorgane gewesen sein, die dann alle eigene Leitungskader hatten. Vielleicht gab es auch eine Zunahme der Beförderungen. Ebenfalls einen starken Anstieg verzeichnete die mittlere Ebene der Hauptreferenten, Oberreferenten und Referenten. Sie vergrößerte sich von 27 auf bis zu 44%. Fast halbiert wurde hingegen der Anteil der übrigen Verwaltungsangestellten. Die am unteren Ende rangierenden Hauptsachbearbeiter, Sachbearbeiter, Hilfssachbearbeiter, Sekretärinnen und Stenotypistinnen fielen von 68 auf 38%. Da der gesamte Personalkörper sich in den fünfziger Jahren stark vergrößerte und Prozentangaben daher täuschen können, sind die absoluten Zahlen zu berücksichtigen. Hier stiegen die zuletzt genannten „übrigen“ Verwaltungskader sogar von 4700 auf über 7100. Dieser Zuwachs nahm sich jedoch weit geringer aus als bei den höheren Verwaltungsebenen. Die absolute Zahl der Leitungskader verbuchte den stärksten Zugewinn und hatte sich bis Ende 1957 mehr als verzehnfacht (von 332 auf 3504).331 Nun zurück zum Auslastungsgrad auf den jeweiligen Hierarchie-Ebenen. Die aufgefundenen Statistiken verdeutlichen den anfangs eklatanten Mangel an fachlich überdurchschnittlich gebildeten und erfahrenen Kadern.332 Bis 1952 gab es den größten Personalmangel nämlich erwartungsgemäß bei den leitenden Angestellten mit einem Minimalwert von 40%. Am zweitschlechtesten sah es bei den mittleren Funktionen aus mit Niedrigstständen von bis zu 57%. Gerade in diesen beiden Segmenten führte der Spezialistenmangel zu einer Aufgabenhäufung und Überlastung der beschäftigten Kader. Die allgemeine Überarbeitung des Personals trieb wiederum die Zahl der Krankmeldungen in die Höhe.333 Laut Bernd Niedbalski begünstigte der Fachkräftemangel außerdem eine starke Fluktuation zwischen Partei- und Staatsapparat.334 Meines Erachtens galt das wohl für Spitzenfunktionäre. Das Gros der wechselnden Kader wanderte jedoch zur Wirtschaft. Am wenigsten Probleme mit der Personalbeschaffung hatten die Kaderabteilungen bei den unteren Verwaltungsangestellten und den technischen Kräften. Dort gab es zwar auch Minimalwerte von 77% bzw. 92%, zeitweilig aber auch eine Planstellenüberbesetzung mit 109% bzw. 329 330 331 332 333 334 Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 133 f. Selbst wenn wir berücksichtigen, dass die Hauptreferenten bis 1952 auch noch zu den Leitungskadern rechneten, ergeben sich für die dergestalt ergänzte Leitungsschicht in den Jahren 1950-1952 nur 10-17%. Die Prozentzahlen beziehen sich auf die Gesamtzahl der – auch vom MdI als solche definierten – Verwaltungsangestellten im engeren Sinne. Rechnen wir noch die technischen Kräfte und das sogenannte Fachpersonal zur absoluten Gesamtzahl hinzu, so ergeben sich für den Zeitraum 1950-1956 folgende Werte: Leitende Angestellte 4 auf 14% steigend, mittlere Funktionen 23 auf 34% zunehmend, übrige Verwaltungsfunktionen 57 auf knapp 30% fallend, technische Kräfte um 20% und Fachpersonal ca. 4%. Quellenangaben und grafische Auswertung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 6), 134. Quellenangaben und Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 5), 134. Quellenangaben und ein Diagramm samt Erläuterung siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 2), 134. Die Krankenstände lagen teilweise bei bis zu 11%, normal waren 5-7%, siehe: DO 1 / 26.0, 17480, 43/54/1/1. Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 388; auf nationaler Ebene soll es mehr Personalwechsel als auf der Kommunal- und Landesebene gegeben haben, siehe: König, Integration, S. 394. Jens Kuhlemann – Braune Kader 77 115%. Bei den höheren Hierarchie-Ebenen entspannte sich die Lage dann bis Ende 1957, zumindest statistisch. Zusammen mit den anderen Gruppen war auf relativ hohem Niveau ein Auslastungsgrad von 91-94% zu verzeichnen. Trotz eines insgesamt stark anwachsenden Verwaltungsapparates galt also: Je höher und anspruchsvoller die Position, umso schwieriger war die Personalbeschaffung und umso größer die Unterbesetzung. Der hohe Grad unbesetzter Planstellen in der DWK und in den frühen fünfziger Jahren in der DDR-Regierung ist ein Beleg dafür, dass an die vollständige Ausschaltung der in manchen Verwaltungszweigen hohen Präsenz bürgerlicher und NSbelasteter Fachkräfte anfangs nicht zu denken war.335 1.6 Quantitative Ausmaße der Beschäftigung ehemaliger Mitglieder der NSDAP, SA, SS und sonstiger NS-Organisationen Die Geschichte der Wiedereingliederung ehemaliger Nationalsozialisten in der SBZ/DDR ist nicht zu schreiben, ohne Aussagen über die Anzahl der im zentralen und sonstigen Verwaltungsapparat beschäftigten NS-Belasteten zu treffen. Waren sie gemessen an der Bevölkerung und der jeweiligen Berufsgruppe repräsentativ vertreten? Diese Frage ist essenziell für die Beurteilung der offiziellen Linie der sowjetischen Besatzungsmacht und der SED, die nominellen Pgs. zu integrieren und die aktivistischen weiterhin auszuschließen. Ihr Anspruch und seine Umsetzung stießen, wie bereits beschrieben, auf interne Widerstände und vereinzelten Protest. Inwiefern setzte die Kaderpolitik dabei das inoffizielle, das eigentliche Ausmaß der beruflichen und, eng damit verbunden, der gesellschaftlichen Resozialisierung fest? Zu bedenken sind vorab die demografischen Voraussetzungen. In der SBZ lebten 1945 circa 1,5 Millionen NSDAP-Mitglieder. Rechnen wir noch die Angehörigen der NSDAPGliederungen (SA, SS, NSKK, Hitlerjugend etc.) hinzu, ergibt sich zur gleichen Zeit die Zahl von rund vier Millionen.336 Die Gesamtbevölkerungszahl im Territorium der SBZ betrug gut siebzehn Millionen. Dabei kam es durch die hohe Zahl der Heimatvertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches einerseits und der Übersiedler, die nach Westdeutschland gingen, andererseits zu erheblichen Schwankungen und Austauscherscheinungen.337 Viele Bildungsschichten waren stark nationalsozialistisch kontaminiert. Dazu zählten beispielsweise Mediziner,338 Juristen339 und Lehrer.340 Der alte Staats- und Verwaltungsapparat war in besonders hohem Maße mit NSDAP-Mitgliedern durchsetzt gewesen. Wolfgang Meinicke nennt eine Größenordnung „zwischen 80 und 90 335 336 337 338 339 340 Boyer, Kader, S. 24 f., 49 f. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 53; Badstübner, Geschichte, S. 343; Welsh, Wandel, S. 81; vgl. Zank, Wirtschaft, S. 51 ff.; Wille, Entnazifizierung, S. 209 f.; vgl. die Zahl von ca. zwei Millionen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der SBZ in: DY 16 / 2786, NZ; nach Jürgen Danyel stellten die NSDAP-Mitglieder „rund ein Sechstel der Gesamtbevölkerung“ in der SBZ/DDR, siehe: Danyel, SED, S. 178. Zum sowjetischen Machtbereich sind darüber hinaus noch 1,2 Millionen Einwohner Ost-Berlins hinzuzurechnen, siehe: Weber, Geschichte, S. 325; Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1070 f. Zu Mitgliedschaften von Medizinern in NS-Organisationen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 136; Kleßmann, Relikte, S. 257 f.; Joseph, Nazis, S. 143. Zu Pgs. in der Justiz siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 136; Rössler, Aspekte, S. 143. Zu Lehrern, die der NSDAP angehörten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 136; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 113; Joseph, Nazis, S. 39. Jens Kuhlemann – Braune Kader 78 Prozent“ ehemaligen Pgs.341 In Thüringen, einer Hochburg der Nationalsozialisten, zählten während des NS-Regimes über 90% aller Angehörigen des öffentlichen Dienstes zur NSDAP, speziell im Verwaltungsapparat rund 96%.342 Die Entnazifizierung sollte zwar den gordischen Knoten lösen, sich an Wort und Geist der Säuberungsrichtlinien zu halten, ohne bei allen Berufsgruppen „tabula rasa“ zu machen und ohne die lückenhafte Versorgung der Bevölkerung gänzlich zu unterminieren. Doch die genannten Zahlen verdeutlichen, dass solche signifikanten Bevölkerungsschichten nicht dauerhaft auszugrenzen waren und es für die SED über kurz oder lang keine Alternative zur Integration gab.343 Über Neueinstellungen NS-Belasteter nach Erlass des Befehls 35 oder nach der Verabschiedung der Gleichstellungsgesetze liegen der Forschung dabei meist gar keine oder nur ganz vereinzelt Zahlen vor.344 Für den Bereich der staatlichen Verwaltung schließt sich diese Lücke im Weiteren etwas, so dass sich Aussagen zur Nachhaltigkeit der Entnazifizierung treffen lassen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Anteil der ehemaligen NSDAPMitglieder am Gesamtpersonal der Deutschen Wirtschaftskommission 1948/49 meist zwischen 1 und 2% lag.345 Der Vergleich der Wirtschaftskommission mit den drei Zentralverwaltungen, die unmittelbar vor der DDR-Staatsgründung noch eigenständig neben der DWK existierten, nämlich die Deutsche Verwaltung des Innern,346 die Deutsche Justizverwaltung347 und die Deutsche Verwaltung für Volksbildung,348 bringt ähnlich niedrige Beschäftigungsraten ehemaliger Nationalsozialisten ans Tageslicht. Im Zeitraum 1950-1957 schwankte die Zahl in der DDR-Regierung dann überwiegend zwischen 4,5 und 6%.349 Auf geringem Niveau stellte sich also eine leichte Steigerung ein. Dabei gab es zwar Verwaltungszweige, in denen sich NS-Belastete konzentrierten.350 Dennoch ist eindeutig, dass es sich bei der Gesamtheit der Pgs. im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR quantitativ um eine kleine Randgruppe handelte. Das gilt insbesondere auch im Vergleich zur nationalsozialistischen Staatsverwaltung oder der der frühen Bundesrepublik. Qualitativ oder politisch gesehen barg sie allerdings Sprengstoff. Deshalb konnten auch wenige ExNationalsozialisten in der Verwaltung bei entsprechend strengem Maßstab subjektiv betrachtet noch (zu) viele darstellen.351 Es sei dabei daran erinnert, dass nur sehr wenige Zeitgenossen den Umfang der beruflichen Wiedereingliederung NS-Belasteter kannten und 341 342 343 344 345 346 347 348 349 350 351 Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 24. Der Reichsdurchschnitt betrug 75% Pgs. in der Verwaltung, siehe: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 46; Welsh, Wandel, S. 46. Danyel, SED, S. 178. Bis zur Wende in der DDR standen überhaupt keine Angaben zur Verfügung. Helga A. Welsh vermutet, dass im Anschluss an das Gleichstellungsgesetz von 1949 kein größerer Rückstrom stattgefunden hat. Auch sie konnte keine offiziellen Daten ausfindig machen, siehe: Welsh, Wandel, S. 84 f., Zank, Wirtschaft, S. 51. Manchmal weisen die Quellen leicht unterschiedliche Angaben auf. So werden zum Beispiel für die DWK zum 30.6.1948 einmal 51 ehemalige NSDAP-Mitglieder und ein andermal 78 konstatiert. Solche Schwankungen haben aber keine größeren Auswirkungen auf die statistische Auswertung. Von März bis Dezember 1949 differenzieren die Statistiken der HA Personalfragen und Schulung bzw. des MdI zwischen einzelnen NS-Belastungskategorien. Doppelzählungen sind hier wahrscheinlich, also z.B. bei NSDAPMitgliedern, die zusätzlich in der SA waren, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f., dort insbesondere Abb. 7. Zu ehemaligen Mitgliedern der NSDAP, SA und HJ sowie Wehrmachtsoffizieren in der DVdI siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 137. Zu Pgs. in der DJV siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 138. Zu Angehörigen der NSDAP, SA, HJ und anderer NS-Organisationen in der DVV siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 138. Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (dort insbesondere Abb. 9), auf S. 138 auch detaillierte Quellenangaben. Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“. Vgl. Boyer, Bürohelden, S. 258 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 79 dadurch eine echte Beurteilungsmöglichkeit besaßen. Ferner lässt sich sagen, dass etliche der beschäftigten alten Fachleute nicht der NSDAP angehört hatten.352 Während die Kategorie „NSDAP“ in den Quellen zur DWK und DDR-Regierung zumindest bis Ende 1949 noch neben einzelnen anderen NS-Organisationen (SA, SS etc.) aufgeführt wird, steht sie ab 1950 alleine in den Personalstatistiken. Gliederungen oder angeschlossene Verbände der NSDAP tauchen nicht mehr auf. Das wirft die theoretische Frage auf, ob die Personalabteilungen nicht nur die unmittelbare Parteimitgliedschaft als „NSDAP“-Zugehörigkeit betrachteten, sondern auch eine Mitgliedschaft in den Gliederungen der NSDAP. Wurden diese fortan den Pgs. gleichgestellt? Die NSDAP-Gliederungen waren ja im „Dritten Reich“ nichts anderes als ein Teil der Partei. Und wie wurden dann die angeschlossenen Verbände der NSDAP gewertet?353 Diese Fragen lassen sich nicht mit letzter Sicherheit beantworten. Mehrere Regierungsdienststellen berücksichtigten in ihren Berichten an die HA Personal des MdI in puncto „Parteizugehörigkeit vor 1945“ bzw. bei der Sparte „NSDAP“ nicht nur direkte Parteimitglieder, sondern auch Angehörige der NSDAPGliederungen. Aus der Zusammenfassung von „NSDAP und Parteigruppierungen“354 lässt sich allerdings nicht automatisch ableiten, dass Partei, Parteigliederungen und sonstige NSOrganisationen inhaltlich auf eine Stufe gestellt wurden. Auf der anderen Seite war die Beachtung anderer nationalsozialistischer Formationen als der NSDAP im engeren Sinn kaderpolitisch durchaus relevant. Hinsichtlich der Statistiken zum Gesamtpersonal des zentralen Staatsapparates lässt sich immerhin beweisen, dass das Innenministerium zur Gruppe „NSDAP“ ausschließlich solche Personen zählte, die unmittelbares Parteimitglied waren.355 Das bedeutet nicht, dass sich das MdI für mutmaßlich „schwerer“ wiegende Fälle wie die einer SS- oder SA-Mitgliedschaft nicht interessierte. Im Gegenteil waren genaue Informationen über die Verteilung von einst aktiveren Faschisten sicherheits- und personalpolitisch besonders wichtig. Es arbeiteten nur derart wenige Angehörige solcher Gruppierungen in der DDR-Regierung, dass sich eine gesonderte statistische Beschreibung nicht lohnte. Bei den übrigen NSDAP-Gliederungen, die eine minder belastende Mitgliedschaft als die der NSDAP nach sich zogen, ergab sich ein etwas anderes Bild. Die früheren Angehörigen der Hitlerjugend stellten zwar zum Beispiel eine hinreichend große Gruppe dar, um statistisch für sich erfasst zu werden. Nur waren die jüngsten unter den organisierten Nationalsozialisten seit jeher die am wenigsten schuldfähigen und politisch belasteten Angestellten. Wenig sprach daher für eine numerische Ausdifferenzierung durch das MdI. Ähnliches galt für Massenorganisationen wie die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, die Deutsche Arbeitsfront oder den Reichsbund Deutscher Beamten, die zu den angeschlossenen Verbänden der NSDAP gehörten. Trotz der organisationsbedingt unterschiedlichen Schwere der politischen Verstrickung sei jedoch betont, dass in die individuellen Kaderakten jede Art der politischen Betätigung und Bindung Eingang fand – egal, ob es sich um eine geringfügige Belastung handelte oder um eine gravierende. Das MdI wertete sie nur nicht immer statistisch aus. 352 353 354 355 Vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26. NSDAP-Gliederungen waren SA, SS, NSKK, HJ, NSD-Studentenbund, NS-Frauenschaft und NSDDozentenbund. Angeschlossene Verbände der NSDAP waren der NSD-Ärztebund, der Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bzw. NS-Rechtswahrerbund, der NS-Lehrerbund, die NSV, die NS-Kriegsopferversorgung, der NS-Bund Deutscher Technik, RDB und DAF einschließlich der NSGemeinschaft Kraft durch Freude, siehe: Kammer / Bartsch, S. 82 f. Als Beispiel hierfür siehe: DO 1 / 26.0, 17163, [MdI,] HA Kader, Abteilung Handel und Verkehr, Auswertung der Berichte und der Halbjahresstatistik Ministerium für Post und Fernmeldewesen und HV Funk, vom 16.08.1954, S. 3. Zur Frage, ob neben Mitgliedern der NSDAP auch solche der Gliederungen bei der Erstellung von Personalstatistiken durch die Regierungsdienststellen Berücksichtigung fanden, siehe ausführlich kommentierte Beispiele zum MdJ und zur deutschen Notenbank, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 139 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 80 Die quantitativen Bewegungen der NSDAP-Mitglieder im Personalkörper beobachteten die Kaderverantwortlichen hingegen äußerst genau. Nicht zuletzt galt es, Konzentrationen in einzelnen Dienststellen oder Abteilungen zu vermeiden. Penibel meldeten die Ministerien selbst kleinste Veränderungen an das Ministerium des Innern. Bei jeder Verschlechterung der kaderpolitischen Zusammensetzung, das heißt bei Zunahme der ehemaligen Nationalsozialisten, sahen sich manche Personalabteilungen grundsätzlich in einem Rechtfertigungszwang. Dabei ließ sich einfach gesprochen „Masse“ durch „Qualität“ ausgleichen, zum Beispiel indem neu eingestellte NS-Belastete ein SED-Mitgliedsbuch bei sich trugen und parteilose Pgs. ersetzten.356 Andere Personalleiter betrachteten leichte Pg.Zuwächse von 1-2% auf insgesamt bereits unterdurchschnittlichem Niveau zwar als erwähnenswert, maßen dem aber keine besondere Bedeutung bei. Die Verfolgung anderer kaderpolitischer Ziele schien ihnen dringlicher zu sein als die Drosselung einer nur unwesentlich changierten NSDAP-Präsenz. In dieser Auffassung wurden sie bestärkt, wenn es sich bei den neuen Mitarbeitern um solche Ex-Nationalsozialisten handelte, die nach 1945 entweder durch physische Arbeit oder durch ein deutliches politisches Bekenntnis unter Beweis gestellt hatten, dass sie positiv zu den Grundsätzen der „antifaschistischdemokratischen Ordnung“ stehen.357 Machten die früheren NSDAP-Mitglieder allerdings in einem Ministerium mehr als das Dreifache des Durchschnittswertes aus und bestanden sie großenteils aus alten Reichsbeamten, kam die verantwortliche Personalabteilung nicht darum herum, einen „hohen“ Prozentsatz und eine „schwache“ Personallage zu diagnostizieren. Sie ergab sich aus dem Zwang, auf alte Fachleute zurückgreifen zu müssen, da jüngerer Nachwuchs nur nach und nach heranzubilden war.358 In manchen Branchen führte dies dazu, dass auch schwerer wiegende Belastungen der Spezialisten toleriert wurden.359 Eines besonderen Wortes bedarf die Wirkung des Gleichstellungsgesetzes von 1949 auf die Kaderpolitik. Aus ihm erwuchs eine „Kann-Bestimmung“, aber kein einklagbarer Rechtsanspruch auf Vergabe bestimmter Arbeitsplätze. Die Forschung hat als Folge der geänderten Rechtslage bereits einen Anstieg der Neueinstellungen früherer Nationalsozialisten vermutet oder behauptet.360 Die Quellen bestätigen diese Aussage für die DDR-Regierungsdienststellen und legen den gleichen Schluss für andere Verwaltungsorgane nah. Nachweislich führten die Personalabteilungen mehrerer Ministerien die vermehrte Anstellung ehemaliger NSDAP-Mitglieder ausdrücklich und direkt auf den Erlass des Gesetzes zurück. Selbst eineinhalb Jahre nach seiner Verabschiedung erklärten Kaderverantwortliche die Steigerung eines Pg.-Quantums noch mit diesem Argument. Ein Hauptgrund war demnach, dass die neue Rechtslage wieder NSDAP-Mitglieder in leitenden Positionen zuließ. Dabei habe es sich aber nur um solche Pgs. gehandelt, die durch ihre fachliche und gesellschaftliche Arbeit den Beweis erbracht hätten, ihre Fehler aus der Vergangenheit wieder gutzumachen.361 Unterm Strich gab es einen punktuellen Anstieg des Anteils früherer NSDAPAngehöriger unmittelbar nach Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes, der zwischen 356 357 358 359 360 361 DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Post und Fernmeldewesen, HA Personal III 1a, Vierteljährliche Berichterstattung, an MdI, HA Personal, vom 03.07.1950, S. 2 f. DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Handel und Versorgung, HA Erfassung und Aufkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Personalabteilung, Bericht über die Arbeit der Personalabteilung der HA Erfassung und Aufkauf des ersten Quartals 1950, an MdI, HA Personal, vom 27.04.1950, S. 1 f. DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Post und Fernmeldewesen, HA Personal III 1a, Vierteljährliche Berichterstattung an die HA Personal des MdI der DDR, an MdI, HA Personal, vom 19.04.1950, S. 3 f. So zum Beispiel bei den Ärzten, wie Detlef Joseph kritisch kommentiert, siehe: Joseph, Nazis, S. 148. So Manfred Wille, der jedoch diesbezüglich keine konkreten Zahlen nennt, siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 213. Zum Pg.-Anteil in Thüringer Kommunalverwaltungen sowie bei den Generaldirektionen Reichsbahn und Schifffahrt siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 142. Jens Kuhlemann – Braune Kader 81 Dezember 1949 und Februar 1950 stattfand (von 2,5% auf 4,8%).362 Eine Verdoppelung auf niedrigem Stand. Dabei ist der meist noch unter dem Niveau der DWK liegende Pg.-Anteil in den drei verbliebenen Zentralverwaltungen, die sich mit der Wirtschaftskommission zur DDR-Regierung vereinigten, zu berücksichtigen. In einzelnen Ministerien und Positionshöhen nahmen sich die Zuwachsraten mittelfristig wesentlich höher aus als der Durchschnittswert, wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird.363 Sie fielen jedoch für die Gesamtinstitution DDRRegierung prozentual kaum ins Gewicht. Denn die Vergrößerung des Gesamtapparates wurde bis Ende der fünfziger Jahre in gleichbleibendem Maße von der Einstellung NS-unbelasteter Kräfte getragen.364 Bei der Erörterung der Wirkung von Gesetzen in der DDR ist stets in Erinnerung zu rufen, dass die Kluft zwischen ihrem Wortlaut einerseits und der Rechtswirklichkeit andererseits immens sein konnte. Wenn es um Macht und Sicherheitsfragen ging, handhabte die Machtelite Gesetze oft willkürlich, zumindest opportunistisch, und belegte sie mit einer Interpretation der ganz eigenen Art. Für die Nominellen hieß das zum Beispiel, dass sie auch weiterhin nicht (dauerhaft) in ihre alten Berufe zurückkehren konnten, wenn sie sich dem Marxismus-Leninismus gegenüber verschlossen oder der SED die Kooperation verweigerten. Auf der anderen Seite geben Gesetze im Allgemeinen ja nicht nur ein zu erreichendes Ziel vor, sondern spiegeln auch Zugeständnisse an die Realität wider. Als das Gleichstellungsgesetz in die Volkskammer eingebracht wurde, war die Verwaltung schon längst dazu übergegangen, der Beschäftigung ehemaliger Pgs. mehr Toleranz entgegenzubringen. Teilweise entsprach das Gesetz also nur der bereits gängigen Praxis. Teilweise bewirkte es jedoch auch, dass sich die tatsächliche Ausübung der Kaderpolitik erst an die neue Vorgabe anpasste. Vor allem in weniger wichtigen Dienststellen hat dies scheinbar zu einer vermehrten Anstellung von Pgs. geführt. Solche Personalleiter, die schon während der Entnazifizierung eine ungezwungenere Haltung eingenommen hatten und gerne mehr NS-Belastete herangezogen hätten, bekamen nun die Möglichkeit dazu. Das Gesetz vergrößerte den Spielraum und sie nutzten ihn. Andere Kaderverantwortliche weigerten sich jedoch sehr wahrscheinlich, von den neuen Rekrutierungspotenzialen Gebrauch zu machen, oder nutzten sie nur widerwillig und verhalten. Ihre Verachtung gegenüber ehemaligen NSDAP-Mitgliedern änderte sich eben nicht so schnell wie die Rechtslage. Wieder andere waren zwar willig, der Personalnot mit der Einstellung früherer Pgs. zu begegnen. Sie zeigten jedoch Furcht vor der eigenen Verantwortung. Gerade nachgeordnete Dienststellen waren unsicher, wo die interne Schmerzgrenze der Wiedereingliederungspolitik lag, wie viele und welche ExNationalsozialisten sie beschäftigen durften, ohne den Zorn der Partei heraufzubeschwören. Erschwerend kamen dabei Unklarheiten des Gesetzestextes über weiterhin ausgeschlossene Arbeitsgebiete hinzu, mit deren Deutung sich bis auf weiteres die Exekutive befassen musste. Verzögerungen bei der Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes waren die Folge. Ungeachtet der Rechtslage hielt die SED bestimmte Ressorts wegen ihrer macht- und sicherheitspolitischen oder kontrollierenden und planenden Bedeutung auch weiterhin von NSDAP-Mitgliedern nahezu rein, während sie bei anderen Behörden zunehmend aus dem Pg.-Reservoir schöpfte.365 Neben dem numerischen Ausmaß der Beschäftigung der reinen Parteimitglieder ist hier auch die Frage nach den Anteilen anderer NS-Belastungskategorien zu stellen. Auf diese 362 363 364 365 Eine Änderung der Zählweise bei der Rubrik „NSDAP“ in den MdI-Statistikquellen ist, wie bereits erläutert, als Grund für die Pg.-Zunahme auszuschließen; siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 ff. (dort insbesondere Abb. 7 und 9), 142. Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“. Siehe Kapitel „Personalbestand und Fachkräftemangel“. Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 82 Weise betrachten wir gleichzeitig einen Aspekt der Binnendifferenzierung der politischen Vergangenheit. Dadurch erwächst aus der Quantität eine Aussage zur Qualität. Beginnen wir bei der wohl am meisten diskreditierten Organisation – der SS. Nach den vorliegenden Quellen beschäftigte die Deutsche Wirtschaftskommission 1948/49 nie mehr als fünf Mitglieder der SS zur gleichen Zeit und lediglich acht insgesamt. Das betrifft natürlich nur solche Personen, die den Behörden als SS-Angehörige auch bekannt waren. Dabei unterschieden die Kaderabteilungen sehr wohl zwischen den einzelnen Unterorganisationen der Schutzstaffel, wie der Allgemeinen SS, der Waffen-SS oder den fördernden Mitgliedern der SS. Sie fassten sie aber unter einer einheitlichen Rubrik zusammen. Für die fünfziger Jahre liegt nur eine einzige zusätzliche MdI-Statistik vor, die die ehemaligen SS-Mitglieder beziffert. Danach meldeten die Personalabteilungen im September 1951 für den gesamten zentralen Regierungsapparat lediglich vier ehemalige SS-Angehörige. Es sind zwar im Rahmen dieser Arbeit noch ein paar weitere Kader identifiziert worden, die sich während des NS-Regimes an die berüchtigtste und mächtigste NSDAP-Gliederung gebunden hatten. Doch im Großen und Ganzen scheinen keine wesentlichen Steigerungen in den DDR-Ministerien vorgekommen zu sein.366 In leicht höherem Maße trafen die vorstehenden Ausführungen auch auf die ehemaligen Mitglieder der SA zu. Ihr Anteil am DWK-Gesamtpersonal betrug zuletzt etwa 0,5%. Die erwähnte Quelle vom September 1951 belegt, dass diese Belastungsgruppe im Weiteren unter einem Prozent blieb.367 Die Sturmabteilung war eine militärisch ausgebildete und organisierte Kampftruppe der NSDAP, die zum Beispiel bei Aufmärschen, Saal- und Straßenschlachten eingesetzt wurde. Im Jahr der NS-Machtergreifung bestand die SA größtenteils aus Arbeitslosen, die von Sozialmaßnahmen profitierten. Der ohnehin starke Mitgliederzustrom erfuhr eine weitere Steigerung durch die Verhängung der Aufnahmesperre der NSDAP 1933. Anfangs übernahm die SA auch die Bewachung der Konzentrationslager. 1934 wurde sie als Machtfaktor zugunsten der SS ausgeschaltet. 1938 war sie dennoch maßgeblich an der Reichspogromnacht beteiligt. Die Sturmabteilung spielte außerdem eine nicht unbedeutende Rolle bei der vormilitärischen Wehrerziehung und der Ausbildung zurückgestellter Wehrpflichtiger.368 Partiell liegen auch Angaben zu „sonstigen NS-Organisationen“ vor, die mir allerdings nicht immer sehr zuverlässig erscheinen. Gemeint waren offenbar die anderen Gliederungen 366 367 368 Näheres zu Belastungsunterschieden zwischen den früheren SS-Mitgliedern siehe Kapitel „Zugehörigkeit zur SS und sonstigen NS-Organisationen“. Acht Personen des NS-Samples waren Mitglied der SS, wenngleich sie fluktuationsbedingt nicht alle zur selben Zeit in der DWK arbeiteten. Zum 30.6.1948 waren bereits fünf von ihnen in der DWK tätig. Im Zeitraum März bis Dezember 1949 arbeiteten in der Wirtschaftskommission bzw. in der DDR-Regierung null bis zwei ehemalige SS-Mitglieder. Siehe: DO 1 / 26.0, 17359, 290/51/3/1, Namenliste ehemaliger SS- und SA-Mitglieder in den DDRRegierungsdienststellen, Stand: 30.9.1951; DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); DC 1 / 1914, [DWK,] HA Personalfragen und Schulung, Gruppe Personalfragen, Allenstein, an ZKK, Lange, vom 27.10.1948; Kuhlemann, Kader (2005), S. 144. Zum 30.6.1948 waren neun DWK-Angestellte einst in der SA. Von März bis Dezember 1949 arbeiteten in der DWK nie mehr als 25-41 frühere SA-Mitglieder gleichzeitig. Das NS-Sample, das auf Namenlisten basiert, die bis Juni / Juli 1949 reichen, beinhaltet 34 jener SA-Leute. Damit werden unter Berücksichtigung der Personalfluktuation die meisten Angehörigen dieser Belastungskategorie erfasst. In den DDR-Regierungsdienststellen waren im September 1951 insgesamt 90 ehemalige SA-Mitglieder tätig. Zehn davon arbeiteten bereits in der DWK und sind im NS-Sample mitenthalten; siehe: DO 1 / 26.0, 17359, 290/51/3/1, Namenliste ehemaliger SS- und SA-Mitglieder in den DDR-Regierungsdienststellen, Stand: 30.9.1951; DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); DO 1 / 26.0, 17099, XLVI/49/3/2; Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (Abb. 7), 144. Bei der „Röhm-Affäre“ Mitte 1934 wurden etwa 50 SA-Führer durch die SS ermordet. Die anschließende Wiederausgliederung des ehemaligen Kyffhäuser-Bundes oder die Verleihung der formalen Unabhängigkeit an die SS, HJ und das NSKK führten zu rapiden Mitgliederverlusten (von 4,5 Millionen im Juni 1934 auf 1,2 Millionen 1938), siehe: Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 569 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 83 neben SS und SA, manchmal in Verbindung mit den angeschlossenen Verbänden der NSDAP. Zusammen stellten sie in der Wirtschaftskommission meist 1-2% des Gesamtpersonals.369 Da zahlreiche Pgs. in der NS-Ära zusätzlich Organisationen wie der NSV und dem RDB beitraten, kam es in dieser Sparte wohl ganz besonders zu Doppelzählungen. Die Tatsache, dass die „Sonstigen“ ab 1950 in den Statistikquellen zur DDR-Regierung verschwinden, ist ein Indiz dafür, dass das MdI die Zugehörigkeit zu den meisten Gliederungen und Verbänden ohne gleichzeitige NSDAP-Mitgliedschaft als eher geringfügige Belastung einstufte. Sie scheint für die kaderpolitische Formung des Apparates relativ unerheblich gewesen zu sein. Für die individuelle Abwägung kaderpolitischer Merkmale blieb sie natürlich weiterhin von Relevanz. Eine besondere Rolle nahmen die ehemaligen Mitglieder der Hitlerjugend ein, obwohl sie offiziell ebenfalls den Status einer Gliederung der NSDAP besessen hatte. Aufgrund des allgemeinen Wohlwollens, das die Machthaber der Jugend entgegenbrachten, und der mutmaßlich geringen NS-Belastung gehörten HJ-Angehörige zu den förderungswürdigen Berufsbewerbern. In der späten DWK wurden sie personalstatistisch gesondert erfasst. Ihr Anteil stieg ab März 1949 innerhalb weniger Monate von 6 auf 9-10%.370 Diese Entwicklung war eine direkte Folge der vermehrten Einstellung junger Kader. Ein weiterer Zuwachs in den Folgejahren ist anzunehmen. Jedenfalls betrug der Anteil derjenigen Mitarbeiter in den Ministerien und zentralen Staatsorganen, die der NSDAP oder „faschistischen Organisationen“ angehörten, Ende der achtziger Jahre ca. 24%.371 Rechnen wir alle erwähnten Belastungsgruppen für die DDR-Regierungsdienststellen Ende 1949 zusammen, kommen wir auf weniger als 20%. Vier Jahrzehnte danach lag der Wert also sogar etwas höher. Altersbedingt ist das nur durch eine erhebliche Neueinstellung ehemaliger HJ-Mitglieder erklärbar, die dann zum Ende der DDR hin den Löwenanteil der auf diese Weise definierten NS-Belasteten stellten. 369 370 371 Es ist nicht überliefert, welche konkreten Gruppierungen die Quellen zu „sonstigen NS-Organisationen“ rechneten. Die überlieferten Statistiken listen entsprechende Angaben in der Regel ohne weitere Unterteilung auf. Sie deuten darüber hinaus wechselnde Erhebungsraster an. Der Deutschen Wirtschaftskommission gehörten mit Stand vom 30.6.1948 zusammen 21 Personen an, die anderen Gliederungen als der SS und SA sowie angeschlossenen Verbänden angehörten (0,4%). Dazu zählten NSF, NSKK, NSFK, NSDStB, NSBDT und NS-Rechtswahrerbund. Hinzu kamen noch 14 HJ-Mitglieder. Zum 30.9.1948 gab es 74 „Mitglieder ehem[aliger] NS-Organis[ationen]“ (1,3%). Am 31.12.1948 und 31.1.1949 wurden 25 (0,4%) und 34 (0,6%) Angestellte des Gesamtpersonals unter „SA, SS, NSKK, usw.“ beziehungsweise erneut unter „ehemalige Mitglieder v[on] NS Organisationen“ geführt. Da ab dem 31.3.1949 der Anteil der unter „Sonstige NS-Organisationen“ geführten Mitarbeiter höher lag, nämlich zwischen 1,5 und 1,7%, und gleichzeitig SA und SS extra aufgelistet wurden und nicht mehr in den „Sonstigen“ enthalten sein konnten, erscheint es unwahrscheinlich, dass im Dezember 1948 und Januar 1949 tatsächlich sämtliche Angehörige des NSKK „usw.“ in einer Reihe statistisch erfasst wurden. Das traf auf die Mitglieder der Hitlerjugend sicher erst recht nicht zu, weil ihr Anteil im März 1949 gleich bei 6% lag, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); DC 1 / 1914, DWK-Personalstatistik, Stand: 30.9.1948; Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (Abb. 7), 145. Laut Quelle vom 30.6.48 sollen zu diesem Zeitpunkt nur 14 DWK-Mitarbeiter in der HJ gewesen sein. Diese Zahl ist so niedrig, daß ich die entsprechende Statistik für unvollständig halte. Die Statistikquelle für den 10.11.1949 weist nur 47 HJ-Mitglieder von 5593 DWK-Angestellten aus (0,8%), was mit den zehnmal so hohen vorherigen und nachfolgenden Werten absolut nicht zusammenpaßt. Ich habe diesen Wert in der Graphik daher nicht berücksichtigt. Vielleicht zählte das MdI kurzfristig nur bestimmte HJFunktionsträger. Für diese Annahme gibt es aber keinen Beweis, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (Abb. 7), 145. Erfasst waren Personen, die 1930 und früher geboren wurden. Dadurch sind offenkundig auch Mitarbeiter gezählt worden, die allein aufgrund ihres Alters noch gar nicht in der NSDAP, sondern bestenfalls in der Hitlerjugend gewesen sein können. Dieser Umstand verstärkt die gewisse Verzerrung, die bereits durch die unterschiedslose Erfassung von Mitgliedern der NSDAP und anderer NS-Organisationen in einer gemeinsamen Rubrik entstanden war, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 203, 205. Jens Kuhlemann – Braune Kader 84 Um den kaderpolitischen Stellenwert der DWK und DDR-Regierung als Institution zu beschreiben, ist ein Vergleich mit den Verwaltungsapparaten der fünf Länder zweckdienlich. Darunter sind die Landesregierungen und die jeweiligen Kommunalverwaltungen zu verstehen. Für die Jahre 1950-1952 ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Organen. Am meisten ehemalige NSDAP-Mitglieder beschäftigte Thüringen (1112%), gefolgt von Sachsen-Anhalt (10-11%). In den übrigen drei Ländern stellten die früheren Pgs. etwa 7-8% aller Verwaltungsangestellten.372 Bereits in der SBZ hatten die Landesregierungen Thüringens und Sachsen-Anhalts deutlich höhere Pg.-Werte aufgewiesen als die Deutsche Wirtschaftskommission.373 Nicht zu den Ländern gehörig war Ost-Berlin. Dort hatten Anfang der fünfziger Jahre im Magistrat und in den Bezirken mit 3-5% deutlich weniger Pgs. eine Anstellung gefunden als in den Länderapparaten.374 Sicherlich hing das nicht zuletzt mit einem unterdurchschnittlichen Organisationsgrad der Berliner Einwohner zur Zeit des Nationalsozialismus zusammen. Er mag bis zu einem gewissen Grad auch für die Personalzusammensetzung der zentralen DDR-Regierungsdienststellen verantwortlich gewesen sein.375 Denn der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder lag in der DDR-Regierung bis zum Jahr 1952 mit 4-5% deutlich unter dem Niveau der Verwaltungen in den Ländern. Der entscheidende Punkt scheint mir dafür aber folgendes Prinzip gewesen zu sein: Je wichtiger ein Organ oder ein Arbeitsgebiet sicherheits- und machtpolitisch war, umso strenger wurde die Kaderpolitik gehandhabt. Im Ergebnis fanden dadurch umso weniger NS-Belastete Einlass in den Zentralapparat.376 Für die Zeit nach Auflösung der Länder 1952 wird mit Blick auf die Bezirke und örtlichen Räte deutlich, dass der Pg.-Anteil der betreffenden Verwaltungen bis 1957/1958 teilweise auf dem gleichen Niveau wie der der zentralen DDR-Regierungsdienststellen lag, meistens jedoch darüber.377 Der oben beschriebene Grundsatz, wonach tendenziell umso weniger NS-Belastete beruflich integriert wurden, je wichtiger das Organ und das Arbeitsfeld waren, bestätigt sich also im Großen und Ganzen. Auch hier spielte als Antagonist natürlich die Verfügbarkeit entsprechender Alternativkader eine entscheidende Rolle, so dass es zu Abweichungen von diesem Grundsatz kommen konnte. Im Vergleich zur DWK und DDR-Regierung ergeben sich für die nachgeordneten Dienststellen des zentralen Staatsapparates ebenfalls höhere Anteile nationalsozialistisch belasteter Kader. Das Gleiche gilt für die volkseigene Wirtschaft, die unter der Aufsicht der Ost-Berliner Ministerien stand.378 In diesen politisch weniger wichtigen Bereichen war nach Meinung der Personalverantwortlichen der Bedarf an Fachleuten groß, die Gefahr der Beschäftigung früherer Faschisten jedoch gering. Im Fall einer Sabotage oder 372 373 374 375 376 377 378 Erläuterungen zu den MdI-Statistikquellen, die das Verwaltungspersonal in den Ländern erfassen und mit der Zentralregierung vergleichen, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (Abb. 8), 146 ff. Zahlen und Kommentare zu den Apparaten in Sachsen-Anhalt und Thüringen 1948/49 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 146 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 211 f.; Boyer, Kader, S. 27; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 230 f.; vgl. Meinicke, Berücksichtigung, Tabelle 3; DO 1 / 7/41, Bl. 57; vgl. DO 1 / 8/420, 429 und 430, dort unter anderem zu NS-belasteten Eltern von Studierenden und ehemaligen Nationalsozialisten im Thüringer Ministerium für Bildung. Details zu NSDAP-Mitgliedern beim Magistrat von Groß Berlin, den Räten der östlichen Bezirke bzw. Bezirksverwaltungen siehe: DO 1 / 26.0, 17367, 376/51/1/1, Personalstatistik, Stand: 1.4.1951; DO 1 / 26.0, 17446, 10-11/58/1/1, Kaderstatistik, Stand: 15.10.1958; Kuhlemann, Kader (2005), S. 147. Auch hinsichtlich der Mitglieder der SED wies Berlin im Vergleich zu den Ländern bzw. Bezirken deutlich geringere Werte ehemaliger Angehöriger der NSDAP und ihrer Gliederungen auf, siehe: Kowalczuk, Stalin, S. 238. Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“. Ende der 1980er Jahre waren bei den Räten der Bezirke ca. 26% der Angestellten einst in der NSDAP oder in „faschistischen Organisationen“. Erfasst wurden nur Personen, die 1930 und früher geboren wurden, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 203, 205; Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 ff. (Abb. 10), 148. Einzelheiten zu nachgeordneten Dienststellen, der volkseigenen Wirtschaft etc. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 148; Hornbostel, Vertreter, S. 203, 205; Nehrig, Leitungspersonal, S. 316. Jens Kuhlemann – Braune Kader 85 Agententätigkeit wäre der Schaden begrenzt gewesen. In den politisch bedeutenderen, weil lenkenden und kontrollierenden Organen und Positionen galten dagegen strengere kaderpolitische Maßstäbe.379 Weitere Quellen bekräftigen das Muster der unterschiedlich sensiblen Berufssektoren und Ebenen. Im gesamten öffentlichen Dienst der SBZ waren im Mai 1949 fast sieben Prozent aller Angestellten ehemalige NSDAP-Mitglieder. Das waren deutlich mehr als gleichzeitig in der Wirtschaftskommission.380 Analoges galt für die nachgeordneten Dienststellen der Länder, die wiederum mehr Pgs. beschäftigten, als die Apparate der Landesregierungen.381 Zum öffentlichen Dienst gehörten natürlich auch die Mitarbeiter der Bahn und der Post. Die Domänen des ehemaligen Beamtentums wiesen erwartungsgemäß besonders hohe NSDAP-Quoten auf, die regional auf 20-30% stiegen.382 Die Persistenz NS-Belasteter ergab sich aus der eher unpolitischen Natur der beiden genannten Bereiche und dem dort herrschenden großen Fachkräftemangel bei gleichzeitig dringender Notwendigkeit, die Kommunikations- und Verkehrsströme wieder fließen zu lassen. Die bewaffnete und gesellschaftlich sicherheitsrelevante Polizei hingegen war weit weniger mit ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt.383 Dabei war sie in der NS-Ära ebenfalls eine Hochburg der Beamten, die wiederum zum großen Teil der NSDAP angehörten. Es gab in der Polizei jedoch keinen größeren Bedarf an Fachleuten, den nicht auch neue Kräfte umgehend decken konnten. In den Universitäten sah es ganz anders aus. Hochgebildete Akademiker waren begehrt und schwer zu ersetzen, schon gar nicht kurzfristig. Im Jahr 1954 zählte die Professorenschaft in der DDR daher über 28% ehemalige NSDAPMitglieder. Diese Größe blieb bis in die sechziger Jahre hinein stabil.384 Angesichts all dieser Zahlen stellt sich erneut die Frage, wer über sie eigentlich im Bilde war. Verschiedene Personen und Institutionen wussten unterschiedlich viel über das Ausmaß der Beschäftigung NS-belasteter Kader.385 Zu bedenken ist, dass die internen MdI379 380 381 382 383 384 385 Vgl. auch die Parteien und Massenorganisationen der DDR: 1986 befanden sich in dem vom XI. Parteitag der SED gewählten Zentralkomitee unter 165 Mitgliedern mindestens 13 ehemalige NSDAP-Mitglieder, in: Fricke, Nazigrößen, S. 141; bei den Dresdener FDGB-Funktionären waren 1945-1951 von 224 Personen zehn (4,5%) in der NSDAP, einer in einer Gliederung und einer in einem angeschlossenen Verband, siehe: Simsch, Grenzen. Details zu ehemaligen Mitgliedern der NSDAP und ihrer Gliederungen im öffentlichen Dienst der SBZ im Mai 1949 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 148 f.; vgl. Sachsen, wo im Januar 1948 von den in der gesamten öffentlichen Verwaltung tätigen Personen 6,2% frühere NSDAP-Mitglieder waren, in: DO 1 / 7/232, Personalstatistik der im öffentlichen Dienst Beschäftigten der S.B.Z. außer DVdI und Berlin, Stand: 15.5.1949; DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 21, [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert. Siehe die nachgeordneten Dienststellen der Länder in Sachsen-Anhalt und Thüringen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 149; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 230 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 211 f.; vgl. Meinicke, Berücksichtigung, Tabelle 3. Einzelheiten zur Reichsbahn und Post in Thüringen bzw. der SBZ siehe: Kuhlemann, Kader (2005), 149. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 230 f.; vgl. Meinicke, Berücksichtigung, Tabelle 3. Zahlen zu Angehörigen der NSDAP und ihrer Gliederungen in der Polizei siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 149 f.; Wenzke, Wege, S. 237; Gieseke, Frage, S. 134. Jessen, Professoren, S. 226, 241. In diesem Zusammenhang erscheint mir ein Schreiben von Wilhelm Pieck an die SMAD vom Dezember 1948 erwähnenswert. Darin steht, er habe Gespräche mit dem Vorsitzenden der ZKK, Fritz Lange, und mit seinem Sohn Arthur Pieck (Leiter der Inneren Verwaltung in der DWK, zu der die HA Personalfragen und Schulung gehörte) über die Deutsche Wirtschaftskommission geführt. Ihm sei versichert worden, dass »unter den Angestellten sich keine ehemaligen Nazimitglieder befinden, es sei denn, dass sie ihre Mitgliedschaft bei der Anstellung verschwiegen haben«. Von welchem seiner beiden Gesprächspartner diese Fehlinformation stammte, ist unklar. Es erschließt sich auch nicht der Sinn derselben. Denn Wilhelm Pieck war SED-Vorsitzender und hätte über kurz oder lang die genaue Zahl der gegenwärtig angestellten Pgs. mitgeteilt bekommen. Sofern der spätere DDR-Präsident zwar richtig informiert, aber gegenüber der SMAD nicht ganz ehrlich gewesen sein sollte, hätte auch die sowjetische Seite in kurzer Zeit die Wahrheit erfahren. Oder der Anteil von unter zwei Prozent früheren NSDAP-Mitgliedern in der DWK Ende 1948 beziehungsweise der der übrigen ehemals organisierten Nationalsozialisten wurde als praktisch gegen Null tendierend eingeschätzt. Doch obwohl es keine ehemaligen NSDAP-Angehörigen in der Jens Kuhlemann – Braune Kader 86 Statistiken keine Angaben zu Fragebogenfälschungen und Biografiemanipulationen enthalten. Die Dunkelziffer der tatsächlich beschäftigten ehemaligen Nationalsozialisten lag deshalb höher, als es sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, zumal wenn wir noch solche Vergehen hinzufügten, die nicht in einer Organisationszugehörigkeit bestanden, sondern im bloßen Handeln zur Zeit des NS-Regimes. Für die zentrale Staatsverwaltung der SBZ/DDR lässt sich als Ergebnis festhalten, dass der Erlass des Befehls 35 keine nennenswerten Veränderungen herbeiführte. Das quantitative Ausmaß beschäftigter NSDAP-Mitglieder blieb mit 1-2% vorerst minimal. Gleiches galt für Angehörige der SA und SS, während für die geringer belasteten HJ-Mitglieder am frühesten merkbare Wachstumsraten festzustellen sind. Ebenso wenig ist eine unmittelbare Auswirkung des Endes der Berliner Entnazifizierung auf die Personalzusammensetzung zu beobachten. Trotz der offiziellen neuen Rekrutierungsmöglichkeiten machte die DWK praktisch kaum Gebrauch davon. Ihr interner Reinhaltungsmaßstab führte also ein Eigenleben, das nur den Kaderansprüchen der SED folgte. Die gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten toleranter werdende Rechtslage, wie sie das Gleichstellungsgesetz von 1949 zum Ausdruck brachte, folgte dabei im Wesentlichen der gängigen Praxis. Im Ergebnis fiel die Steigerung des Pg.Anteils in den DDR-Regierungsdienststellen bis 1957 auf summa summarum 5-6% immer noch recht moderat aus. Nebenbei stellte sich wegen der bis 1949 sehr geringen Reintegration NS-Belasteter praktisch für keinen der Beteiligten die Frage, ob die bis dato Beschäftigten aufgrund der jeweils neuen Rechtslage noch entlassen werden konnten. Die ab 1948 in der DWK tätigen Pgs. hatten ohnehin fast alle erfolgreich ein Entnazifizierungsverfahren durchlaufen. Davon abgesehen fand die SED mit oder ohne Gesetz stets Mittel und Wege, erwünschte Pgs. einzustellen und zu halten oder ungewollte zu entfernen. Die Entnazifizierung war von nachhaltiger Wirkung, auch wenn für die fünfziger Jahre bestimmte Rückkehrerscheinungen von Pgs. zu beobachten sind. Diese lagen jedoch immer noch sehr deutlich unter dem Ausgangsniveau der staatlichen Verwaltung zur NS-Zeit. Außerdem fielen sie auf der Zentralebene geringer aus als in macht- und sicherheitspolitisch weniger wichtigen Verwaltungen der SBZ/DDR. Der Ost-Berliner Staatsapparat sollte mehr als andere Organe mit Kadern besetzt sein, die keinen Anlass gaben, an ihrer politischen Zuverlässigkeit zu zweifeln. Politisch minder bedeutsame Institutionen setzten die Prioritäten hingegen klarer auf eine fachliche Effizienzsteigerung. Sie zeigten eine nur leicht oder fast gar nicht eingeschränkte personelle Kontinuität früherer Nationalsozialisten. Die Frage, ob es in der DDR einen Elitenaustausch gab oder nicht, ist angesichts dieser Ergebnisse sektor-, organ- und postenspezifisch zu beantworten.386 386 Wirtschaftskommission gegeben haben soll, mahnte Wilhelm Pieck eine gründlichere Kontrolle der Kader an, offenkundig mit Blick auf die Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes. Er schlug vor, Rechercheure von der DVdI oder der operativen Abteilung der SMA einzusetzen, die die Beschäftigten mit entsprechenden polizeilichen Befugnissen auch im Privatbereich beobachten sollten, siehe: NY 4130 / 83, Bl. 22 f., W[ilhelm] P[ieck], an SMAD, Semenow, vom 11.12.1948. Zur Frage einer Elitenwanderung von einem Sektor zum anderen, etwa von der Verwaltung zur Wirtschaft oder von einer höheren Verwaltungsebene zu einer niedrigeren oder von einer einflussreicheren Funktion in eine kompetenzärmere bzw. zur Abwanderung in den Westen, siehe Kapitel „Westkontakte“, „Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes“ und „Berufliche Karriereverläufe“, „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“; vgl. Welzel, Rekrutierung, S. 218. Jens Kuhlemann – Braune Kader 2 87 Das soziale und politische Profil der ehemaligen NSDAP-, SA- und SSMitglieder im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR Die folgenden Kapitel behandeln soziale und politische Merkmale der ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und DDR-Regierung. Die Mustererkennung geht dabei in den Versuch einer Typisierung über. Dabei ist vorab auf die besondere Schwierigkeit hinzuweisen, aus Aspekten wie der Sozialisierung oder Organisationszugehörigkeit authentische geistige Dispositionen abzuleiten, noch dazu verallgemeinerbare. Dabei hat die kommunistische Machtelite, aber auch der westdeutsche Systemkonkurrent immer wieder genau das getan. Der Nachhall dieser Debatte ist bis heute zu spüren. Die SED sah die Präsenz früherer NSDAP-Mitglieder unter den Funktionseliten in der Bundesrepublik stets als angeblichen Beleg für die Kontinuität des Faschismus und das Fortwirken bewusst angewandten faschistischen Gedankengutes. Die Gegner der Einheitspartei schlugen zurück, indem sie die Betrauung ehemaliger Pgs. mit wichtigen Aufgaben in der DDR als Zusammenarbeit von Antidemokraten wertete, deren gemeinsamer Nenner eine ausgeprägte Affinität zum Totalitarismus gewesen sei. Die ehemaligen Nationalsozialisten im jeweils eigenen Lager hätten hingegen einen glaubhaften Wandel durchlaufen und sich zu „guten“ Demokraten bzw. Sozialisten entwickelt.387 Diese Deutungen sind wissenschaftlich nicht belegt und vor allem von der Zielsetzung beider Seiten geprägt, den politischen Gegner zu diskreditieren und sich selbst zu rechtfertigen.388 Allgemein sind Mentalitäten und Wertorientierungen der Funktionseliten in der DDR noch weitgehend unerforscht und unbekannt.389 Die Frage nach mentalen Profilen und Habitus, nach Korpsgeist, Gruppendenken und –bewusstsein ist auch deshalb so schwer zu beantworten, weil der angepasste Jargon und die ritualisierte Darstellungsweise mit dem NS-Regime oder später dem SED-Regime als Adressaten entsprechende Indizien meistens überformten.390 Oft lässt sich also nur ahnen oder eine Wahrscheinlichkeit ablesen, ob sich jemand wirklich veränderte oder nur so tat. Man kann eben in keinen Kopf hineinschauen.391 Wir dürfen aber grundsätzlich davon ausgehen, dass langfristige Wertorientierungen die Transformationsphase von der NS-Diktatur zur DDR überdauerten oder unter den neuen Rahmenbedingungen bestimmte Modifikationen annahmen.392 Es spricht auch einiges dafür, dass bestimmte Charakteristika in der Gruppe der ehemaligen Pgs. häufiger als bei anderen vorkamen. Es ist jedoch kaum zu bewerkstelligen, die Spezifik faschistoiden Gedankenguts 387 388 389 390 391 392 Meinicke, Berücksichtigung, S. 32; Joseph, Nazis; Kappelt, Braunbuch; Kappelt, Entnazifizierung. Jens Gieseke bezeichnete in diesem Zusammenhang das Schlagwort von „Nazigrößen“ im Ministerium für Staatssicherheit als „Phantomthema“. Im Personal fand er bei insgesamt sehr geringen Ausmaßen vor allem Hitlerjungen, die früh in die NSDAP überführt wurden, und Fragebogenfälscher, die man fast immer entfernte. Gieseke konnte keine kaderpolitische Strategie nachweisen, geschweige denn entsprechende Personalzusammensetzungen, die auf eine personelle Kontinuität zwischen „Nazi-Terrororganisationen“ und hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern deuten, siehe: Gieseke, Frage, S. 147. Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 40. Zimmermann, Überlegungen, S. 335 f.; Boyer, Kaderpolitik, S. 28; vgl. Häder, Sozialporträt, S. 398, 400; Wenzke, General, S. 190. Die zweite Chance führte oft zu einer Überanpassung, weil die Betreffenden nicht auffallen wollten. Die NDP zum Beispiel war besonders unterwürfig. So auch der Tenor eines Historikergesprächs im: Deutschlandfunk, Journal am Vormittag, vom 07.06.2002. Vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 356. Jens Kuhlemann – Braune Kader 88 herauszufiltern und sie von solchen Anteilen zu trennen, die politisch weit weniger kompromittiert, vielleicht sogar besonders „deutsch“ waren, aber dennoch die Machtausübung diktatorischer Systeme begünstigten. Hierbei spielen Begriffe wie Untertanenmentalität, Gehorsam und Obrigkeitsdenken, aber auch Leistungsethik eine wichtige Rolle.393 Gleichzeitig bewirkte die allgegenwärtige Überpolitisierung des Alltags in der DDR bei vielen Menschen den Rückzug in entpolitisierte Ruhezonen, um nicht zuletzt individuellen Interessen wieder mehr Raum zu geben.394 Das verstärkte den weit verbreiteten Gang in die private Nischengesellschaft aufgrund der Erfahrungen mit „der Politik“ im Nationalsozialismus, auch wenn sich dies wegen der geforderten äußeren Loyalitätsbekenntnisse nur innerlich vollzog. Da man der SED das Feld nolens volens überließ, wuchs faktisch die Akzeptanz der Autorität der neuen Machtelite, nicht jedoch automatisch auch der Respekt für sie oder gar die Identifikation mit ihr. Die weitgehende Abwendung von der NS-Ideologie führte von Ausnahmen abgesehen nicht zu einer freiwilligen Hinwendung der Mehrheit zum Sozialismus. Der Grund für die neuerliche Anpassung in der SBZ/DDR lag weit weniger in der Zustimmung zu idealistischen Ideen, die der Legitimierung von Freiheitsverlusten zwecks Erlangung des utopisch anmutenden Endstadiums des Kommunismus dienten. Entscheidend war vielmehr der eigene spürbare Vorteil im Hier und Jetzt. Nur die Erlangung persönlicher Vorteile durch Selbstentfaltung in Beruf und Familie, durch Aufstieg in Form einer besseren wirtschaftliche Stellung und durch höheren Status scheint den Widerspruch von massenhafter politischer Organisationszugehörigkeit und damit verbundenem Engagement bei gleichzeitigem Ansehensverfall politischer Aktivität erklären zu können.395 Das galt, egal welche politischen Vorlieben man insgeheim hatte oder wie indifferent man sich fühlte. So gesehen bleibt auch offen, wie tiefgreifend die Leidenserfahrungen im Krieg und in der Entnazifizierung waren und ob sie einen echten Wandel aus Überzeugung beschleunigten oder lediglich die äußere Anpassungsbereitschaft ohne eigene politische Willensbildung beeinflussten.396 Die alte NS-Dienstklasse zeigte sich jedenfalls gegenüber den neuen Machthabern gehorsam und sehr loyal, weil sie auf ihren guten Willen angewiesen war.397 Die vorherige Existenz und das Überleben des NS-Ungeistes in den Köpfen der Kader ist in der Regel nicht eindeutig belegbar. Auch die Personalverantwortlichen erhoben nur sehr selten den konkreten Vorwurf, dass sich ehemalige Nationalsozialisten im Staatsapparat als politisch weiterhin Gleichgesinnte gegenseitig förderten oder in der Absicht zusammenrotteten, kollektiv Sabotage oder gar Anschläge zu verüben.398 Eher sprachen sie von potenziellen Gefahren, die es im Vorfeld zu entschärfen galt, etwa durch Entlassungen, Versetzungen und Auflösung von personellen Konzentrationen. Selbst wenn zum Beispiel 393 394 395 396 397 398 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, der in diesem Zusammenhang den ehemaligen Pg und Präsidenten des Obersten Gerichtes, Kurt Schumann, erwähnt, der durch die Anregung Walter Ulbrichts für ein politisches Todesurteil verantwortlich zeichnete und dabei „auch hier Gehorsam bewies, wie er ihn vermutlich in der Nazizeit bewiesen hat“. Ergänzt wurde dies von anderer Seite durch die Erwähnung einer „SSKommandeuse“, die nach Kriegsende als Staatsanwältin in Leipzig „Terror-Urteile“ fällte, in: Fricke, Nazigrößen, S. 142; Materialien, Bd. III/1, S. 149; vgl. Fippel, Antifaschismus, S. 117. Broszat, Stalingrad, S. XXV ff. Wierling, HJ, S. 116 f.; Plato, Entnazifizierung, S. 9-13; vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 354 f. Lutz Niethammer spricht von den „diktaturgewöhnten und hinnahmebereiten“ Deutschen. Eine „außerordentliche Umstellungsfähigkeit und Kontinuitätslosigkeit“ war nach Hannah Arendt typisch für einen totalitären Charakter. Kontinuitätslosigkeit ist hier im Sinne von Verwerfung und Verleugnung der Vergangenheit zu verstehen. Zitiert nach: Eckert, Entnazifizierung, S. 55, 58; Lübbe, Nationalsozialismus, S. 583 f.; Niethammer, Erfahrungen, S. 108; Kocka, Sonderweg, S. 39; Lüdtke, DDR, S. 13; vgl. Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 58; Frei, Karrieren, S. 315, 335. So auch in der Bundesrepublik laut Curt Garner in seinem Vortrag „Zur Sozialgeschichte des öffentlichen Dienstes in den 1950er Jahren: Sozialstruktur, geschlechtsspezifische Zusammensetzung und die Rolle ehemaliger NSDAP-Mitglieder“ am 21.01.1997 im Forschungskolloquium an der Universität Göttingen unter der Leitung von Bernd Weisbrod; vgl. Frei, Karrieren, S. 335. Vgl. das Verhalten der westdeutschen Justiz bei: Rüping, Staatsanwälte. Jens Kuhlemann – Braune Kader 89 Termini der Rassenlehre wie „Halbjude“ oder Alltagsgegenstände Verwendung fanden, auf denen beiläufig ein NS-Symbol prangte, fiel den Protagonisten die damit verbundene Brisanz oft gar nicht auf.399 Hätten sie ein Bewusstsein dafür besessen, wären solche Erscheinungen wegen möglicher Sanktionen überhaupt nicht aufgetaucht. Sowohl die ehemaligen Pgs. als auch ihre „Volksgenossen“ scheinen so daran gewöhnt gewesen zu sein, dass ihr Gebrauch keine böse Absicht darstellte. Er war so in Fleisch und Blut übergegangen, dass der politisch heikle Gehalt gar nicht mehr erkannt wurde. Diese „Normalität“ oder Unbekümmertheit wurde von der SED-Führung meistens nicht geteilt. Im Gegenteil schöpfte sie sofort Verdacht, es könnte sich um ideelle Faschisten handeln. Im Zusammenhang mit Wertvorstellungen ist noch auf einen anderen Punkt einzugehen. Neben der fachlichen und der politischen Beurteilung weisen manche Charakteristiken, die die Kaderabteilungen über Angestellte und Bewerber anfertigten, nämlich eine weitere Kategorie auf: die „Moral“.400 Dahinter verbirgt sich der private Lebenswandel, der Umgang mit anderen Menschen, das persönliche Erscheinungsbild. Grundsätzlich gab es dabei keine unantastbare Intimsphäre. Die Grenzen zum Privatbereich waren bei der Kaderbetrachtung fließend. Da Kritik nicht am politischen Programm festgemacht wurde, sondern an den Personen, die es umsetzen sollten, war dies durchaus konsequent. Dabei zeigte sich auch bei der „Moral“ eine Tolerierung von Verstößen, solange sie nicht ausuferten und das übrige Kaderkonto günstig aussah.401 Die Personalverantwortlichen wünschten sich Mitarbeiter, die sich in geordneten Verhältnissen bewegten und ein „anständiges“ Leben ohne Skandale nach den Grundsätzen der „sozialistischen Moral“ führten. Diese unterschied sich in weiten Teilen kaum von den Vorstellungen des Bürgertums. Bestimmte Maßstäbe, die bei Arbeitsstil und Teamfähigkeit in der Verwaltung angelegt wurden, sollten dabei auch im Privatleben gelten. Überheblichkeit und Ignoranz gegenüber den Mitmenschen sollten der Vergangenheit angehören, Merkmale eines individualistischen oder elitären Lebensstils ebenso. Seriosität und Zuverlässigkeit waren gefragt. Darüber hinaus hatte das Ehe- und Familienleben möglichst einwandfrei zu funktionieren. Ein moralisches Fehlverhalten wie Ehebruch konnte das Ende der beruflichen Karriere nach sich ziehen. Ähnlich schädlich waren bereits sexuelle Anzüglichkeiten am Arbeitsplatz und alle sexuellen Orientierungen, die vom Typ der monogamen Heterosexualität abwichen. Schlecht waren zudem übermäßiger Alkoholgenuss, unkontrollierte Gewalt- und Zornesausbrüche, Konsumexzesse und ausschweifende Feste. Justiziable Vergehen wie Betrug, Veruntreuung oder Diebstahl zählten ohnehin dazu.402 Entsprechende Aussagen zu einigen dieser Punkte finden sich in negativer403 und positiver404 Hinsicht auch zu den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern im zentralen Staatsapparat. Das betrifft deren eigenen Lebenswandel als auch ihr Eintreten für diese Werte gegenüber anderen.405 Alles in allem lassen sich hier im Vergleich zu den übrigen Angestellten keine nennenswerten Unterschiede erkennen, auch nicht in allgemeinen Wesenszügen.406 Menschen, die das gemeinsame Merkmal „ehemals organisierter Nationalsozialist“ verband, wiesen also beim Lebensstil anscheinend – bei allen individuellen Besonderheiten – große Gemeinsamkeiten mit ihren Zeitgenossen auf, obwohl sie sich zuvor zu einer zumindest äußerlich homogenen 399 400 401 402 403 404 405 406 DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 18, Analyse zur SED-Mitgliederüberprüfung, vom 11.04.1951; Boyer, Kader, S. 37. Welsh, Kaderpolitik, S. 111; Hoefs, Kaderpolitik, S. 170 f. Hoefs, Kaderpolitik, S. 170 f. Boyer, Kader, S. 47; Welsh, Kaderpolitik, S. 111; zur „Moral“ ehemaliger SS-Aufseherinnen siehe: Eschebach, Elemente, S. 203 f., 206 f. Beispiele (u.a. Hans Forsbach) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 155 f. Beispiele (Günther Kromrey, Rudolf Lang, Franz Woytt) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 156. Luitpold Steidle forderte die Entfernung einer Hauptreferentin aus dem Ministerium für Gesundheitswesen und die Einleitung eines Parteiverfahrens. In einem Bericht heißt es, sie soll »in ihrer Wohnung Orgien gefeiert haben, wobei die Grundsätze der sozialistischen Moral weit über den Haufen geworfen worden sind«, siehe: DO 1 / 26.0, 13389, [Verfasser unklar,] betr.: Marie-Luise J[...], vom 08.02.1956. Beispiele (u.a. Kurt D.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 156. Jens Kuhlemann – Braune Kader 90 politischen Gruppe zusammengeschlossen hatten. Während sich viele der genannten Eigenschaften in der Gesellschaft bis heute als erstrebenswerte Konventionen erhalten haben, wirken einige Lebens- und Sittenkonzepte durch ihre einengende Strenge rückblickend geradezu „spießbürgerlich“. Mögen die Kommunisten ein eigenes kulturelles Kapital in Form von Sprache, Gesten, Kleidung, Symbolen, Geschmack etc. besessen haben:407 Die von ihnen so viel geschmähte Kleinbürgeridylle sah auch in den eigenen Reihen nicht viel anders aus. Der Gartenzwerg war lediglich in einen roten Farbtopf gefallen und trug fortan Sichel statt Harke. 2.1 Soziales, Bildung und Beruf Die nachfolgenden Kapitel befassen sich mit dem sozialen Hintergrund, dem Bildungserwerb und der Arbeitswelt der ehemaligen Nationalsozialisten im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR. Arbeit und Soziales spielten in der Kaderpolitik eine sehr bedeutende Rolle, weil die Arbeiterklasse den Kommunisten ideologisch als wertvollste Gesellschaftsschicht galt. Proletarier wurden daher bevorzugt eingestellt. Sie schienen zur Umsetzung der großen politischen Leitlinien – zumindest ihrem Geiste und sozio-ökonomischen Milieu nach – am meisten geeignet zu sein. Gleichzeitig sollten sie als Klientel der SED deren Machtposition stärken. Dem avantgardistischen Selbstverständnis der Partei zufolge ließ sich so die angestrebte sozialistische Lebensordnung am besten verwirklichen. Ihre Grenzen erfuhr dieses Ansinnen im Staatsapparat in der oftmals unzureichenden Bildung der Arbeiter. Es musste auf bürgerliche Spezialisten zurückgegriffen werden, um den fachlichen Anforderungen einer Zentralregierung zu genügen. Soziales hing also auch eng mit dem Transfer von Bildung zusammen. Daraus wiederum ergaben sich unterschiedliche Berufsbilder und Karrieremuster. Bevor ich auf diese Aspekte im Einzelnen eingehe, sei noch auf einige Merkmale verwiesen, die unter dieselben Oberbegriffe fallen, aber nicht näher ausgebreitet werden, weil sie entweder kurz erzählt sind, kaderpolitisch nicht weiter ins Gewicht fielen oder zu wenige Quellen vorliegen. Da ist zum Beispiel der Familienstand: Fünf Sechstel aller untersuchten NS-Belasteten waren zur Zeit ihrer Beschäftigung bei der Deutschen Wirtschaftskommission verheiratet.408 Viele von ihnen hatten Kinder.409 Die Verheiratetenquote ist vergleichsweise hoch, da sich unter den früheren NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern relativ wenige junge Menschen befanden, die am ehesten zu den Ledigen gehörten. Der Familienstand stellt eine nicht unwichtige Information bei der Beurteilung der Motivation dar, sich auf der Suche nach einem Arbeitsplatz mit den politischen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit zu arrangieren. Denn wer die Verantwortung für eine Familie trug, musste mehr Geld verdienen als ein Alleinversorger. Verheiratete waren darüber hinaus lokal gebundener als andere und konnten schwerer auf Arbeitsangebote andernorts reagieren. Der Druck zur politischen Anpassung nahm also zu. Daneben entlastete ein Ehepartner den Funktionsinhaber natürlich 407 408 409 Rebenstorf, Karrieren, S. 157 f.; Zimmermann, Überlegungen, S. 335 f. Der Familienstand der untersuchten Ex-Nationalsozialisten war bei 130 von insgesamt 154 ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern festzustellen. Davon waren 109 Personen (84%) verheiratet. Neunzehn (15%) rechneten zu den Ledigen. Verwitwet und geschieden waren je eine Person. In fast allen Fällen ließ sich der Familienstand zur Zeit der Beschäftigung in der DWK ermitteln, in wenigen anderen für die unmittelbare Zeit davor. Hinter der hohen Zahl der Verheirateten verbergen sich auch einige, die bereits eine erste Scheidung hinter sich hatten und dann erneut geheiratet haben, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 157. Vgl. Ross, Aufstieg, S. 158. Jens Kuhlemann – Braune Kader 91 auch durch die Übernahme von häuslichen und Erziehungsaufgaben. Ein Kader hatte so den Rücken frei, sich gänzlich seinen Aufgaben in der staatlichen Verwaltung zu widmen.410 Anpassungszwänge resultierten darüber hinaus aus den momentanen wirtschaftlichen Vermögensverhältnissen.411 Diese lassen sich bei den Ex-Nationalsozialisten allerdings nicht exakt beziffern und in einen makroökonomischen Bezugsrahmen setzen. Zwar sind einige Angaben zu Einkommensgrößen vor und nach der Entnazifizierung und dem Eintritt in den Staatsapparat sowie zu sonstigen Besitztümern wie Immobilien überliefert. Doch völlig unbekannt ist, wie viel davon wann ausgegeben wurde und wofür. Auch persönliche Kaufkraft- und Wertverluste durch Inflation, Vertreibung, Enteignung und Kriegszerstörung ließen sich nicht ermitteln. Dabei waren viele NS-Belastete mit Sicherheit erheblich davon betroffen. Diese Faktoren verstärkten oftmals die finanzielle Notlage, die durch den Arbeitsplatzentzug und sonstige Berufsbeschränkungen im Zuge der Entnazifizierung entstand.412 Um diesbezüglich weiteren Geldstrafen und Konfiskationen von Sachwerten zu entgehen, ist auch die Verheimlichung oder Übertragung von Vermögen überaus denkbar. Daneben liegen keine Auskünfte über Aktiva vor, die den NS-Belasteten juristisch nie selbst gehörten, dafür aber zum Beispiel den Eltern und Ehepartnern und daher von ihnen genutzt werden durften. Aufgrund all dieser ungenauen Größen wurde auf eine systematische Analyse der ökonomischen Kapitalien im Sinne Bourdieus verzichtet. Das gilt auch für die Gehälter in der DWK und DDR-Regierung, die im Wesentlichen von den jeweils eingenommenen Positionen abhingen.413 Sie stehen allerdings indirekt im Blickpunkt, wenn im Folgenden auf die ausgeübten Funktionen im Staatsapparat eingegangen wird. Außerdem spielten für den politischen Anpassungsdruck vorhandene Alternativen auf dem Arbeitsmarkt eine Rolle, die sich teilweise aus den beruflichen Stationen vor und nach der Beschäftigung in der zentralen Staatsverwaltung ableiten lassen. Eine unmittelbare Begünstigung durch die Sozialpolitik zugunsten körperbehinderter Menschen scheint im Falle der untersuchten Nationalsozialisten praktisch entfallen zu sein. Zwar gab es bestimmte Beschäftigungsquoten, die für den staatlichen Verwaltungsapparat angestrebt wurden. Eine Reihe von ehemaligen Pgs. war auch offiziell als schwer- oder sogar schwerstbehindert anerkannt. Dabei waren die Handicaps meist durch direkte Kriegseinwirkung entstanden. Doch bei Durchsicht der Quellen entsteht der Eindruck, dass eine hilfsbedürftige physische Beeinträchtigung zu keiner Zeit geeignet war, um einer NSBelastung im Rahmen einer kaderpolitischen Gesamtabwägung etwas entgegenzusetzen.414 Eher unvorteilhaft war für ehemalige NSDAP-Mitglieder ein Status als Heimatvertriebener oder, wie es im SED-Jargon hieß, „Umsiedler”.415 Die Kaderverantwortlichen sahen es, bei grundsätzlichen Bemühungen um eine Integration der Millionen von Flüchtlingen, als ernsthaftes Problem an, die NS-Belasteten unter ihnen ausfindig zu machen und entsprechend zu behandeln. Der mangelnde Zugriff auf einschlägige Schriftstücke und Zeugen begünstigte eine besonders weit verbreitete Biografiefälschung in 410 411 412 413 414 415 Vgl. Ross, Aufstieg, S. 157. Seifert, Politik, S. 458. Was frühere Nominalgehälter anbelangt, bewegten sich die Summen im NS-Sample innerhalb einer relativ großen Bandbreite, die weitgehend abhängig von Position und Branche war. Beispiele hierzu und zum Vermögensverlust (Gerhard F., Johannes A., Rudolf Ha.) sowie weitere Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 158. Damit muss an dieser Stelle die Frage, inwiefern ein besonderer Verdienst als Zeichen der Privilegierung anzusehen ist, durch die sich die Kader vom Rest der Bevölkerung abhoben, offen bleiben, siehe: Welsh, Kaderpolitik, S. 112; vgl. Gieseke, Genossen, S. 222. Der Anteil der Schwerbeschädigten bzw. zu über 50% körperbehinderten Angestellten in der zentralen Staatsverwaltung lag 1949-1956 relativ konstant bei 7-9%, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 159 (dort weitere Quellenangaben). Zur Vertriebenenproblematik (in der SBZ/DDR) siehe: Hoffmann, Integration; Fischer, Lexikon, S. 79 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 92 diesem Personenkreis.416 Darüber hinaus richtete sich Misstrauen gegen Heimatvertriebene, weil ein Teil von ihnen sich nicht mit dem Verlust der alten Heimat abfinden wollte und zum Beispiel die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkannte. Sie galten daher als (potenziell) revanchistisch und politisch wankelmütig oder unzuverlässig. Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, dass die Personalabteilungen auf der zentralen Verwaltungsebene sich zumindest Ende der vierziger Jahre mehr als andere Stellen zurückhielten, Flüchtlinge einzustellen, deren Biografie kaum bekannt oder nur schwer überprüfbar war. Denn das „Einschleichen” eines politisch schwer belasteten Heimatvertriebenen in dieses Organ hätte aus Sicht der SED wesentlich mehr Schaden anrichten können als zum Beispiel in einer kleinen Gemeindeverwaltung. Der Versuch einer solchen Risikominimierung ist im Zusammenhang mit den Bemühungen zur effektiveren Kaderkontrolle und Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind in den wichtigen Regierungsdienststellen zu sehen. In der Deutschen Wirtschaftskommission kamen „Umsiedler” 1949 daher mit fünf Prozent im Gesamtpersonal deutlich weniger vor als im gesamten öffentlichen Dienst der SBZ, wo ihr Anteil zur gleichen Zeit zwanzig Prozent betrug.417 Eine genaue Quantifizierung, wie viele der untersuchten NS-Belasteten in der DWK als Heimatvertriebene galten, ist aufgrund der diesbezüglich recht lückenhaften Quellenlage sehr schwierig. Zwar waren nachweislich über zwanzig von 154 in den nach dem Zweiten Weltkrieg abgetretenen deutschen Ostgebieten oder in osteuropäischen Staaten wohnhaft. Einige davon waren auch eindeutig in den verlorenen Regionen verwurzelt und hatten dort ihren Lebensmittelpunkt. Bei anderen, die nur einige Jahre in den entsprechenden Gebieten verbrachten, bestehen jedoch Zweifel, ob sie sich selbst überhaupt als Flüchtlinge empfanden oder auch echte Vermögens- und sonstige Verluste zu beklagen hatten.418 Bei Letzteren fiel zumindest der Nachweis bestimmter Unterlagen zur Dokumentierung des Lebenslaufes leichter, was wiederum einen Bewerbungsvorteil bei der Deutschen Wirtschaftskommission darstellte. Über solche Personen ließen sich eher Informationen anhand eines noch bestehenden sozialen Umfelds in Erfahrung bringen als bei „Umsiedlern”, deren Studienfreunde, Arbeitskollegen, Verwandte und Nachbarn in alle Winde verstreut waren. Was Wohnorte anbelangt, sticht beim NS-Sample der hohe Anteil von Angestellten ins Auge, die vor ihrer Einstellung bei der DWK bereits irgendwann einmal, unmittelbar zuvor oder seit jeher in Berlin gelebt und gearbeitet hatten. Dies traf auf rund 70% der untersuchten ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder zu. Hinzu kam eine Reihe von Kadern, die im direkt angrenzenden Brandenburger Umland wohnten.419 Daraus lässt sich 416 417 418 419 Die Oberpostdirektion Dresden schrieb in diesem Zusammenhang 1950 an das Ministerium für Post und Fernmeldewesen: »Bei der Übernahme der Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetenland in den Jahren 1945 und 1946 waren wir zu größter Vorsicht genötigt, da von allen Bewerbern die Zugehörigkeit zur NSDAP oder ihren angeschlossenen Organisationen verneint wurde. Nur die Bewerber, die durch ehem[alige] Mitarbeiter oder andere glaubwürdige Zeugen legetimiert [sic] werden konnten, wurden eingestellt.« Siehe: DO 1 / 26.0, 17513, Oberpostdirektion L, an Ministerium für Post und Fernmeldewesen, vom 01.12.1950 (Abschrift); vgl. den Fall eines Pgs., der aussagte, Verbindungen zum Widerstand des 20. Juli 1944 gehabt zu haben, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 159 f.; siehe auch Kapitel „NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“. In der DWK gab es im Juli 1949 nur 260 „Umsiedler” bei 5358 Angestellten insgesamt. In den DDRMinisterien lag die Quote zum 1.5.1951 bei 12,1% (991 von 8219 Beschäftigten). Weitere Details zur Erfassung von Heimatvertriebenen, auch im öffentlichen Dienst der SBZ sowie in der HVA, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 160; Wenzke, Wege, S. 258. Unter den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK gab es mehrere Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Einige gehörten den deutschen Minderheiten in solchen Staaten an, die dieselben nach 1945 ausbürgerten (z.B. Sudetendeutsche). Bei anderen wiederum handelte es sich um Angestellte, die kürzere oder längere Zeit in kriegsbesetzten Gebieten gearbeitet und gelebt haben, z.B. in Polen („Wartheland”, „Generalgouvernement“), und dem „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren”. Diverse Beispiele aus dem NS-Sample siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 160. Angaben zu Wohnorten vor der Arbeitsaufnahme bei der DWK konnten bei 132 von insgesamt 154 Personen ausfindig gemacht werden. 51 von ihnen waren nachweisbar in zwei oder mehr Orten wohnhaft, Jens Kuhlemann – Braune Kader 93 zum einen auf eine allgemeine Immobilität innerhalb der SBZ oder auch Gesamtdeutschlands schließen, die eine Rekrutierung aus Bewerbern vor Ort stark begünstigt hat. Zum anderen ist dies ein Zeichen für die beruflichen Qualitäten insbesondere der hinzuziehenden ExNationalsozialisten. Denn sie wurden als überdurchschnittlich gute Fachleute in wichtige zentrale Verwaltungsdienststellen oder Wirtschaftsunternehmen berufen, die ihren Sitz an der Spree hatten. Die räumliche Präsenz erleichterte den NS-Belasteten dann natürlich eine persönliche Kontaktpflege im Rahmen ihrer Bewerbung und Beschäftigung bei der Deutschen Wirtschaftskommission. Darüber hinaus lassen die vielen „Ur-Berliner” gewisse Annahmen über die Mentalität der Betreffenden zu, auf die noch näher eingegangen wird. Etliche der Pgs. lebten in der Hauptstadt schon seit vielen Jahren in ihren Wohnungen und Häusern. Sie hatten in den jeweiligen Vierteln ihr gewohntes Lebensumfeld. Die SED verlangte von vielen im Zuge der noch zu beschreibenden „W-Aktion” nichts Geringeres als die Aufgabe all dessen. Soziale und politische Prozesse standen also miteinander in intensiver Wechselwirkung. 2.1.1 Frauen Während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit nahmen viele Frauen die Arbeitsplätze von Männern ein, die ihren Dienst bei der Wehrmacht versahen. Daraus ergab sich jedoch kein anhaltender Emanzipationseffekt. Denn nach der schrittweisen Rückkehr der Männer aus der Kriegsgefangenschaft und der Kompensierung der Bevölkerungsverluste durch zuströmende Ostflüchtlinge in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre nahmen die zeitweilig berufstätigen Frauen oftmals wieder ihre traditionelle Rolle als Mutter und Haufrau ein.420 Die kommunistischen Machthaber strebten im Gegensatz dazu eine steigende Erwerbstätigkeit von Frauen an. Sie taten das zum einen aus ideologischen, eine Geschlechterbenachteiligung ablehnenden Gründen. Zum anderen befanden sich unter den Frauen weit weniger NSDAP-Angehörige und Inhaberinnen verantwortlicher Posten in Hitlerdeutschland als bei den Männern. Frauen stellten daher eine derjenigen Bevölkerungsgruppen dar, die die SED als vielversprechendes Rekrutierungsreservoir für ihre Kaderpolitik betrachteten. Früh setzte eine personalpolitische Förderung ein. Die SMAD sicherte gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu. Der weiblichen Bevölkerung boten sich in den fünfziger und sechziger Jahren ganz allmählich in wachsendem Maße auch Beschäftigungsoptionen außerhalb traditioneller Frauenberufe und neue Qualifizierungsmöglichkeiten. Letztere wurden in großem Umfang wahrgenommen, die soziale Mobilität wuchs. Durch eine stärkere Einbindung der femininen „Gesellschaftshälfte“ zielte die SED letztlich auf eine bessere Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruches. Diese Hoffnung war nicht unbegründet angesichts einer größeren Verbundenheit mittels neuer Aufstiegserfahrung und zunehmender ökonomischer Unabhängigkeit. Daneben existierte für die Kaderverantwortlichen ein Zwang zur offeneren Frauenpolitik aufgrund der permanenten 420 und zwar für mehrere Monate, Jahre oder ein Leben lang. Daher sind Mehrfachnennungen möglich. Ein Berliner Wohnsitz ist bei 93 ehemaligen Nationalsozialisten überliefert, einer in der SBZ bei 43. Für die nach dem Zweiten Weltkrieg abgetretenen deutschen Ostgebiete und osteuropäische Staaten ist ein längerer Aufenthalt in 22 Fällen zu ermitteln gewesen, für Westdeutschland und das westliche Ausland in 27, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 161. Merkel, Leitbilder, S. 362 f.; Ross, Aufstieg, S. 149; zur Frauengeschichte im besetzten Berlin siehe: Boveri, Tage. Jens Kuhlemann – Braune Kader 94 Knappheit an berufsqualifizierten Kräften. Sie gewann durch den Westabgang vor allem ausgebildeter, lediger junger Männer weiterhin an Schärfe.421 Trotz dieser Vorgaben blieb die berufliche Realität der DDR hinter den Erwartungen zurück. Auch die Geschichte ehemaliger Nationalsozialisten in der DWK und den DDRMinisterien macht hier keine Ausnahme und ist männlich dominiert. Der Frauenanteil an der Gruppe der untersuchten NS-Belasteten in der Deutschen Wirtschaftskommission lag bei nur sieben Prozent. Selbst unter Berücksichtigung, dass im NS-Sample Angehörige der frauenfreien SA vertreten sind, bewegte sich der weibliche Anteil an den NSDAP-Mitgliedern in der DWK lediglich zwischen 6 und 14%.422 Dieses Niveau war etwa drei- bis sechsmal so niedrig wie das der weiblichen Mitarbeiterinnen im Gesamtpersonal. Bezogen auf alle DWKAngestellten stieg die Frauenquote innerhalb eines guten Jahres nämlich von 32 auf 37%.423 Diese Größe entsprach zu jener Zeit ungefähr der Geschlechteraufteilung im öffentlichen Dienst der SBZ.424 Der allgemeine Trend zur vermehrten Beschäftigung von Frauen setzte sich anschließend in den zentralen DDR-Regierungsdienststellen fort. Von Ende 1949 an kletterte der Anteil der dort beschäftigten Frauen innerhalb von gut zwei Jahren auf 48%. Er sank dann bis 1954 wieder auf etwa 43% und blieb in der Folgezeit auf diesem Niveau.425 Das durch die Westabwanderung sehr zugunsten der Frauen verschobene Geschlechterverhältnis in der DDR schlug sich in diesen Zahlen also nur bedingt nieder. Eine Erklärung hierfür mag die Bedeutung der Regierungsdienststellen gewesen sein, in die höher qualifizierte – männliche – Kader eher eingestellt wurden als in unwichtigeren Institutionen. Die Entwicklung des Frauenanteils an den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern im DDR-Ministerialapparat korrelierte mit der Auf- und Abwärtsbewegung im Gesamtpersonal. Einer Verdoppelung von zehn auf zwanzig Prozent folgte bis zum Jahr 1954 ein Rückgang im fast gleichen Verhältnis.426 Die weiblichen NS-Belasteten wiesen also kaderpolitisch offenkundig nicht mehr oder weniger Gründe auf, im zentralen Staatsapparat belassen zu werden, als alle anderen angestellten Frauen auch. Dabei blieb die wesentlich geringere Frauenquote unter ehemaligen Nationalsozialisten im Vergleich zum Frauenanteil am Gesamtpersonal in den fünfziger Jahren bestehen.427 Andere statistische Erhebungen veranschaulichen in diesem Zusammenhang, dass unter denjenigen Mitarbeitern im Regierungsapparat, die vor 1933 bzw. 1945 einer anderen Partei angehört hatten als der NSDAP, im Wesentlichen ähnliche Frauenquoten bestanden wie in der Gruppe der ehemaligen Pgs. Von allen Angestellten, die also vor Hitlers Machtergreifung die Mitgliedschaft der KPD, SPD und der kleineren Arbeiterparteien besaßen, waren je nach Partei und Zeitpunkt der Erfassung zwischen vierzehn und 24 Prozent Frauen. Eine Ausnahme bildete lediglich die Gruppe der einst in bürgerlichen Parteien (DVP, DNVP, BVP, Deutsche Staatspartei, Zentrum etc.) organisierten Mitarbeiter, deren Frauenanteil zumeist unter dieser Spannbreite lag.428 Aus dieser relativen Gleichheit lässt sich der Schluss ziehen, 421 422 423 424 425 426 427 428 Gerhard, Lösung, S. 383-403; Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 150 f.; Ross, Aufstieg, S. 149; Roß, Eliten, S. 188 f.; zur Entwicklung weiblicher Traditionslinien der industriellen Berufstätigkeit siehe: Hofmann / Rink, Mütter. Von 154 untersuchten NS-Belasteten in der DWK waren 10 Frauen und 144 Männer. 22 Männer im NSSample gehörten der SA an, der Frauen wegen ihres Charakters als Schutz- und Kampftruppe nicht beitraten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 12 und 18). Zu den Auswirkungen der Übersiedlung in den Westen: Niethammer, Erfahrungen, S. 100. Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 f. (Abb. 11). Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 163. Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 13). Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 14). Quellenangaben zu weiteren Statistiken über Frauen in Verwaltungsapparaten, teilweise denen der Länder, der örtlichen Organe und nachgeordneten Dienststellen, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 163. Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 17), 164 (dort weitere Erläuterungen zu Frauen und Parteibindung vor 1945 bzw. vor 1933). Jens Kuhlemann – Braune Kader 95 dass es andere Gründe als die NSDAP-Zugehörigkeit gewesen sein müssen, die im Vergleich zum Gesamtpersonal zu der besonders niedrigen Frauenquote innerhalb der Gruppe der ehemaligen Nationalsozialisten führten. Den weiblichen NS-Belasteten wurde ihr politischer Makel also keineswegs stärker angekreidet als den männlichen. Unterm Strich scheint die Frauenerwerbsquote in den DDR-Ministerien zwar trotz späteren Rückgangs recht hoch gewesen zu sein. Ein Blick auf die eingenommenen Positionshöhen relativiert diesen Eindruck jedoch erheblich:429 Die weiblichen Beschäftigten übten vor allem Tätigkeiten mit geringerem Status, Einkommen, Ansehen und Einfluss aus. Sie arbeiteten zumeist als Sekretärinnen, Stenotypistinnen oder auf der Sachbearbeiterebene. Ihr Anteil an der Besetzung dieser unter „übrige Funktionen“ zusammengefassten Stellen stieg 1950-1956 von 60 auf 88%. Im technischen Personal, also beispielsweise bei den Reinigungskräften, stieg die Frauenquote bis Mitte der fünfziger Jahre von 34 auf 49%. In den mittleren und leitenden Hierarchien konnten sich die Männer hingegen klar behaupteten. Der Frauenanteil lag auf der Referentenebene 1950 bei nur zwölf Prozent und erhöhte sich im Weiteren auch lediglich auf 21%. Noch deutlicher war die maskuline Übermacht in den leitenden Positionen. Dort ging die Präsenz berufstätiger Frauen in den fünfziger Jahren sogar von acht auf fünf Prozent zurück. Eine insgesamt hohe Erwerbstätigenrate von Frauen ist also, wie die Positionsauffächerung zeigt, noch kein Beleg für eine tatsächliche Gleichberechtigung.430 Diese Aussage gilt erst recht für die ehemaligen NSDAP-Mitglieder. Einerseits war die Reihenfolge, wie sie vorstehend für das Gesamtpersonal, beginnend bei den „übrigen Funktionen“ und endend bei den leitenden Posten, beschrieben wird, bei ihnen zwar die gleiche. Unter allen Pgs., die auf der jeweiligen Ebene arbeiteten, waren jedoch bei weitem noch weniger Frauen vertreten. Das galt für alle Positionshöhen gleichermaßen.431 Die gemachten Ausführungen verdeutlichen, dass die gesetzlichen und sonstigen kaderpolitischen Bemühungen zur Förderung der Frauen im Berufsleben in der staatlichen Verwaltung der frühen DDR nur sehr begrenzte Erfolge verbuchen konnte. Im zentralen Staatsapparat sollte sich wie generell überall im Land auch bis zum Ende der DDR nichts an dem Grundsatz ändern, dass eine Institution oder Position umso wichtiger war, je niedriger der Frauenanteil lag.432 Was war die Ursache für die beschriebenen Befunde? Der Grund lag allgemein in einem weiterwirkenden patriarchalischen Gesellschaftsverständnis und einer daraus resultierenden geschlechtsspezifischen Chancenungleichheit.433 In diesem Zusammenhang waren Frauen vor 1945 traditionell beim Erwerb höherer Bildung benachteiligt. Wenn sie dennoch einen Hochschulabschluss erwarben, besaßen ihre Väter im Vergleich zu den männlichen Kommilitonen einen überdurchschnittlich hohen akademischen Grad. Die soziale Herkunft der höher gebildeten Frauen hatte dann also einen wesentlichen Einfluss ausgeübt.434 Doch selbst wenn Frauen eine beruflich gute Qualifizierung nachweisen konnten, gelang es ihnen oft nur mit Mühe oder überhaupt nicht, in die Stellungen mit den meisten Einflussmöglichkeiten vorzudringen. Was die Positionshöhen anbelangt, bekamen die SED-Funktionäre also auch ein wenig Angst vor der eigenen Courage. 429 430 431 432 433 434 Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 15), 164. Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 148, 157-160; vgl. Ross, Aufstieg, S. 148. Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 16). Diese Feststellung traf auch auf andere Ostblockländer zu. In den Ministerien und zentralen Staatsorganen der DDR waren Frauen 1989 im Vergleich zu anderen Sektoren wie den Räten der Bezirke und den Betrieben weit weniger präsent. Und wenn sie es waren, dann in höchsten Führungspositionen wie denen der Minister und Staatssekretäre deutlich weniger als in darunter rangierenden Funktionen, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 191-193; Ross, Aufstieg, S. 149; Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 152-154; Welsh, Eliten, S. 149; Boyer, Kader, S. 33; vgl. für Polen: Rautenberg, Eliten, S. 195. Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 95 ff. Mertens / Voigt, Herkunft, S. 170; Niethammer, Erfahrungen, S. 102 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 96 Wie verhielt es sich nun mit den zehn weiblichen NSDAP-Mitgliedern in der Deutschen Wirtschaftskommission, die im NS-Sample zu finden sind?435 Acht von ihnen wurden 19201927 geboren und fielen daher nach Kriegsende unter die Jugendamnestie. Teilweise gehörten die ehemaligen Nationalsozialistinnen zunächst dem BDM an und wurden dann in die NSDAP überführt. Eine über die bloße Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und NSDAP hinausgehende Belastung ist mit Ausnahme der Fragebogenfälscherin Herta Ludwig, deren Biografiemanipulation ich noch näher behandele, praktisch nicht nachweisbar.436 Die weiblichen NSDAP-Angehörigen waren zur Zeit ihrer Beschäftigung in der DWK überwiegend ledig. Eine Konfliktsituation, in der eine Wahl zwischen Beruf und Familie zu treffen oder eine Doppelbelastung hinzunehmen war, stellte sich für die Dauer der Beschäftigung meistens also gar nicht. Sie war für den Fall des Ausscheidens aus der Dienststelle ebenfalls nicht nachzuweisen.437 Diese Umstände deuten andererseits auf einen erhöhten Zwang der Unverheirateten zur Berufstätigkeit zwecks Bestreitung des Lebensunterhalts hin. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass es sich um besonders berufsund weniger um familienorientierte Frauen handelte, die aufgrund ihres Personenstandes auch sozial unabhängiger waren. Sie arbeiteten als Krankenschwester, Stenotypistin, Sekretärin, Buchhalterin und auf der Sachbearbeiterebene. Die beiden älteren NSDAP-Mitglieder wiesen als Referentin und im Fall von Herta Ludwig als Hauptreferentin bzw. persönliche Referentin des stellvertretenden DWKVorsitzenden Handke bezeichnenderweise auch gleich höherrangige Tätigkeitsmerkmale auf. Bei Letzterer stimmen die soziale Herkunft und der Bildungsgrad mit den oben beschriebenen Forschungsergebnissen überein: Ludwig besaß als Diplom-Volkswirtin als einzige einen Hochschulabschluss und trug sogar einen Doktortitel. Ihr Vater war Ingenieur. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie als Assistentin an der Berliner Universität und als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin in einem nicht näher benannten Ministerium bzw. als Referentin beim SS-Hauptamt. Mit diesen Biografieanteilen stellte sie eine Ausnahme dar, sowohl im NS-Sample als auch unter allen einst im NS-Regime organisierten Frauen und unter sämtlichen weiblichen Mitarbeiterinnen der DWK. Das Elternhaus hat ihr scheinbar beim Erwerb eines hohen Bildungsgrades und einer akademisch geprägten Berufslaufbahn eine günstige Ausgangslage geboten. Die Informationen zu den anderen nationalsozialistisch vorbelasteten Frauen in der Wirtschaftskommission lassen auf ein unterschiedliches Niveau an Schul- und Berufsausbildung schließen. Ein paar absolvierten nach Volksschule, mittlerer Reife oder dem Lyzeum eine Lehre. Andere besuchten eine weiterführende Bildungseinrichtung wie eine Handels- oder Wirtschaftsschule. Vor Eintritt in die staatliche Verwaltung der SBZ konnten die meisten bereits eine mehrjährige Berufserfahrung vorweisen, die sie in der Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst gesammelt hatten. Es hat sich also nicht um ungelernte oder gänzlich unerfahrene Kräfte gehandelt. Die Personalleitungen der DWK-Hauptverwaltungen bescheinigten, soweit das in Erfahrung zu bringen war, überwiegend eine gute Arbeitseinstellung und Leistung. Ob dies auf einen besonderen Eifer zurückging, den Frauen zeigen, um sich in einer Männerwelt beweisen und behaupten zu können, ist unbekannt. Auch inwiefern typisch „weibliche“ Kompetenzen wie soziales Engagement im Kollegenkreis, Fürsorglichkeit oder Kommunikationsfähigkeit, mithin die heute als „soft skills“ oder emotional intelligent gerühmten Eigenschaften, vorhanden und erwünscht waren sowie zum Einsatz kamen, verraten die Quellen leider nicht.438 435 436 437 438 Kuhlemann, Kader (2005), S. 165. Siehe Kapitel „NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“. Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 148, 157-160; vgl. Ross, Aufstieg, S. 148. Vgl. Ross, Aufstieg, S. 165; Niethammer, Erfahrungen, S. 102 f.; zur weiblichen Bearbeitung familiärer Traumata, Entwurzelungen und Konflikte, besonders der aus der Kriegszeit herrührenden, vgl.: Hofmann / Rink, Mütter, S. 207. Jens Kuhlemann – Braune Kader 97 Die genannten Bildungs- und Berufsmerkmale gleichen denen der Frauen im Gesamtpersonal. Die NS-belasteten weiblichen Kader in der DWK nahmen vor allem Positionen in der unteren Verwaltungshierarchie ein. Fachlich waren sie vielleicht etwas besser ausgebildet als die meisten anderen ihrer Geschlechtsgenossinnen in der SBZ. Doch handelte es sich keineswegs um hochqualifizierte Kräfte. War dies doch der Fall, lag auch die Positionshöhe auf der internen Rangleiter weiter oben. Diese Analyse relativiert die Aussage, dass jemand trotz besserer Bildungsabschlüsse „künstlich“ aufgrund von Geschlechterdiskriminierung mit niederen Arbeiten beschäftigt wurde, obwohl eine verantwortungsvollere Tätigkeit möglich gewesen wäre. Ein gewisser Aufstieg im zentralen Staatsapparat war selbst vergangenheitspolitisch makelbehafteten Frauen bei entsprechenden Qualifikationen nahezu sicher. Die Frage ist jedoch, wie viele Frauen tatsächlich Bildungsabschlüsse erwarben, die sie für eine entsprechende Verwaltungsstelle empfahlen. Hinzu kam, ob eine Frauenkarriere trotz Fachkompetenz in der Verwaltungshierarchie auch bis zu den höchsten Ebenen führen konnte und nicht auf den darunter liegenden ins Stocken geriet. Inwiefern die betreffenden Frauen zwar Leitungspositionen einnehmen konnten, dies aber gar nicht wollten, etwa weil sie es sich nicht zutrauten und sich gegenüber männlichen Kandidaten zurückhielten, muss hier offen bleiben.439 Angesichts nur verhalten entwickelter Fachqualitäten ist ein besonderes Augenmerk auf die politische Vita der untersuchten Frauenbiografien zu richten. Aufgrund ihres meist jugendlichen Alters bei Eintritt in die NSDAP und keiner aus den Quellen hervorgehenden besonderen Aktivitäten vor 1945 traf auf die allermeisten dieser früheren weiblichen NSDAPMitglieder eine besonders geringe NS-Belastung zu. Die Jugendamnestie wird bei ihnen wahrscheinlich dazu geführt haben, dass nicht einmal Entnazifizierungsverfahren stattfanden. Darüber hinaus fiel das Urteil der DWK-Hauptverwaltungen zum politischen Engagement in der SBZ grundsätzlich „positiv“ aus. Die Hälfte der NS-belasteten Frauen gehörte der SED an. Doch auch bei den Parteilosen unter ihnen fanden sich gesellschaftlich aktive und politische Funktionen ausübende, „fortschrittlich“ eingestellte und theoriebemühte Mitarbeiterinnen. Eine Ausnahme bildete in diesem Punkt erneut Herta Ludwig, die trotz ihrer Zugehörigkeit zur KPD/SED politisch passiv und ohne Klassenbewusstsein gewesen sein soll. Insgesamt kommt bei den ehemaligen Nationalsozialistinnen jedoch das allgemeine Bemühen der Personalleiter zum Ausdruck, junge und politisch aufgeschlossene Kräfte zu rekrutieren. Trotz des „Risikos“ des ehe- oder kinderbedingten Ausfalls sollten dabei auch fachlich und gesellschaftlich „entwicklungsfähige“ NS-belastete Frauen gefördert und weitergebildet werden. Dennoch war, wie eingangs festgestellt, die Frauenquote innerhalb der Gruppe der ehemaligen Nationalsozialisten im Vergleich zum Gesamtpersonal der DWK und DDRRegierung auffallend niedrig. Das ist ein Beleg dafür, dass NS-belastete Personen in der Deutschen Wirtschaftskommission vor allem dann eine Anstellung fanden, wenn sie als „Ausgleich“ für ihr politisches Manko eine überdurchschnittlich gute Fachqualifikation vorweisen konnten. Es sei denn, es handelte sich wie bei den meisten weiblichen Pgs. um sehr junge und vergleichsweise gering belastete Kader. Eine besonders gute Berufsausbildung und –erfahrung wiederum besaßen traditionell vornehmlich Männer. Frauen – nationalsozialistisch belastete wie unbelastete – hatten hier mit überkommenen Benachteiligungen zu kämpfen und waren entsprechend selten in mittleren und leitenden Positionshöhen zu finden. Auf der anderen Seite gab es für diejenigen Tätigkeitsfelder, die eine geringe oder überhaupt keine Fachqualifikation erforderten, genügend politisch unbelastete Bewerberinnen. Vor die Wahl gestellt, eine ehemalige NS-Parteigenossin als Reinigungskraft einzustellen oder eine Parteilose, entschied sich die Wirtschaftskommission deshalb gegen die ehemalige NSDAP-Angehörige. Ein solches Vorgehen entsprach den DWK-Personalrichtlinien, die bei gleich qualifizierten Kandidaten den NS-Unbelasteten den 439 Vgl. Ross, Aufstieg, S. 162 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 98 Vorzug gaben. Alles zusammen erklärt, warum die früheren Nationalsozialistinnen in der DWK fast gar nicht in Führungspositionen und auch nicht in technischen anzutreffen waren. Beim Einsatz auf der unteren Verwaltungsebene kamen ihnen schließlich neben ausreichenden Fachkenntnissen und geringer NS-Belastung gute Arbeitsleistungen und ein politisches Verhalten im Sinne der SED zugute.440 2.1.2 Alter Der Altersaufbau der untersuchten NS-Belasteten liefert wichtige Hinweise darauf, welche generationenspezifischen Zwänge und Chancen den ehemaligen Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission begegneten. Es ergeben sich beispielsweise die Fragen, in welchem Maße sie zu den Jahrgängen gehörten, die den Nationalsozialismus am ehesten geprägt haben bzw. die umgekehrt das NS-Regime besonders beeinflusst hat. Inwiefern gab es Altersgruppen, die mehr als andere unter seinen Auswirkungen litten? Welche Jahrgänge waren beruflich am gefragtesten, welche politisch besonders anpassungsfähig? In diesem Rahmen ist zu ergründen, inwiefern die HJ-Generation, zu der ich an dieser Stelle alle unter die Jugendamnestie Fallenden rechne, in der DWK von dem Bestreben der SED profitierte, junge Kräfte in den Verwaltungsapparat einzubauen. In diesem Zusammenhang hat die SBZ-/DDR-Forschung methodisch schon öfter auf eine Differenzierung der Eliten nach Generationen zurückgegriffen. Auch in diesem Fall erscheint mir eine Aufteilung in bestimmte Kohorten sinnvoll.441 Die Alterszusammensetzung erlaubt dabei Rückschlüsse auf die jeweilige Sozialisation. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass ein Wertewandel zwischen zwei Generationen vorliegt, wenn bestimmte Jahrgänge wichtige politischen Erfahrungen ihrer formativen Jugendphase gemeinsam teilen und als derartige Prägung erleben, dass sie sich dadurch von ihrer Vorläufergeneration unterscheiden. Nach Wilhelm Bürklin stellen die Phasen der verschiedenen staatlichen Systeme eine Abgrenzung der „zeitlich umgrenzten Abschnitte kollektiven Geschehens, die mehrere Geburtsjahrgänge als Erlebnisgemeinschaft konstituiert“, dar. Seine Einteilung in „politische Generationen“ gestaltet sich wie folgt:442 Politische Generation Kaiserreich Weimarer Republik Drittes Reich Sozialisation bis 1918 1919-1932 1933-1945 Geburtsjahr bis 1903 1904-1917 1918-1930 Es ist zu vermuten, dass alle genannten Generationen in relativ gleichem Maße Pflichtund Akzeptanzwerten gegenüber aufgeschlossen waren.443 Eine umfassende Absicherung der eigenen beruflichen oder familiären Existenz genoss Vorrang. Selbstentfaltungswerte und persönliche Freiheit spielten demgegenüber in weit geringerem Maße eine Rolle als 440 441 442 443 Quellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 168; Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 148, 157-160; vgl. Ross, Aufstieg, S. 148; zu den günstigen Aufstiegschancen der Frauen in der „FDJ-Generation“ siehe: Merkel, Leitbilder, S. 366. Vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26. Auf der individuellen Ebene geht Bürklin bei der formativen Phase gesellschaftlicher Wertorientierungen vom Lebensabschnitt zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr aus, wobei das 15. Lebensjahr quasi als statistischer Mittelwert dient, siehe: Bürklin, Einstellungen, S. 393-395; vgl. Schnapp, Merkmale, S. 103 f. Vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 356, 364. Jens Kuhlemann – Braune Kader 99 heutzutage. Alle hier vorgetragenen Verallgemeinerungen geben natürlich bestenfalls Tendenzen wieder. Unter Sozialisation und Prägung ist nicht zwangsläufig ein bejahender Automatismus zu verstehen. Die Möglichkeit der kritischen Reflexion bleibt bestehen. Auch ist die hier vorgenommene Aufteilung bestimmter Geburtsjahrgänge in politische Generationen keine scharfe und ausschließliche. Wesentlich ist allein der Versuch, bestimmte historische Erfahrungen und Lebensumstände als für spezifische Altersgruppen bewusstseinsbildend und handlungsprägend herauszustellen.444 Es ist eben zu berücksichtigen, dass Menschen nicht nur Produkte ihres sozialen Umfelds sind. Sie gehen oft ihre eigenen Wege, haben individuelle Lebensgeschichten und Schlussfolgerungen, die sie daraus ziehen. Damit verbunden ist die geistige Lern- und Wandlungsfähigkeit, der die SED eine große Bedeutung beimaß. Hinsichtlich der politischen Erfahrungen ergeben sich in diesem Zusammenhang Altersunterschiede bei der Frage, inwiefern die DWK-Angestellten vor 1945 überhaupt andere politische Systeme als das NS-Regime persönlich kennen gelernt hatten. Die in den dreißiger Jahren Geborenen, deren Sozialisation als erste überhaupt nichts mehr mit dem „Dritten Reich“ zu tun hatte, spielten für die Kaderpolitik erst ab Mitte der fünfziger Jahre eine Rolle.445 Die nach dem Ersten Weltkrieg Geborenen sind im Nationalsozialismus aufgewachsen und haben in ihrem Bewusstsein nichts anderes als ihn erfahren. Diejenigen, die etwa seit der Jahrhundertwende auf die Welt kamen, sind zur Zeit der freiheitlichdemokratischen Weimarer Republik sozialisiert worden. Sie besaßen vor 1933 teilweise schon das Wahlrecht, standen vor der Entscheidung, sich politisch zu erklären oder zu engagieren, und haben den Übergang zur Diktatur miterlebt. Ältere Jahrgänge erfuhren ihre Wertebildung im Kaiserreich. Sie erlebten im Unterschied zu ihren Nachfolgegenerationen den verlorenen Ersten Weltkrieg und den Wechsel zur politisch instabilen Demokratie. Genauso wichtig wie der rückwärtige Blick auf die Sozialisationsphase und die Lebensabschnitte bewusst gemachter politischer und sozialer Erfahrungen ist die Betrachtung der sich den ehemaligen Nationalsozialisten bietenden Zukunftsperspektiven am Vorabend der Entstehung zweier deutscher Staaten. In diesem Zusammenhang ist die von Hartmut Zwahr vorgenommene Generationeneinteilung von Nutzen, die ich argumentativ ergänzen möchte.446 Eine erste Gruppe bilden danach die Jahrgänge 1880 bis 1909, die bei DDRGründung ein Alter von 40 bis 69 Jahren erreicht hatten. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unterstand ein größerer Teil von ihnen keiner Kriegsdienstpflicht mehr. Zum Zeitpunkt der deutschen Niederlage befanden sich die Überlebenden dieser Jahrgänge im Alter zwischen 36 und 65 Jahren. Der Krieg, die Kapitulation und die Entnazifizierung unterbrachen oder beendeten ihre Karrieren. Die Betroffenen standen daher zwischen 1945 und 1949 vor der Entscheidung, in der SBZ zu bleiben oder im Westen die berufliche Existenz unter vermeintlich oder tatsächlich günstigeren Bedingungen fortzusetzen bzw. als Ruheständler Versorgungsbezüge zu erhalten. Berlin stellte insofern einen Sonderfall dar, als noch bis zum Mauerbau das Nachgehen einer Erwerbstätigkeit im Westteil der Stadt bei gleichzeitigem Wohnort im sowjetischen Sektor im Allgemeinen möglich war. Speziell in der zentralen Staatsverwaltung ging Letzteres jedoch ab 1949 nicht mehr.447 Es folgt die nächste Gruppe der Jahrgänge 1910 bis 1919, die sich ebenfalls nach dem Krieg aufgrund ihres Alters und ihrer abgeschlossenen Ausbildung in einer Entscheidungssituation befanden, abzuwandern oder in der SBZ zu bleiben. Beeinträchtigungen oder gar ein Ende der Karriere konnte diese Generation weniger akzeptieren als die vorherige. Schon allein deshalb, weil ihre Kinder beruflich noch nicht auf eigenen Füßen und existenziell in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Elternhaus 444 445 446 447 Welsh, Kaderpolitik, S. 122. Schütrumpf, Stalinismus, S. 79 f. Zwahr, Umbruch, S. 448-450. Zur hierfür maßgeblichen „W-Aktion“ siehe Kapitel „Westkontakte“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 100 standen. Mitunter mussten auch noch die Eltern versorgt werden, was bei der zuerst genannten Jahrgangsgruppe (1880-1909) durch Alterssterblichkeit zunehmend entfiel. Doch auch die eigenen Lebensentwürfe waren zu großen Teilen noch nicht verwirklicht. Die Prägung in der NS-Gesellschaft begann 1933 im Alter von 14 bis 23 Jahren. Bei Kriegsausbruch waren sie 20 bis 29 Jahre alt, bei Kriegsende 26 bis 35 Jahre. Allen Geburtsjahrgängen bis 1910 und – wegen der besseren beruflichen Aufstiegschancen in eingeschränktem Maße – auch noch denen bis 1920 wurde in der DDR die stärkste Anpassungsleistung abverlangt. Die neuen Machthaber forderten von ihnen eine radikale Abgrenzung zum Faschismus, in dem sie sich als politisch zurechnungsfähige Menschen zumeist auf die eine oder andere Weise eingerichtet hatten. Darüber hinaus verlangte die SED eine Abkehr von bourgeoisen und kapitalistischen Elementen in Staat und Gesellschaft, die sie oft vollkommen verinnerlicht hatten. Das „falsche“ Denken und Benehmen musste deshalb verborgen, verdrängt oder überwunden werden. Vieles wirkte dennoch weiter, wie Zwahr formuliert: »Hypothetisch aber sind im Alltag, in den Familien, in der Sprache, in der häuslichen Erziehung und den Mustern des Auftretens in der autoritär überformten Öffentlichkeit der DDR ältere, tieferliegende Bewußtseinsschichten anzunehmen, in denen Anpassung, nicht Widerstand vorherrschte.«448 Dem kann ich im Grundsatz zustimmen. Jedoch erscheint es mir ratsam, die Lebensumstände und Wertvorstellungen der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK noch eingehender zu beleuchten, bevor wir beginnen, allein aufgrund von altersbedingten Sozialisationserfahrungen für diese Gruppe von einem stärkeren tendenziellen Einverständnis zu sprechen, Freiheiten gegen Sicherheiten und Autonomie gegen Vormundschaft einzutauschen.449 Eine letzte Altersgruppe stellen die Jahrgänge 1920 bis 1929 dar. Ihre Angehörigen wiesen die wohl stärkste NS-Sozialisation auf. Nationalsozialistische Inhalte begegneten ihnen in besonders frühem Lebensalter in der Schule und in ihrer Erziehung sowie durch die Erfassung in der Hitlerjugend. Auf der anderen Seite traf die Jugendlichen, die nichts anderes kannten als den Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit bei vielen Erwachsenen erlebten, wie sie sich selbst wandelten und somit keine stabile Orientierung boten, eine sehr schwere Werte- und Vertrauenskrise.450 Sie waren 1933 vier bis dreizehn Jahre alt und 1939 zehn bis neunzehn Jahre. 1945 zählten sie dann 16 bis 25 Jahre, 1949 schließlich 20 bis 29. Die Mitte der zwanziger Jahre geborenen Männer verzeichneten neben den Jahrgängen 19101919 die meisten Kriegstoten und Geschädigten. Diese Jahrgänge hatten die Berufsausbildung, den Besuch höherer Schulen und ein Studium in der Regel begonnen, aber noch nicht abgeschlossen. Eine längere Karriereunterbrechung war wenn, dann durch Militärdienst oder Kriegsgefangenschaft eingetreten, jedoch kaum aus politischen Gründen. Denn eine nationalsozialistische Belastung dieser HJ-Generation fiel unter die Jugendamnestie und wurde im Rahmen der Kaderpolitik weit nachsichtiger behandelt als bei Älteren. Die Jahrgänge 1920 bis 1929 bildeten zusammen mit den wenige Jahre Älteren und Jüngeren das Gros der FDJ-Aufbaugeneration. Dieser Altersgruppe eröffneten sich – unter der Bedingung politischer Anpassung – besonders viele berufliche Aufstiegsoptionen: die Fortführung der Berufsausbildung, des Studiums und schließlich die Übernahme der von den Älteren beispielsweise wegen der Entnazifizierung geräumten Posten. Von Unterschieden bei Verdienstmöglichkeiten und bürgerlichen Freiheiten im innerdeutschen Vergleich abgesehen hatten die zwanziger Jahrgänge so gesehen am wenigsten Grund zur Westflucht. Dabei verfügten sie als oft noch Ledige und weniger an bestimmte Orte oder Arbeitgeber Gebundene gegenüber den älteren Generationen über die höhere Mobilität. Wer sich von ihnen dazu entschied, im Osten zu bleiben, empfand folgerichtig wegen der besonderen 448 449 450 Zwahr, Umbruch, S. 449. Vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 386. Eckert, Entnazifizierung, S. 54. Jens Kuhlemann – Braune Kader 101 Aufstiegserfahrung tendenziell eine weiterreichende Verbundenheit zur DDR als Vertreter anderer Altersgruppen.451 Wie sah nun vor diesem Hintergrund der Altersaufbau der früheren Nationalsozialisten in der DWK im Vergleich zum übrigen zentralen Staatsapparat aus? Die über Vierzigjährigen in der Gruppe der NS-Belasteten waren unterm Strich um einige Prozentpunkte stärker vertreten als im gesamten Kollegenkreis der Wirtschaftskommission.452 Die Kohorte der 3140 Jahre Alten entsprach dem Durchschnitt. Die Zahl der während des NS-Regimes sozialisierten, bis 30 Jahre jungen ehemaligen Pgs. fiel hingegen kleiner aus als bei den unbelasteten Mitarbeitern. Die nach dem 1. Januar 1919 geborenen und unter die Jugendamnestie fallenden NS-Belasteten machen etwa fünfzehn Prozent des NS-Samples aus. Über die im zentralen SBZ-Regierungsapparat beschäftigten Ex-Nationalsozialisten lässt sich also sagen, dass sie ihre Sozialisation überwiegend im Kaiserreich und in der Weimarer Republik erfahren hatten, stärker noch als der restliche Mitarbeiterstab. Nur wenige lernten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kein anderes Staatssystem als den Nationalsozialismus kennen. Der Erfahrungshorizont der meisten Pgs. umfasste mehr als die Zeit der NS-Diktatur. Aufgrund dieser Altersstruktur blieben nur wenige von der Entnazifizierung unberührt. Nur eine Minderheit stand relativ frei von personalpolitischen Vorbehalten am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn.453 Die meisten anderen NS-Belasteten befanden sich in der Mitte oder am Ende ihrer Karriere, waren im fortgeschritteneren Alter familiär gebundener und geografisch sowie politisch weniger beweglich. Das traf auf das NS-Sample auch im Vergleich zum Gesamtpersonal überdurchschnittlich oft zu. Diese Relationen untermauern darüber hinaus die Bedeutung der fachlichen Qualifikation bei der Wiedereingliederung früherer Nationalsozialisten in der SBZ. Für die Mehrheit waren eine gute Ausbildung, ein Hochschulstudium und der Erwerb beruflicher Praxis ausschlaggebend. All dies nimmt viele Jahre in Anspruch. Solche Fähigkeiten lassen sich nicht in Schnellkursen vermitteln. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die NS-Belasteten tendenziell älter waren als die übrigen Angestellten. Sie konnten die gewünschten Berufslaufbahnen bei Eintritt in die DWK bereits vorweisen. Die HJ-Generation vermochte in den Jahren 1948/49 mit vergleichbaren Fachqualitäten noch kaum zu trumpfen und kam deshalb gerade für höhere Positionen vorerst nicht in Frage. Sie musste ihre vielfach kriegsbedingt unterbrochene Ausbildung erst abschließen oder zunächst in anderen Wirtschafts- und Verwaltungseinrichtungen Erfahrungen sammeln. Bei den Stellen im Regierungsapparat, die ihrem Qualifikationsniveau entsprachen, hatte die Schar der jungen Ex-Nationalsozialisten gegenüber unbelasteten Mitbewerbern ebenfalls das Nachsehen, sofern nicht andere Kadermerkmale wie ein gesellschaftliches Engagement im Sinne der SED einen besonderen Rekrutierungsvorteil schufen.454 Der Vergleich des Altersaufbaus der DWK mit dem des gesamten öffentlichen Dienstes in der SBZ zeigt ebenfalls, dass sich in der zentralen Staatsverwaltung überdurchschnittlich viele erfahrene Kräfte befanden. In den weniger wichtigen Dienststellen in der Provinz arbeiteten mit Abstand mehr junge Kräfte unter dem 30. Lebensjahr und wesentlich weniger, 451 452 453 454 Zwahr, Umbruch, S. 448-450. Zum NS-Sample: Von 154 waren zu fünf Personen keine Geburtsdaten zu ermitteln. Einzelheiten zur Zuordnung zu einer Jahrgangskohorte mit Stichtag vom 31.12.1948 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 173 f. (Abb. 19 und 20). Generell hob Erich Honecker jedoch 1963 auf der 2. Tagung des ZK der SED hervor, die Partei habe besonders der „irregeleiteten und im faschistischen Sinne erzogenen Jugend“ eine Chance zum Neuanfang gegeben. Zitiert aus: Danyel, SED, S. 178. Vgl. das besonders eindrückliche Beispiel zum politisch motivierten Generationenwechsel des Mitarbeiterstabes der DJV bzw. des MdJ, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 174 f.; zu den alten Fachkräften in der DJV siehe auch: Kuhlemann, Teufel. Jens Kuhlemann – Braune Kader 102 die 40 Jahre und älter waren. Dabei gab es ein eindeutiges Übergewicht der älteren Generationen in den Leitungsfunktionen.455 Die gesamte Entwicklung in den fünfziger Jahren spricht allerdings dafür, dass auch die jungen NS-Belasteten in zunehmendem Maße persönliche Aufstiegserfahrungen machten. Denn nachdem die Personalpolitik schon in der DWK den zu Beginn relativ kleinen Anteil der jüngsten Mitarbeiter vergrößert hatte, setzte sich die Verjüngungskur im Ministerialapparat fort.456 Im zentralen Staatsapparat steigerten sich alle Altersgruppen unter 40 Jahre innerhalb von sieben Jahren zusammengenommen von 46 auf 57%.457 Von dieser Kräfteverlagerung profitierten mit Sicherheit auch die jungen Pgs. Denn der Prozentsatz ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Regierungsapparat blieb im selben Zeitraum relativ gleich, während die Gesamtzahl der Mitarbeiter ständig wuchs. Schon allein weil sich aus demografischen Gründen im Laufe der Zeit immer weniger ältere Jahrgänge unter den Eingestellten befanden, muss sich das Personal dabei aus immer mehr Personen zusammengesetzt haben, die den Nationalsozialismus lediglich als Jugendliche erlebt hatten. Die Regierungsdienststellen der DDR relativierten die Existenz der bei ihnen beschäftigten früheren Nationalsozialisten manchmal sogar ausdrücklich mit dem Hinweis auf deren junges Alter. Ihre Jugend war ein kaderpolitischer Vorteil bei der Verringerung des politischen Belastungsgrades.458 Ein zwischenzeitlich Mitte der fünfziger Jahre erfolgter Rückgang vor allem der bis 25Jährigen im Gesamtpersonal wird ein Indiz dafür sein, dass die Bedeutung fachlicher Qualifikation in der Kaderpolitik zunahm, die SED sich zugleich machtpolitisch sicherer fühlte und daher auf ihre ideologisch am leichtesten beeinflussbaren Helfer zugunsten einer Steigerung der fachlichen Effizienz teilweise verzichtete. Denn die jüngsten der Kader ließen sich wohl am ehesten von allen Mitarbeitern politisch erziehen und körperlich am stärksten belasten. In der Praxis aber waren sie den Anforderungen des Dienstes und vor allem der Menschenführung häufig nicht gewachsen. Man stelle sich einen Neueinsteiger Anfang zwanzig vor, der einem fünfzigjährigen Routinier Order erteilte – viel Autorität wird das „Grünhorn“ nicht besessen haben, von einer besseren Sachkenntnis ganz zu schweigen. Der teilweise sehr schnelle Aufstieg in höhere Funktionen bei Überspringen normalerweise üblicher Bildungs- und Berufsstationen bewirkte in dieser Altersgruppe also nicht nur fachliche Lücken. Er provozierte außerdem Durchsetzungsprobleme, die von moralischen Unzulänglichkeiten begleitet waren und sich in einer gewissen Überheblichkeit ausdrückten. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass sich schon unter den bis 25-jährigen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der DWK kein einziger in leitenden oder mittleren Positionshöhen befand. Derart junge Bewerber waren für diese Posten einfach nicht zu gebrauchen. Grundsätzlich stellten Jugendliche für die SED zwar eine bevorzugte Rekrutierungsgruppe dar.459 Um die Leistungsfähigkeit des zentralen Staatsapparates nicht zusätzlich zu beeinträchtigen, setzte die SED-Jugendpolitik dort aber zunehmend auf die Endzwanziger und Dreißiger. Dieser Kreis, darunter junge ehemalige Pgs., machte in den 455 456 457 458 459 Details zum Altersaufbau im öffentlichen Dienst der SBZ im Mai 1949 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 175. Kuhlemann, Kader (2005), S. 173 ff. (Abb. 21), 175. Vgl. das überdurchschnittlich junge Offizierkorps in der HVA 1951. Fast 90 % der Offiziere waren jünger als 30 Jahre. Über 2000 Offiziere in den Bereitschaften waren sogar jünger als 20 Jahre alt, in: Wenzke, Wege, S. 252 f. Die DWK-Hauptverwaltungen und die betreffenden Pgs. selbst betonten häufig, unter die Jugendamnestie zu fallen. Wegen einer geringeren NS-Belastung diente dies als Argument für eine Weiterbeschäftigung. Beispiele für Belastungsrelativierungen durch geringeres Alter im Amt für Information und im MdF siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 176; zu jungen NSDAP-Mitgliedern, die geschlossen am 20. April 1944 in die Partei eintraten, siehe: Joseph, Nazis, S. 203-205. Weitere Statistiken zur Jugendpolitik, teils in den Ländern, siehe: DO 1 / 26.0, 17331, 51/52/3/1; DO 1 / 26.0, 17343, 57/51/3/2; DO 1 / 26.0, 17352, 186/51/2/1; DO 1 / 26.0, 17471, 9/54/2/1; DO 1 / 26.0, 17476, 33/54/2/1; DO 1 / 26.0, 17344, 77/51/2/2; DO 1 / 26.0, 17348, 114/51/3/2. Jens Kuhlemann – Braune Kader 103 Regierungsdienststellen Karriere.460 Die Aufstiegschancen lockten. Viele Angehörige dieser den Kern der „Aufbaugeneration“ bildenden, ungefähr ab 1908 geborenen, teils in der Weimarer Republik, teils im Nationalsozialismus sozialisierten Kader waren nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches zudem auf der Suche nach neuen weltanschaulichen Orientierungen.461 Ein Blick auf die Stärke der einzelnen Alterskohorten auf den jeweiligen HierarchieEbenen der Regierungsdienststellen unterstreicht die vorstehenden Ausführungen.462 Die SED-Linie, bevorzugt junge, ideologisch formbare Kräfte einzustellen, bewirkte nicht nur eine Verjüngung des gesamten Personalkörpers, sondern auch zunehmende Handlungsspielräume der bis 40-Jährigen. Ihr Anteil an den mittleren und leitenden Positionen stieg nämlich bis Ende 1956 jeweils um vier bis zehn Prozentpunkte und verharrte in der Regel auf dem erreichten Niveau. Viele von ihnen hatten nach Ende des Zweiten Weltkrieges ihre Ausbildung fortsetzen und weitere Berufserfahrungen sammeln können, was sie auch fachlich etwas mehr empfahl als noch einige Jahre zuvor. Nur bei den bis 25 Jahre alten Angestellten stieß die Jugendförderung an ihre Grenzen. Ihre temporär anwachsende Präsenz in den Stellen ab Referent und aufwärts ging bald wieder auf fast das gleiche Ausgangsniveau zurück, wie es kurz nach der Staatsgründung bestand. Diese jüngste Altersgruppe konnte lediglich bei den unteren Verwaltungsposten markante Zuwächse verzeichnen. Die tatsächlichen Verlierer dieses sich seit Beginn der Entnazifizierung im Prozess befindlichen Generationenwechsels waren jedoch die Kohorten ab dem 40. Lebensjahr. Ihr Einfluss ging zurück. Der Anteil dieser älteren Jahrgänge nahm fast durchweg auf allen Leitungs-, Referenten- und darunter rangierenden Verwaltungsstellen ab. Den größten Rückgang gab es dabei in der Gruppe der 41- bis 50-jährigen Mitarbeiter. Bei den leitenden Funktionen betrug er zehn Prozent, bei den mittleren über vierzehn Prozent und bei den übrigen acht Prozent Minus.463 Ich führe all diese Altersverschiebungen darauf zurück, dass die SED zum Ausbau ihrer Macht bei der Einstellung neuer Kader in den Ministerien vor allem auf junge, entwicklungsfähige, politisch im sozialistischen Sinne auftretende Kräfte setzte. Die fachlichen Qualitäten blieben dabei zweitrangig, obwohl sie sich in dieser Teilgruppe verbesserten. Die SED konnte es sich mit zunehmender Festigung ihrer Herrschaft auch erlauben, fachlichen Erwägungen bei der Kaderauswahl ohne Erhöhung des Sicherheitsrisikos mehr Bedeutung einzuräumen. Daraus folgt gleichzeitig, dass sich in den jüngeren Altersgruppen häufiger als bei den älteren Kohorten Personen fanden, die zur politischen Kooperation bereit waren. Je älter hingegen jemand war, desto weniger galt er als lernfähig und für die neuen Ideen erreichbar. Bei mehreren Jahren, die selbst bei aufgeschlossen Geistern im Rahmen der SED-Erziehungstätigkeit zur Schaffung und Vervollkommnung eines neuen Bewusstseins zu veranschlagen waren, schien es nicht lohnenswert, noch auf ältere Mitarbeiter zu setzen, die über ein gefestigteres Weltbild verfügten oder sowieso bald in den Ruhestand traten. Die schon angesprochene Alterskohorte der 41- bis 50-Jährigen (Jahrgänge 1898-1907) ist in diesem Zusammenhang insofern von besonderem Interesse, als sie in der DWK und auch noch kurz nach der Staatsgründung sowohl bei den ehemaligen Nationalsozialisten als auch im Gesamtpersonal die mit Abstand größte Gruppe stellte. Darüber hinaus besetzte sie 460 461 462 463 Beispiele (Kurt Koch, Hans Goßens alias Gossens) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 176 f.; vgl. Wenzke, Wege, S. 253. In diesem Verjüngungsschub liegt aber auch ein wesentlicher Grund für den mangelnden Generationenaustausch in der späteren DDR. Denn durch das junge Eintrittsalter verharrten die Betreffenden bis zum Ende ihres Berufslebens auch länger in bestimmten Positionen und Institutionen, siehe: Kocka, Sonderweg, S. 41. Siehe die entsprechenden Grafiken in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 173 ff. (Abb. 22-27), 177. Einzelheiten zur Altersentwicklung beim sogenannten Fachpersonal der Regierungsdienststellen und beim technischen Personal siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 177-179. Jens Kuhlemann – Braune Kader 104 zu Beginn der fünfziger Jahre weit mehr als die anderen Teile des Altersspektrums einflussreiche Positionen. Innerhalb des Gesamtpersonals nahmen sie nämlich rund 40% aller leitenden und 36% aller mittleren Funktionen ein. Auch die untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder dieser Altersgruppe – sowie die der 31- bis 40-Jährigen – besetzten solche Positionen im Vergleich zu jüngeren und älteren NS-Belasteten relativ häufig. Grundsätzlich standen die jüngeren mit den älteren Ex-Nationalsozialisten dabei in einer Art Generationenkonkurrenz. Sie beinhaltete, dass bei der Stellenvergabe unter Berücksichtigung aller anderen kaderpolitischen Merkmale zu entscheiden war, entweder die Jüngeren mit tendenziell geringerer NS-Belastung und größerem politischem Entwicklungspotenzial, aber weniger beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen, oder die Älteren mit den politisch gravierenderen Verfehlungen und der geringeren Erziehbarkeit, aber der fachlich umfassenderen Versiertheit heranzuziehen. In der DWK fiel die entsprechende Postenvergabe eher zugunsten der älteren Generationen aus. Die Bedeutung der Fachkompetenz wog bei ihnen schwerer, weil sie für die Älteren am ehesten geeignet war, eine NS-Vergangenheit auszugleichen. 2.1.3 Soziale Herkunft Eine besondere Bedeutung innerhalb der SED-Kaderpolitik kam der sozialen Herkunft zu. Die Abkömmlinge der Arbeiterschicht sollten an der Eroberung gesellschaftlicher Schlüsselstellungen entscheidenden Anteil nehmen. Die Durchsetzung des Klassenprinzips diente dabei ausschließlich der kommunistischen Machtsicherung. Der revolutionäre Wandel sollte im sich verschärfenden Klassenkampf nicht nur politisch, sondern auch sozial erfolgen. Beide Aspekte bedingten sich nach marxistischer Lesart gegenseitig. Nach einem Austausch sozialer Gruppen in der Macht- und anschließend Funktionselite sollte ein hoher Arbeiteranteil den Anspruch der SED als Vorhut des Proletariats unterstreichen. Von vielen Arbeitersprösslingen nahmen die Kommunisten an, sie würden zu ihrer vermeintlich besten Interessenvertretung, der SED, stehen und sie unterstützen. Auch in der staatlichen Verwaltung strebten sie daher einen hohen Arbeiteranteil an. Die Machtstellung der Partei schien so weiter gefestigt zu werden. Denn eine proletarische Herkunft und eine entsprechende politische Gesinnung im Apparat galten als Gewähr für Treue und Zuverlässigkeit bei der Umsetzung politischer Entscheidungen der Partei und Besatzungsmacht.464 Diese Maßgabe betraf auch die Politik gegenüber früheren Nationalsozialisten. So schrieb die „Tägliche Rundschau“, das Organ der sowjetischen Besatzungsmacht, im Jahr 1947: „Es liegt im Interesse des schnellen Wiederaufbaus der Wirtschaft und des friedlichen Lebens in Deutschland, daß die ehemaligen nominellen Pgs, vor allem aus den werktätigen Schichten der Bevölkerung“, in breitem Maße herangezogen werden.465 Es ist im Weiteren zu analysieren, wie sich die hier angedeutete Bevorzugung proletarischer Kreise in der Gruppe der NS-Belasteten ausgewirkt hat. Vorweg muss auf ein generelles Problem hingewiesen werden, nämlich auf die Schwierigkeit, die „Arbeiterklasse“ und die übrigen Gesellschaftsschichten genau zu definieren. Die Forschung hat schon seit langem auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Wegen Manipulierbarkeit und schlechter Überprüfbarkeit erhob sie verschiedentlich den 464 465 So behauptete ein Instrukteur des Staatssekretariates für Hochschulwesen 1954, man werde sich immer zu seiner früheren Gesellschaftsschicht gehörig fühlen. Dies galt noch mehr für den machtpolitisch besonders relevanten Militär- und Sicherheitsbereich, siehe: Wenzke, Wege, S. 209 f.; Jessen, Professoren, S. 221225, 241 f. Zitiert nach: Welsh, Wandel, S. 73. Jens Kuhlemann – Braune Kader 105 Vorwurf, entsprechende Quellen seien unvollständig und unzuverlässig. Peter Christian Ludz verzichtete in seiner Studie „Parteielite im Wandel“ wegen „geringem Aussagewert“ völlig auf eine umfassendere Analyse dieses Merkmals.466 Die Ursache dafür ist im Wesentlichen, dass in der SBZ/DDR die Ansichten der Kader und der Kaderabteilungen darüber, wer sich zum Beispiel „Arbeiter“ nennen durfte, manchmal relativ weit auseinandergingen.467 Ihre Abgrenzungsversuche waren willkürlich und unscharf. Letztlich kam es nirgendwo zu einer allgemein gültigen exakten Definition der sozialen Herkunft und ihrer einzelnen Klassifikationen. Auch unter den Personalleitern im Regierungsapparat gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, wie weit differenziert werden sollte und welche Kriterien heranzuziehen seien.468 Sie gingen davon aus, dass nicht bei allen Individuen klare Trennlinien zwischen einzelnen sozialen Klassen handhabbar waren. Die soziale Herkunft richtete sich jedoch primär nach dem Beruf des Vaters. Die Forschung berücksichtigt heute üblicherweise die soziale Stellung beider Elternteile, und zwar zu einem Zeitpunkt in der Jugend der untersuchten Personen, der vor deren eigener Berufsentwicklung lag.469 Die Mütter der in der DWK beschäftigten NS-Belasteten fanden aber, soweit feststellbar, fast keine Erwähnung bzw. gingen kaum einer geregelten Erwerbstätigkeit nach. Das Festhalten an diesem heutzutage patriarchalisch anmutenden, aber den damaligen Verhältnissen entsprechenden Ansatz des Vaterberufes erscheint mir insofern unproblematisch. Darüber hinaus kann es hier, zumindest was das Gesamtpersonal der zentralen Staatsverwaltung anbelangt, nur darum gehen, die Sichtweise der Personalleiter zur klassenmäßigen Unterteilung wiederzugeben. Beim Vaterberuf scheinen sich die Kaderverantwortlichen in der frühen DDR weniger an der im Leben zuerst eingenommenen Position orientiert zu haben als mehr an der hauptsächlich ausgeübten Tätigkeit. Gleichwohl haben die untersuchten Regierungsangestellten, wenn es ein günstiges Licht auf sie warf, zum Beispiel auch die Ausbildungsberufe ihrer Väter genannt. Die soziale Herkunft ist zu unterscheiden vom Kadermerkmal der sozialen Stellung, die sich auf die Kader selbst bezog und die überwiegende Art ihrer beruflichen Tätigkeit vor Eintritt in die Verwaltung bezeichnete. Trotz dieser Differenzierung hingen beide Kriterien in vielen Fällen eng miteinander zusammen.470 466 467 468 469 470 Hübner, Zukunft, S. 171 f.; Boyer, Kaderpolitik, S. 12 f.; Schneider, Funktionselite, S. 38, 77; Ludz, Parteielite, S. 165; Boyer, Kader, S. 39-41; Kleßmann, Relikte, S. 260. Unter den Vaterberuf „Arbeiter“ fassten die Kaderabteilungen wahrscheinlich überwiegend qualifizierte Industriearbeiter, einfache Landarbeiter, Handwerksgesellen und ungelernte Hilfskräfte zusammen. Viele Angehörige dieser sozialen Herkunftsgruppe hatten in kleineren Betrieben gearbeitet, der klassische Industrieproletarier war nur zum Teil vertreten, siehe: Wenzke, Wege, S. 206, 251. Das ZK und das MdI kritisierten die folgenden Kategorisierungen, die der Personalleiter des Ministeriums der Finanzen aufgestellt hatte. Es ist unklar, ob sie im Ganzen oder nur teilweise verworfen wurden. Als Einteilungskriterien bzw. Hilfsmittel wurden genannt die politische Organisationszugehörigkeit, ein Schulbesuch vor oder nach 1945, Karrierebrüche aus politischen Gründen, frühes Verlieren des leiblichen Vaters und Aufwachsen unter anderen sozialen Rahmenbedingungen, bei Handwerkern: ob diese lohnabhängig waren oder selbständig etc.; anderweitige Überlegungen, bei Bauern nicht nur die Größe der Bewirtschaftungsfläche zu berücksichtigen, sondern zusätzlich die Bodenqualität, weil ein großes Feld mit schlechter Bodengüte weniger Kapital abwerfe als ein kleiner, aber sehr fruchtbarer Acker, setzten sich nicht durch, siehe: DO 1 / 26.0, 17567, [Ministerium der Finanzen, Personalabteilung,] Gräfe, betr.: Aufstellung des Perspektivplanes für Kaderentwicklung im Jahre 1952, vom 10.01.1952 (Abschrift von Abschrift); ebd., SED, ZK, Abteilung Agitation, an MdI, SED-Parteiorganisation, vom 28.05.1952; ebd., [MdI,] HA Personal, Aktenvermerk, vom 21.07.1952. Schnapp, Zusammensetzung, S. 72. In späteren Jahren diente als Indikator bei der sozialen Herkunft die „erste berufliche Tätigkeit“, offenkundig des Individuums selbst und nicht seines Vaters. Bei den bewaffneten Organen richtete sich die Einstufung in den 1980ern nach der überwiegend verrichteten Tätigkeit (des betreffenden Kaders). Der Vaterberuf scheint also im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren zu haben, während die berufliche Entwicklung des eigentlichen Mitarbeiters als Bestimmungskriterium zum Ende der DDR hin an Jens Kuhlemann – Braune Kader 106 Aufgrund der vorstehenden Ausführungen teile ich die Bedenken zur Aussagekraft der sozialen Herkunft weitgehend und werde zur Begründung noch weitere Beispiele anführen. Allerdings darf eine Skepsis gegenüber der Deckungsgleichheit eines tatsächlich ausgeübten Berufes einerseits und seiner Deutung und begrifflichen Zuordnung in den Quellen andererseits nicht dazu führen, dass diesem Kadermerkmal insgesamt weniger Beachtung bei der historiografischen Analyse geschenkt wird. Denn auf jeden Fall lässt sich der Umgang mit der sozialen Herkunft durch die betreffenden Akteure, ihre Instrumentalisierung und Zweckorientierung beschreiben. Die bis Mitte der fünfziger Jahre in den MdI-Statistiken in immer ausgefeilterer Form auftauchenden Klassifizierungen belegen darüber hinaus, dass die kommunistische Bewusstseinselite die Definitionsprobleme sehr wohl erkannte und versuchte, sie in den Griff zu bekommen. Die Reduzierung und Vereinfachung der sozialen Herkunftsgruppen gegen Ende der fünfziger Jahre, die im Detail noch erörtert werden, ist demgegenüber ein Anzeichen dafür, dass die fast haarspalterisch anmutenden Einteilungen ihren Zweck ebenfalls nicht erfüllten oder undurchführbar waren. Eine solch filigrane Segmentierung erschien wegen des dann erreichten hohen Arbeiteranteils und der Verfestigung der politischen Macht der SED wohl auch nicht mehr notwendig. Bei all dem ist es von entscheidender Bedeutung, die eigentliche soziale Dimension der sozialen Herkunft im Auge zu behalten. Sie ist eng mit der Sozialisation verbunden, dem Prozess des sozialen Lernens. Die Familie und frühe „peer groups“ entfalten bei der Aneignung von Verhaltensmustern und Einstellungen eine besonders starke Wirkung. Hinzu kommt die Vermittlung von Geschmack, Sprechweise und Kontaktaufnahme. Solche Codes formen einen Habitus, der gruppen- oder klassenspezifische Merkmale beinhaltet. Er ist identitätsstiftend und verbindet Menschen gleicher Herkunft, die sich über Gemeinsamkeiten als einander nahestehend empfinden. In späteren Lebensabschnitten prallen erworbene Traditionen schließlich auf andere Werte und gehen aus dieser Konfliktsituation bestätigt oder verändert hervor. Persönliche Veränderungen sind deshalb ausdrücklich möglich, wenngleich die SED bei Arbeitern vor allem Höherentwicklungen des ideologischen Bewusstseins im Sinn hatte und keine „Rückfälle“. Das war neben ihrer fachlichen Weiterqualifizierung entscheidend, um die Macht der SED zu sichern. Denn eine rein numerische Steigerung des Arbeiteranteils reichte dazu nicht aus.471 Alles in allem erwartete die SED eine starke Verbundenheit der Proletarier mit der Einheitspartei, was nicht zuletzt als Korrektiv für die vielen nominellen SED-Mitglieder diente, die vor allem ihre Karriere verfolgten und der Machtelite nur bedingten Rückhalt boten. Die Kommunisten setzten daher auf ihr Basismilieu, da ihnen bei anderen Gesellschaftsschichten eine radikale und allumfassende Abkehr von den Inhalten der in der Kindheit und Jugend durchlaufenen Sozialisation unwahrscheinlich erschien.472 Die Zusammengehörigkeit, die aus gleichen Normen und Handlungsweisen entsteht, kann zugleich ein Hemmnis beim Wechsel in eine andere Klasse darstellen. Das betraf zum Beispiel diejenigen Angestellten, die in einer anderen sozialen „Gemengelage“ aufwuchsen, sich aber gerne einen proletarischen Anstrich gaben. Denn die Charakteristik der eigenen Herkunft tendiert dazu, auch beim Versuch, sich eines neuen Habitus zu bedienen, durchzuschimmern. So zum Beispiel die Sprechweise einer bestimmten Klasse oder Region. Das liegt nach Pierre Bourdieu daran, dass dieses „inkorporierte Kulturkapital“ zum festen Bestandteil der Person wird und sich nicht kurzfristig abstreifen lässt.473 Zwischen den sozialen Milieus gab es teilweise sehr unterschiedliche Wertorientierungen und Deutungen der Geschichte und der Gegenwart. Sie boten historisch 471 472 473 Bedeutung gewann, siehe: Roß, Eliten, S. 186 f.; Wagner, Kadernomenklatursystem, S. 55; Gieseke, Mitarbeiter, S. 139. Glaeßner, Herrschaft, S. 322. Rebenstorf, Integration, S. 126 f. Bourdieu nennt dies den „Hysteresiseffekt“, siehe: Bourdieu, Kapital, S. 56. Jens Kuhlemann – Braune Kader 107 gewachsene Orientierungen und entwickelten mit Hilfe einer erhöhten Binnenkommunikation Wertcodices zum Verhalten ihrer Angehörigen. In diesem Zusammenhang darf auf der anderen Seite die Bindungskraft zwischen sozialer Herkunft und politischer Einstellung auch für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht überschätzt werden.474 Viele Bindungen und Beziehungen verliefen quer zu den diversen Milieus. Nach außen hin überlebte im Zuge der Stalinisierung der SBZ/DDR von diesen Subkulturen, Lebensweisen und Mentalitäten nur die der Kommunisten. Sie wurde den Angehörigen anderer Milieus aufoktroyiert. Ihre Symbole (Grußformeln, Parolen, Fahnen, Aufmärsche etc.) und ihre Weltanschauung wurden maßgeblich, ihre zumindest partielle Übernahme durch andere wichtiges Merkmal von Konformität.475 Mit der Verdrängung des gesellschaftlichen Pluralismus war jener allerdings keineswegs verschwunden. Die verschiedenen Milieugruppen suchten sich andere Räume und tauchten zum Beispiel ins Private ab. Die Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder bewirkten auch weiterhin, bis zum Ende der DDR einen starken inneren Zusammenhalt.476 Die wissenschaftliche Untersuchung dieser „verborgenen“ Milieus steckt jedoch noch in den Anfängen.477 Rückschlüsse auf das Wechselspiel von markanten mentalitätsbestimmenden Strömungen und dem Handeln ihrer Angehörigen sind daher schwierig. Auch innerhalb der Funktionseliten gab es Unterschiede in Sozialisation und Habitus.478 Diese „Stratifikatorische Segmentation“ zog Trennlinien zwischen den Angehörigen der DWK und Regierungsdienststellen nach sich. Hervorzuheben ist hierbei das gespannte Verhältnis zwischen Arbeitern und der Intelligenz. Obgleich sich Letztere sehr wohl aus sozial unterschiedlichen Gruppen zusammensetzte, dominierte in ihr in den ersten Nachkriegsjahren doch eindeutig das bürgerliche Element.479 Denn die Vermittlung von Bildung ist unter anderem das Produkt einer Investition von Zeit und kulturellem Kapital, das sich aus Wissen und Fähigkeiten zusammensetzt, die per Sozialisation in Familie, Bildungseinrichtungen oder durch Milieueinflüsse vermittelt werden.480 Die Söhne und Töchter von nichtproletarischen Eltern waren vor dem Hintergrund der Anforderungen einer Verwaltungsarbeit in dieser Beziehung gegenüber Arbeitersprösslingen klar im Vorteil. Zwar unternahm die SED seit ihrer Machtübernahme große Anstrengungen, den Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder an Studierenden und Kadern zu erhöhen. Doch der Bildungsvorsprung und die sonstigen sozialen Voraussetzungen der Nachkommen der bis dato privilegierten Schichten machten es ihnen schwer, in kurzer Zeit Anschluss an das fachliche und übrige Kulturniveau der Intelligenz zu finden.481 Den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK mag das zum Vorteil gereicht haben. Denn für sie waren Ersatzkräfte umso schwerer heranzuziehen. Durch diese anfängliche „Unerreichbarkeit“ wurde vielleicht auch ein gewisser Sozialneid bei den Angestellten aus dem Arbeitermilieu geschürt. Er begünstigte ihre größtenteils antielitäre Einstellung. Die besondere Förderung von Arbeiterkindern im Staatsapparat bewirkte auf der anderen Seite Unmut bei der bürgerlichen Intelligenz. Denn sie sahen sich nicht nur als Teil einer personalpolitisch benachteiligten Gruppe. Sie ließen darüber hinaus eine gewisse Geringschätzung für die fachlich oftmals schlechtere Arbeit der Kollegen proletarischer 474 475 476 477 478 479 480 481 Bürklin, Elitestudie, S. 19 f. Tenfelde, Milieus, S. 253, 258, 261. Ende der achtziger Jahre waren laut Dietrich Mühlberg traditional verwurzelten Milieus 75% der Menschen in der DDR zuzuordnen, siehe: Mühlberg, Überlegungen, S. 72. Franz Walter weist kritisch darauf hin, dass kaum empirische Studien zu sozialmoralischen Milieus existieren, siehe: Walter, Milieus, S. 480. Rebenstorf, Integration, S. 123 ff. Zimmermann, Überlegungen, S. 346 f. Bourdieu, Kapital, S. 54. Zimmermann, Überlegungen, S. 333. Jens Kuhlemann – Braune Kader 108 Herkunft durchblicken.482 Diese nicht im Milieu der Intelligenz verwurzelten Kader wurden daher in ihrem Arbeitsgebiet längst nicht immer von allen Mitarbeitern akzeptiert. Das trug unter ihnen trotz politischer Fürsprache und Förderung zu einer hohen Fluktuation bei.483 Dieser Aspekt lenkt den Blick auf die Frage nach den Auswirkungen der sozialen Herkunft auf Verhalten und Selbstverständnis der NS-Belasteten sowie auf das Vorhandensein von elitärem Denken. Hierzu ist generell festzuhalten, dass den Quellen keine direkten Hinweise zu entnehmen sind. Es bleibt diesbezüglich nur übrig, die weiteren Ausführungen als Hintergrundinformation zu verwenden.484 Die Konfliktsituation zwischen den Abkömmlingen des Bürgertums und der alten Intelligenz einerseits und denen des Arbeitermilieus im Regierungspersonal andererseits wird aber auf jeden Fall eine abgrenzende Wirkung auf die ehemaligen Pgs. gehabt haben. Denn sie entstammten mehrheitlich dem bürgerlichen Milieu und waren der Intelligenz zuzurechnen. Es mögen zwar parallel dazu Angleichungen der jeweiligen Milieuspezifika vorgekommen sein, sowohl auf der einen als auf der anderen Seite. Kapital, das bei Belegen einer bestimmten Position noch nicht vorhanden ist, kann offenbar über die Sozialisation in einem neuen Umfeld zumindest teilweise erworben werden.485 Doch insgesamt entmachtete die SED die traditionalen Führungsgruppen und drängte das vom NS-Regime eingesetzte Leitungspersonal zurück. Mit dem Rückgang der alten Eliten schwand auch deren spezifisches kulturelles Kapital in seiner Bedeutung für die Personalpolitik und den zwischenmenschlichen Umgangsformen im DDR-Regierungsapparat. Dies war ein politisch erzwungener Prozess, der in den benachteiligten Gruppen auf Bedenken oder Ablehnung stieß. An ihre Stelle trat schließlich die neue sozialistische Intelligenz und formte ihren eigenen Kodex.486 Die empirisch belegte Präsenz von Angehörigen verschiedener Milieugruppen in der DWK und im DDR-Regierungsapparat unterstreicht die Existenz mentaler Trennungslinien (cleavages) zwischen denselben.487 Die überlieferten Statistiken zum Gesamtpersonal der DWK und des DDR-Regierungsapparates geben dabei den Blickwinkel der Kaderabteilungen wieder, indem sie deren Klassifizierungen der sozialen Herkunft übernehmen.488 Die Einteilungen sind von dem Bemühen geprägt, möglichst genau und im Laufe der Zeit immer exakter zwischen ideologisch bedeutsamen und geringgeschätzten Gesellschaftsschichten zu unterscheiden. Zahlreiche Änderungen der Erhebungskriterien in den fünfziger Jahren zeugen zugleich von den Zuordnungsproblemen, auf die die Kaderabteilungen stießen. Jedenfalls stellte die kommunistische Wertelite mit hohem Energieaufwand Überlegungen an, welche Charakteristika eine bestimmte soziale Schicht ausmachten. Bei allen Ungenauigkeiten und Interpretationsmöglichkeiten der Zuordnung beruflicher Tätigkeiten zu bestimmten Klassen lassen sich aber doch Tendenzen erkennen. So fällt sofort die Verdoppelung des Arbeiteranteils von 1948 bis 1957 ins Auge. Lag er in der DWK noch bei etwa 30%, waren es in den DDR-Regierungsdienststellen zuletzt fast 60%. Ein Niveau, dass bis zum Ende der DDR ungefähr gleichblieb.489 In dieser Beziehung konnte die Kaderpolitik der SED also 482 483 484 485 486 487 488 489 Hübner, Einleitung, S. 19. Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 51 f. Zimmermann, Überlegungen, S. 334. Vgl. Rebenstorf, Integration, S. 154. Hübner, Einleitung, S. 23 f. Statistiken zur sozialen Herkunft siehe auch in: DO 1 / 26.0, 17309, 45/53/3/1; DO 1 / 26.0, 17359, 287/51/2/1; DO 1 / 26.0, 17473, 19/54/3/1. Grafische Darstellungen sowie Einzelheiten zu den vom MdI für seine Statistiken verwendeten und mehrfach veränderten Kategorien innerhalb des Merkmals der sozialen Herkunft siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 185 f. (Abb. 28 und 29). Im Jahr 1989 war der Arbeiteranteil bei den vor 1936 Geborenen im Ministerrat bzw. in den Ministerien mit über 60% deutlich höher als bei den danach Geborenen. Ihrer sozialen Herkunft nach spielte die Intelligenz in dieser Alterskohorte mit gut 3% nur eine absolute Nebenrolle. Zugleich war der Arbeiteranteil im Wissenschafts-, Gesundheits- und Kulturbereich im Vergleich zu anderen Jens Kuhlemann – Braune Kader 109 deutliche Erfolge verbuchen, wenngleich nicht so früh, wie DDR-Historiker dies manchmal behaupteten.490 Spätestens in den fünfziger Jahren wurde die sozialmoralische Absicherung des kommunistischen Machtanspruchs im „Befehlsausführungsorgan“ Staatsapparat jedoch klar ausgebaut und seine politische Funktionsfähigkeit gesteigert.491 Demgegenüber kam der Anteil der Söhne und Töchter von Bauern bis 1957 nicht über drei Prozent hinaus und blieb somit marginal. Der Zwang oder Wunsch, den eigenen Hof als Existenzgrundlage der Familie weiterzubewirtschaften, verhinderte offenbar einen Wechsel in die Verwaltung. Vielleicht lag es zudem auch an einer besonders starken Verbundenheit mit dem ländlichen Raum und dem Leben im Dorf. Ein Umzug in die anonyme Großstadt Berlin hätte für viele wohl Züge einer sozialen Entwurzelung getragen.492 Schließlich trug die hohe Rekrutierungsquote von Bewohnern der Hauptstadt und ihres nahen Einzugsgebietes das Ihrige zum geringen Bauernanteil bei.493 Keine signifikante Rolle spielten die Abkömmlinge von Vätern mit freien und sonstigen Berufen. Sie erreichten nur 2-5% bzw. ein halbes Prozent, was wohl auch ungefähr ihrem Rekrutierungspotenzial in der Bevölkerung entsprach. Nicht recht erklärlich ist der Verlauf des Anteils der Angestelltenkinder, der in der DWK in sehr kurzer Zeit von 46 auf zwanzig Prozent fiel und im Weiteren auf diesem Niveau verharrte.494 Es gibt keine Anzeichen für eine Änderung der Erhebungskriterien. Alle anderen Erklärungsversuche sind spekulativ, zumal diese Kategorie kaderpolitisch nicht sonderlich verdächtig erschien. Letzteres traf schon eher auf die sozialen Herkunftsgruppen Gewerbetreibende und selbständige Handwerker einerseits und vor allem Beamte andererseits zu. Beide konnten ihren Anteil im Personal der DWK zunächst ausbauen, von sechs auf sechzehn Prozent im ersten Fall und von elf auf neunzehn im zweiten, noch dazu bei einem in absoluten Zahlen sich vergrößernden Angestelltenkreis. Innerhalb von vier Jahren ging der prozentuale Anteil der Gewerbetreibenden und selbständigen Handwerker sowie der der Beamten in den DDR-Ministerien jedoch wieder auf 9-10% zurück. In absoluten Zahlen wuchs die Gruppe der Beamtenkinder dabei zwar weiterhin tendenziell an. Doch das geschah eben längst nicht so stark wie bei den Mitarbeitern aus dem Proletariat. Das „Beamtenelement“ verlor daher zunehmend an Bedeutung.495 Wie sah nun im Vergleich dazu die soziale Herkunft der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission aus? Um zu einem möglichst authentischen Ergebnis zu gelangen, habe ich versucht, jenseits von damals vorgenommenen Einstufungen in eine der genannten Kategorien zusätzlich Primärdaten in Erfahrung zu bringen, also die ursprünglichen Berufsbezeichnungen. Leider machen die Quellen nur zu weniger als der Hälfte der untersuchten Personen diesbezüglich Angaben.496 Dabei ließen sich zwar einige begrenzte Manipulationsabsichten in Form von Verheimlichungen, 490 491 492 493 494 495 496 gesellschaftlichen Bereichen unterdurchschnittlich vertreten. Die alten Bildungsschichten konnten sich dort also stärker halten, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 190 f. Bei Wolfgang Merker ist zu lesen, bereits Ende 1946 habe sich „die Hegemonie der revolutionären Arbeiterklasse in den Zentralverwaltungen durchgesetzt“, siehe: Merker, Zentralverwaltungen, S. 38. Vgl. die Sicherheitsbereiche, in denen die Förderung der sozialen Herkunft „Arbeiter“ noch mehr Priorität genoss. Die Offiziere in der HVA wiesen im Juni 1951 beispielsweise einen Arbeiteranteil von 91,5% auf. Hierzu und zur Polizei siehe: Wenzke, Wege, S. 222, 251. Das Beharrungsvermögen alter Eliten drückte sich auch bei Gutsbesitzern und Großgrundbesitzern aus, die noch nach der Entnazifizierung im ländlichen Milieu einen bemerkenswerten Einfluss ausübten, und sei es nur durch ihre Autorität, siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 52. Siehe Abschnittseinleitung „Soziales, Bildung und Beruf“. Zur Fluktuation siehe auch einen ausgewechselten Pg. mit der Herkunft „Angestellter“, in: DO 1 / 26.0, 17171, Ministerium für Eisenbahnwesen, Arbeitsbericht für das I. Quartal 1954, vom 23.04.1954, S. 3. Zur sozialen Herkunft der Angestellten des öffentlichen Dienstes der SBZ siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 187 f.; vgl. die soziale Herkunft der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter, in: Gieseke, Mitarbeiter, S. 138. Bei 64 von insgesamt 154 Angehörigen des NS-Samples waren Bezeichnungen des väterlichen Berufes ermittelbar. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 188. Jens Kuhlemann – Braune Kader 110 Beschönigungen und Relativierungen feststellen, um sich in der sozialen Herkunft besser zu positionieren. Wenn, dann geschah dies scheinbar eher von Seiten der NS-Belasteten als durch die Kaderabteilungen. Totalverzerrungen dergestalt, dass der Sohn eines höheren Beamten als Arbeiterkind eingestuft wurde, waren jedoch nicht nachweisbar.497 Grundsätzlich finden sich zum NS-Sample Vaterberufe, die sich allen genannten Kategorien der sozialen Herkunft zuordnen lassen. Was sich in diesem Zusammenhang mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass sich unter den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK ihrer sozialen Herkunft nach erheblich weniger Arbeiter befanden als im Gesamtpersonal der Wirtschaftskommission. Auch bei den Vätern der leitenden Angestellten im NS-Sample waren die Arbeiter zusammen mit den Bauern in der Minderheit.498 Darüber hinaus sei angemerkt, dass, soweit erkennbar, auch diejenigen NS-Belasteten, die vor 1933 oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in die SPD oder KPD eintraten, überwiegend nicht aus Arbeiterkreisen stammten. Die Idee von den Parteien als Spiegel der Sozialmilieus findet insofern keine Entsprechung in der sozialen Herkunft des untersuchten Personenkreises. Auf der anderen Seite gab es deutlich mehr Beamtenkinder unter den NS-Belasteten als im gesamten Mitarbeiterstab der DWK. Beinahe die Hälfte der relevanten Ex-Nationalsozialisten hatte einen Beamten als Vater. Daraus folgt zum einen die banale und zugleich fundamentale Feststellung, dass es nicht nur innerhalb des Gesamtpersonals Unterschiede des sozialen Hintergrunds gab, sondern auch in der Gruppe der ehemaligen Nationalsozialisten selbst – mit allen milieubedingten Konsequenzen. Zum anderen spiegelt der hohe Beamtenanteil teilweise eine gewisse Beeinflussung oder Neigung wieder, es dem Vater gleichzutun und ebenfalls in den Staatsdienst einzutreten. Darüber hinaus belegt dieser Befund, dass die ehemaligen Nationalsozialisten ihre Beschäftigung in der DWK zum größten Teil nicht einer eventuellen Abstammung aus Arbeiterkreisen verdanken. Im Gegenteil gehörten ja viele einer kaderpolitisch negativen Gruppe an. Es ist dies daher ein weiterer Beleg für den Faktor Bildung als wichtigstem Einstellungsgrund für NS-Belastete. In diesem Zusammenhang wird die Theorie bestätigt, dass bei Kindern aus Elternhäusern mit höherem Bildungsgrad und –ethos eine größere Transmission kulturellen Kapitals stattfindet. Die herausragende fachliche Qualität vieler NS-Belasteter in der DWK ist eine direkte Folge hiervon. Neben den väterlichen Beamten untermauern auch die Berufe der anderen Familienoberhäupter diese Annahme. Eine ganze Reihe von ihnen übte Berufe aus, für die ein Studium erforderlich war. In diesen Fällen kann man durchaus von Mitgliedern des Bildungsbürgertums sprechen. Selbst einige der Handwerker unter ihnen scheinen einen höheren Ausbildungsstand erreicht zu haben. Damit verbunden war natürlich auch ein gewisser Status und eine relative ökonomische Unabhängigkeit – zumindest vor 1945. Der Bildungsstand und die berufliche Position des Vaters waren für die weitere Karriere der ExNationalsozialisten in der DWK also von besonderer Bedeutung.499 Die mehrfach anzutreffende akademische Ausbildung der Familienoberhäupter ist neben der Besetzung leitender Positionen außerdem ein Grund dafür, einen nicht unwesentlichen Teil der Väter als Angehörige der reichsdeutschen Dienstklasse zu bezeichnen. Da jedoch im NS-Sample die Zahl der ihnen untergeordneten Mitarbeiter oder der Grad der eigenverantwortlichen Tätigkeit 497 498 499 Vgl. Jens Gieseke, der für die achtziger Jahre die Primärdaten von hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern kontrollierte und keine größeren Abweichungen bei der Einstufung als „Arbeiter“ feststellte. Die betreffenden Berufe ließen sich als solche bezeichnen, eine systematische Manipulation war nicht erkennbar, siehe: Gieseke, Mitarbeiter, S. 138 f. Einer der wenigen Bauernsöhne im NS-Sample war der leitende DWK-Funktionär Ernst Schinn, siehe: DC 1 / 2569, XVII / 1/14. Vgl. Hans-Werner Rautenberg, der festgestellt hat, dass in Polen die „Experten“ ebenfalls vorwiegend aus Familien mit höherem Bildungstand stammten. Vertreter einer politischen Karriere kamen dort jedoch meist aus Familien mit niedrigerem Bildungsniveau, in: Rautenberg, Eliten, S. 198; zu Ungarn vgl.: Kurtán, Erkundungen, S. 223 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 111 kaum zu ermitteln war – und wenn, dann gemischte Ergebnisse andeutet –, erübrigt sich eine Feinaufteilung in obere, untere und Nichtdienstklasse.500 Es bleibt festzuhalten, dass die Beamtennachfahren die größte nachweisbare Gruppe im NS-Sample darstellten. Daher ist es angebracht, den Einfluss auch der nationalsozialistisch unbelasteten Beamtensöhne und -töchter in den jeweiligen Positionshöhen der DDRMinisterien zu betrachten, und zwar im Vergleich zu allen beschäftigten Arbeiterkindern.501 Die MdI-Statistiken zeigen, dass die Beamtengruppe im technischen Personal mit konstanten fünf Prozent am wenigsten vertreten war. Das war aufgrund der geringeren Qualifikationserfordernisse und den ausreichend vorhandenen Personalalternativen bei den ideologisch wertvolleren Herkunftsklassen auch zu erwarten. Dazu passt, dass die Beamtenkinder im sogenannten Fachpersonal im Vergleich zu den anderen HierarchieEbenen am stärksten vertreten waren. Für das in absoluten Zahlen kleine Fachpersonal verlangte man eine relativ hohe Berufsqualifizierung. Hierfür boten Beamtenfamilien offenbar gute Rahmenbedingungen, nicht zuletzt wegen der vergleichsweise besseren Ausstattung mit finanziellen Mitteln zur Finanzierung von Ausbildung und Studium. Bei tendenziell prozentualer Abnahme Anfang der fünfziger Jahre waren die Mitarbeiter mit Beamtenvätern im unteren Verwaltungspersonal (10-13%) und in mittleren und leitenden Funktionen (10-18%) zunehmend gleich schwach präsent. Dass ihr Anteil bei den hohen Positionen nicht größer ausfiel, wie man es aufgrund der insgesamt umfassenderen Bildung hätte vermuten können, lag wahrscheinlich an der Zurückhaltung der Kaderverantwortlichen, diese Mitarbeiter mit kontrollierenden und anleitenden Aufgaben zu betrauen. Denn ihre soziale Herkunft spiegelte sich oftmals auch in einem politisch unerwünschten Verhalten wider. Darüber hinaus wurden Leitungsposten besonders häufig mit Arbeiterkindern besetzt.502 Aus all diesen Zahlen können wir schließen, dass NS-belastete Bewerber aus dem Arbeitermilieu mit überdurchschnittlicher Fachqualifikation recht gute Karrierechancen gehabt hätten – nur gab es nicht so viele von ihnen. Und solche ohne besondere Bildung hatten gegenüber den fachlich ebenfalls normal bis minder qualifizierten, politisch aber unbelasteten Angehörigen dieser sozialen Herkunftsgruppe das Nachsehen. Die Beamtenkinder unter den Ex-Nationalsozialisten mussten auf der anderen Seite ihren „Geburtsmakel“ auch in den fünfziger Jahren durch andere Kadermerkmale wettmachen, wenn sie in den Regierungsdienststellen arbeiten oder sogar aufsteigen wollten. Wir treffen also sowohl im Gesamtpersonal als auch bei den Angehörigen des NS-Samples zweigleisige Auswirkungen der sozialen Herkunft an. Zum einen beeinflusste sie in erheblichem Maße die Karrieremöglichkeiten aufgrund der nach Pierre Bourdieu ungleichen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, über die Menschen verfügen.503 Zum anderen überformte der Primat der Politik diese Trias. Denn nach Bourdieu wäre gerade für Abkömmlinge des Proletariats ein Aufstiegsnachteil zu vermuten, der sich in einem verhältnismäßig geringen Anteil am Gesamtpersonal des Regierungsapparates widerspiegeln müsste. Wie die Untersuchungsergebnisse zeigen, war genau das jedoch nicht der Fall. Diese Feststellung widerlegt Bourdieus These allerdings keineswegs, sondern ergibt sich aus den verzerrenden externen Rahmenbedingungen der Politik. Denn die qualitative Höherwertigkeit der Arbeiterklasse war ideologisch begründet und ihre Beförderung in wichtige Verwaltungsfunktionen zugunsten der Machtfestigung der SED politisch gewollt. Für eine bis dato unterprivilegierte Gruppe resultierten daraus enorme Karrieresprünge. Zugleich betrachtete die Machtelite ehemalige Nationalsozialisten im zentralen Staatsapparat als 500 501 502 503 Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 72 f. Diagramme hierzu und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 185 ff. (Abb. 30 und 31), 191. Details zum Anteil von Arbeiterkindern an den jeweiligen Positionshöhen im DDR-Regierungsapparat siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 185 ff. (Abb. 30 und 31), 191. Bourdieu, Kapital; Rebenstorf, Integration, S. 133 ff. Jens Kuhlemann – Braune Kader 112 politisch eher unerwünscht. Für die NS-Belasteten war demnach eine Herkunft aus dem Arbeitermilieu zwar von Vorteil. Sie allein reichte jedoch nicht zur Wiedereingliederung aus. Entscheidend für ihren Einlass in die zentralen Regierungsdienststellen waren andere Faktoren, insbesondere die fachlichen Qualifikationen. Im Weiteren soll ein Eindruck vermittelt werden, wie die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK ihre Prägung in jungen Jahren durch das Elternhaus, das private Lebensumfeld, die Freunde und Nachbarn und den Arbeitsplatz darstellten. Dabei spielten „menschliche“ Aspekte wie die Strenge einer Erziehung oder das Intaktsein der elterlichen Ehe und des Familienlebens für die Kaderpolitik keine Rolle. Wirtschaftliche Not wurde zwar mitunter erwähnt. Das geschah aber kaum, um sich ausdrücklich als Angehöriger einer ausgebeuteten Klasse stilisieren zu können. Viel wichtiger war die Erziehung, und zwar in Hinsicht auf politische und weltanschauliche Einflüsse. Ein paar der ehemaligen NSDAP, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission beriefen sich in diesem Zusammenhang auf eine proletarische Herkunft. Soweit konkrete Berufsbezeichnungen der Väter vorliegen, bestätigen sie zum Teil eine solche Klassifizierung oder widersprechen ihr zumindest nicht. In diesen Fällen wurde die Auskunft der Betreffenden bereits von den Entnazifizierungskommissionen bestätigt oder eine Berufsbenennung unter Berücksichtigung familiärer Rahmenbedingungen sogar erst mit einer unzweideutigen Erhebung in den Arbeiterstand aufgewertet. Später taten dies die Kaderabteilungen, die SED oder der Staatssicherheitsdienst. Es war also frühzeitig von Vorteil, über eine Nähe zu proletarischen oder sozialistischen Kreisen eine Distanz zu ihren Gegnern, den „echten“ Nationalsozialisten, nahe zu legen. In manchen Fällen weisen die Quellen nur das Etikett „Arbeiter“ aus, ohne dass deutlich wird, ob es sich hier um die Einstufung beim Kadermerkmal der sozialen Herkunft handelt oder zusätzlich um den tatsächlich ausgeübten Beruf. Wenn die momentane oder überwiegend ausgeführte Tätigkeit des Vaters nicht ausreichte, um eine proletarische Klassenzugehörigkeit zu dokumentieren, verwiesen einige NS-Belastete auf jüngere Lebensjahre und die ersten einfachen Arbeiten oder Berufsausbildungen, um den Eindruck einer Arbeiterherkunft zu erwecken. Andere griffen auch gerne auf die Mutter zurück, die ja in den wenigsten Fällen eine höhere Berufsposition einnahm. Darüber hinaus ist das Bemühen festzustellen, die Großeltern und andere Vorfahren ins Feld zu führen, um so die Zugehörigkeit zu einer Arbeiterfamilie im weiteren Sinne zu belegen. Der Arbeiterstand wurde vom ideologischen und kaderpolitischen Standpunkt aus so hoch angesehen und gefördert, dass sein Glanz bei jedem Hinweis auf sein Vorkommen in der eigenen Genealogie auch noch auf jüngere Generationen zu fallen schien.504 Unbekannt ist, ob es vielleicht insgeheim auch solche Arbeiter gab, die das Arbeitermilieu eigentlich als negativ empfanden, die gerne als Angestellte in den Staatsapparat eintraten und dies als sozialen Aufstieg weg von den schlecht bezahlten, „ungebildeten und ungehobelten Proleten“ begrüßten. Mit der familiären Abstammung aus dem Arbeitermilieu verbanden die Kommunisten gewisse Hoffnungen und Erwartungen an das soziale und politische Bewusstsein. Denn das eigene Zuhause galt als die beste Brutstätte für den gewünschten Gedankentransfer, für eine ideologisch bewusste Erziehung von klein auf. Das Aufwachsen im Proletariat, das Verinnerlichen seiner wirtschaftlichen Not, seiner sozialen Probleme und politischen Ziele sollte ein Garant für eine starke Verbundenheit mit der Arbeiterschicht und ihrer Avantgarde, der Partei, sein. Zugleich erhoffte sich die SED davon eine Immunisierung gegen Einflüsse 504 Beispiele (Heinz B., Martin Bierbass, Heinz Fr., Bruno R., Erwin Melms u.a.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 192. Im Falle des NSDAP-Mitglieds und DDR-Ministers Hans Reichelt registrierte das Ministerium des Innern intern „Schneiderin“ als Beruf der Mutter. Die Klassifizierung des väterlichen Berufes war nicht möglich. Die Angabe bei Černý, DDR, S. 365 f.; („Vater Arbeiter“) ist insofern unzutreffend. Herbst / Ranke / Winkler, DDR, Bd. 3, S. 271, übernehmen die verallgemeinernde Formulierung „Sohn einer Arbeiterfamilie“, siehe auch: DO 1 / 26.0, 3716, [MdI, HA Personal,] Mitglieder der Fraktion der DBD in der Volkskammer, undatiert (Stand: 15.11.1950). Jens Kuhlemann – Braune Kader 113 der Bourgeoisie. Eine klare Abgrenzung zu den Interessen des Bürgertums, seiner Lebensweise, Sprache, Kleidung, Gewohnheiten, Bildungsideale, Weltanschauung oder seines Verständnisses von Demokratie und Wirtschaft. Manche NS-Belastete betonten denn auch eine entsprechende Erfahrung oder Aufgeschlossenheit. Andere gaben selbstkritisch zu, dass ihre Familie trotz Bindungen zu einer Arbeiterpartei oder Verbundenheit zum proletarischen Milieu über kein politisches Bewusstsein verfügte bzw. nicht imstande war, ein solches weiterzuvermitteln. Mitunter machten sie eine „unproletarische“ Erziehungsweise sogar für ihre spätere „Verirrung“ zu den NS-Organisationen mitverantwortlich.505 Wo es jedoch direkte Hinweise auf eine parteipolitische Beeinflussung durch das Elternhaus im Sinne der SED und ihrer Ideologie gab, betrachteten die Personalabteilungen diese als sehr wertvoll. Einige wenige ehemalige Nationalsozialisten in der DWK bekundeten, aus „alten Sozialistenfamilien“ zu stammen und zu den Eltern sowie anderen Vorfahren Mitglieder und Funktionäre der SPD oder USPD zu zählen.506 Da die Verwaltungskader mit einer Arbeiterherkunft Pluspunkte sammeln konnten, verwundert es nicht, dass es auch hier Versuche gab, den Vaterberuf sowie das politische Denken und Handeln der Familie umzudeuten oder zu verfälschen. Es kam zu einer gewissen „Proletarisierung“. Simultan fand eine Distanzierung zu einer kaderpolitisch ungünstigen sozialen Herkunft statt. Die NS-Belasteten in der DWK bildeten hier keine Ausnahme. So zum Beispiel ein Sachbearbeiter in der HV Post und Fernmeldewesen: Er teilte 1933 der SA mit, Sohn eines Kaufmanns zu sein. Seine zu dieser Zeit opportune Abgrenzung zu jeglichem linken Milieu steigernd, gab er an, alten pommerschen Soldaten- und Beamtenfamilien zu entstammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine familiäre Nähe zum Militär und Beamtentum jedoch unvorteilhaft, ja schädlich. Denn man hätte eine Erziehung in militaristischen oder sonstigen NS-unterstützenden Mustern durch Angehörige dieser ebenfalls der Entnazifizierung unterliegenden Berufsgruppen vermuten können. Das hätte eine Erschwernis bedeutet, eine antifaschistische Gesinnung glaubhaft zu machen bzw. die demokratische Reife zur Mitgestaltung eines demokratischen Deutschland. Um also Nachteilen aus dem Weg zu gehen, äußerte der Betreffende bei der Entnazifizierung 1947, sein Vater sei Werkmeister, altes Gewerkschaftsmitglied des Holzarbeiterverbandes und ca. 50 Jahre Mitglied der SPD gewesen. Nach Quellenlage stimmte beides. Bestimmte Informationen wurden nur je nach Adressat weggelassen oder hervorgekehrt.507 Doch selbst wenn nur eine Version der Wahrheit entsprochen hätte, eines wird hier besonders deutlich: Die Familie war personalpolitisch ein wichtiges Beurteilungskriterium. Die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK begriffen dies spätestens angesichts der Stalinisierung und passten ihre Herkunftsdarstellung den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen an. Es ist nicht immer klar, ob den Kaderverantwortlichen solche Ungereimtheiten auffielen und wie ihre Reaktion darauf war. Zumindest in einigen Fällen sind unterschiedliche Klassifizierungen seitens der ehemaligen Nationalsozialisten und der sie beaufsichtigenden Organe überliefert. Dabei nahmen die Vorstöße ehemaliger NSDAP-Mitglieder manchmal regelrecht pseudoproletarische Züge an, bei denen wohl überwiegend Wunschdenken und weniger die Mehrdeutigkeit der sozialen Herkunft zu Grunde lag. Ein ehemaliger SAAngehöriger und Referent in der HV Metallurgie äußerte zum Beispiel, seine Erziehung als Sohn eines Werkmeisters sei „ganz klar sozialistisch“ gewesen. Später hätten sich dann auch bürgerliche Tendenzen eingestellt. Das Ministerium für Staatssicherheit war jedoch ohne Einschränkung der Auffassung, er entstamme bürgerlichen Kreisen und sei auch „kleinbürgerlich“ erzogen. Ein anderer Pg. führte in den fünfziger Jahren an, seine Großväter seien allesamt Arbeiter gewesen. Der Vater habe sein Tagewerk als Streckenarbeiter bei der 505 506 507 Beispiele (Albert K., Kurt D., Helmut Wikary) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 193. Beispiele (Konstantin Pritzel, Willi Hintze, Walter R., Olaf S.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 193 f. Einzelheiten zu Otto Ka. sowie weitere Beispiele (Heinz Cramer, Josef Schaefers) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 194. Jens Kuhlemann – Braune Kader 114 Bahn verrichtet. Er beeilte sich hinzuzufügen, dass jener parteilos gewesen sei und nur der Gewerkschaft angehört habe. Dem stehen Angaben gegenüber, dass der Vater gewöhnlicher Eisenbahnbeamter war. Die Zentrale Kontrollkommission notierte nüchtern, dass der Pg. aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stamme.508 Eindeutig häufiger als Arbeiterkinder fanden sich unter den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK solche Mitarbeiter, die aus Beamten- und Angestelltenfamilien stammten. In diesem Konnex benutzten manche der Betreffenden selbst, als Teil der Eigenkritik, aber mehr noch die Kaderverantwortlichen das Negativetikett „bürgerlich“ oder noch herabsetzender „kleinbürgerlich“.509 Dahinter steckte der Gedanke, Teil der Bourgeoisie und damit Förderer und Nutznießer des Monopolkapitals zu sein. Die kommunistische Bewusstseinselite scheint dabei „kleinbürgerlichen“ Menschen insgesamt einen lediglich beschränkten Wahrnehmungshorizont zugestanden zu haben. Der Vorwurf lautete unter anderem, durch eine rudimentäre Bildung und geringes politisches Bewusstsein das „reaktionär-kapitalistische“ System in der Manier einer gehorsamen, leicht manipulierbaren Masse gestützt zu haben. In der DDR war es für die Kader zugunsten ihrer Karriere hilfreich, im Sinne der kommunistischen Machtelite eine unproletarische Herkunft zu verbergen oder zu relativieren. War sie nicht zu leugnen, erwartete die SED ihre selbstkritische Reflexion und eine Stellungnahme zu einer eventuell damit verbundenen mental-politischen Beeinflussung. Eine interessante Abfolge entsprechender Umschreibungen liegt zu Kurt Ritter vor, NSDAP-Mitglied sowie DWK-Hauptabteilungsleiter. Er gab im Jahr 1936 in einem Fragebogen anlässlich des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ an, sein Vater sei Landwirt und Pächter eines Rittergutes gewesen. Die Zentrale Kontrollkommission bezeichnete ihn später schlicht als „Sohn eines Bauern“. Ritter selbst bezog anschließend im Rahmen der SED-Mitgliederüberprüfung 1951 zu seiner sozialen Herkunft wie folgt Position: »Ich entstamme aus bürgerlichen Kreisen. Mein Vater war landwirtschaftlicher Berater und Häuserverwalter. Ich wurde in Berlin gross. Meine Spiel- und Jugendgefährten waren die Kinder von Arbeitern. Der Gegensatz zwischen ihren Lebensverhältnissen und den Bedingungen, unter denen meine Eltern lebten, erweckte in mir früh Interesse für soziale Fragen. Der Umgang mit den Landarbeitern während meiner Lehrzeit verstärkte es. Deshalb entschloss ich mich schon 1914, außer der Landwirtschaft auch Volkswirtschaft zu studieren.«510 Die Umdeklarierung der ideologisch vorteilhaften Berufsbezeichnung „Bauer“ in „landwirtschaftlicher Berater“ ist wohl nur in Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu verstehen, sein Vater sei ein „Bürgerlicher“ gewesen. Eigentlich schienen die Personalbeobachter wie die ZKK den Bauernstand ja bereits zu akzeptieren. Vielleicht tauchten dann aber Zweifel an dieser Version auf. Andererseits wollte sich der leitende Verwaltungsfunktionär nicht in die Nähe des Junkertums bringen und machte aus dem väterlichen Rittergutspächter einen politisch unverdächtig klingenden „Häuserverwalter“. Noch bemerkenswerter ist die Beschreibung einer frühen Hinwendung zum Arbeitermilieu in der Großstadt Berlin, trotz andersartiger Herkunft. Der erfahrene Kontrast seiner eigenen privilegierten Lebensumstände mit denen der befreundeten Arbeiterkinder habe in ihm schon als Jugendlicher einen Sensibilisierungprozess für sozioökonomische Grundsatzfragen angestoßen. Der weitere Kontakt mit der unterdrückten Schicht der Werktätigen habe diese 508 509 510 In ersterem Fall handelte es sich um Gerhard H., in letzterem um Heinz Fengler, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 195. Das Ministerium des Innern beurteilte einen erhöhten Anteil ehemaliger Pgs. in Zusammenhang mit einer vielfach bürgerlichen Herkunft derselben, siehe: DO 1 / 26.0, 17163, [MdI, HA Kader,] Analyse über die Kaderarbeit im Amt für Wasserwirtschaft im II. Quartal 1954, vom 17.08.1954, S. 2. DY 30 / IV, 2/11/176, Bl. 319, Ritter, Lebenslauf, [angefertigt aus Anlass der SED-Mitgliederüberprüfung 1951,] vom 26.02.1951 (Abschrift); DC 1 / 2575, XX / 21, [ZKK, Kurzcharakteristik], undatiert; ZB II 1907, A. 3, Übersicht; ebd., Fragebogen, vom 19.01.1936. Jens Kuhlemann – Braune Kader 115 Bewusstseinsentwicklung und als implizite Konsequenz die Abwendung vom Bürgertum weiter befördert. Keine so frühzeitig beginnende Abnabelung vom bürgerlichen Nexus vermeldete Ferdinand Beer, ebenfalls wie Kurt Ritter NSDAP-Mitglied und DWK-Hauptabteilungsleiter in der HV Wirtschaftsplanung. Er beschrieb Elternhaus und Erziehung in Böhmen Anfang der fünfziger Jahre gegenüber der SED wie folgt: »Mein Vater war zuerst Revierförster, später Forstmeister auf dem Großgrundbesitz des Fürsten Schwarzenberg und bürgerlicher Herkunft. Seine Einstellung war österreichisch-monarchistisch. [...] Auch meine Mutter hatte eine kleinbürgerliche Grundeinstellung, lehnte sich jedoch sehr heftig gegen die halbfeudalen Verhältnisse, wie sie auf dem Großgrundbesitz Schwarzenberg herrschten, auf und begrüßte den Stutz [sic] der österreichisch-ungarischen Monarchie 1918 [...]. Während meiner Jugendentwicklung schwankte ich zwischen der konservativen bürgerlichen Welt und der neuen sozialistischen Weltanschauung ohne mich endgültig zu einer Weltanschauung durchringen zu können. Zu stark waren die Einflüsse meiner kleinbürgerlichen Erziehung und Umwelt.«511 Aufgewachsen in einem durch die Eltern und deren Arbeitsstätte bedingten bürgerlich-ständischen Umfeld, berichtet Beer von seiner Mutter und deren „Auflehnung“ gegen die überkommene Gesellschaftsordnung mit ihren Relikten der Leibeigenschaft. Dabei schimmert eine klassenkämpferische, fast revolutionär anmutende Note durch. Dennoch habe der frühe sozialistische Impetus das spätere NSDAP-Mitglied in einem inneren Widerstreit ohne Lenkung in die „richtige“ Richtung belassen. Das soziale Umfeld habe dies verhindert bzw. den jungen Menschen derart mit „reaktionären“ Gedankenmustern umgarnt, dass er sich nicht aus eigener Kraft daraus habe befreien können. Wer aus dem Schoß der Bourgeoisie herrührte, den verdächtigten oder beschuldigten die Kommunisten, eine bürgerliche, d.h. arbeiterinkompatible Erziehung erhalten und angenommen zu haben. Auch eine bürgerlich-demokratisch-republikanische Gesinnung der Eltern und Großeltern statt einer rein monarchistischen oder rechtsnationalen war kein kaderpolitischer Vorteil. Wessen Vater dem Bürgertum oder der Beamtenschaft angehörte, versuchte manchmal, diesen Makel über die Mutter oder andere Vorfahren auszugleichen, indem man deren Arbeiterstand betonte. Auf der anderen Seite scheinen manche ExNationalsozialisten bei der Entnazifizierung noch nicht die Nachteile einer Beamtenherkunft, so wie sie die KPD/SED sah, wahrgenommen zu haben und betonten nicht ohne unterschwelligen Stolz, dass sie selbst oder ihre Ehepartner aus „alten Beamtenfamilien“ stammten, die schon dem Kaiser gedient hätten. Teilweise befanden sich auch höhere Beamte unter den Vätern. Vielleicht glaubten die NS-Belasteten, durch ein solches Vorgehen ihren Status heben oder die Verbundenheit zu staatstragenden Bevölkerungsschichten aus der PräNS-Ära unterstreichen zu können.512 Zur vollkommenen Bedeutungslosigkeit in der staatlichen Verwaltung Ostdeutschlands verkam der Adel. Er verlor durch die Bodenreform und weitere Zwangsmaßnahmen im Rahmen der Entnazifizierung nicht nur sein wirtschaftliches Kapital. Darüber hinaus gab es zwischen der alten ständischen Elite und den neuen Macht- und Funktionseliten nichts mehr, was mit den politisch bedeutsamen Kommunikationsnetzen zwischen Adel und Eliten im Deutschen Reich vergleichbar war. Die pauschale Verantwortung, die die Kommunisten den Adligen beziehungsweise den ostelbischen Junkern für den Nationalsozialismus zuschrieben, führte zu deren totaler Entmachtung. Adlige, die in der SBZ/DDR verharrten, sahen sich genötigt, sich im politischen und sozialen Koordinatensystem mit einem niederen Platz abzufinden. Wollten sie wieder in ihrem Status aufsteigen, mussten auch sie sich im neuen 511 512 DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 146, Protokoll der Sonderkommission, [SED-Mitgliederüberprüfung 1951,] Lebenslauf, vom 25.02.1951 (Abschrift); DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 2, Personalfragebogen, vom 29.08.1945 (Abschrift). Vgl. Äußerungen von Herbert Seifert, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 197. Beispiele (Walter E., Heinz König, Hans Mat., Werner Wilcke, Kurt V., Eberhard H., Walter Pi., Wilhelm St., Hans Lutz, Friedrich L., Wilhelm Salzer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 197 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 116 Gesellschaftsgefüge auf die Vorgaben der kommunistischen Machtelite einlassen. Soweit sie wegen der Ablegung ihrer Adelstitel nicht unerkennbar wurden, befanden sich im NS-Sample der DWK nur zwei Personen, denen eine adlige Abstammung nachzuweisen war. Die Quellen weisen keine Vermerke über besondere Vermögens- und Lebensverhältnisse im Vergleich zu den nichtadligen Ex-Nationalsozialisten auf. Ein exklusiver Lebensstil ist auch dann noch nicht zwangsläufig erkennbar, wenn das MfS zum Beispiel Ende der fünfziger Jahre festhielt, die Wohnung eines dieser ehemaligen Adligen sei „mit alten, den früheren bürgerlichen Verhältnissen entsprechenden Möbeln ausgestattet.“513 Für das Merkmal einer ungünstigen sozialen Herkunft liegen wie schon beschrieben Beispiele der Umdeutung, aber auch der eindeutigen Vertuschung vor. Dies betraf in der SBZ/DDR insbesondere die Nachkommen von Beamten und anderen NS-Staatsbediensteten. So wurden selbst hochrangige Amtsträger in der Familie nach 1945 praktisch totgeschwiegen. Ein Doppelbeispiel für Justiz und Militär ist Harald Schaumburg, NSDAP-Mitglied und DWK-Hauptabteilungsleiter. Wie Dokumente aus der NS-Ära belegen, war er der leibliche Sohn eines Generalstaatsanwalts und der Adoptivsohn seines Onkels, eines Generalleutnants. Allein die bloße Zugehörigkeit zu diesen Berufsgruppen war kaderpolitisch suspekt. In Kombination mit der jeweils einflussreichen Position drohte jedoch eindeutig ein Karrierehindernis. Bei der SED-Mitgliederüberprüfung 1951 schrieb der Leitungsfunktionär daher beschwichtigend: »Ich entstamme einer bürgerlichen Familie. Mein Vater war bei der Justizverwaltung beschäftigt. Im Jahre 1940 adoptierte mich ein Onkel«.514 In ersterem Falle handelte es sich also um ein Abtauchen in der Verallgemeinerung, in letzterem um ein Übergehen jeglicher Berufsbezeichnung. Ob diese Umstände der SED auffielen und wie sie reagierte, ist unbekannt. Zumindest begegnete Schaumburg aus diesem Grund kein erkennbares Misstrauen. Seine Stellung im Ministerialapparat blieb unberührt. Einige ehemalige Nationalsozialisten in der DWK versuchten also, ihre nachteilige soziale Herkunft und die loyale Haltung ihrer Väter zum Nationalsozialismus zu verheimlichen. Demgegenüber behaupteten manche, politisch passive und indifferente Eltern gehabt zu haben, eine Beeinflussung sei durch sie ausgeblieben.515 Schließlich verwiesen andere auf ein politisch oppositionelles Elternhaus. So beispielsweise Hans Forsbach (NSDAP und KPD/SED), Abteilungsleiter in der Deutschen Wirtschaftskommission. Sein Vater war demnach Former, Mitglied im Metallarbeiterverband und bis 1933 mehrere Jahre SPD-Vorsitzender in Remscheid-Lennep. Mit der Machtergreifung Hitlers sei er fristlos wegen seiner politischen Vergangenheit entlassen worden. Zudem habe man die Kriegsrente gekürzt, weshalb sich Forsbachs Vater als Versicherungsagent eine neue Existenzgrundlage habe erarbeiten müssen. Die Mutter, von Beruf Kassiererin und ebenfalls in der Weimarer Republik SPD-Mitglied, soll ihn dabei unterstützt haben. Die Familie des nach eigener Einschätzung aus „Arbeiterkreisen“ stammenden DWK-Funktionärs sei 1934 schließlich nach Dresden gezogen. Dort habe sie laut Forsbach enge Verbindung mit Antifaschisten gehalten und lange Zeit unter politischer Beobachtung gestanden. Ein in der NS-Ära inhaftierter Zeuge bestätigte diese Schilderung weitgehend.516 Eine solche Leidens- und Widerstandsgeschichte der Eltern rückte auch deren Nachkommen in ein positives Licht. Denn es war zu vermuten, dass sie ihre unnachgiebige politische Überzeugung an die Kinder weitervermittelt hatten. 513 514 515 516 Gemeint sind Heinrich von B. und in letzterem Falle Franz Woytt. Details, auch zu Luitpold Steidle, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 198 f.; Tenfelde, Milieus, S. 250; vgl. Rautenberg, Eliten, S. 202, dort auch zum Klerus; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 4, 6. Einzelheiten zu Schaumburg sowie weitere Beispiele (Luitpold Steidle, Hans W.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 199; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 4. Beispiele (Werner Wa., Hans Naake, Egon Wagenknecht, Franz H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 199. Details hierzu sowie weitere Beispiele (Rudolf Lang, Günther Kromrey) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 200. Jens Kuhlemann – Braune Kader 117 Das wiederum half Letzteren, ihre Zugehörigkeit zu NS-Organisationen als lediglich formale zu deklarieren und den Vorwurf, „Gesinnungstäter“ gewesen zu sein, von sich zu weisen. Die meisten ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK entstammten also Beamtenfamilien und unterschieden sich damit deutlich vom Gesamtpersonal, in dem die Arbeiterkinder dominierten. Manche NS-Belastete versuchten in der SBZ/DDR, eine kaderpolitisch ungünstige soziale Herkunft zu verbergen bzw. durch echte oder erfundene proletarisch-sozialistische Elemente in ein günstigeres Licht zu rücken. 2.1.4 Bildung und Weiterbildung Wissen – der Schlüssel, der versperrte Türen aufschließt? Namhafte Vertreter der Soziologie wie Pierre Bourdieu haben immer wieder auf die Bedeutung von Erziehung und Bildung im Zusammenhang mit Elitenpersistenzen nach einem Systemwechsel hingewiesen.517 Dieses „kulturelle Kapital“ ist mitverantwortlich für das Beharrungsvermögen von Funktionseliten bei Änderung politischer Machtkonstellationen. In der SBZ/DDR kam diese Komponente gegenüber anderen besonders stark zum Tragen. Verantwortlich dafür war zum einen die materielle Enteignung der alten gesellschaftlichen Oberschicht in der Wirtschaft und im Landadel. Zum anderen erfolgte eine Entwertung des sozialen Kapitals der alten NSDienstklasse durch Verlust von Positionshöhen und durch den weitgehenden Kontaktbruch zu einflussreichen Personen durch Einsetzung neuer Führungsgruppen, die zwar bislang schichtfremd, dafür aber SED-loyal waren. Die Übertragung und Entstehung kulturellen Kapitals wird in hohem Maße durch das Elternhaus und die Erziehung geprägt, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch viel stärker als heutzutage. Auch für die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und DDRRegierung liegt die Verbindung von sozialer Herkunft und Bildungsniveau mehrheitlich auf der Hand, bei allen Ausnahmen und individuellen Auf- und Abstiegsszenarien.518 Leider lässt sich die soziale Situation in der Adoleszenz und Ausbildungsphase der NS-Belasteten nur ungenau rekonstruieren. Doch übten viele ihrer Väter Akademiker- und Beamtenberufe aus. Beamte rechneten zumindest im gehobenen und höheren Dienst zur oberen Dienstklasse, die über ein hohes Bildungskapital verfügte und durch ausreichende Gemeinsamkeiten gruppenbildenden Charakter trug.519 Alles in allem lässt sich der Schluss ziehen, dass der größere Teil der untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder von der überdurchschnittlichen Bildung ihrer männlichen Elternhälften in vielerlei Hinsicht profitierte: einerseits durch die direkte Transmission bereits vorhandenen Wissens von einer Generation auf die nächste, andererseits durch die Schaffung eines Klimas, das erfolgreiches eigenständiges Lernen begrüßte. Gebildete Eltern erkannten die Bedeutung von Bildung als ideellen Wert eben stärker an als andere.520 Die oft überdurchschnittlich gut situierte soziale Stellung der Väter erleichterte tendenziell in einem weiteren Schritt die kostspielige Schulund Berufsausbildung der untersuchten Ex-Nationalsozialisten. Bildung musste man sich finanziell auch leisten können. Allein durch Verdienstausfall oder den notwendigen Unterhalt steckte hinter einer mehrere Jahre über dem Normalmaß liegenden Schulung eine erhebliche Summe investierten Geldes. Dabei waren finanzielle Engpässe nicht auszuschließen.521 517 518 519 520 521 Bourdieu, Kapital. Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 85 ff. Herz, Dienstklasse, S. 233 f., 237. Mertens / Voigt, Herkunft, S. 173. Ein Beispiel (Gerhard H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 202. Jens Kuhlemann – Braune Kader 118 Die so begründete Teilhabe an der gesellschaftlichen Bildungsschicht begünstigte den Kontakt und Austausch mit Gleichgesinnten und Gleichgebildeten, privat wie im Beruf. Es ist daher vorauszusetzen, dass Ethos und Wertvorstellungen des Bildungsbürgertums im NSSample weite Verbreitung gefunden hatten. Das schließt Milieuspezifika wie Habitus, Umgangsformen und Lebensstil ein. Darüber hinaus profitierten die Betreffenden von den Beziehungen, die sich aus dem eigenen Wissenserwerb sowie der Bildung und sozialen Stellung ihrer Väter ergaben, beim Karriereaufbau. Erleichterte Einstiegsbedingungen durch Kooptation deuten zum Beispiel die beiderseits relativ hohen Quoten an Staatsbediensteten unter den NS-Belasteten und ihren Vätern an.522 Ralph Jessen weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Akademikerfamilien, zu denen die Angehörigen des NSSamples in größerem Umfang gehörten, 1933 nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Aus diesen Familien stammte aber über die Hälfte aller Professoren.523 Ein Wissensschatz „vererbte“ sich also zumindest in modifizierter Form weiter. Soziale Herkunft, Bildung und Berufsleben hingen eng miteinander zusammen. Die Pgs. im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR bildeten dabei keine Ausnahme, im Gegenteil. Nach 1945 wurde diese Trias allerdings zunächst schwer erschüttert. Denn große Teile der alten bürgerlichen Bildungselite hatten sich durch Kooperation und Förderung des Nationalsozialismus weitgehend kompromittiert.524 Die Entnazifizierung traf sie besonders hart. Nach deren offizieller Beendigung kehrten zwar viele Intelligenzler in ihre alten Positionen oder ähnliche Stellen zurück. Allgemein stellte die politisch größere Nähe der Akademiker zum bürgerlichen Lager in den Augen der SED jedoch einen Unsicherheitsfaktor für die innerstaatliche Machtfestigung dar. Die Stalinisierung setzte daher die partielle Ausschaltung alter Bildungseliten unter anderen Vorzeichen fort. Die erheblichen Verluste an Fachkompetenz hielten an, wenngleich nicht mehr in den Dimensionen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dennoch blieb der intern vom MdI selbst zugegebene Qualifikationsmangel zahlreicher Mitarbeiter ein Zeichen für die anhaltende Elitenzirkulation.525 Abhilfe sollte die Heranbildung neuer, politisch einwandfreier Ersatzkader aus bis dato unterprivilegierten Schichten schaffen. Dadurch versuchte die SED die Dominanz des Bürgertums in akademischen Zirkeln zu beenden und den „proletarischen Geist“ in der Intelligenz zu verankern, was ihr zum Teil auch gelang.526 Bis es soweit war, mussten die neuen „Eliten“ jedoch erst einmal die essenziellsten Bildungsstationen durchlaufen. Das erforderte viel Zeit, weshalb die alte Dienstklasse je nach Berufssektor und politischem Anpassungsvermögen mal mehr, mal weniger umfassend bleiben konnte.527 Um die vorstehenden Ausführungen empirisch zu untermauern, schlüssele ich im Folgenden das Bildungsniveau der Regierungskader im Vergleich zum NS-Sample auf. Dazu diente den Personalverantwortlichen offenbar der individuell höchste jemals erreichte Bildungsgrad. Beim Gesamtpersonal der DWK und DDR-Regierungsdienststellen springt 522 523 524 525 526 527 Zur These, dass die Selbstrekrutierungsrate in der DDR umso größer ausfiel, je schwieriger das Studium und je höher das Berufsprestige war, siehe: Mertens / Voigt, Herkunft, S. 173; Näheres zu den Eltern der NS-Belasteten sowie ihrer Jugend- und Lernzeit im Kapitel „Soziale Herkunft“, zum Berufsleben siehe Kapitel „Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes“ und „Berufliche Karriereverläufe“; Herz, Dienstklasse, S. 238. Genau genommen handelte es sich um 52% der Professoren im Jahr 1938. Die ca. 60% der Bevölkerung, die als Arbeiter oder kleine Angestellte tätig waren, stellten hingehen nur 4% der Hochschullehrer, siehe: Jessen, Professoren, S. 218. Mertens, Austausch, S. 31. Siehe auch Abbildung Nr. 44 zum Qualifikationsniveau der Regierungsangestellten im Kapitel „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz“ in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 294 f. Jessen, Professoren, S. 218. Hübner, Einleitung, S. 24. Jens Kuhlemann – Braune Kader 119 sofort der hohe Anteil der Volksschüler ins Auge.528 Er stieg bereits in der Wirtschaftskommission von 51 auf 65% und lag dann bis 1953 relativ unverändert bei 6064%. Die Volksschüler stellten also mit Abstand die größte Gruppe. Das war nicht zuletzt eine Folge der verstärkten Anstellung von Arbeiterkindern.529 Weit dahinter rangierten die Mittelschüler bzw. die Absolventen der mittleren Reife. Ihr Anteil stieg in der DWK von 13 auf 21-24% und hielt sich in den DDR-Ministerien in etwa auf dieser Höhe. Die Besucher „höherer Schulen“ bzw. Abiturienten lagen 1948 noch bei bemerkenswerten 26%, im Anschluss daran sank ihr Anteil jedoch rasant auf nur noch 6-11%. Die Hochschulabsolventen lagen bis 1957 zwischen 5-10%.530 Im Großen und Ganzen lässt sich also sagen, dass die betreffende Personengruppe umso kleiner war, je höher ihr Bildungsgrad lag. Das entsprach grundsätzlich auch den Verhältnissen in der Gesamtbevölkerung und im öffentlichen Dienst der SBZ.531 Abiturienten und Akademiker verkörperten eine quantitativ kleine, aber privilegierte Bildungsschicht. Allerdings schuf der zentrale Regierungsapparat auch besondere Anforderungsprofile, die überdurchschnittlich viele gut gebildete Angestellte notwendig machten. Bei alledem ist zu konstatieren, dass es innerhalb der Deutschen Wirtschaftskommission in sehr kurzer Zeit eine merkliche Absenkung des Bildungsniveaus gab. Die Präsenz der Abiturienten ging zurück, die der Volks- und Mittelschüler nahm zu. Diese Entwicklung ist natürlich in Zusammenhang mit der tendenziellen Vergrößerung des Gesamtapparates und dem wachsenden Personalbedarf zu sehen. Gleichzeitig waren die kaderpolitischen Richtlinien in puncto SED-Treue strenger zu handhaben als vor 1948. Dadurch verschärfte sich der Mangel an geeigneten Bildungskadern zunehmend. Die scheinbare „Stabilität“ der Bildungsverteilung im Gesamtpersonal, die die überlieferten Statistiken zu den DDR-Regierungsdienststellen für die anschließenden fünfziger Jahre andeuten, täuscht. Denn wie noch zu zeigen sein wird, herrschte in den Bereichen, in denen der Spezialistenmangel am schlimmsten war, die „Dilettantisierung“ bis mindestens zur Mitte des Jahrzehnts weiter an. Ich möchte mitnichten in Frage stellen, dass einige der bis dato von Bildungsressourcen ausgeschlossenen Kader willens und imstande waren, sich im Laufe der Jahre diejenigen Kenntnisse anzueignen, die zur erfolgreichen Erfüllung verantwortlicher Aufgaben erforderlich waren. Doch für einen großen Teil der kurzfristig in vakante Positionen aufrückenden Angestellten traf das mit Sicherheit nicht zu. Die Erfordernisse überstiegen einfach ihre Fähigkeiten. Der naiv-euphorische Glaube der SED, bei guter Anleitung könnte praktisch jeder Mensch mit einem Mindestmaß an Vorbildung, Lernbereitschaft und –potenzial fast jedes Arbeitsfeld bewältigen, begünstigte zwar eine schärfere Kaderselektion nach politischen Gesichtspunkten. Er musste jedoch die fachliche Effizienz weiter zurückdrängen.532 Die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Wirtschaftskommission unterschieden sich grundlegend von den zuvor beschriebenen Mustern. Hochgerechnet besaßen etwa 70% (!) der ehemaligen Nationalsozialisten das Abitur. Der ganz überwiegende Teil dieser Abiturienten durchlief anschließend noch eine Hochschulbildung.533 Sie besuchten 528 529 530 531 532 533 Eine grafische Darstellung und Quellenangaben zu Statistiken über (Weiter-)Bildungsaspekte des Personals der DDR-Regierungsdienststellen, Bezirke etc. inklusive Pgs. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 ff. (Abb. 32 und 34). Siehe Kapitel „Soziale Herkunft“. Für die HA Personalfragen und Schulung bzw. das MdI war vermutlich der entsprechende Abschluss entscheidend und nicht der bloße Besuch entsprechender Bildungseinrichtungen ohne Abschluss. Erläuterungen der vorgefundenen Statistikquellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 f. Einzelheiten zur Schulbildung der Angestellten im öffentlichen Dienst der SBZ im Mai 1949 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 204. Zur höheren Schulbildung politischer Eliten in Polen, die ihre formale Qualifikation oft durch ein Fernstudium erlangten, vgl. Rautenberg, Eliten, S. 196; zu Ungarn vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 225 ff. Verwertbare Aussagen zum Schulbesuch machen die Quellen bei 83 von 154 Angehörigen des NSSamples. Als höchsten Schulabschluss (ungeachtet der nachfolgenden Tertiärbildung oder weiterer Jens Kuhlemann – Braune Kader 120 Universitäten, technische und sonstige Hochschulen.534 In den DDR-Ministerien lag das Bildungsniveau der ehemaligen Nationalsozialisten tiefer als in der DWK. Vermutlich ist das vor allem auf eine vermehrte Einstellung jüngerer und dadurch tendenziell weniger gebildeter Pgs. zurückzuführen. Vielleicht war auch eine verbesserte Möglichkeit, mit anderen Eigenschaften als einer sehr guten Ausbildung punkten zu können, der Grund. Insgesamt übertrafen die Abschlüsse der NS-Belasteten die der Durchschnittskader jedoch weiterhin mit Abstand. So besaß drei bis vier Jahre nach der Staatsgründung immer noch jeder fünfte der ehemaligen NSDAP-Angehörigen im Verwaltungspersonal einen Hochschulabschluss.535 Bei der Erstellung des Bildungsprofils der NS-Belasteten ist zu berücksichtigen, dass die allermeisten Angehörigen des NS-Samples, egal ob mit Matura oder ohne, nach der Schule eine weiterführende Bildungseinrichtung absolvierten. Sie hatten sich also über Jahre hinweg ein sehr fundiertes Fachwissen angeeignet. Es begründete eine der markantesten Eigenschaften, die diese „ungeliebten“, aber wichtigen Kader mit sich brachten. Sie gehörten in hohem Maße zur oberen Bildungsschicht der Gesellschaft, deren Kenntnisse für den Aufbau so dringend benötigt wurden. Dieser Befund wird im Folgenden noch mit weiteren Details auszufüllen sein. Doch bereits an dieser Stelle können wir den eindeutigen Schluss ziehen, dass die herausragende Bildung der NS-Belasteten das Schlüsselmerkmal für ihre Anstellung in der DWK darstellte. Sie verlor im Laufe der fünfziger Jahre als Ausgleichsmoment für die politische Vergangenheit zwar an Bedeutung, spielte aber – gerade für ältere, gewissermaßen voll schuldfähige Pgs. – weiterhin eine elementare Rolle. Zur Untersuchung des Verlaufes politischer Systemtransformationen ist die Frage nach den Studienfächern ein weiterer Aspekt von wesentlicher Bedeutung. Trugen die Bildungsinhalte rein „wissenschaftlichen“ und ideologieneutralen Charakter? Oder besaßen sie ideologienahe Züge und standen in enger Verbindung mit der jeweiligen Staats- und Wirtschaftsordnung?536 Politische oder andere Motive für die Wahl der Studien- und Berufsgänge sind nur selten überliefert. Wenn, dann korrespondierten sie mit den Idealvorstellungen der SED vom ideologisch reifenden und bewussten Menschen.537 Auf die Bildungsinhalte selbst sind zwar noch weitere Rückschlüsse auf Grundlage der innerhalb des Staatsapparates eingenommenen Arbeitsbereiche zu ziehen. Beim NS-Sample ist die Tendenz der Fächerwahl jedoch auch so klar. Technisch und naturwissenschaftlich orientierte Fächer dominierten nämlich zusammen mit Recht und Wirtschaft. Geistes- und Sozialwissenschaften waren im Kreis der NS-Belasteten hingegen absolut unterrepräsentiert. Theologische, 534 535 536 537 Schulbesuche ohne Abschluss) weisen die Quellen bei 8 die Volksschule aus. 23 besaßen eine höherwertige Schulbildung, die aber noch unterhalb des Abiturs lag (davon explizit dreizehnmal Obersekundareife und viermal Primareife). Der Großteil, nämlich 52 Personen, hatte das Abitur erlangt (bei einigen wenigen davon habe ich aufgrund des Gymnasialbesuches ohne nachweisbaren vorzeitigen Abgang auf den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife geschlossen). Hinsichtlich der Hochschulbildung erscheint ein direkter Vergleich mit dem Gesamtpersonal schwierig, da nicht eindeutig ist, ob das MdI in seinen Statistiken unter „Hochschulbildung“ z.B. auch eher kürzere Zeit besuchte Handelsschulen oder Fachschulen verstanden hat. Etwa vier Personen scheinen nach der Schule trotz teilweise längerer Lerndauer keinen weiteren Abschluss gemacht zu haben. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 205. Der Typ der Bildungseinrichtung war bei 57 von 154 ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern in der DWK Angaben zu ermitteln. Bei 13 NS-Belasteten davon ist nicht eindeutig, ob sie Hochschulen im Sinne des MdI besuchten. Das betrifft Berg- und Technikakademien, ein Polytechnikum, Gewerbe-, (höhere) Handels- und Fachschulen, eine Technische Mittelschule sowie Forst-, Wirtschafts-, Ingenieur- und kaufmännische Schulen. Nicht in allen Fällen scheint die allgemeine Hochschulreife die unabdingbare Zugangsvoraussetzung gewesen zu sein. Einzelheiten zu Art und Häufigkeit der besuchten Hochschulen etc. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 205. Anders ausgedrückt: 1952/53 waren 13-15% aller Hochschulabsolventen im zentralen DDRRegierungsapparat ehemalige NSDAP-Mitglieder (15.12.1952: 122 von 879); 1953 waren zusätzlich 11% aller Angestellten mit Fachschulabschluss ebenfalls Pgs.; Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 205 f. Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 110 ff. Siehe die Ausführungen von Franz Woytt zur Berufswahl, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 206. Jens Kuhlemann – Braune Kader 121 künstlerische und medizinische Studiengänge ebenso.538 Was Religion und Schöne Künste anbelangt, lag das natürlich nicht zuletzt an der andersartigen fachlichen Ausrichtung der DWK, von ideologisch begründeten Barrieren abgesehen. Darüber hinaus war die HV Gesundheitswesen alleine zu klein, um einen größeren Bedarf an Medizinern und sonstigen Heilberufen hervorzurufen. Auf der anderen Seite war die zentrale Staatsverwaltung zumindest in begrenztem Umfang eigentlich ein originäres Betätigungsfeld für Geistes- und Sozialwissenschaftler. Nicht alle Einzelfächer dieser Studienbereiche waren nach Kriegsende eindeutig diskreditiert und viele blieben weiterhin gefragt, zum Beispiel Sprachen. Doch in solchen politisch unbedenklicheren Sparten scheint es ausreichend Alternativen zu ehemaligen Nationalsozialisten gegeben zu haben. Die SED brauchte hier keine Zugeständnisse zu machen. In anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, die zur Zeit der bürgerlichen Weimarer Republik und der NS-Diktatur eine inhaltlich überwiegend weltanschaulich-ethisch geprägte Ausbildung beinhalteten, verfügte die kommunistische Machtelite nicht nur über ausreichend „eigene“ Experten, die im Marxismus-Leninismus bewandert waren. Die Radikalität des Systemwechsels seit 1945 und die politische Bedeutung der DWK als Institution verlangten geradezu, dass im zentralen Staatsapparat keine wie auch immer exponierten Stützen des Nationalsozialismus einen hochgradig ideologisierbaren Erziehungshintergrund besaßen, der während des NS-Regimes die Grenze des geistigen Empfangens zur geistigen Sendeabsicht überschritten hatte. Wer sich im „Dritten Reich“ zum Beispiel dazu entschlossen hatte, Politologie zu studieren, hatte im Nachhinein Probleme, sich als passives Opfer zu stilisieren und das Image des Überzeugungstäters abzustreifen. Die Kommunisten ächteten eben vor allem den politisch-ideologischen Charakter des Nationalsozialismus und solche Personen, die ihn aktiv verbreiteten. Sie beanspruchten auf diesem Feld eine absolute Deutungshoheit und setzten praktisch ausschließlich solche Kräfte ein, die sich ihr Weltbild außerhalb der Universitäten, in der KPD und Arbeiterbewegung, aufgebaut hatten.539 Die vorstehenden Ausführungen galten eigentlich auch in bestimmtem Maße für Ökonomen und Juristen. Ihre Chancen auf Einstellung in die Staatsverwaltung waren jedoch, wie die Empirie belegt, bei entsprechenden kaderpolitischen Ausgleichsmerkmalen ungleich besser. Denn der Fachkräftemangel war hier offensichtlich erheblich größer. Gerade der Beruf des Juristen gehörte zu denjenigen, die langwierige umfangreiche Ausbildungsbestimmungen vorsahen, um einen umfassenden Kenntnisstand zu erlangen. Das trug wesentlich dazu bei, dass neue, sachlich gute Fachkräfte nur langsam heranzubilden und die alten schwerer zu ersetzen waren.540 Außerdem konnten Absolventen der Rechtsund Wirtschaftswissenschaften wohl glaubhaft machen, einerseits viele politisch neutrale Inhalte gelernt zu haben wie beispielsweise Bilanzierungen oder Vertrags- und Handelsrecht. 538 539 540 Bei 52 von 154 Angehörigen des NS-Samples sind die Studienfächer mehr oder weniger eindeutig in den Quellen belegt. Sie lassen sich zu den Gruppen Ingenieurwesen, Forst- und Agrarwissenschaften, Naturwissenschaften, Handel und Wirtschaft, Rechtswissenschaften sowie sonstige Fächer zusammenfassen. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 206 f. Auf der anderen Seite besaß jemand, der in der DDR gesellschaftswissenschaftliche Fächer studierte, zwar die Anerkennung der SED. In der Bevölkerung genoss er jedoch ein deutlich niedrigeres Berufsprestige. Das lag zum einen an der größeren politischen Nähe zum Regime, zum anderen daran, dass sich entsprechende Studieninhalte mit geringeren intellektuellen Fähigkeiten durchlaufen ließen. Fächer wie Marxismus-Leninismus dienten daher als Sprungbrett für einen sozialen Aufstieg. Ein Drittel solcher Absolventen kamen über den zweiten Bildungsweg. Die NS-Belasteten in der DWK hatten demgegenüber eher prestigeträchtige Ausbildungen hinter sich, siehe: Mertens / Voigt, Herkunft, S. 173. Außerhalb der Verwaltung lag bei Richtern und Staatsanwälten die Priorität klar auf einer politisch „sauberen“ Biografie. Pgs. hatten keine Chance, in diese Posten zu gelangen, siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“. Eine Statistik über die Ende 1948 in der DWK beschäftigten 48 Juristen siehe in: DO 1 / 26.0, 17098, XXV / 48, [DWK, HA Personalfragen und Schulung,] an DWK, Sekretariat, vom 04.12.1948. Jens Kuhlemann – Braune Kader 122 Andererseits hatten die ehemaligen Nationalsozialisten zusammen mit ihren NS-unbelasteten Studienkollegen in der DWK fachlich und ideell anscheinend keine größeren Probleme, sich vom Kapitalismus weg in eine sozialistische Planwirtschaft zu begeben bzw. sich in einem politischen System zurechtzufinden, das frühzeitig jede Rechtsstaatlichkeit vermissen ließ. Am stärksten vertreten waren im NS-Sample jedoch die ideologisch gänzlich unverfänglichen Fächer im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich. Sie waren besonders kompatibel mit dem jeweils von der Machtsituation vorgegebenen Politiksystem. Studenten dieser Fachgebiete mussten sich ideologisch am wenigsten anpassen oder erklären. Ihre Lerngebiete ließen sich weltanschaulich nicht pluralistisch deuten oder prägen, sondern waren wie die Mathematik „objektiv“. Das erleichterte bei Opposition oder Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Ordnung den Beginn und die Fortsetzung einer beruflichen Karriere. Der große Bedarf an Spezialisten in diesen Fächern tat sein Übriges für die Aufstiegschancen im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR.541 Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Ausbildungslehren. Es sei vorweg erwähnt, dass die meisten Angehörigen des NS-Samples, bei denen sich eine Lehrlingszeit nachweisen lässt, im Anschluss an ihre Ausbildung weiterführende Bildungseinrichtungen besuchten bzw. ein Studium belegten. Nur relativ wenige erlangten vor Eintritt in die Wirtschaftskommission keinen zusätzlichen oder höheren berufsqualifizierenden Abschluss mehr. Doch wie sah die Binnendifferenzierung der Lehrberufe aus? Bei den Ausbildungsberufen nahmen zum einen die industriell-technischen und zum anderen die kaufmännischen eine starke Stellung ein. In geringerem Maße folgten die Forst- und Agrarlehren. Für sich genommen überwog der Verwaltungssektor jedoch alle anderen. Die öffentliche Verwaltung, zu der ich auch die Reichsbahn und Reichspost, die Finanz- und Justizverwaltung zähle, war ohne direktes Gegenstück bei den Studienfächern. Die eingeschlagenen Laufbahnen der NS-Belasteten betrafen, soweit erkennbar, meist den gehobenen und höheren Verwaltungsdienst. Sie schlossen die behördeninternen Ausbildungsverfahren samt staatlicher Prüfungen ein. Der zumindest temporäre Besuch spezieller Lehrstätten ist bei ihnen zwar nicht aktenkundig geworden, scheint aber zwangsläufig Ausbildungsbestandteil gewesen zu sein. Das Juristenmonopol für höhere Verwaltungsstellen bewirkte, dass dieser Kreis aus Personen bestand, die bereits ein Studium absolviert hatten. Bei den meisten anderen Auszubildenden, die sowohl Lehre als auch Studium durchliefen, ging die Lehrlingszeit der Hochschule voraus. Die enge Verwandtschaft von Verwaltung und Rechtsleben ergab sich nicht nur aus der Natur der Sache. Sie wurde auch bereits im Referendariat durch den Besuch von Verwaltungsstationen unterstrichen. Resümierend ist festzustellen, dass die Berufslehren der ehemaligen Nationalsozialisten ungefähr die gleiche fachliche Orientierung aufwiesen wie der von ihnen zum Beispiel an den Universitäten belegte Fächerkanon.542 Es lässt sich weitgehend ausschließen, dass die Häufigkeit bestimmter Bildungsgänge einer eventuellen Verbundenheit von Dienststellen- und Kaderleitern zur „eigenen“ Universitätsstadt oder zu alten Studienfreunden zuzuschreiben ist. Bei der 541 542 Welzel, Rekrutierung, S. 210. Eine Lehre ließ sich bei 41 von 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern nachweisen. Nur für etwa 12 von ihnen scheint der Gesellenbrief oder das entsprechende Pendant der höchste im Leben erzielte Berufsabschluss gewesen zu sein. 4 beendeten die Ausbildungslehre ohne Abschluss. Nur ein einziger scheint angelernt und als anfänglicher Bürobote ohne richtige Berufsausbildung gewesen zu sein. Auf eine Unterscheidung der Ausbildungsgruppen in „White Collar“ und „Blue Collar“ ist wegen derjenigen NSBelasteten, die außer einer Berufslehre noch ein Studium absolviert hatten, zu verzichten. Unterteilt in die klassische Dreiteilung habe ich eine Zuordnung von 4 in der Land- und Forstwirtschaft, 9 im produzierenden Gewerbe und 28 im Dienstleistungssektor vorgenommen. Einzelheiten zu den relevanten Bereichen Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Technik, Handel und Wirtschaft, öffentliche Verwaltung sowie Sonstige siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 209 f.; Herz, Dienstklasse, S. 233 f.; vgl.: Rebenstorf, Integration, S. 137; zu Lehrlingszeiten siehe auch Kapitel „Berufliche Karriereverläufe“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 123 Personalbeschaffung spielten persönliche Bekanntschaften zwar eine größerer Rolle. Sie ergaben sich jedoch eher aus der Berufstätigkeit. Jedenfalls waren die Studien- und Ausbildungsorte der ehemaligen Nationalsozialisten in der Wirtschaftskommission relativ gemischt und erstreckten sich über ganz Deutschland. Eine gewisse Konzentration trat nur für Berlin auf. Das war wegen der räumlichen Nähe und der ursprünglichen Herkunft vieler DWK-Mitarbeiter zu erwarten. Doch selbst in der alten Reichshauptstadt fand eine Aufteilung auf mehrere Lehranstalten statt. Ein aus gemeinsamen Studientagen resultierender zusammenhaltender Einfluss auf die betreffenden Pgs. oder nennenswert erleichterte Einstellungsbedingungen sind nicht feststellbar. Die Bedürfnisse der Kaderpolitik samt ihren Kontrollmechanismen standen dem entgegen.543 Ebenfalls ein eher unwesentliches Kriterium war, zu welchem Zeitpunkt die fachliche Ausbildung erfolgte. Zwar konnte niemand ausschließen, dass die NS-Ideologie die meist noch recht jungen Menschen auch in ihren berufspolitischen Wertemustern, ihrer Arbeitsauffassung, ihrem Verhältnis zum Kapital und zur Arbeiterschaft etc. auf nachhaltige Art und Weise negativ beeinflusst hatte.544 Dennoch war eine Ausbildung oder ein Studium vor 1945 vom Standpunkt der kaderpolitischen Belastung betrachtet kein Nachteil.545 Denn zum einen traf dies auf die allermeisten Bewerber in der SBZ/DDR zu. Zum anderen war die Betätigung in einer NS-Organisation als Belastungsindiz ungleich wichtiger. Schließlich sollte eine fachliche und politische Weiterbildung die erwünschte Neuausrichtung der Kader im Sinne der SED leisten. Wer eine Ausbildung in der SBZ/DDR, am besten an politisch „korrekten“ Einrichtungen wie beispielsweise der Verwaltungsakademie „Walter Ulbricht“ oder einer Arbeiter- und Bauern-Fakultät, absolvierte, fand natürlich das Wohlwollen der SED-dominierten Personalabteilungen. Für die berufliche Primärausbildung der untersuchten Mitglieder der NSDAP, SA und SS spielten sie jedoch keine Rolle. Altersbedingt erfolgte bereits der Schulbesuch bei fast allen von ihnen zeitlich in Gänze oder überwiegend vor Hitlers Machtergreifung. Daher überrascht es nicht, dass die NS-Belasteten nur selten von einer nationalsozialistisch geprägten Schulzeit berichteten.546 Es erschien vielen Pgs. nach 1945 vorteilhaft, von einer antifaschistischen Erziehung zu berichten, so wie Rudolf Lang, der in den zwanziger Jahren Abitur machte und studierte. Ein Schulfreund und Kommilitone schrieb dazu anlässlich der Entnazifizierung: »Ich kenne Dr. Rudolf Lang aus unserer gemeinsamen Schulzeit im Friedrichs-Realgymnasium zu Berlin. Diese Anstalt stand damals unter der Leitung des sozialdemokratischen Oberstudiendirektors, Dr. Paul S[...], der uns zu demokratischen und pazifistischen jungen Menschen erzog. Als Studenten trafen wir uns haeufig im Deutschen Fremdsprachlerbund, der auf demokratischer, ueberparteilicher und internationaler Grundlage Menschen aller Bildungs- und Gesellschaftsschichten vereinigte, die ihren Gesichtskreis durch das Erlernen fremder Sprachen und durch Fuehlungnahme mit dem Ausland zu erweitern trachteten.«547 Der Vorsitzende der Entnazifizierungskommission fragte Lang daraufhin unverhohlen ironisch, ob er in der NSDAP und SA Studien praktischer Art als pazifistischer und demokratischer junger Mensch betreiben wollte. Lang antwortete unter Bezug auf das Schreiben seines Studienfreundes: »Diese Erklärung gibt eine Grundlage für das, was in der Schule an mich herangetragen worden ist. Die inzwischen verstrichene Zeit hat für jeden jungen Menschen andere Eindrücke hinterlassen. Die damaligen Verhältnisse liessen gar nicht erkennen, worauf die Nazipartei einmal hinauslaufen würde. Man kann nicht sagen, dass ich irgendwie 543 544 545 546 547 Quellenangaben zum NS-Sample siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 210. Vgl. DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 343. Anders die vom ZK und MdI kritisierte Unterscheidung in: DO 1 / 26.0, 17567, [Ministerium der Finanzen, Personalabteilung,] Gräfe, betr.: Aufstellung des Perspektivplanes für Kaderentwicklung im Jahre 1952, vom 10.01.1952 (Abschrift von Abschrift); ebd., SED, ZK, Abteilung Agitation, an MdI, SEDParteiorganisation, vom 28.05.1952; ebd., [MdI,] HA Personal, Aktenvermerk, vom 21.07.1952. Letzteres tat Hans Naake, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 210. ZJ 53, A. 6, Gerhard H[...], Eidesstattliche Erklaerung, vom 20.02.1947. Jens Kuhlemann – Braune Kader 124 bewusst die Linie, in der ich erzogen worden war, damals verlassen habe.«548 Lang versuchte also glaubhaft zu machen, dass er eine Erziehung genossen habe, wie sie in der Nachkriegszeit angestrebt wurde. Er habe sich nie wirklich von ihren Grundsätzen entfernt, sondern sei wie viele andere junge Menschen als unerfahrener Mann von den Nationalsozialisten verführt und getäuscht worden. Die sich der Schule anschließende Berufsausbildung beendeten die meisten ExNationalsozialisten der DWK ebenfalls in der Kaiserzeit oder Weimarer Republik. Etwas weniger als die Hälfte der untersuchten NS-Belasteten legte ihre letzte Prüfung während des Nationalsozialismus ab. Manche davon haben erst zur Zeit des NS-Regimes mit ihrer berufsqualifizierenden Ausbildung begonnen.549 Diese Angaben dienen als Hintergrund für die hin und wieder aufgestellte Behauptung, sich an eine NS-Organisation binden zu müssen, um ein Studium aufnehmen oder beenden zu können. Zu ergänzen ist, dass nur relativ wenige Sample-Angehörige ihre Berufsausbildung aus diversen Gründen wie gesundheitlicher Beeinträchtigung, wirtschaftlicher Probleme etc. unterbrechen mussten. Selbst die beiden Weltkriege zeigten – anders als auf die Berufsausübung – diesbezüglich kaum Auswirkungen. Familiäre Gründe, aber auch attraktive Arbeitsangebote etc. tauchen als Ursache für unvollendete Studien- und Ausbildungsgänge zwar nicht ausdrücklich auf, sind aber ganz vereinzelt denkbar. Soweit zu den Angehörigen des NS-Samples Noten vorliegen, die über ihre Leistungen im Studium und in der Lehrlingszeit Auskunft erteilen, lauteten diese überwiegend „gut“ und „sehr gut“. Teilweise lagen sie auch darunter. Vereinzelt ist der Erhalt von Stipendien nachweisbar.550 Abschlüsse und Zensuren sind ein wertvoller Indikator wissenschaftlichen Kapitals. Denn das deutsche System akademischer Qualifikation war und ist sehr zertifikatsund institutionsorientiert.551 Titel stellen dabei eine Art „institutionalisiertes Kulturkapital“ dar. Sie sind schulisch und rechtlich sanktioniert und gelten unabhängig von der Person ihrer Träger. Ein Autodidakt kann diesen „objektiven“ Qualitätsnachweis nicht erbringen und steht daher ständig unter Beweiszwang.552 Für das berufliche und gesellschaftliche Prestige spielten die akademischen Titel des Doktors und des Professors eine besonders wichtige Rolle. Sie avancierten zum Bestandteil des Namens und gaben auch Fremden eine Information mit scheinbarer Garantie über den sozialen und Bildungshintergrund der Betreffenden. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, wenn ein Pg., der nicht promoviert hatte, versuchte, den Wert eines Doktorgrades herunterzuspielen, um seine Qualifikation in ein besseres Licht zu rücken. Oder er versuchte zu verdeutlichen, dass er zwar die geistigen Fähigkeiten zur Abfassung einer Dissertation besaß, aber aus fachfremden Gründen nicht dazu kam.553 In einem anderen Fall handelte sich ein früheres NSDAP-Mitglied den Vorwurf ein, sich mit falschen Federn zu schmücken. Gemeint ist der DWK-Leitungskader Hans Forsbach, der sich 1948 einem Verhör der Zentralen Kontrollkommission unterziehen musste. Der Vorsitzende der ZKK, Fritz Lange, schrieb dazu an das Mitglied des DWK-Sekretariates Fritz Selbmann: »Im Verlauf dieser Vernehmung verwickelte sich Forsbach in bezug auf seine Vergangenheit in verschiedene Widersprüche. Es wurde festgestellt, dass Forsbach unberechtigt den Doktortitel führt. Er besitzt nach seinem eigenen Eingeständnis weder ein 548 549 550 551 552 553 Zur Fortsetzung der Ausführungen Langs siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 211. Über Studien- und Lehrzeiten lässt sich zu 73 von 154 NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern in der DWK eine Aussage zum Abschlussdatum treffen: 40 von ihnen hatten die Berufsbildung bereits vor 1933 abgeschlossen. Darüber hinaus legten 32 ihre letzte Prüfung im Nationalsozialismus ab. Nur einer konnte seinen ersten Berufsabschluss erst in der SBZ machen. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 211. Beispiele (Hintze, Hans Mat., Schaumburg, Beer, Forsbach, Wikary) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 212. Jessen, Professoren, S. 228-232, 242 f. Bourdieu, Kapital, S. 61. Siehe hierzu die Schilderungen von Harald Schaumburg, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 212. Jens Kuhlemann – Braune Kader 125 Diplom noch ein anderes Dokument, dass ihn berechtigt, diesen Titel zu führen. Diese Hochstapelei des Forsbach bestätigt lediglich seine Neigung, die eigene politische Vergangenheit in hochstaplerischerweise [sic] antifaschistisch auszuschmücken.« Lange suspendierte Forsbach mit sofortiger Wirkung vom Dienst und wies ihn aus dem Haus. Er bat Selbmann, den ehemaligen Pg. umgehend zu entlassen.554 Tatsächlich wechselte Forsbach wenige Monate später zur Brandenburger Landesregierung, wenngleich nicht alleine aus diesem Grund. Was war geschehen? Forsbach hat nachweislich zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften promoviert, und zwar an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Seine Arbeit zum Thema „Die imperialistische Rolle der Konzerne im faschistischen Deutschland“ erhielt die Note „gut“.555 Die entsprechende Urkunde datiert vom 23. Oktober 1948, dem Tag der Vernehmung durch die ZKK.556 Mithin hat Forsbach also sehr wohl eine Dissertation abgefasst. Er benutzte aber bereits vor Überreichung der Urkunde den Doktortitel, ab wann genau ist unklar. In einem Brief an die ZKK gab der Abteilungsleiter im Sekretariat Selbmann zu, mindestens vom Zeitpunkt des bestandenen Examens an bis zur Ausstellung des DoktorDiploms den Titel getragen zu haben.557 Dazu war er nicht befugt, denn üblicherweise begründet erst die Aushändigung der Urkunde das Recht, den Doktortitel zu führen. Man kann also zu dem Schluss gelangen, dass es sich negativ gesprochen um Betrug handelte oder, etwas weniger nachtragend, um Angeberei und Renommiergehabe aus persönlicher Eitelkeit. Interessant ist, dass der ZKK-Vorsitzende die Aufschneiderei in puncto Bildung gleich als allgemein gültigen Charakterzug ansah. Sie diente als Stützargument dafür, dass der „Prahlhans“ auch zu vorteilhaft verfälschten Darstellungen seines Verhaltens im Nationalsozialismus imstande gewesen sei.558 Anders als im vorangegangenen Fall bildete eine Promotion, die erst nach 1945 erfolgte, im NS-Sample die absolute Ausnahme.559 Über zwanzig Prozent aller untersuchten NS-Belasteten erwarben ihren Doktortitel bereits vor dem Eintritt in die Deutsche Wirtschaftskommission. Mindestens zwei dieser promovierten Akademiker hatten zum selben Zeitpunkt zusätzlich habilitiert bzw. einen Professorentitel erhalten.560 Diese hohe Quote ist ein weiterer Beleg für die hervorragende fachliche Qualifizierung der meisten ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK.561 Sie deutet aber auch an, dass diese Personen in ihrem sozialen Umfeld auf ein gewisses Ansehen aufbauen konnten, zumal wenn Kollegen und Mitbürger nichts von der NS-Vergangenheit wussten. Das betrifft auch die akademische Öffentlichkeit. Von über einem Dutzend der untersuchten NS-Belasteten sind Fachartikel und Fachbücher bekannt. Mehrere von ihnen waren Mitarbeiter wissenschaftlicher Zeitschriften oder diverser Fachblätter, die teilweise von Regierungsdienststellen herausgegeben wurden. 554 555 556 557 558 559 560 561 Langes Vorwurf der Vergangenheitsverdrehung trägt ironische Züge angesichts der Beschuldigungen, die Zeitgenossen an Lange richteten (beschrieben im Kapitel „Anzeigen und Denunziationen“), siehe: DC 1 / 2601, ZKK, Lange, an DWK, Selbmann, vom 23.10.1948. Details zu Titel und Erstellung von Forsbachs Dissertation siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 213. DC 1 / 2601, Universität Leipzig, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Urkunde zur Verleihung des akademischen Grades „Dr. der Wirtschaftswissenschaften“, vom 23.10.1948. DC 1 / 2601, Forsbach, an ZKK, Lange, vom 27.10.1948. DC 1 / 2601, Forsbach, an ZKK, Lange, vom 27.10.1948. Siehe Kapitel „NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“. Laut Quellenlage hatten 32 von 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern vor ihrer Beschäftigung in der DWK den Doktorgrad erlangt. Zwei weitere habilitierten erst in der DDR bzw. nahmen dort erstmals einen Lehrstuhl ein. Details, insbesondere zu Kurt Ritter, Friedrich Z., Egon Wagenknecht, Walter F., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 214. Zu Studienabschluss- bzw. Promotionsnoten von Rudolf Lang und Günther Kromrey siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 214. Jens Kuhlemann – Braune Kader 126 Einige haben im Laufe ihrer Karriere sogar haupt- oder nebenberuflich an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen gewirkt.562 Wir wissen jetzt, dass die ehemaligen NSDAP-Mitglieder im zentralen Staatsapparat ganz überwiegend eine höherwertige Schul- und Berufsbildung besaßen. Sie waren, gemessen an ihrem Anteil am Gesamtpersonal, überdurchschnittlich oft unter den Abiturienten und Hochschülern vertreten. Deshalb soll die Verteilung dieser beiden Gruppen auf die jeweiligen Verwaltungsebenen etwas näher beleuchtet werden. Denn daraus lassen sich auch Rückschlüsse ziehen, weshalb die NS-Belasteten bestimmte Positionshöhen im zentralen Staatsapparat eingenommen haben und andere nicht. Diejenigen Regierungsmitarbeiter, deren höchster Bildungsabschluss das Abitur war, zeigten sich demnach am stärksten im „Fachpersonal“ vertreten. Am zweitstärksten taten sie das bei den leitenden und mittleren Funktionen. Dann folgten die unteren Verwaltungsangestellten und am allerwenigsten traf man sie unter den technischen Kräften an.563 Ganz ähnlich, wenngleich mit einigen Schwankungen, verhielt es sich auf den jeweiligen Hierarchie-Ebenen mit den Hochschulbesuchern. Am stärksten waren die Akademiker bei den Leitungskadern und dem sogenannten Fachpersonal vertreten. Dabei befand sich das Fachpersonal in der Verwaltungshierarchie nicht wirklich mit den leitenden Angestellten auf einer Höhe, sondern besaß mehr externen Charakter. Dann folgte die mittlere Ebene der Referenten, darunter die der Sachbearbeiter etc. Bei den technischen Kräften lag der Studiertenanteil schließlich bei Null.564 Abiturienten waren also umso stärker präsent, je höher eine Position in der Hierarchie rangierte und je anspruchsvoller der Aufgabenbereich war. Für die Hochschulabsolventen galt ein solcher Grundsatz noch viel deutlicher.565 Jürgen Kockas Aussage, dass das Gewicht des Fachwissens in der Rekrutierung wie im Verwaltungsalltag relativ zur politischen Macht abnahm, mag also für die wenigen Posten der obersten Dienststellenleitungen (Minister etc.) eine gewisse Geltung haben.566 Für den eigentlichen Verwaltungsapparat trifft sie nicht zu. Die skizzierten Verteilungen korrelierten auch mit den Positionshöhen der ehemaligen Nationalsozialisten in der DDR-Regierung. Deren Bildung trug entscheidend dazu bei, dass die Kaderabteilungen sie kaum in unteren Stellungen einsetzten, wie noch zu zeigen sein wird.567 Gleichzeitig belegen die beiden zuletzt angeführten Diagramme, dass der bereits beschriebene Ausbau der leitenden und mittleren Positionshöhen bis Ende der fünfziger Jahre bei gleichzeitig prozentualem Rückgang der unteren Verwaltungspositionen ganz überwiegend von ehemaligen Volks- und Mittelschülern getragen wurde.568 Das wird besonders an der abnehmenden Stärke der Hochschulabsolventen in den mittleren und leitenden Funktionen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre deutlich. Insgesamt blieb das Bildungs- und Weiterbildungsniveau im ersten Jahrzehnt der DDR schwach.569 Diese 562 563 564 565 566 567 568 569 Beispiele (Heinz Cramer, Konstantin Pritzel, Rudolf Lang, Ferdinand Beer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 214 f.; Baumgartner / Hebig, Handbuch, S. 669; zu Promotionen und Berufungen in die Hochschullehrerschaft in der DDR siehe: Jessen, Professoren, S. 228-232; mehr zur Berufstätigkeit der NSBelasteten an Hochschulen siehe Kapitel „Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes“ und Kapitel „Karriereverläufe“. Die Prozentwerte im einzelnen (1950-1953): Fachpersonal zwischen 15-20%, leitende und mittlere Funktionen meistens 8-11%, übrige Funktionen meistens 3-5%, technische Kräfte unter 1%. Eine grafische Auswertung samt Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 f. (Abb. 33), 215. Die Prozentwerte im Einzelnen (1950-1957): Fachpersonal anfangs 37%, dann auf 9% fallend, zuletzt bei 26%. Leitende Angestellte zunächst 37%, dann auf 20% sinkend, schließlich bei 27%. Mittlere Funktionen 24%, zuletzt 13%. Übrige 3% bis zuletzt 0,5%. Technische Kräfte knapp über Null. Eine grafische Auswertung und weitere Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 ff. (Abb. 35), 215. Vgl. Stefan Hornbostel, der für das Jahr 1989 feststellt, dass die Bildungsqualifikation in den zentralen Staatsorganen relativ wenig mit der Positionshöhe korrespondierte, in: Hornbostel, Vertreter, S. 194 f. Kocka, Sonderweg, S. 38. Siehe Kapitel „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“. Siehe Kapitel „Personalbestand und Fachkräftemangel“. Vgl. Welsh, Kaderpolitik, S. 115. Jens Kuhlemann – Braune Kader 127 Umstände waren Ausdruck des anhaltenden Fachkräftemangels bei gleichzeitiger Expansion der Verwaltung. Sie machten es notwendig, bei den Neueinstellungen vorübergehend mehr und mehr minderqualifizierte Kader zu akzeptieren. Nicht anzunehmen ist, dass sich die gleichen Aufgaben im Laufe der Zeit zunehmend von weniger gut ausgebildeten Angestellten bewältigen ließen. Es dauerte bis zur zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, bis die Präsenz der Hochschüler beim Fachpersonal sowie in den leitenden und mittleren Funktionen wieder zunahm. Erst zu diesem Zeitpunkt scheinen die großen Anstrengungen, neue politisch unbelastete oder gar ideologisch bewusste Fachkräfte heranzubilden, auch statistisch zum Beginn einer Kehrtwende geführt zu haben. Offensichtlich hat es so lange gebraucht, bis genügend Kader ihre Ausbildungen beenden konnten und fachlich eine wenigstens annähernde Alternative zu den alten Fachkräften darstellten (wenn auch so große Berufserfahrungen wie die der alten Experten immer noch fehlten). Wo sie sie nicht ersetzten, ergänzten die „Neuen“ die „Alten“ und halfen, die weiterhin klaffende Personallücke allmählich zu schließen. Dass diese neu eingestellten Fachkräfte, die ihre Berufsbildung überwiegend in der SBZ/DDR erhielten, politisch der neuen Machtelite alles in allem näher als die älteren Spezialisten standen, erklärt sich nicht zuletzt aus der Selektion, die die SED mittlerweile bei der Vergabe von Studienplätzen vornahm. Die Kommunisten steuerten auf diese Weise den Zugang zur Funktionselite.570 Darüber hinaus spielte für die politische Loyalität die in der Forschung soviel beschworene Verbundenheit der bis dato von solchen Karrierechancen ausgeschlossenen Bildungsaufsteiger eine Rolle, wenngleich es keinen Automatismus gab.571 Doch zumindest in einigen Berufsgruppen misslang es der SED bis zum Mauerbau, das bürgerliche Bildungsprivileg zu brechen. Lange Ausbildungszeiten und professionelle Anforderungen schirmten Berufe wie Professor, Mediziner und Pastor gegenüber der Machtelite und Quereinsteigern längere Zeit ab. Zudem waren sie in gesellschaftlichen Milieus verwurzelt.572 Die alte Intelligenz konnte mit dem Trumpf der drohenden Abwanderung in den Westen sogar bestimmte Zugeständnisse erreichen. Zum Beispiel verlangten Ärzte für die eigenen Kinder Studienplätze, was die Selbstrekrutierung unter den Medizinern förderte. Manche Akademiker schickten ihren Nachwuchs auch an westdeutsche Universitäten, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Insofern war die Zeit bis 1961, wie Christoph Kleßmann es ausdrückt, „in unterschiedlichem Ausmaß kontinuierlich von dem Widerspruch zwischen Diskriminierung und Rücksicht auf noch nicht ersetzbare Fachkräfte charakterisiert“.573 Auch in den DDR-Regierungsdienststellen verleitete der Mangel an „unersetzlichen“ Wissenschaftlern dazu, bürgerlichen Fachleuten in einer Art und Weise entgegenzukommen, die das Zentralkomitee für politisch nicht vertretbar hielt.574 Darüber hinaus ist bei der Gegenüberstellung von alten und neuen Fachkräften zu bedenken, dass der Kontrast bei den Berufsidealen nicht immer so groß ausfiel, wie man meinen könnte, denn berufliche Milieus üben einen Anpassungsdruck aus. Es gab gerade in akademischen Zirkeln ein traditionelles Berufsethos. Zum einen war daher in den sozialistischen Staaten eine auffällige Kontinuität traditioneller akademischer Gepflogenheiten zu beobachten.575 Zum anderen genossen schlechter ausgebildete Akademiker oder Verwaltungskader kein Ansehen 570 571 572 573 574 575 Hornbostel, Vertreter, S. 194 f. Zimmermann, Überlegungen, S. 334; Hofmann / Rink, Mütter. Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 47 f. Kleßmann, Relikte, S. 258 f. Im Zentralkomitee der SED kritisierte man in einem Fall „versöhnlerische Tendenzen“ gegenüber Fachkräften, die eine positive Orientierung zum Westen besaßen. SED-Mitglieder hätten sich diesen gegenüber politisch sehr zurückgehalten, ihre Parteiabzeichen abgenommen und von ihnen »nur ehrfurchtsvoll und im Flüsterton, um sie nicht zu verscheuchen« und vor den Kopf zu stoßen, gesprochen. Dies betraf den Bereich Geophysik / Geologie am Beispiel der Staatlichen Geologischen Kommission, siehe: DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 250 f., 255. Anweiler, Hochschulpolitik, S. 83. Jens Kuhlemann – Braune Kader 128 bei ihren Kollegen und bei den Institutionen, die sie anleiten sollten. Allein deshalb hatten die Kaderverantwortlichen und die Nachwuchskräfte selbst allen Grund, ein möglichst hohes Fachniveau vor Einbau in den Verwaltungsapparat anzustreben.576 In zahlreichen Fällen gelang dies jedoch nicht. Das insgesamt eher niedrige Bildungsniveau und der geringere fachliche Ausbildungsstand vieler neuer Kader, die oft einige Stufen der üblichen Karriereleiter übersprungen hatten, zog mangelnde Autorität und ungenügende Führungseigenschaften nach sich.577 Die vermehrte Einstellung von Abkömmlingen der Arbeiterklasse, von denen sehr wenige die Hochschulreife besaßen, geschweige denn einen Universitätsabschluss, trug maßgeblich dazu bei. Hinzu kam die verstärkte Rekrutierung von Jugendlichen, die aufgrund ihres Alters noch keinen hohen Bildungsgrad erreichen konnten, und von Frauen, die traditionell wegen weit verbreiteter Rollenzuweisungen von besseren Bildungschancen ausgeschlossen waren. Die Bildung verlor damit faktisch erheblich an Auslesefunktion. Im Zuge des schnellen Wachstums des Regierungsapparates waren andere Kriterien wie die soziale Herkunft und Parteizugehörigkeit in den fünfziger Jahren wichtiger.578 Die Machtfestigung und ideologisch begründete Ausrichtung im Sinne der SED stand im Vordergrund. Das hieß primär, einen politisch zuverlässigen Apparat zu schaffen und erst in zweiter Linie einen fachlich effizienten. Für ehemalige Nationalsozialisten wiederum bedeutete diese Maxime, dass sie gerade in den ersten Jahren der Stalinisierung ganz besonders gute Fachqualitäten vorweisen mussten, um in der zentralen Staatsverwaltung eine Anstellung zu finden. Der Anspruch der KPD/SED, den alten Staatsapparat möglichst vollständig zu zerschlagen und von „faschistischen“ und „reaktionären“ Elementen zu säubern, war während der Entnazifizierung besonders stark.579 Erst mit zunehmender Konsolidierung der kommunistischen Machthaber ließ der Zwang, eine politische Belastung durch Fachbildung auszugleichen, für die meisten NS-Belasteten etwas nach, wenn er auch gerade in sensibleren Dienststellen alles andere als verschwand.580 Zugleich gewann die fachliche Qualifikation für NS-unbelastete Kader bzw. in der Kaderpolitik allgemein an Bedeutung, obwohl sich das in den Regierungsdienststellen statistisch kaum niederschlug.581 Insgesamt gesehen wurde der DDR-Staatsapparat den Ruf der „politisierten Inkompetenz“ nie los.582 Wir haben es also mit zwei gegenläufigen Tendenzen zu tun: In den vierziger Jahren war der Zwang, alte und nationalsozialistisch vorbelastete Fachleute zu verwenden, größer als Ende der fünfziger Jahre. Gleichzeitig wollte die SED diesem Druck, als er am stärksten war, am wenigsten nachgeben. Ihre Macht war noch nicht restlos gesichert und das Zutrauen in den Wandel der Pgs. noch nicht gefestigt. Im Laufe der Zeit konnten ehemalige NSDAPMitglieder ihre Resozialisierung dann anstatt oder ergänzend zur Bildung zunehmend durch andere Kadermerkmale wie politische Loyalität erreichen. Es gab ständig neue Gelegenheiten, sie den Machthabern gegenüber zu bekennen und so Vertrauen zu schaffen. Gleiches galt ungeachtet der fachlichen Qualifikation im Beruf, solange man eine kontinuierliche 576 577 578 579 580 581 582 Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 56. Vgl. Wenzke, Wege, S. 268. Vgl. Wenzke, Wege, S. 210, 252. Richert, Macht, S. 271. Noch 1958 sollten in der SPK politisch einwandfreie Leute auch bei fachlichen Defiziten bevorzugt beschäftigt werden, siehe: DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 344, Bericht über die kaderpolitische Zusammensetzung der Staatlichen Plankommission, undatiert [Eingangsstempel: Mai 1958]. Seit den sechziger Jahren war ein Hoch- oder Fachschulstudium Voraussetzung für Nomenklaturkader. Peter Hübner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im „Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS) die Bedeutung des Expertenwissens zunahm, womit sich ein technokratischer Trend verstärkte, siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 331; Hübner, Menschen, S. 328; Welsh, Wandel, S. 85; vgl. die Bezirkssekretäre der SED, deren fachliche Qualifizierung Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre unverzichtbar wurde, in: Welsh, Kaderpolitik, S. 123. Derlien, Elitezirkulation, S. 12. Jens Kuhlemann – Braune Kader 129 Aufbauarbeit nach den Vorstellungen der SED leistete.583 Die Eigenmotivation der Bildungsschichten erklärt sich nicht zuletzt aus dem Bestreben, sich materielle Wünsche zu erfüllen und den Beruf optimal auszuüben. Dadurch gelang es beim Systemwechsel ab 1945 nach demjenigen im Jahr 1933 zum erneuten Male, funktionale Eliten nach „Ausschaltung“ der unerwünschten oder nicht anpassungsfähigen Gruppen auf die Ziele der neuen politischen Führung auszurichten.584 Erschwert wurde die Reintegration NS-belasteter Bildungseliten, aber auch die Arbeit der neu ausgebildeten Kader durch latent schwelende anti-intellektuelle Ressentiments vieler proletarischer SED-Mitglieder. Ihr Bildungsneid und die Geringschätzung der „Bourgeoisie“ schufen ein Klima, in dem sich die Intelligenz manchen Anfeindungen ausgesetzt sah.585 Die SED-Führung mühte sich, dem entgegenzuwirken. Sie warb für eine hohe Bildung als erstrebenswertes Gut.586 Davon unbeschadet versuchten die Leitungen und Kaderabteilungen der Ministerien, jungen Nachwuchs aus dem nachgeordneten Apparat und der Produktion nach Berlin zu holen, natürlich die besten und „fortschrittlichsten“.587 Die „unteren“ Einrichtungen gaben ihre Angestellten jedoch nur ungern und nicht ohne Widerstand ab, da sie selbst unter Fachkräftemangel litten. Die Rekrutierungsbemühungen wurden außerdem dadurch beeinträchtigt, dass das Lehrpersonal an den Ausbildungsstätten selbst nicht immer die notwendigen Qualifikationen aufwies, teils in fachlicher, teils in politischer Hinsicht. Das Ausbildungsniveau der Abgänger lag in diesen Fällen entsprechend weit unter den geforderten Ansprüchen.588 Eine andere Methode war es, den alten Fachleuten aufzutragen, neue Kräfte direkt am Arbeitsplatz zu „unterrichten“. Auf diese Weise entstand natürlich auch Konkurrenz.589 Denn die Pgs. und andere „Negativgruppen“ sollten Kader anlernen, von denen sie annehmen konnten, dass sie ihren Posten eventuell übernehmen würden. Das wird die NS-belasteten „Abschusskandidaten“ nicht gerade zu Höchstleistungen motiviert haben. Der persönliche Kontakt der Bildungsaufsteiger mit den übrig gebliebenen Vertretern der Dienstklasse des NS-Regimes lässt mich sehr daran zweifeln, dass die Auseinandersetzung mit den alten Eliten „auf die abstrakte Ebene der Systemauseinandersetzung gehoben und damit der realen Erfahrung enthoben worden“ war.590 Denn die persönlichen Lebenserfahrungen konterkarierten die Ideologie der Kommunisten. Die Kenntnis der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Nationalsozialismus und die zwischenmenschlichen Beziehungen zu den hauptsächlich wegen formaler Mitgliedschaften und beruflicher Positionen als besonders verantwortlich eingestuften Subjekten schufen ein alternatives Beurteilungsraster. Sie verliehen dem Faschismus, dem Kapital und ihren bürgerlichen Stützen ein menschliches Gesicht, dass sich für viele kaum von dem eigenen unterschied. Was die Bildungsressourcen anbelangte, so versperrte die SED-Kaderpolitik dennoch vielen NS-Belasteten und Bürgerlichen den Zugang zu ihnen.591 Die Öffnung der höheren Bildungswege für bislang benachteiligte Randgruppen begründete daher ein überaus markantes Merkmal sozialen Wandels in den fünfziger und 583 584 585 586 587 588 589 590 591 DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Planung, Statistisches Zentralamt, vom 20.04.1950, S. 1. Beyrau, Bildungsschichten, S. 44. Vgl. Gieseke, Genossen, S. 209, 224 f. Hübner, Menschen, S. 342. Das ging oft mit mehr oder weniger lukrativen Abwerbungen einher. Nachwuchs- und Reservekader wurden aber auch regelrecht „gezogen“. Grundsätzlich galten alle Hoch- und Fachschulabsolventen als potenzielle Nachwuchskader, siehe: DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium der Finanzen, HA Personal, Berichterstattung für das 1. Quartal 1950, an MdI, HA Personal, vom 20.04.1950, S. 7; Zimmermann, Überlegungen, S. 330. DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 255. DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 344, Bericht über die kaderpolitische Zusammensetzung der Staatlichen Plankommission, undatiert [Eingangsstempel: Mai 1958]; Zimmermann, Überlegungen, S. 334. Hofmann / Rink, Mütter, S. 209. Hoefs, Kaderpolitik, S. 155. Jens Kuhlemann – Braune Kader 130 sechziger Jahren.592 Die anschließenden Berufschancen der neuen Bildungsschichten waren ebenfalls exzeptionell gut. Die Entnazifizierung und die Kaderpolitik hatten für ungewöhnlich viele leere Posten gesorgt, die unter „normalen“ Umständen nie oder nur erschwert zu erobern gewesen wären. Dafür verlangten die neuen Machthaber Anpassung, Fleiß und Disziplin. Darüber hinaus forderten sie die mentale Überwindung der Enttraditionalisierung, d.h. die Abkehr von alten Autoritäten und ihren nunmehr geächteten Werten.593 Einer umfassenderen Beurteilung des erreichten Bildungsniveaus der Neuaufsteiger enthalte ich mich an dieser Stelle.594 Weiterbildungsmaßnahmen räumte die Kaderpolitik frühzeitig einen hohen Stellenwert ein, der bis Ende der fünfziger Jahre und darüber hinaus weiter zunahm. Er fand seinen Ausdruck in einem zunehmend verzweigteren System von Weiterbildungsinstitutionen und – kursen.595 Im Blickpunkt standen grundsätzlich fachliche und politische Inhalte. Beides war vielfach ohnehin nicht voneinander zu trennen, wenn es um eine „volksnahe“ Arbeit ging, die die Vorgaben der SED zur Erlangung des Sozialismus anstrebte.596 Eine Zielgruppe für Schulungen stellten natürlich die relativ hastig eingestellten „neuen“ Verwaltungskräfte dar, die hier und da einfach noch größere Wissenslücken besaßen. Ihre manchmal nur oberflächliche Ausbildung zog eine schlechtere Leistungsfähigkeit des gesamten Apparates nach sich.597 Ältere Spezialisten hatten zwar fachlich weit weniger Bedarf an Fortbildungen. Doch auch sie sollten sich Grundkenntnisse in Marxismus-Leninismus aneignen.598 Nicht zuletzt schienen sich durch eine solche Konfrontation das individuelle ideologische Entwicklungspotenzial und die politische Anpassungsbereitschaft abzuzeichnen. Auf der anderen Seite standen die Dienststellen vor dem Dilemma, dass sie für Weiterbildungskurse dringend benötigte Kader mehrere Wochen und Monate abstellen sollten. Bei der dünnen Personaldecke in den fünfziger Jahren stellte das den Verwaltungsbetrieb vor ernsthafte Probleme. Deshalb gingen oft nur die entbehrlicheren Mitarbeiter zu Schulungen. Die Leistungsträger mussten hingegen am Arbeitsplatz verbleiben, sollten sich in ihrer Freizeit fortbilden oder wurden erst mit etlichen Verzögerungen für eine Schulungsmaßnahme freigegeben. Welche Ausmaße nahmen die Weiterbildungsprogramme in der staatlichen Verwaltung an? Im gesamten öffentlichen Dienst der SBZ hatte 1949 erst etwas mehr als ein Prozent der Angestellten eine fachliche Weiterbildung belegt.599 Wir dürfen annehmen, dass sich die 592 593 594 595 596 597 598 599 Hofmann / Rink, Mütter, S. 209. Hofmann / Rink, Mütter, S. 218. Wie auch immer der Ausbildungsgrad einzuschätzen ist: Für die neue Intelligenz war Bildung nach wie vor ein bedeutendes innergesellschaftliches Unterscheidungsmerkmal. Dazu trugen die Einkommensegalisierung, der Mangel an Konsumgütern und das bei Altkommunisten ohnehin verachtete Statusheischen mittels materieller Dinge maßgeblich bei, siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 63; Zur Einschätzung der beruflichen Qualifikation der neuen Kader im DDR-Regierungsapparat vgl. Kapitel „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz“. 1948 fehlten nach Aussage der HV Finanzen noch Schulen für die Fortbildung der alten Verwaltungskräfte, die bei Kriegsende übernommen wurden. Unmittelbar nach der Staatsgründung wurden dann eigene Schulungsabteilungen aus den Personalabteilungen ausgegliedert, was die Bedeutung der Weiterbildung unterstrich. Zu den Verwaltungsschulen gehörten z.B. die Deutsche Verwaltungsakademie in Forst Zinna, aber auch solche auf niedrigerer Ebene. Eine nicht unwichtige Rolle bei Fortbildungsmaßnahmen kam den Universitäten zu. Neben der SED führten auch die kleinen Blockparteien Schulungen durch, siehe: DN 1, 2080/1, Bl. 124; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 387, 402; Boyer, Kader, S. 29, 32-34; Glaeßner, Herrschaft, S. 256 ff., 301 ff. In diesem Zusammenhang schreibt Gert-Joachim Glaeßner, die fachliche Qualifikation habe ab Ende der 1950er Jahre an Bedeutung gewonnen und „eine am ökonomischen Kalkül orientierte Leitung“ habe „per se als politische Leitung“ im NÖS gegolten, siehe: Glaeßner, Herrschaft, S. 220, 226; Zimmermann, Überlegungen, S. 335 f. Wenzke, Wege, S. 247. Glaeßner, Herrschaft, S. 123. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 221. Jens Kuhlemann – Braune Kader 131 Deutsche Wirtschaftskommission nicht sonderlich davon abhob. Bereits 1952-1953 hatten circa 16% aller Regierungsangestellten nach dem Ende des NS-Regimes mindestens drei Monate lang an Lehrgängen oder am Fernstudium der Verwaltungsgrundschule, der Landesverwaltungsschule oder der Deutschen Verwaltungsakademie „Walter Ulbricht“ teilgenommen. Außerdem besuchten sie Schulen der Parteien, der Massenorganisationen und in der UdSSR oder beteiligten sich am Fernstudium der SED-Parteihochschule. Im gleichen Zeitraum hatten 10-16% aller Verwaltungskader nach 1945 ein Staatsexamen an einer Hochschule abgelegt, die Fachwirtschafts- und Ingenieur-Schule besucht oder Lehrgänge der Regierungsdienststellen der DDR und der Länder von ebenfalls mindestens einem Vierteljahr Dauer absolviert.600 Diese Zahlen belegen eine recht beachtliche Steigerung der Fortbildungsmaßnahmen in den Ministerien nach Gründung der DDR. Darüber hinaus gaben sie dem MdI Auskunft darüber, wie viele Mitarbeiter im Sinne der Machtelite ausgebildet wurden und in welchen Bereichen und Positionen sie arbeiteten. Auch bei fachlichen Schulungen konnten die Personalverantwortlichen – trotz aller Ausnahmen – mehrheitlich davon ausgehen, dass die Kader von politisch zuverlässigen Dozenten „erzogen“ wurden. Auf die ideologischen Schulungen durch den SED-Parteiapparat traf das allemal zu. Ziel war die Schaffung des politisch bewussten, sein fachliches Können ganz in den Dienst der Partei und des Sozialismus stellenden Verwaltungskaders. Der utopisch wirkende Glaube an die Beeinflussbarkeit der Menschen unterschätzte jedoch die gewachsenen Milieukräfte. Die politischen Schulungsinhalte gingen in großem Stil an der Lebenswirklichkeit und Biografie der Rezipienten vorbei. Die „Erziehungsdiktatur“ mit ihren vorgegebenen Erklärungsmustern für Geschichte, Wirtschaft und Soziales ließ keinen Platz für variierende Ansichten, gesamtgesellschaftlich und individuell. Die SED strebte eine Gehirnwäsche an, die sie selbst als Erkenntnisarbeit zur uniformen Verbreitung des eigenen, einzig richtigen Weltbildes mit wissenschaftlichem bzw. Unfehlbarkeitsanspruch betrachtete. Dabei gewinnt man bei der Lektüre der Quellen den Eindruck, dass die ideologisch geprägten Schulungsinhalte bei der eher unpolitischen Masse ziemlich unbeliebt waren. Sie empfand den Unterricht in Marxismus-Leninismus offenbar als störend, weil er sie von den „wichtigen“ fachlichen Aufgaben abhielt, während die SED die Verbindung von beidem propagierte. Der Erfolg der Weiterbildungsbemühungen ist unklar und in anderen Zusammenhängen bislang kaum erforscht. Im militärischen Sektor scheinen die Schulungen ihre Ziele verfehlt zu haben. Ein hoher politischer Bewusstseinsstand, eine innige Freundschaft zur Sowjetunion oder ein Hass auf Imperialismus und Kapitalismus stellten sich dort nicht wie beabsichtigt ein.601 Ähnliches ist für den DDR-Regierungsapparat und die ehemaligen Nationalsozialisten in ihm zu vermuten. Letztlich ist es jedoch nicht überprüfbar, inwiefern die Kader ihre Aufgaben vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Zahlen zu Absolventen von Weiterbildungsmaßnahmen danach fachlich besser oder klassenbewusster erledigten als zuvor.602 Darüber hinaus beeinträchtigte die hohe Fluktuation den Erfolg der fachlichen Schulungsmaßnahmen, weil die Geschulten an ihren neuen Arbeitsplätzen eventuell wieder neu eingearbeitet werden mussten.603 Aufgrund der zuletzt genannten Gründe und wegen des Ende der vierziger Jahre besonders großen Fachkräftemangels möchte ich die These wagen, dass länger andauernde Weiterbildungsmaßnahmen en bloc für die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission praktisch keine Rolle spielten. Sie waren fachlich von vornherein meist besser gebildet als ihre Kollegen, die es nötiger hatten. Nur bei etwa einem 600 601 602 603 Einzelheiten zur statistischen Erfassung von Weiterbildungsmaßnahmen durch das MdI siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 221 f. Nach Rüdiger Wenzke hat eine „permanente, oft plumpe politische Indoktrinierung“ stattgefunden, siehe: Wenzke, Wege, S. 260. Zimmermann, Überlegungen, S. 337. Zimmermann, Überlegungen, S. 333. Jens Kuhlemann – Braune Kader 132 halben Dutzend Angehörigen des NS-Samples ließen sich fachorientierte Lehrgänge, Studien und weitere berufsqualifizierende Abschlüsse in der SBZ/DDR nachweisen. Man könnte auch sagen, die untersuchten NS-Belasteten waren so gut gebildet, dass sie fachliche Fortbildungen nicht zwingend brauchten, um eine attraktive Arbeit zu erhalten. In ihrer fachlichen Zuverlässigkeit lag unzweifelhaft ein Vorteil, den die Dienststelle zu schätzen wusste. Allein bei der ideologischen Qualifizierung gab es aufgrund der NS-Vergangenheit einen Grund, ehemalige Nationalsozialisten zügiger und intensiver zu schulen als andere. Die Teilnahme an entsprechenden Schulungen ist auch für einige der untersuchten NS-Belasteten belegt. Sie konnte sich aber nur dann wirklich lohnen, wenn die früheren NSDAP-Mitglieder nicht schon vorab als Übergangskader galten, die sowieso bald ausscheiden. Säuberungsvorstellungen der Kaderverantwortlichen sowie ein oft fortgeschrittenes Alter, das ein Entwicklungspotenzial nur begrenzt vermuten ließ, bewirkten deshalb, dass das Pendel zu Ungunsten vieler „Altlasten“ ausschlug. Im Lauf der fünfziger Jahre planten die Kaderabteilungen dann vermutlich immer mehr der neu eingestellten sowie der mittel- und langfristig bleibenden NSBelasteten aufgrund wachsenden Vertrauens für Fortbildungsmaßnahmen ein. Wer dabei politisch kooperierte, empfahl sich natürlich ganz besonders für eine fachliche Schulung, und umgekehrt. Die SED sah die Teilnahme an den regelmäßig abgehaltenen politischen Kurzvorträgen und Diskussionsrunden zwar ebenso gerne wie längere Schulungsmaßnahmen in den von ihnen kontrollierten Lehranstalten. Doch für das eine wie das andere lassen sich mangels Quellendichte, insbesondere auch zu Schulungen nach dem Ausscheiden aus dem zentralen Staatsapparat, keine klaren Aussagen über Resonanz und Erfolg treffen.604 Als Fazit lässt sich metaphorisch festhalten: Wer nicht schlau genug war, die Rätsel der Sphinx zu lösen, wurde gefressen. Nur ein überdurchschnittliches Fachwissen, das eine profunde Schul- und Berufsausbildung voraussetzt, bewahrte den Großteil der NS-Belasteten im zentralen Staatsapparat vor den Fängen der Kadersäuberung und verhinderte den damit verbundenen sozialen Abstieg. Anderen ehemaligen Nationalsozialisten ermöglichte ihr Wissen überhaupt erst, in solche Bereiche der öffentlichen Verwaltung (wieder) aufzusteigen. Der große Mangel an qualifizierten Fachkräften und die schleppend anlaufende Entstehung einer neuen Intelligenz ließ ihrer Zugehörigkeit zur DDR-Bildungselite zumindest zeitweilig auch die Wiedereingliederung in gesellschaftlich bedeutendere Positionen folgen. 2.1.5 Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes Die „soziale Stellung“ war die Schwester der „sozialen Herkunft“. Beide basierten im Wesentlichen auf der gleichen Einteilung der Bevölkerung in verschiedene Berufs- und Gesellschaftsschichten auf Grundlage des Marxismus-Leninismus. Im Gegensatz zur sozialen Herkunft, die maßgeblich auf dem Beruf des Vaters fußte, bezog sich die soziale Stellung auf den Beruf des Kaders selbst. Wegen der ansonsten weitgehenden Deckungsgleichheit erübrigt sich eine gesonderte Erörterung der ideologischen und kaderpolitischen Bedeutung dieses Merkmals samt seiner einzelnen Unterkategorien. Es sei hier auf das Kapitel „Soziale Herkunft“ verwiesen. Im Folgenden konzentriere ich mich stattdessen auf die Statistikfunde 604 Ein in der DDR nachträglich absolviertes Abitur oder ein Hochschulabschluss kam im NS-Sample vereinzelt vor, blieb aber die Ausnahme. Fortbildungen vor Eintritt in die DWK habe ich nicht berücksichtigt. Beispiele (Wilhelm W., Hans Forsbach, Marianne H., Abteilungsleiter im Ministerium für Verkehr Kurt Weber) und Quellenangaben, auch zu politischen Weiterbildungskursen, die die NSBelasteten belegten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 223 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 133 zum Personalkörper der zentralen Staatsverwaltung. Das Interesse gilt dabei besonders dem Zeitraum 1933-1945, und zwar aus quellentechnischen Gründen und darüber hinaus um die Frage zu ergründen, an welcher Karrierestation die NS-Belasteten vor der Entnazifizierung und dem Eintritt in die Staatsverwaltung standen. Die Ergebnisse setze ich dann in Relation zu Erhebungen über die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission. Das MdI änderte die Erhebungsrubriken für die „Soziale Stellung” etliche Male, ähnlich wie bei der „Sozialen Herkunft”.605 Deutlich kommt das Bestreben zum Ausdruck, die ideologischen Vorgaben besser umzusetzen und zum Beispiel Vertreter des Kapitals und der Bourgeoisie kenntlich zu machen. Die häufigen Kategorieänderungen deuten aber auch an, dass die Personalverantwortlichen Probleme hatten, ihre Kader eindeutig einer der Rubriken zuzuordnen.606 Schließlich stellen diese ständigen Wechsel im Zählmodus einen Historiker vor die praktisch unlösbare Aufgabe, ohne Rückgriff auf Primärdaten Kontinuitätslinien zu ziehen. Deshalb beziehen sich die folgenden Angaben zum Personalkörper der DDRMinisterien überwiegend auf den Zeitraum bis Ende 1953. Wie sah unter diesen Voraussetzungen in der Ära des Nationalsozialismus die soziale Stellung des Gesamtpersonals der DDR-Regierung aus? Die aufgefundenen Zahlen zeigen, dass 1950-1953 diejenigen Kader, die in der Hitler-Diktatur als „Angestellte” tätig waren, mit Abstand die größte Gruppe darstellten.607 Ihr Anteil schwankte zwischen 49 und 56%, das waren also rund die Hälfte aller Verwaltungskader. Dann schlossen sich mit 22-30% diejenigen an, die während des NS-Regimes Schüler oder Studenten waren. Hierin spiegelt sich nicht zuletzt die Jugendförderung im Rahmen der SED-Personalpolitik wider. Erst an dritter Stelle folgten die „Arbeiter” mit 11-17%. Eine Dominanz des Proletariats lässt sich also bestenfalls bei der sozialen Herkunft, d.h. dem Vatersberuf der Regierungskader, feststellen, nicht aber bei den Kadern selbst! Dabei sind die definitorischen Unschärfen des Begriffes „Arbeiter” in Erinnerung zu rufen. Des Weiteren ist zu bedenken, dass sich die Quellen auf der damaligen Einschätzung der Personalabteilungen gründen und allein deren Meinungsbild wiedergeben. Doch selbst dann müssen wir feststellen, dass der Idealtypus des Industriearbeiters im DDR-Staatsapparat nur eine Randfigur war. Die Gruppe der Beamten nahm sich bei 2-4% noch deutlich marginaler aus. Dabei verteilten sie sich allerdings höchst unterschiedlich auf die einzelnen Verwaltungszweige. Das Ministerium für Post und Fernmeldewesen führte mit zeitweilig über 40% ehemaligen Beamten die Rangliste unangefochten an. Mit weitem Abstand folgten das Ministerium für Verkehr bzw. das für Eisenbahnwesen mit 16% bzw. 23%. Diese Zahlen erklären sich natürlich durch den hohen Beamtenanteil bei der Reichspost und Reichsbahn. Auch andere alte Beamtendomänen wie die Justiz und das Finanzressort vermeldeten erhöhte Werte.608 Der 605 606 607 608 Einzelheiten zu den durch die DWK und das MdI erhobenen Berufsgruppen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 225 f. Grundlage einer Klassifizierung sollte stets die marxistisch-leninistische Lehre von den Klassen sein. Die Ansichten darüber, was das für die konkrete Personalpolitik bedeutete, gingen allerdings manchmal weit auseinander. Ein Personalleiter aus dem Ministerium der Finanzen machte beispielsweise eine Aufgliederung bei der sozialen Herkunft und der „klassenmäßigen Zugehörigkeit”, die er an die Personalleiter der Finanzämter leitete. Das ZK und das MdI fanden sie schlicht unsinnig. Die Vorlage beinhaltete unter anderem den Hinweis, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder, die häufig Beamte gewesen sind und nach 1945 einige Jahre „Arbeiter” waren, trotzdem nicht zur Arbeiterklasse zählen können. Nach welcher Zeit ein Klassenwechsel nach Meinung der SED-Machtelite möglich war, bleibt unklar. Quellenangaben, auch zu Selbstauskünften bei Günther Kromrey und Harald Schaumburg, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226. Angaben über Statistikquellen zum Gesamtpersonal der DDR-Regierungsdienststellen sowie zu verschiedenen Berufsgruppen darin (bzw. in den Ländern) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 f.; eine grafische Auswertung siehe: ebd., (Abb. 36). Details zur Verteilung derjenigen Mitarbeiter der DDR-Regierung, die 1933-1945 der sozialen Stellung nach Beamte waren, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 227. Jens Kuhlemann – Braune Kader 134 hohe Anteil von NSDAP-Mitgliedern im Berufsbeamtentum begünstigte, dass sich in denjenigen Dienststellen, die zahlreiche ehemalige Beamte beschäftigten, teilweise auch überdurchschnittlich viele ehemalige Pgs. anzutreffen waren. Die Verteilung ehemaliger NSDAP-Mitglieder wird noch erörtert.609 Einen ähnlich niedrigen Anteil am Gesamtpersonal der DDR-Regierung verzeichneten mit ca. 2% diejenigen Mitarbeiter, die 1933-1945 „akademische Berufe” ausübten.610 Dabei ist unklar, was das MdI genau unter akademischen Berufen verstand. Ein Hochschulabsolvent, der in der Verwaltung oder in einer Firma arbeitete, zählte offenkundig nicht hierzu, sonst müsste der Prozentwert angesichts der nachweisbaren Bildungsabschlüsse des Gesamtpersonals höher liegen. Es handelte sich wahrscheinlich um unmittelbar in wissenschaftlichen Einrichtungen tätige Personen, die der Lehre oder Forschung nachgingen – egal ob als Beamte, Angestellte oder mit einem anderen Status. Zu beachten sind ferner einige Änderungen der Erhebungsparameter: Bis Ende 1951 gehörten zu den Schülern und Studenten noch die Lehrlinge. Es ist nicht bekannt, ob dies lediglich eine verbale Korrektur war und inhaltlich alles unverändert blieb oder ob von da an die Lehrlinge beispielsweise den „Angestellten” und „Arbeitern” zugeschlagen wurden. Das würde die prozentualen Steigerungen dieser beiden Kategorien in der unmittelbaren Folgezeit erklären. Bei den Arbeitern kam noch hinzu, dass ab Anfang 1952 ausdrücklich auch die „Landarbeiter” mit eingeschlossen waren. War das wiederum nur eine sprachliche Konkretisierung oder zählte sie das MdI zuvor zu den „Bauern” oder den „Angestellten”? Oder handelte es sich um Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner ohne festen Arbeitsplatz, die eigentlich eher zu den Arbeitslosen oder „Freiberuflern” gehörten? Auch das sind ungeklärte Fragen, die insgesamt aber wohl nur graduelle Abweichungen in den Personalstatistiken nach sich zogen. Wie erwähnt fallen einige Gruppen zur „Sozialen Stellung“ recht klein aus. Dazu gehörten auch die Bauern, die ja ideologisch eigentlich ein überaus wertvolles Gesellschaftssegment repräsentierten. Doch kaum ein Bauer verließ seinen Hof, den er einmal übernehmen sollte oder den er nicht an andere abgeben konnte.611 Insofern gab es kaum Unterschiede zur „Sozialen Herkunft“. Der gesamte öffentliche Dienst in Ostdeutschland setzte sich beim Merkmal „Soziale Stellung“ durchaus mit anderen Schwerpunkten zusammen, die zu erklären eine eigene Untersuchung wohl lohnen würde.612 Nicht unerheblich zur Beurteilung der genannten Größenordnungen im DDR-Regierungsapparat ist darüber hinaus ein Blick auf die Geschlechterverteilung. Denn hier sind Indizien für traditionelle berufliche Rollenverteilungen erkennbar, so für die Männerdominanz im öffentlichen Dienst und in Berufen, die eine höhere Bildung erforderten. In den Gruppen „Beamte”, „Akademische Berufe”, aber auch bei den „Arbeitern” fanden sich demnach etwa zehnmal mehr Männer als Frauen. Bei „Angestellte” und „Schüler, Lehrlinge, Studenten” war das Verhältnis ungefähr ausgeglichen. Die genannten Frauenquoten korrelieren mit der an anderer Stelle bereits skizzierten hohen Männerquote und dem überdurchschnittlichen Bildungsniveau des NS-Samples.613 Sehen wir uns die Verteilung der Beamten und Akademiker auf die jeweiligen Hierarchie-Ebenen der DDR-Regierung 1950-1953 an, so registrieren wir ein zu erwartendes Bild:614 Die ehemaligen Beamten stellten an den leitenden und mittleren Funktionen zunächst ca. 6% und am Ende, zusammen mit dem Fachpersonal, 3-4%. Dabei ist den Quellen zu entnehmen, dass besonders viele ehemalige Beamte die Position eines Hauptreferenten in der oberen Mittelschicht der Verwaltungshierarchie einnahmen. Gleichzeitig lag der 609 610 611 612 613 614 Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“. Angaben über Statistikquellen zu den DDR-Regierungsdienststellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 227; zu Ungarn vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 225. Vgl. Wenzke, Wege, S. 251, 257. Einzelheiten hierzu siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 228. Siehe Kapitel „Frauen“ sowie „Bildung und Weiterbildung“. Diagramme hierzu samt Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 ff. (Abb. 40 und 41), 229. Jens Kuhlemann – Braune Kader 135 Beamtenanteil bei den übrigen Funktionen nur bei 2-3% und bei den technischen um 1%. Für die einfacheren Tätigkeiten gab es genügend andere Kräfte, so dass die Personalverantwortlichen dort nicht auf die eher ungeliebten alten Beamten zurückgreifen mussten. Bei den Positionen, die ein höheres Niveau an Bildung und Berufsqualifizierung erforderten, war das anders. Analog verhielt es sich bei den „akademischen Berufen”: Sie stellten an den Leitungskadern 8-11% und auf der Referentenebene 4-6%. Bei den technischen Kräften und den übrigen Verwaltungsangestellten hingegen lagen sie bei Null. In den restlichen Kategorien der sozialen Stellung modifizierte sich der Grundsatz „je höher die Position, umso gebildeter die Fachkraft” etwas. Nehmen wir zum Beispiel die „Arbeiter”:615 Anfang der fünfziger Jahre stellten sie 60-74% der technischen Kräfte und 69% der als „Fachkräfte” bezeichneten Kader. Soweit passt das Bild also zu den Erörterungen über Beamte und „akademische Berufe“. Doch schauen wir uns die sonstigen Positionshöhen etwas genauer an: Bei den mit eher einfachen Tätigkeiten befassten Sachbearbeitern, Sekretärinnen, Stenotypistinnen etc. („übrige Angestellte“) rangierte der Arbeiteranteil mit 11-15% unter dem auf der mittleren Referentenebene, der von 12 auf bis zu 19% stieg. Bei den Leitungskadern wuchs der Arbeitersatz sogar von 13 auf maximal 25%. Drei Gründe scheinen mir hierfür maßgeblich gewesen zu sein: Erstens die sehr geringe Frauenquote bei dem als „Arbeiter” eingestuften Personal. Sie führte bei der weiblich dominierten unteren Verwaltungsebene zu einem kleinen Prozentsatz an Arbeitern. Zweitens war die ideologisch begründete Bevorzugung von Proletariern für machtpolitisch wichtige Leitungsposten bedeutsam. Drittens kam die stärkere Arbeiterpräsenz in der SED, deren Mitglieder überdurchschnittlich oft leitende Funktionen wahrnahmen, zum Ausdruck. Alles in allem ist aber zu betonen, dass das Arbeiterelement – von den Hausmeistern, Putzfrauen etc. abgesehen – selbst in den lenkenden Stellen eine Minderheit war. Hinsichtlich der „Angestellten” tauchen erneut Abgrenzungsprobleme auf. Hat das Ministerium des Innern zum Beispiel einen Handwerker, der in einem kleinen Industriebetrieb angestellt war, in diese Gruppe eingeordnet oder bei den „Arbeitern”? – wir wissen es nicht. Ein „Angestellter”, der nicht direkt im produzierenden Gewerbe tätig war, sondern einer Dienstleistung nachging, also vor allem am Schreibtisch verwaltete, war offensichtlich kein „Arbeiter der Stirn”. Da „Angestellte” und „Schüler” ein Konglomerat aus verschiedenen Berufen und sozialen Schichten bzw. aus unterschiedlich gebildeten Personen darstellten, erscheint ihre Verteilung auf die jeweiligen Positionshöhen nur bedingt aussagekräftig zu sein, zumal sich ein etwas uneinheitliches Bild ergibt.616 Spezifische Angaben zur Kontinuität von Personen, die im Weimarer Staatsapparat, im so bezeichneten „faschistischen“ des NS-Regimes und anschließend in den DDRRegierungsdienststellen tätig waren, lassen entsprechende Erhebungen des MdI zu.617 Eindeutig ist, dass die Innenbehörde dazu sowohl Beamte als auch einen Teil der ihrer sozialen Stellung nach als „Angestellte“ bezeichneten Kader zählte. Etwas unklar ist, wie weit der in den Quellen auftauchende Begriff „Staatsapparat“ gefasst wurde. Verstand die HA Personal darunter auch einfache Beamte der Reichspost und Reichsbahn oder nur die im engeren Sinne in den Reichsministerien beschäftigten Mitarbeiter? Wie auch immer: Die weit verbreitete Annahme, dass nach dem Zweiten Weltkrieg viele Fachkräfte aus der Weimarer Republik reaktiviert wurden, die nicht mit dem NS-Staat in Berührung gekommen waren, stimmte spätestens Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr. Weniger als ein Prozent aller Regierungsangestellten hatte bereits vor 1933 in der Verwaltung gearbeitet und war noch vor 615 616 617 Eine grafische Darstellung und die entsprechende Erläuterung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 f. (Abb. 37), 229. Diagramme und Erläuterungen dazu siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 ff. (Abb. 38 und 39), 230; vgl. die HVA-Offiziere: Im Juni 1951 galten 84,3% vor dem Eintritt in die VP als Arbeiter. Andererseits war der Bauernanteil minimal, in: Wenzke, Wege, S. 251, 257. Ein Diagramm samt Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 ff. (Abb. 42), 230 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 136 der Etablierung der NS-Diktatur ausgeschieden. Demgegenüber waren 1954-1956 mit abnehmender Tendenz 4-9% der Kader im nationalsozialistischen Staatsapparat einer Beschäftigung nachgegangen. Dabei ballten sich diese Kader in den Domänen der öffentlichen Verwaltung Verkehr, Finanzen und Post.618 Es ist hierbei zu berücksichtigen, dass gleichzeitig das Personal in den DDRMinisterien anwuchs, die im Weimarer und NS-Staatsapparat tätigen Kader altersbedingt ein schrumpfendes Rekrutierungsreservoir darstellten und zunehmend neu ausgebildete junge Kräfte zur Verfügung standen. Letztere sollten den Kaderabteilungen selbstverständlich auch bei ihren Bemühungen zugute kommen, nicht mehr „erziehbare“ und „reaktionäre“ alte Beamte aus dem Apparat herauszusäubern und zu ersetzen. Aus genau diesen Gründen lag der Anteil der einst im NS-Staatsapparat Beschäftigten Mitte der fünfziger Jahre bereits sehr viel niedriger als noch wenige Jahre zuvor. Zwar liegen keine direkten Vergleichswerte zur DWK vor, die über einen längeren Zeitraum erhoben wurden.619 Doch es gibt eine einzigartige Quelle über ehemalige Mitarbeiter von Reichsdienststellen, die in der Deutschen Wirtschaftskommission eine Anstellung fanden. Danach stellten im Dezember 1948 diejenigen, die nach Einschätzung der Kaderverantwortlichen 1933-1945 leitende Funktionen in Reichsdienststellen eingenommen hatten, fünf Prozent des DWK-Personals und diejenigen in ehemals nicht leitender Stellung 34%. Zusammen zählten sie also deutlich mehr als die im NS-Staatsapparat beschäftigten Mitarbeiter, die mindestens ab 1954 in der DDR-Regierung tätig waren, auch in absoluten Zahlen.620 Ein wesentlicher Teil des DWK-Personals brachte wertvolle Berufserfahrungen aus der staatlichen Verwaltung in die Wirtschaftskommission ein. Ohne diese ehemaligen Mitarbeiter von Reichsministerien etc. wäre der zentrale Behördenapparat in der SBZ mit Sicherheit zusammengebrochen. Bei ihrer Verteilung innerhalb der DWK zeigen sich darüber hinaus Überschneidungen mit solchen Ressorts, in denen sich auch frühere NSDAP-Mitglieder konzentrierten, wie noch darzustellen sein wird.621 Sehen wir uns jetzt die Zahlen zur Präsenz der Angestellten, die im NS-Staatsapparat tätig waren, auf den jeweiligen Hierarchie-Ebenen der DDR-Regierung an:622 Die genannte Personengruppe war 1954-1956 auf allen Positionshöhen relativ gleichmäßig vertreten. Anfangs mit 6-10%, dann fallend auf 2-4%. Zwar war für die kaderpolitische Gesamtbewertung vor allem auch das konkrete Aufgabenfeld von großer Bedeutung. Doch sofern die Berufstätigkeit im NS-Staatsapparat einen Makel darstellte, fiel er offenbar nicht schwerer ins Gewicht als eine NSDAP-Mitgliedschaft. Darauf deutet jedenfalls hin, dass dieses Merkmal auch bei den technischen Kräften anzutreffen war, bei denen ja noch am 618 619 620 621 622 Im „Weimarer und im NS-Staatsapparat” waren abnehmend 3-1% aller Regierungsangestellten früher einmal tätig. Einzelheiten zu den einst im NS-Staatsapparat Beschäftigten, insbesondere deren Konzentrationen, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 230 f. Vgl. ehemalige Verwaltungsbeschäftigte unter den Angehörigen des öffentlichen Dienstes der SBZ, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 231. In absoluten Zahlen: 280 ehemals in Reichsdienststellen leitende Mitarbeiter und 1887 ebenda nicht leitende. Details der Auflistung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), Anhang 3; Quellenangaben siehe: ebd., S. 1014. Ehemals leitende Reichsdienststellenangehörige im Personal der jeweiligen DWK-Hauptverwaltungen gab es am meisten in der HV Finanzen mit 13%, der HV Land- und Forstwirtschaft mit 12% und der HV Gesundheitswesen mit 7%. Am wenigsten kamen sie in der HV Materialversorgung, HV Arbeit und Sozialfürsorge, HV Energie und den Sekretariaten mit je ca. einem Prozent vor. Beim Anteil einstmals nicht leitender Reichsdienststellenangehöriger im Verwaltungspersonal ragte das Statistische Zentralamt mit 72% heraus. Es folgten die HV Verkehr mit 59% und die HV Finanzen mit 34%. Den geringsten Prozentsatz vermeldeten die HV Energie mit 5%, die HV Materialversorgung sowie die HV Steine und Erden mit je 9%, außerdem der Ausschuß zum Schutze des Volkseigentums mit 15%. Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 231 f.; siehe auch Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“. Die zugrundeliegenden Zahlen waren in der Vorlage teils schlecht lesbar. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 232. Jens Kuhlemann – Braune Kader 137 ehesten politisch unbelastete Alternativkräfte zur Verfügung standen. Da die NSStaatsbediensteten aber auch auf dieser unteren Ebene in relativ gleichem Maße anzutreffen waren wie in den anderen Positionshöhen, schließe ich daraus, dass aus einer Tätigkeit in der staatlichen Verwaltung des NS-Regimes in der DDR-Regierung kein größeres Karrierehindernis erwuchs. Die originär politischen Merkmale wie die Zugehörigkeit zur NSDAP und der in ihr zur Schau gestellte Aktivengrad war eindeutig kompromittierender. Inwiefern die erwähnten „NS-Staatsverwalter“ bereits im Nationalsozialismus leitende, mittlere usw. Funktionen eingenommen hatten, ist unbekannt. Lediglich zu den ehemals leitenden Angehörigen von Reichsdienststellen ist belegt, dass sie zu 19% in der Deutschen Wirtschaftskommission erneut leitende Funktionen besetzten. Der größte Teil jedoch, nämlich 61%, arbeitete auf der mittleren Ebene. 15% von ihnen waren auf unteren Posten und 5% in sonstigen zu finden.623 Die Referentenebene scheint also in den Augen der Kaderabteilungen diejenige gewesen zu sein, auf der sich das fachliche Know-how dieser „zweiten Reihe“ der NS-Funktionseliten am besten nutzen ließ. Gleichzeitig war ihre Autonomie am Arbeitsplatz begrenzt. Sie wurde in erhöhtem Maße angeleitet und kontrolliert, konnte Selbiges aber nur in Bezug auf relativ wenige „Untergebene“ tun. So blieb das politische Risiko überschaubar, das aus einer Beschäftigung von Menschen herrührte, die ein etwas größeres „Rädchen im Uhrwerk“ des NS-Regimes dargestellt hatten. Daneben schafften es einige jedoch, in der DWK wieder mit Führungsaufgaben betraut zu werden, während andere mit ungewohnt niederen Tätigkeiten befasst wurden. Es liegt die Vermutung nahe, dass Erstere in politischideologischer Hinsicht besonders häufig kaderpolitische Ausgleichsmomente vorweisen konnten, während Letztere wohl eher zu den allein des fachlichen Könnens willen vorübergehend geduldeten Mitarbeitern rechneten. Wie sah vor dem bis hierher erläuterten Hintergrund die „Soziale Stellung“ bzw. der 1933-1945 überwiegend ausgeübte Beruf der untersuchten NS-Belasteten in der Deutschen Wirtschaftskommission aus? Um eine Antwort darauf zu finden, gehe ich zunächst auf die verschiedenen Arbeitssektoren ein und unterscheide dabei die Gebiete Medien, Wissenschaft, Politik, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft.624 Bei 116 von 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern schien eine Klassifizierung machbar zu sein.625 Zwei Bereiche dominierten dabei ganz klar – die private Wirtschaft (47) und die öffentliche Verwaltung (60). Bei neun Personen war die Zuordnung eines Arbeitgebers nicht möglich, wobei allerdings die Berufsbezeichnungen ebenso fast alle auf administrative oder ökonomische Tätigkeiten hindeuten. Die überwiegend in der freien Wirtschaft Angesiedelten teilten sich anscheinend etwa gleichmäßig in eine technisch orientierte und eine kaufmännisch-verwaltende Gruppe auf. Eine solche Unterteilung ist manchmal etwas problematisch, da zum Beispiel bei technischen Leitern und Betriebsdirektoren verwaltende und produktionsbezogene Arbeiten eng beieinander lagen. Darüber hinaus stiegen so manche der NS-Belasteten während der HitlerDiktatur in höhere Positionen auf. Bei ihnen ist eine Schwerpunktverlagerung von rein manuellen Tätigkeiten in Richtung anleitende und koordinierende Funktionen zu vermuten, wobei nicht klar ist, welche Art von Arbeit sie überwiegend verrichteten. Ein paar Pgs. gehörten in der Wirtschaft Firmen an, denen nach 1945 mehr als anderen eine politische Mitverantwortung an der Stärkung der NS-Diktatur zugeschrieben wurde. Das betraf zum Beispiel den Krupp-Konzern oder die Deutsche Bank. 623 624 625 DO 1 / 26.0, 17098, XXXI / 49/4/1, DWK, Namentliche Aufstellung der Angestellten der DWK, die zwischen 1933-1945 in Reichsdienststellen in leitender Stellung tätig waren, undatiert [31.12.1948]; Kuhlemann, Kader (2005), S. 232. Vgl. entsprechende Karrieren von Personen in Westdeutschland, die während des NS-Regimes den Bereichen Presse, Wirtschaft, Justiz und Medizin angehörten, in: Freimüller, Mediziner; Miquel, Juristen; Weiß, Journalisten; Schanetzky, Unternehmer. Gezählt wurde die zeitlich am längsten andauernde Beschäftigung in verschiedenen Berufssektoren. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 233. Jens Kuhlemann – Braune Kader 138 Zur öffentlichen Verwaltung gehörten vor allem die Reichspost, Reichsbahn, die Justizund Finanzverwaltung. Ferner zählte die Forstverwaltung dazu, sofern es den Staatsdienst betraf. Hinzu kamen noch Stadtverwaltungen sowie sonstige kommunale, Landes- und Reichsbehörden. Zum Teil waren die NS-Belasteten während der NS-Diktatur bereits in Berliner Reichsministerien und anderen zentralen Verwaltungsbehörden tätig. Darunter fielen auch solche brisanten wie das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion. Hier gab es also einige Überschneidungen mit dem schon skizzierten Kreis der ehemaligen Reichsdienststellenangehörigen bzw. der Mitarbeiter des NS-Staatsapparates. Generell haben nur wenige NS-Belastete 1933 bis 1945 zwei oder sogar drei unterschiedliche Berufssektoren durchlaufen. Unter den „Privatwirtschaftlichen” und den Verwaltungsmitarbeitern betraf das jeweils kaum ein Dutzend Personen, und wenn, dann meist im jeweils anderen dieser beiden Bereiche. Nur ganz wenige waren eine Zeit lang hauptberuflich in der Wissenschaft oder in den Medien tätig, wobei man darüber streiten kann, ob das erste nicht in den meisten Fällen ebenfalls dem öffentlichen Sektor (Universitäten etc.) zuzuschlagen ist und das zweite der Privatwirtschaft (Verlage etc.). Kein einziger war hauptamtlich in der Politik berufstätig, d.h. bei einer primär politisch ausgerichteten NS-Organisation (wenn wir eine eher unbedeutende Anstellung bei der DAF einmal außer Acht lassen). Das überrascht nicht weiter, denn die dergestalt besonders diskreditierten Nationalsozialisten hatten praktisch keine Chance, in den zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR zu gelangen. Bei der Bestimmung der belegten Berufssektoren habe ich Zeiten der Schul- und Berufsbildung, der Arbeitslosigkeit sowie des abgeleisteten Militärdienstes und der Kriegsgefangenschaft nicht berücksichtigt. Denn sie unterbrachen den eigentlichen Berufsweg oder gingen ihm voraus, anstatt ihn fortzusetzen. Dabei konnten die genannten Gründe eine Berufskarriere gleich für mehrere Jahre aufhalten, weshalb sie für sich betrachtet schon größere Lebensabschnitte in Anspruch nahmen. Was die Aufteilung des NS-Samples in die Kategorien des Innenministeriums in puncto „Soziale Stellung 1933-1945” anbelangt, ist eine genaue Untergliederung kaum möglich. Denn in vielen Fällen steht zwar ein öffentlicher Arbeitgeber fest. Jedoch nicht, ob ein Angestellten- oder Beamtenverhältnis existierte bzw. wann genau ein Übergang von einem zum anderen stattfand. Es ist zu vermuten, etwa aufgrund der mehrfach nachgewiesenen verwaltungsinternen Ausbildungsetappen und Laufbahnen, dass die in der öffentlichen Verwaltung Beschäftigten zu einem größeren Teil aus Beamten bestanden. Die der freien Wirtschaft zugeordneten werden im Wesentlichen Angestellte gewesen sein. Selbständige bildeten eindeutig die Ausnahme. Nur rund ein Dutzend NS-Belastete waren zeitlich während der NS-Diktatur überwiegend mit Schule, Lehre und Studium beschäftigt, wobei sich eine Lehrlingsphase auch schon als Teil einer Berufstätigkeit werten lässt. Im Großen und Ganzen hat es sich bei den ehemaligen Nationalsozialisten also um Beamte und Angestellte gehandelt. Es verwundert kaum, dass nur etwa ein halbes Dutzend ehemalige Pgs. als Bauern gearbeitet hatten und nicht ein einziger in die Kategorie „Arbeiter” passte. Bei den Landwirten sprach, wie schon mehrfach erwähnt, unter anderem die Verantwortung des heimischen Hofes gegen einen Fortgang in die Verwaltung. Bei den anderen hat, von seltenen Gelegenheitsarbeiten zu Beginn einer Berufskarriere abgesehen, niemand als „Arbeiter” sein Geld verdient. Da nicht bekannt ist, wie das MdI die Gruppe „Akademische Berufe” definiert hat, ist schließlich unklar, wie viele NS-Belastete die HA Personal hierzu gerechnet hätte. Immerhin hatten ja viele von ihnen ein Hochschulstudium absolviert. Da jedoch keiner die längste Zeit über im „Dritten Reich” an einer wissenschaftlichen Einrichtung tätig war, müsste die Zahl so gesehen bei Null gelegen haben.626 Die untersuchten Ex-Nationalsozialisten arbeiteten also vor Eintritt in die DWK bis auf wenige Ausnahmen überwiegend als Angestellte und Beamte in der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung. Fast keiner war Bauer und niemand Arbeiter. Die anfangs 626 Siehe in diesem Zusammenhang den Fall Günther Kromrey, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 235. Jens Kuhlemann – Braune Kader 139 erhebliche Präsenz ehemaliger NS-Staatsbediensteter im zentralen Regierungsapparat nahm im Laufe der fünfziger Jahre deutlich ab. 2.1.6 Berufliche Karriereverläufe Nach der Schilderung der Schul- und Berufsbildung als erster Karrierestation ist es angebracht, nicht nur auf die unmittelbar vor Eintritt in die DWK eingenommene soziale Stellung einzugehen, sondern auch auf die gesamte Abfolge beruflicher Erwerbstätigkeiten im Lebenslauf.627 Denn dadurch lässt sich die Berufserfahrung besser einschätzen. Sie war in der Kaderpolitik als Teil der Fachkompetenz sowie den in dieser Arbeit skizzierten demografischen, sozialen und politischen Merkmalen eminent wichtig für das Erklimmen einer Karriereleiter.628 Berufliche Karrieren in totalitären Herrschaftssystemen sind dabei natürlich nicht losgelöst von politischen Anpassungen und Aktivitäten zu betrachten, die noch zu erörtern sind.629 Karriereverläufe erteilen des Weiteren Auskunft über den Vorgang der Elitenzirkulation unter den Bedingungen eines Systemwechsels. Nach Hilke Rebenstorf geben sie Aufschluss über die integrative Kraft von Gesellschaften. Unter elitetheoretischen Aspekten sind Laufbahnen Merkmale horizontaler Integration, d.h. sie liegen in der Zusammenarbeit der Eliten untereinander begründet. Diese Kooperation lässt normalerweise auf eine „common language” schließen, die unter anderem aufgrund ähnlicher Sozialisation entsteht und Gemeinsamkeit stiftet. Karrieretypologien verweisen in diesem Zusammenhang auf den Grad der sozialen Abschließung oder Offenheit bei Rekrutierungen. In diesem Zusammenhang stellte die postenvergebende Machtelite in der SBZ/DDR angesichts ihres Wunsches, möglichst nur Kader mit ganz bestimmten Lebensläufen einzustellen, ideelle Selektionskriterien auf, die aber von Funktionalitätserwägungen durchkreuzt wurden. Dieses Spannungsfeld zog Karrierebrüche genauso wie Karrierefortsetzungen und -sprünge nach sich. Eine „Karriere“ wird dabei allgemein als sukzessiver Aufstieg verstanden. Sie ist an die Vorstellung geknüpft, durch einen stufenweisen Aufstieg in einer oft hierarchischen Rangordnung eine immer einflussreichere, prestigeträchtigere und statushöhere Position einzunehmen. Damit ist meist auch ein wachsendes Einkommen verbunden. Karrieren verlaufen nicht völlig verschieden, sondern weisen Muster von Positionssequenzen auf, die von verschiedenen Individuen stets in vergleichbarer Weise wiederholt werden.630 Nicht in allen Sektoren herrschen jedoch gleiche Karrierebedingungen. Sie sind abhängig vom jeweiligen Angebot an Arbeitskräften und den spezifischen Anforderungen des Arbeitgebers.631 In der Wirtschaft etwa existierten andere Rekrutierungsmuster, Vernetzungen und politische Kontrollmöglichkeiten als im staatlichen Bereich.632 In der DWK / DDRRegierung gab es mehr Auflagen, die mit der Stellenvergabe verbunden und stärker von Misstrauen geprägt waren. 627 628 629 630 631 632 Allgemein zu Arbeit und Lebenslauf siehe: Kohli, Arbeit. Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 195. Schneider, Funktionselite, S. 71; siehe Abschnitt „Politische Orientierungen“. Herzog, Karrieren, S. 45; Schneider, Funktionselite, S. 19. Neben der horizontalen Integration gibt die vertikale Aufschluss über die Verbindung der Führungsschicht zur Basis. Die Beachtung rechtlich sanktionierter Vorgaben wie z.B. in der Medizin spielte für die Kaderpolitik im Staatsapparat eine untergeordnete Rolle, siehe: Rebenstorf, Karrieren, S. 157-159. Auch gab es in der Wirtschaft keine mit Höhe der Position zunehmende Erwartung, öffentliche Loyalitätsbekundungen abzugeben, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 197, 205. Jens Kuhlemann – Braune Kader 140 Verschiedene Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass die Motive der DDRDienstklasse, die Karriereleiter zu erklimmen, sich denen in anderen Gesellschaftssystemen sehr ähnelten. Sie waren durchdrungen von der Entfaltung der Persönlichkeit im Beruf, der Erlangung sozialen Prestiges, der Existenzsicherung für sich und die Familie. Wie Peter Hübner es ausdrückt, ließe sich behaupten, „daß die meisten Vertreter der neuen Funktionseliten in der DDR unter anderen Umständen und Verhältnissen ebenfalls Karrieren angestrebt hätten”.633 Der Wille zum Aufstieg an sich war neben Parteilichkeit und Fachkompetenz Voraussetzung dafür.634 Um aufzusteigen war eine möglichst von Aktivität geprägte Anpassung an die gegebenen Verhältnisse nötig, wenngleich es auch Überzeugte und Indoktrinierte gab, die aus politisch-idealistischen Gründen Karriere machen wollten. Ehemalige NSDAP-Mitglieder haben in diesem Zusammenhang mit Sicherheit keine Ausnahme dargestellt. Stets gab es auch Handlungsspielräume und Alternativen, die Frage war nur, in welchem Maße und zu welchem Preis. Unterhalb der Schwelle einer Totalverweigerung durch physische Flucht standen beispielsweise Kündigungsdrohungen seitens begehrter Fachleute oder der freiwillig in Kauf genommene Karriereknick aufgrund politischer Opposition. Sehen wir uns die gesamten Karriereverläufe der untersuchten NS-Belasteten an, was bei über 40 Personen annähernd möglich ist und mitunter die Zeitspanne vom Kaiserreich bis zur DDR oder Bundesrepublik umfasst, machen wir einige nicht unbedeutende Entdeckungen.635 Das betrifft vor allem die verschiedenen Berufssektoren. Wir behalten die Aufteilung in öffentliche Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Politik aus dem vorhergehenden Kapitel bei. Es fällt auf, dass nur eine Handvoll Personen nie den Bereich der öffentlichen Verwaltung verließ. Die meisten anderen hatten im Lebenslauf zwei bis vier Wechsel vorzuweisen.636 In ganz überwiegendem Maße fanden sie von der öffentlichen Verwaltung zur Wirtschaft statt oder umgekehrt von der Wirtschaft zur Verwaltung, und das manchmal eben mehrfach. „Wirtschaft” schließt hier die staatlichen Betriebe in der SBZ/DDR ein. Zur öffentlichen Verwaltung gehören ebenso die der Zentralebene untergeordneten Verwaltungsdienststellen. Wenngleich ein paar ehemalige Nationalsozialisten auch in Wirtschaftsunternehmen forschten und Produkte weiterentwickelten, waren in der Wissenschaft doch nur einige wenige hauptberuflich beschäftigt, und zwar in der Regel zu Beginn oder am Ende einer Karriere. Gleiches galt in noch geringerem Umfang für den Medienbereich. Selten war auch ein hauptamtliches Engagement in der Politik. Es fand entweder vor 1933 statt oder nach 1945, in Deutschland nie während des NS-Regimes und immer im Rahmen sozialismusfreundlicher Gruppierungen.637 Personen, die im Laufe ihres beruflichen (und gesellschaftlichen) Werdegangs in mehreren Institutionen aktiv waren, verfügten über mehr Bekanntschaften und Beziehungen als solche, die ihren ursprünglichen Berufssektor nie oder nur selten verlassen haben. Ein Wechsel verlieh zudem Kenntnis über die jeweiligen „Sektorsprachen”.638 Solche Kontakte und Fertigkeiten konnten dann im späteren Arbeitsgebiet von großem Nutzen sein. Vorbehaltlich genauerer Untersuchungen ist zu vermuten, dass die bürgerlichen Fachkräfte 633 634 635 636 637 638 Hübner, Einleitung, S. 34. Vgl. Schneider, Funktionselite, S. 111. Quellenangaben zum NS-Sample in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 237. Einen ganz besonders wechselhaften Lebenslauf mit zahlreichen beruflichen Stationen weist der ehemalige NSDAP-Angehörige Otto Ka. auf, Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 237 f. Bei rund einem Dutzend Angehörigen des NS-Samples war vor oder nach 1945 eine Berufstätigkeit als Lehrer bzw. an Bildungs- und Forschungseinrichtungen nachweisbar. Diese Arbeit entsprach meist ihrer beruflichen Fachrichtung, in geringerem Maße einer politischen Orientierung im Sinne der Linksparteien. Sie unterstreicht daneben den überdurchschnittlich hohen Bildungsgrad der untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder. Einzelheiten (u.a. zu Kurt Ritter, Egon Wagenknecht, Karl-Heinz Gerstner), auch zu deren Publikationen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 238. Sauer / Schnapp, Elitenintegration, S. 268. Jens Kuhlemann – Braune Kader 141 den Proletariern und Altkommunisten in der „Sprache der Verwaltung“ haushoch überlegen waren. Demgegenüber hatten Letztere Vorteile aufgrund ihrer Erfahrungen im linken Politikspektrum. Die Kenntnisse, Wertvorstellungen und Verhaltensmuster der alten Verwaltungsmitarbeiter sowie generell der alten bürgerlichen Fachkräfte waren auf der anderen Seite aufgrund der neuen ideologischen Vorgaben der kommunistischen Machtelite in weiten Teilen entwertet. Die bisherigen sozialen Rollen behinderten sogar eine Anpassung an die neuen Verhältnisse.639 Die vorstehenden Feststellungen leiten zu der interessanten Frage über, inwiefern die politischen Systemwechsel Auswirkungen auf den Beruf gehabt haben. Die Machtergreifung Hitlers 1933 bedeutete nur für relativ wenige einen Karriereeinschnitt, darunter die lokal weithin bekannten Altlinken. Sie hatten im Nationalsozialismus Mühe, eine ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit zu finden, hielten sich aber meist in der Privatwirtschaft über Wasser. Teilweise verließen sie den öffentlichen Dienst oder wurden in eine weniger wichtige Dienststelle bzw. Position versetzt. Ein gewisser sozialer Abstieg oder eine Blockierung des weiteren Aufstiegs ist nicht zu übersehen. Zeiten der Erwerbslosigkeit blieben aber auch bei dieser Gruppe die Ausnahme, was wohl schon damals wenigstens zum Teil ihren beruflichen Qualifikationen zu verdanken war. Doch eine echte Karrierehemmung erlitt wie gesagt nur eine kleine Minderheit der NS-Belasteten. Der Großteil setzte die in der Kaiserzeit oder Weimarer Republik begonnene Berufskarriere im Nationalsozialismus fort – bis dato ohne erkennbare Hindernisse, oft in derselben Institution. Berufliche Veränderungen nach 1933, wie der Wechsel des Arbeitgebers, haben bei dieser Mehrheit keinen erkennbaren politischen Hintergrund. Die in der SBZ/DDR vielfach beteuerte innere Gegnerschaft zur NS-Diktatur hat sich bei den ehemaligen Mitgliedern der NSDAP etc. also kaum nachteilig auf den Beruf ausgewirkt. Inwiefern Behauptungen zutrafen, aus politischen Gründen bei Beförderungen und Gehaltserhöhungen übergangen worden zu sein, ist kaum nachzuprüfen. Auf der anderen Seite traten so manche Angehörige des NS-Samples erst während des „Dritten Reiches” in den öffentlichen Dienst ein, mit Erfüllung aller Voraussetzungen, die zumindest äußerlich in Sachen politischer Anpassung und Kooperationswilligkeit gefordert wurden. Auch externe unpolitische Einflüsse scheinen nur vereinzelt zu Karriereaussetzern geführt zu haben. Die vorangegangene Weltwirtschaftskrise etwa bewirkte bei einigen wenigen zeitweilige Arbeitslosigkeit oder Übergangsbeschäftigungen. Diese weitreichende Immunität führe ich erneut auf das gute fachliche Niveau der bis dahin schon Berufstätigen und auf die kündigungssichere Stellung der Beamten zurück. Eine einschneidende Wirkung auf den Berufsverlauf zeigten da schon eher die beiden Weltkriege. Zeiten der Kriegsgefangenschaft tauchten bei denjenigen, die im Ersten Weltkrieg dienten, im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg kaum auf. Allgemein unterbrachen der Krieg und die Gefangennahme im Zweiten Weltkrieg gleichwohl viele Berufsausbildungen und Berufskarrieren, oft für mehrere Jahre. Manche NS-Belastete kehrten im Zweiten Weltkrieg zwischendurch für eine begrenzte Zeit ins Zivil- und Berufsleben zurück, um dann erneut an die Front zu marschieren. In der Wehrmacht selbst übten die eingezogenen NSDAP-Mitglieder vom beruflichen Standpunkt aus gesehen eine fachfremde Tätigkeit aus.640 Am ehesten ließe sich noch bei ein paar Wehrmachtsbeamten ein Bezug zu deren Verwaltungsberufen herstellen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten, soweit erkennbar, noch fast alle von ihnen unmittelbar ihre alten Berufe wieder aufnehmen können, manchmal lediglich in anderen Betrieben oder Dienststellen. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg sah das etwas anders aus. Zwar konnten einige Kriegsgefangene, die eigentlich unter die Entnazifizierungsrichtlinien fielen, durch ihre späte Heimkehr einer Säuberung und beruflichen Einschränkungen entgehen. Doch die übrigen erfuhren durch die Entnazifizierung 639 640 Kuhlemann, Teufel; vgl. in diesem Zusammenhang die Wende 1989/90, in: Glaeßner, Regimewechsel, S. 859. Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 196. Jens Kuhlemann – Braune Kader 142 eine echte Zäsur – wenn auch, zumindest im Falle der hier untersuchten NS-Belasteten, nur von vorübergehender Dauer und fast immer ohne anhaltenden Karriereabstieg. Die Pgs., die sich bis zum Kriegsende im öffentlichen Dienst befanden, mussten irgendwann nach 1945 zwar nicht in allen Fällen, aber recht häufig ihren Platz räumen. Signifikant ist, dass die „Herausgesäuberten“ anschließend überwiegend in der Wirtschaft unterkamen, hin und wieder auch als Selbständige. Und genauso kennzeichnend ist, dass sie in den Jahren bis 1948/49 in den öffentlichen Dienst zurückkehrten. Manche ExNationalsozialisten arbeiteten nach Kriegsende zunächst in einer Kommunal- oder Landesbehörde, ein paar traten in den Dienst der sowjetischen Besatzungsmacht.641 Relativ häufig kamen sie aber direkt in den Zentralverwaltungen oder der Deutschen Wirtschaftskommission unter. Hier setzten sich Kontinuitätslinien für einen Teil der untersuchten NS-Belasteten fort, die manchmal zehn, zwanzig Jahre und länger in preußischen und Reichsministerien sowie in Reichs-, Landes- und kommunalen Dienststellen gearbeitet hatten.642 Denjenigen NSDAP-Mitgliedern, die bis 1945 in der Wirtschaft ihr Auskommen gefunden hatten, blieb ein Wechsel in den Staatsdienst der SBZ sowieso fast immer bis zum Ende der Entnazifizierungsperiode versperrt.643 Nicht davon betroffen waren vor allem einige leitende DWK-Funktionäre, die als alte KPD- oder SPD-Anhänger einen politisch überdurchschnittlich günstigen Lebenslauf im Sinne der SED vorweisen konnten. Sie arbeiteten während des NS-Regimes meistens in der Wirtschaft, wurden dabei oft von der Gestapo behindert und wechselten dann nach der deutschen Kapitulation rasch in den politisch weitaus sensibleren Sektor der öffentlichen Verwaltung über. Ihr mehr oder weniger positives politisches Renommee half ihnen bei diesem Karrieresprung. So gab es also ein paar ehemalige Nationalsozialisten, die die Entnazifizierung ohne merkliche Einschränkungen überstanden. Inwiefern dies bei einigen letztlich dem fachlichen Können zu verdanken war, sei hier dahingestellt. Für die meisten NS-Belasteten zog die Entnazifizierung eine temporäre Karriereunterbrechung nach sich, teilweise bereits die zweite nach derjenigen durch Militär und Kriegsgefangenschaft. Ob nun im Rahmen der alten Dienststelle oder in der Wirtschaft: Viele waren gezwungen, als Hilfsarbeiter, Holzfäller, angelernte Handwerker usw. körperliche Arbeit zu verrichten. Davon unbenommen mussten ehemalige Pgs. offiziell angeordnete Sonderarbeitseinsätze leisten, etwa bei der Schuttbeseitigung bombenzerstörter Häuser. Unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen stellten Aufräumaktionen in ihren alten Behörden ohnehin die einzige Beschäftigung dar. Diese einfachen, manuellen Tätigkeiten entsprachen natürlich überhaupt nicht ihrer fachlichen Qualifikation. Der Strafcharakter der Entnazifizierung verlangte dies jedoch. Andere NS-Belastete wurden innerhalb der Bürokratie herabgestuft und nahmen eingeschränkte oder andersartige Aufgabengebiete wahr. Ob es nun einigen im Ausweichberuf in der freien Wirtschaft gar nicht so schlecht oder angesichts der schlechten Versorgungslage sogar besser als in der 641 642 643 Nach 1945 arbeiteten einige der untersuchten NS-Belasteten zum Beispiel zunächst bei einem Landrat, einer Landkreis- oder Stadtverwaltung (in Berlin beim Magistrat bzw. Bezirksamt), bei einem städtischen Amt, einer Landesbildstelle oder einem Landesamt für Wirtschaft. Weitere Exempel (Werner Pi., Werner B., Gerhard F., Walter R.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 240. Darunter befanden sich vor 1945 im Einzelfall auch besonders diskreditierte Einrichtungen wie das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion oder das Reichsamt für Wehrwirtschaft. Einige NSBelastete waren in mehreren Institutionen tätig; eine Auflistung der betroffenen Dienststellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 241. Manche der untersuchten Ex-Nationalsozialisten arbeiteten vor 1945 in so bekannten Unternehmen wie AEG, Deutsche Bank, Steyr Daimler Puch, Raab-Karcher-Thyssen, Röchling Völklingen bzw. RöchlingBuderus, Shell, Bayer (Sprengstoffwerke), Krupp, Rhenania Ossag Mineralölwerke, Siemens bzw. Siemens-Schuckert-Werke, Klöckner-Humboldt Deutz, Buna-Werke, Rheinmetall-Borsig, IG Farbenindustrie (der Chemiekonzern ging 1925 hervor aus der Fusion von BASF, Bayer, Hoechst, Agfa u.a.). Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 241 f.; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 275. Jens Kuhlemann – Braune Kader 143 Verwaltung ging, ist unbekannt. Ebenso unklar bleibt, inwiefern einige der offiziell mit niederen Aufgaben betrauten Pgs. insgeheim nicht doch ihrer alten Arbeit nachgingen – im Einverständnis mit den Vorgesetzten vor Ort, weil sie ein Interesse an größtmöglicher Effektivität besaßen und die Entnazifizierung vielleicht ohnehin nicht als gerechtfertigt ansahen. Das dieses Phänomen der faktisch doch nicht durchgeführten oder abgemilderten Herabstufung generell existierte, ist bekannt.644 Ein Indiz hierfür ist auch die vereinzelt auftretende Beschäftigung als freier Mitarbeiter, der die gleichen Aufgaben wie vor der Entnazifizierung erledigte, aber den man nicht in ein festes Angestelltenverhältnis übernehmen musste.645 Nur selten gerieten die Angehörigen des NS-Samples – wie überhaupt in ihrem gesamten Berufsverlauf – in vorübergehende Arbeitslosigkeit oder machten Fortbildungen, um die Zeit der beruflichen Restriktionen zu überbrücken. Lenken wir den Fokus der Betrachtung jetzt auf Beginn und Ende der Tätigkeit in der Deutschen Wirtschaftskommission, also auf die Fluktuation der ehemaligen Nationalsozialisten. Das Angestelltenverhältnis in der DWK und den DDRRegierungsdienststellen war in vielen Fällen von kurzer Dauer. Einstellungsdaten ließen sich bei 131 von 154 Personen ermitteln. Davon wurden mindestens 66 bereits vor dem 1. April 1948 eingestellt. Ein nicht unerheblicher Teil der NS-Belasteten arbeitete also bereits in den Zentralverwaltungen, während die Entnazifizierung noch in vollem Gange war.646 Ohne Zwischenstation in der Arbeitslosigkeit, Kriegsgefangenschaft oder in anderen Berufszweigen, darunter auch die Politik und Wissenschaft, stieß allerdings nur eine Minderheit zu den Zentralverwaltungen oder zur DWK. Wenn wir die Frage beleuchten, wo die Rekrutierungen der Kader stattfanden, so ist festzuhalten, dass eine erste Gruppe so gut wie ohne Unterbrechung direkt aus den entsprechenden Reichsministerien etc. übernommen wurde.647 Dabei hatten die Abwicklungsstellen der Reichsbehörden geeignetes Personal für den neuen Staatsapparat ausselektiert. Eine zweite Gruppe NS-Belastete wechselte aus nachgeordneten Dienststellen, aus Behörden der SBZ-Länder und des Berliner Magistrats, aus den Kommunen und diversen Berufsverbänden in den zentralen Staatsapparat. Wahrscheinlich vermittelten die genannten Behörden in diesen Fällen häufig das Personal bzw. die Zentralebene hielt besonders in diesen Bereichen Ausschau nach geeigneten Kadern. Eine dritte Gruppe arbeitete unmittelbar vor Eintritt in die Zentralverwaltungen / DWK in der Wirtschaft. Es waren dies sowohl die „originär” in der Wirtschaft beschäftigten648 als auch die im NS-Regime öffentlich bediensteten Personen, die entnazifizierungsbedingt ein bis drei Jahre lang für verschiedene Betriebe tätig waren. Gerade die zwangsweise in die Wirtschaft abgedrifteten Verwaltungsfachleute wurden von sich aus bei den Behördennachfolgern vorstellig. Die Verwaltung nahm sie dann im Zuge einer erfolgreichen Entnazifizierung wieder bei sich auf. Im Gegensatz zu denen, die sozusagen am Behördenschreibtisch groß geworden sind, liegen die Motive für die ursprünglich in der Wirtschaft verwurzelten Kader, in die Nachkriegsverwaltung einzutreten, nicht so eindeutig auf der Hand. Denn tendenziell erzielte man in den Unternehmen bessere Einkommen als in der staatlichen Verwaltung, wo, in späterer Zeit von einigen Prämien und Zusatzrenten abgesehen, geringe 644 645 646 647 648 Siehe Kapitel „Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien“. Vgl. den Fall Erich T. aus der ZV Post und Fernmeldewesen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 242. Vereinzelt nennen die Quellen das Datum der „Einstellung” in die DWK, obwohl die Betreffenden bereits vor der Reorganisation Anfang 1948 einer der Zentralverwaltungen angehörten. Es ist daher gut möglich, daß noch der eine oder andere mehr bereits 1945-1947 zur zentralen ostdeutschen Staatsverwaltung stieß. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 242. Zum Pg.-Anteil in den Zentralverwaltungen vgl.: DY 30 / IV, 2/13/2, Bl. 158-167, [ZS? Abteilung Personalpolitik?,] Bericht über die parteipolitische Zusammensetzung der Verwaltungskader in den 13 Zentralverwaltungen und der zentralen Kommission für Sequester, vom 07.08.1946 (Abschrift). Ein Beispiel (Otto Kl.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 243. Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 196. Siehe Josef Schaefers, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 243. Jens Kuhlemann – Braune Kader 144 Einkommensunterschiede kaum Anreize für vermehrte Arbeitsleistungen boten.649 Außerdem war man in den Betrieben weit weniger politischen Unterwerfungszwängen ausgesetzt. Das wirft die Frage auf, ob die Betreffenden wirklich in den öffentlichen Dienst strebten oder eigentlich woanders tätig werden wollten, aber durch den Faktor Zufall und andere nicht mehr belegbare Gründe dann doch in den Zentralverwaltungen und der DWK landeten. Gerade für untere Verwaltungsangestellte dürften schon die Lebensmittelpakete, die „Pajoks“, regelmäßige warme Mahlzeiten oder die privilegierte medizinische Versorgung im Regierungskrankenhaus eine nicht zu unterschätzende Ermunterung zur Arbeitsaufnahme dargestellt haben.650 Für alle Verwaltungskader spielte mit zunehmender Positionshöhe sicherlich auch das Informations- und Entscheidungsprivileg eine Rolle. Dazu gehörte das vielleicht mit Stolz genährte Gefühl, zu einer kleinen Gruppe zu gehören, die schneller als andere Nachrichten über das Schicksal des Landes erhielt und anders als der Großteil der Bevölkerung in einem übergeordneten Lenkungsorgan tätig war.651 Sofern Entlassungsdaten bekannt wurden, schieden von den 154 untersuchten Mitgliedern der NSDAP etc. 30 schon vor dem Juni / Juli 1949 aus. Etwa 22 weitere, die in West-Berlin wohnhaft waren, verließen den zentralen Staatsapparat 1949 im Zuge der WAktion.652 Nur bei 43 NS-Belasteten in der DWK war eine Weiterbeschäftigung in einer DDR-Regierungsdienststelle nachweisbar. Sie endete jedoch meistens bereits in den fünfziger Jahren, häufig gleich zu Beginn der Dekade. Im Einzelfall konnte sie aber auch bis in die achtziger Jahre reichen.653 Die Verweildauer im zentralen Staatsapparat war also recht kurz und betrug meist nur wenige Jahre. Sofern die Beschäftigung in der DWK / DDR-Regierung nicht das Ende der beruflichen Laufbahn markierte, wechselten die ehemaligen Nationalsozialisten im Anschluss an diese Zeit scheinbar fast ausnahmslos in die volkseigene Wirtschaft, in nachgeordnete Dienststellen und in die Wissenschaft (Universität etc.) über.654 Es waren dies bei den Personalverantwortlichen beliebte Bereiche, um weiterhin Nutzen aus einem Kader zu ziehen, der für eine politisch sensiblere Institution nicht mehr geeignet erschien. Teilweise haben aber sicher auch persönliche Gründe eine wichtige Rolle im Vorfeld eines Arbeitsplatzwechsels gespielt. Für die in den Westen umgezogenen NSBelasteten liegen zu wenige Informationen vor, um allgemein gültige Aussagen zu machen.655 Im Vergleich zur späten DDR lässt sich generell ein verengtes Rekrutierungsfeld feststellen. Außerdem ist im frisch aufgebauten zentralen Staatsapparat noch eine hohe Fluktuation von politisch wie im Falle der ehemaligen Pgs. in letzter Konsequenz oft ungenehmen Kräften zu konstatieren, zu denen weitere fachlich schwache Kader hinzukamen.656 Von einer 649 650 651 652 653 654 655 656 Roß, Eliten, S. 184. Zimmermann, Überlegungen, S. 340-342; zu Privilegien der Angehörigen der Dienstklasse siehe auch: Herz, Dienstklasse, S. 235. Zimmermann, Überlegungen, S. 340-342. Siehe Kapitel „Westkontakte“. Hans Naake arbeitete im MPF bis 1987, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 244. Der Betrieb war in der DDR laut Hartmut Zimmermann „der entscheidende Ort sozialer Kommunikation und Einbettung”, siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 332; vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26. Beispiele (Konstantin Pritzel, Bernd Veen) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 244. Ende der achtziger Jahre besaß die staatliche Verwaltung den vergleichsweise höchsten Anteil an Personen mit Berufserfahrungen in anderen Gesellschaftsbereichen. Die SED bediente sich mit zunehmender Durchdringung fast aller Lebensbereiche eben vermehrt auch solcher Kader, die aus Sparten stammten, die kurz nach 1945 politisch als noch zu kontaminiert galten. Die Wirtschaft hingegen zeigte ein eigenständiges Rekrutierungsmuster. Wenn Mobilität stattfand, dann aus dem Wirtschaftsbereich in die staatliche und politische Verwaltung, nicht umgekehrt. Das spricht dafür, dass die Kaderabteilungen bis zuletzt gerne praxiserfahrene und basisnahe Kräfte aus der Produktion in die Verwaltung geholt haben. Darüber hinaus zeigt sich darin vom Standpunkt der ideologischen Treue aus eine Zufriedenheit der Personalverantwortlichen mit ihrem Regierungsapparat, aber auch eine gewisse fachliche „Professionalisierung“ des Mitarbeiterstabes, weil anders als in der frühen DDR kaum noch politisch oder fachlich „minderwertige“ Angestellte vorhanden waren, die es in die machtpolitisch weniger wichtige Wirtschaft abzuschieben galt, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 206. Jens Kuhlemann – Braune Kader 145 Abschottung der Dienstklasse kann also zu diesem Zeitpunkt wegen des hohen Maßes an kurzfristigem Kaderaustausch und der recht heterogenen Personalzusammensetzung keine Rede sein.657 Was die Positionshöhen im gesamten Karriereverlauf betrifft, ist es schwierig, Aussagen zum beruflichen Auf- oder Abstieg zu treffen. Denn die Positionshöhen in den einzelnen Berufssektoren sind nur schwer miteinander vergleichbar. Auch deshalb, weil „Karriere” aus so verschiedenen Komponenten wie Zuständigkeiten, Gehaltshöhe und Prestige besteht. Manche NS-Belastete erzielten in der SBZ/DDR und speziell im Regierungsapparat soviel Einfluss und Ansehen wie zu keinem anderen Zeitpunkt ihrer Laufbahn. Für einige davon endete das Berufsleben in der zentralen Staatsverwaltung auf dem Höhepunkt der Karriereleiter. Für andere stellte sich im Vergleich zur NS-Ära in Ostdeutschland zwar auch mal mehr, mal weniger ein Aufstieg ein. Sie verbrachten dann aber nach dem Ausscheiden aus der Zentralregierung den Schluss der Berufszeit in einer weniger wichtigen Einrichtung, wenngleich dort mitunter in einer Spitzenposition. Wieder andere konnten nie mehr den vor 1945 erreichten Status zurückerlangen oder verharrten auf der Stelle. Um sektorspezifische Positionsabfolgen oder einzelne Postenbezeichnungen besser interpretieren zu können, erscheint ein abstrahierender Rahmen notwendig. Trotz etlicher Überlieferungslücken in diesem Punkt ist die Frage, welchen Einfluss ehemalige Nationalsozialisten vor und nach 1945 in ihren jeweiligen Institutionen ausübten, im Wesentlichen in Abhängigkeit von den dabei eingenommenen Funktionen zu sehen. Denn die Individuen selbst verfügten über keine originären Machtmittel, sondern nur in Zusammenhang mit der zeitlich begrenzten Besetzung bestimmter Posten. Den höchsten Rang in der Positionshierarchie nahm demnach die Elite ein. Darunter fielen Inhaber von Spitzenpositionen der nationalen und regionalen Ebene. Ihr folgte die Subelite, zu der Leitungskräfte bestimmter Bereiche einer Einrichtung gehörten, die nicht als Repräsentanten der gesamten Institution in Erscheinung traten, sowie oberste Vertreter von Institutionen auf kommunaler Ebene. Unter dieser Stufe lagen die Professionen. Darunter waren Positionen zu verstehen, die einen höheren Bildungsgrad, in der Regel einen Universitätsabschluss, voraussetzten. Es musste sich dabei aber nicht unbedingt um Leitungsfunktionen handeln. Schließlich folgte die Kategorie der Subprofessionen, die eine geringere Qualifikation erforderte. Am Ende der Skala waren diejenigen Personen platziert, die zum jeweiligen Betrachtungszeitpunkt noch keine Erwerbsposition eingenommen hatten.658 Das sind alles sehr positionsorientierte Begriffe. Je nach Maßstab zählten ja beispielsweise auch Professoren, promovierte Akademiker oder andere Studierte zur „Bildungselite“ des Landes. Hier wird jedoch das Augenmerk auf die institutionsinterne Hierarchie gerichtet, innerhalb des öffentlichen Dienstes bzw. Staatsapparates wie außerhalb. Nach einer anderen Definition werden Personen, die leitende Positionen besetzen oder Funktionen ausüben, die eine akademische Ausbildung erfordern, der Dienstklasse zugerechnet. Unter die Obere Dienstklasse fallen demnach Professionelle (z.B. Anwälte, Ärzte) mit mehr als einem Mitarbeiter, Selbständige mit mehr als 10 Mitarbeitern, Beamte, Richter und Angestellte im höheren Dienst (vom Regierungsrat aufwärts) und entsprechende Positionen im DDR-Staatsapparat sowie Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben. Zur Unteren Dienstklasse zählen Professionelle, die allein oder mit einem Mitarbeiter arbeiten, Beamte, Angestellte etc. im mittleren und gehobenen Dienst (vom Inspektor bis einschließlich 657 658 Vgl. Mayer / Blossfeld, Konstruktion, S. 298 f.; zur allmählich abnehmenden Karrieremobilität vgl. die SED-Bezirkssekretäre, in: Welsh, Kaderpolitik, S. 128. Die Quellenlage ließ den Reputationsansatz (Benennung der einflussreichsten Personen durch Experten) oder den Entscheidungsansatz (Elitenauswahl durch Untersuchung von Entscheidungsverfahren) nicht in Betracht kommen. Auf eine explizite Unterteilung in eine obere Subelite und eine untere wird verzichtet. Zur Einteilung der Positionshöhen vgl. Welzel, Rekrutierung, S. 216.; vgl. Bürklin, Elitestudie, S. 18. Jens Kuhlemann – Braune Kader 146 Oberamtmann / Oberamtsrat) und entsprechende Positionen im DDR-Staatsapparat, Angestellte mit schwierigen Aufgaben nach allgemeiner Anweisung in selbständiger Erfüllung sowie Angestellte mit eigenverantwortlicher Tätigkeit oder begrenzten Führungsaufgaben. Zur Nichtdienstklasse rechnen nicht erwerbstätige Personen, alle selbständigen Landwirte und DDR-Genossenschaftsbauern, kleine Selbständige, alle Arbeiter, Beamte etc. im einfachen Dienst, Industrie- und Werkmeister sowie Angestellte mit einfacher Tätigkeit.659 Welche Ergebnisse lassen sich bei einer Anwendung dieser Kriterien auf die untersuchten Ex-Nationalsozialisten in der DWK feststellen? Gewertet wurde der jeweilige Karrierehöhepunkt, einerseits vor und andererseits nach 1945. Wegen der oft auftauchenden Schwierigkeit, aufgrund von bloßen Berufsbezeichnungen Rückschlüsse auf den Grad der eigenverantwortlichen Arbeit und Entscheidungsbefugnisse zu ziehen, sind die nachfolgenden Angaben als Näherungswerte zu verstehen. Man kann im Einzelfall darüber streiten, ob eine Zuordnung zur einen oder zur nächstliegenden Nachbargruppe einleuchtender ist. Für die Zeit vor 1945 lassen sich jedenfalls nach meiner Einschätzung 20-30% zur Subelite zählen, 3045% zu den Professionen und ein Drittel bis die Hälfte zu den Subprofessionen. Niemand gehörte zur Elite der obersten Entscheidungsträger des NS-Regimes.660 Tendenziell zeigt sich, dass mit Blick auf die weitere berufliche Laufbahn ein großer Karrieresprung oder -fall über zwei dieser Segmente nur selten vorkam. Ebenso wenig gab es nach Ende des Zweiten Weltkriegs Aufstiege in die oberste Führungsriege der neue Elite. Eine Ausnahme stellte zum Beispiel Arthur Werner dar, der im Rahmen der DWK eine Leitungsfunktion inne hatte. Der kurzzeitig der NSDAP angehörende Architekt leitete bis 1941 eine technische Privatschule, bevor er im Mai 1945 Oberbürgermeister von Berlin wurde.661 Normalerweise fanden Auf- und Abstiege nur in die unmittelbar am nächsten liegenden Gruppen statt. Darüber hinaus hielten viele NS-Belastete im Postfaschismus ihr Positionsniveau oder erreichten es zum erneuten Male, trotz temporärer Zäsuren durch Krieg, Gefangenschaft und Entnazifizierung. Von den alten Subeliten im NS-Sample gehörten über die Hälfte in der SBZ/DDR erneut zur Subelite. Von den alten Professionen rechneten weniger als die Hälfte wiederum zu den Professionen. Von den alten Subprofessionen zählten zwei Drittel auch zu den neuen Subprofessionen. Die langfristig moderat ausfallenden oder sogar ausbleibenden Karriereschwankungen sprechen einerseits für die Bedeutung der Fachqualifikation, die eine entsprechende Arbeitsposition nach sich zog. Sie verhinderte in der Regel einen dauerhaften Auf- oder Abstieg bzw. eine länger währende Beschäftigung auf einem Posten, für den man beruflich unter- oder überqualifiziert war. Dies ist natürlich vor dem Hintergrund einer als tolerierbar eingestuften politischen Belastung zu sehen. Die NSVergangenheit trug insbesondere dazu bei, dass zu groß ausfallende Aufstiege, wie bei 659 660 661 Herz, Dienstklasse, S. 233 f.; vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 72 f., dort auch weitere Literaturangaben. Bei 85 der 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK schien eine Klassifizierung möglich zu sein. Bei ihnen liegen die beruflichen Karrierestationen bis zum Eintritt in die Deutsche Wirtschaftskommission meist relativ lückenlos vor, während leider häufig Informationen für die Zeit nach dem Ausscheiden aus der zentralen Staatsverwaltung fehlen. Dieses Überlieferungsdefizit erscheint jedoch für eine ungefähre Abstrahierung akzeptabel, da viele aufgrund ihres relativ hohen Alters ohnehin nur noch wenige Jahre bis zum Austritt aus dem Erwerbsleben vor sich hatten. Betrachten wir die ehemaligen Beamten im NS-Sample für sich, so nahm sich das Verhältnis von höherem Dienst zu gehobenem Dienst etwa 2:3 aus, während Angehörige des mittleren und einfachen Dienstes unter den NS-Belasteten praktisch fehlten. Weitere Erläuterungen, Quellenangaben und ein Vergleich mit der DVV in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 246 f. Den größten Sprung, über zwei Segmente von der Profession zur Elite hinweg, machte der ehemalige SAAngehörige und spätere Staatssekretär Paul Straßenberger. Darüber hinaus ist hier Alfred Wunderlich zu nennen. Die Biografien der beiden werden ausführlich dargestellt in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 843869, 918-967. Quellenangaben zu Arthur Werner in: ebd., S. 247. Jens Kuhlemann – Braune Kader 147 Angestellten mit fachlichen Schwächen, aber politisch und sozial günstigen Kadermerkmalen, weitgehend ausblieben. Betrachten wir die alten Subeliten für sich alleine, so stiegen nach 1945 fast so viele von ihnen anhaltend in ein niedrigeres Positionssegment, wie andere Subeliten sich auf dieser Höhe behaupten konnten. Bei den Professionen verhielt es sich umgekehrt: Es stiegen nach Kriegsende ungefähr so viele in eine höhere Ebene auf, wie andererseits Professionen als solche verharrten. Ein Personenaustausch fand also wechselseitig in erhöhtem Maße zwischen Subeliten und Professionen statt, nicht zwischen Subeliten und Eliten. In weit geringerer Zahl kamen alte Professionen in der SBZ/DDR nicht mehr über Stellen hinaus, die vom Profil her zu den Subprofessionen zu zählen sind. Diese Gruppe der „Absteiger“ nahm sich auch kleiner aus als andererseits die der alten Subprofessionen, die sich nach 1945 positionell verbessern konnte. Sehen wir uns die Gruppe der bis zum Ende der NS-Ära als Subprofessionen tätigen Ex-Nationalsozialisten an, so ist festzustellen, dass ein knappes Drittel von ihnen in der SBZ/DDR ein höheres Segment erklomm. Diese Aufsteiger gelangten in die Gruppe der neuen Professionen und einige sogar in die der Subeliten. Insgesamt gab es also ein größeres Kontingent an ehemaligen Subprofessionen, die in ein höheres Segment überwechselten. Auf der anderen Seite fiel kaum ein früher besser gestellter NS-Belasteter anhaltend auf dieses untere Niveau zurück.662 Bei der Klassifizierung nach den Dienstklassenbegriffen gelten die bereits erwähnten Identifizierungsprobleme. Dennoch erscheint es mir möglich, für die Zeit bis 1945 über 40% der überlieferten Fälle im NS-Sample zur oberen Dienstklasse zu zählen. Ungefähr 40% rechne ich zur unteren Dienstklasse und etwa 15% zur Nichtdienstklasse. Etwa zwei Drittel der alten oberen Dienstklasse konnte ihre Gruppenzugehörigkeit in der SBZ/DDR halten oder wiedererlangen. Noch ein wenig höher lag die Quote der langfristig stabilen Karrieren in der unteren Dienstklasse. Auch in der Nichtdienstklasse verharrten gut die Hälfte in diesem Positionssegment. Was die Schichtwechsel anbelangt, so rutschte ungefähr ein Drittel der alten oberen Dienstklasse nach dem Zweiten Weltkrieg recht schnell in die untere Dienstklasse ab und verblieb dort. Von den Angehörigen der einstigen unteren Dienstklasse wechselte im Gegenzug ein zahlenmäßig geringerer Teil in die obere Dienstklasse, kaum jemand fiel jedoch in die Nichtdienstklasse zurück. Aus der Nichtdienstklasse wiederum stiegen einige nach 1945 sowohl in die untere als auch in die obere Dienstklasse auf.663 Diese Ergebnisse entsprechen den vorstehenden Ausführungen. Mit geringen Abweichungen treffen sie auch bei den Karriereentwicklungen derjenigen DWK-Mitarbeiter zu, die 1933-1945 in Reichsdienststellen nach Einschätzung der Wirtschaftskommission in leitender Stellung tätig waren. Im Übrigen zählten „nur“ sechzehn Prozent der untersuchten NS-Belasteten zu diesen leitenden Reichsdienststellenangehörigen, da solche kombinierten Belastungsmerkmale kaderpolitisch ziemlich schwer auszugleichen waren.664 662 663 664 Zur Variation zwischen den einzelnen Sektoren und Hierachie-Ebenen bei Erhalt, Verlust und Transformation der Macht politischer und ökonomischer Eliten siehe: Roß, Eliten, S. 189; nach 1945 versuchten auch alte industrielle Eliten, eine führende Position zu halten, siehe: Schulz, Elitenwandel, S. 113; vgl. DDR-Bürgermeister, die sich nach 1989/90 im Amt behaupten konnten. Entscheidend für die Kontinuität war das „Sozialkapital“ (Qualifizierung, Erfahrung etc.), in: Roß, Eliten, S. 186. Bei 87 der 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK schien eine Klassifizierung machbar zu sein. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 248. Die Betreffenden gehörten in der NS-Ära dem gehobenen oder höheren Dienst an und damit gemäß den erwähnten Klassifizierungsrastern sowohl der unteren als auch der oberen Dienstklasse. Es handelte sich dabei um Subeliten und Professionen. Nur selten kamen alte Eliten vor, wie sie hier definiert wurden. Die wenigen entsprechenden Fälle waren wohl auch nur aufgrund einer fehlenden Zugehörigkeit zur NSDAP möglich, da andernfalls die Belastung durch Politik und Beruf zu groß ausgefallen wäre. In der Deutschen Wirtschaftskommission nahmen die einst leitenden Reichsdienststellenangehörigen wiederum leitende, aber auch mittlere und übrige (d.h. untere) Verwaltungsposten ein. Dabei gab es sowohl Kontinuitäten als auch Auf- und Abstiege: Einige behielten zum Beispiel die Funktion eines Referenten bei, andere Referenten stiegen zum Sachbearbeiter ab, wieder andere avancierten zum Abteilungsleiter. Auf den Jens Kuhlemann – Braune Kader 148 Die Befunde belegen, dass im Kreis der ehemaligen Nationalsozialisten Vertreter der zweiten und dritten Reihe der NS-Dienstklasse anzutreffen waren.665 Sie konnten sich in der DWK behaupten oder wechselten untereinander die Plätze. Die erste Phalanx fehlte, weil sie sich in der NS-Diktatur politisch zu sehr kompromittiert hatte. Außerdem sucht man auch nach den vierten, fünften bzw. letzten Reihen vergeblich, weil sie fachlich nicht in dem Maße gebildet und erfahren waren, dass sie nicht relativ leicht durch NS-unbelastete Kräfte zu ersetzen waren. Demgegenüber wiesen die Angehörigen der Subelite der NS-Ära zwei begünstigende Merkmale auf. Einerseits waren diese Leitungspositionen nicht so exponiert, um ihre Inhaber genauso zu diskreditieren wie die über ihnen stehende Elite. Von der Hauptlast der Verantwortung schienen sie also befreit. Andererseits verfügten diese Subeliten über Leitungs- und Berufserfahrungen, die für das Funktionieren der staatlichen Verwaltung in der SBZ von großer Bedeutung waren. In abgeschwächter Form traf beides auch auf die alten Professionen und Subprofessionen zu.666 Obwohl ganz klar bestimmte phänomenologische Häufungen erkennbar sind, tue ich mich etwas schwer damit, vor dem Hintergrund all dieser Ergebnisse von „standardisierten Karriereverläufen“ zu sprechen. Denn zum einen trafen die betreffenden Personen ihre ersten Berufsentscheidungen zu einer Zeit, als sie die Veränderungen des gesellschaftlichen Rahmens 1933 und 1945 noch gar nicht absehen konnten. „Standard“ ist also nur ein rückblickend verwendbarer Begriff. Zum anderen bewirkten Personalsäuberung und -mangel in der Umbruchphase der SBZ und frühen DDR, dass sich ältere Standards mit neueren überkreuzten und nebeneinander existierten. Neue Einstellungskriterien setzten dabei traditionelle Berufsvoraussetzungen teilweise außer Kraft, oft auf Kosten der fachlichen Qualität. Zur Sicherung eines Mindestmaßes an effizienten Verwaltungsabläufen verharrte die „alte“ Intelligenz, meist als Übergangselite, in reduzierter und selektierter Form, während die „neue“, in der Verwaltung oft völlig fachfremd, unerfahren und überfordert, sich erst ganz allmählich formierte. Dabei schafften einige wenige Ex-Nationalsozialisten den Sprung von der einen zur anderen Seite, indem sie politisch überzeugt und engagiert wirkten und sich so in Verbindung mit ihrem Fachwissen dauerhaft, d.h. bis zum Karriereschluss, einen Platz in den DDR-Regierungsdienststellen sichern konnten.667 Es gab also unter den Kadern bis in die fünfziger Jahre hinein eine größere Bandbreite an Lebenslauftypen als in späteren Zeiten, als die Konsolidierung der DDR und die Abriegelung der innerdeutschen Grenze Karrieren 665 666 667 anderen Hierarchie-Ebenen verhielt es sich ähnlich. Was die Überschneidung von ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern in der Deutschen Wirtschaftskommission betrifft, zählten 9% (25 von 280) der leitenden Reichsdienststellenangehörigen zum NS-Sample, siehe: DO 1 / 26.0, 17098, XXXI / 49/4/1, DWK, Namentliche Aufstellung der Angestellten der DWK, die zwischen 1933-1945 in Reichsdienststellen in leitender Stellung tätig waren, undatiert [31.12.1948]; siehe auch die entsprechende Zahlenstatistik in: Kuhlemann, Kader (2005), Anhang 3. Ähnlich verhielt es sich auch bei den Wendeereignissen um 1989, wenngleich die NS-Belasteten bzw. Vertreter der Funktionseliten keinen Druck auf die Spitzenfunktionäre ausübten, um den Wechsel zu befördern, vgl.: Beyme, Regime Transition, S. 413; vgl. Wirtschaftseliten in der BRD, wo jüngere Unternehmensvorstände nach 1945 von der Entnazifizierung, die höhere Posten freimachte, profitierten und in die erste Reihe rückten. Dabei dominierte die „Hauskarriere” innerhalb ein und desselben Unternehmens, in: Schanetzky, Unternehmer, S. 92. Mit Blick auf die Zäsur des Jahres 1945 schließe ich mich der Auffassung Christian Welzels an, dass es nicht sogleich gegen die These der Elitenreproduktion spricht, wenn die Spitzen eines abgelösten Regimes später nicht mehr auf exakt dem gleichen Positionsniveau anzutreffen sind. Die Reproduktion der Dienstklasse fand jedoch quantitativ und qualitativ nur in begrenztem Maße statt, siehe: Welzel, Rekrutierung, S. 216 f. Boyer, Kaderpolitik, S. 27; vgl. die Professoren, die im Nationalsozialismus in einer Geisteswissenschaft habilitierten und durch Säuberungen auf ein Viertel ihres an sich zu erwartenden Anteils geschrumpft waren. Es gab keine nennenswerte Reintegration. Genügend unbelastete Alternativkräfte konnten nur durch Verzicht auf herkömmliche Curricula in die frei gewordenen Stellen gelangen; vgl. ferner die sogenannten Volksrichter, die in mehrmonatigen Schnellkursen ausgebildet wurden, in: Jessen, Elitewechsel, S. 37 f.; Haferkamp / Wudtke, Richterausbildung. Jens Kuhlemann – Braune Kader 149 zunehmend vereinheitlichten, plan- und berechenbarer machten.668 Die Erwartung umfassender Fachqualitäten rangierte bei der SED anfangs noch hinter dem Anspruch, politisch erst einmal die Macht zu sichern und einen ideologisch „sauberen“ Apparat zu schaffen. Junge Leute bekamen dadurch enorme Aufstiegschancen angesichts zahlreicher freigewordener Stellen und ihres Nimbus der politischen Formbarkeit.669 Auch die wenigen jüngeren Pgs. in der Deutschen Wirtschaftskommission profitierten davon. Die meisten NS-Belasteten hingegen hatten altersbedingt schon die Hälfte oder noch mehr ihres Berufslebens hinter sich. Für sie bedeutete die zentrale Staatsverwaltung annähernd oder gänzlich das Karriereende. Dennoch stellten selbst relativ wenige Jahre bis zum offiziellen Ruhestand keine kurze Dauer dar, angesichts völlig unzureichender sozialer Sicherungssysteme im Fall der Arbeitslosigkeit. Für sie war der Anpassungsdruck am größten. Gleichzeitig spielte die Dankbarkeit über eine neue Berufschance für die Bindung zum SED-Regime in dieser Kohorte eine geringere Rolle.670 Trotzdem bedeutete eine Beschäftigung in der DWK / DDR-Regierung nach den Jahren der Entnazifizierung, gesellschaftlichen Ausgrenzung und Berufsbeschränkung natürlich für viele eine soziale Aufstiegserfahrung.671 Die Aussicht auf eine wichtigere gesellschaftliche Position bzw. den damit verbundenen Status war meines Erachtens ein wichtiger Grund für die Karriereplanung der untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder. Den Blick auf die gesamten Karriereverläufe gerichtet, gehörten die NS-Belasteten aufgrund ihrer Bildung und der politischen Säuberungsvorgaben den Subeliten, Professionen und Subprofessionen an. Weitaus weniger und hinsichtlich der NS-Ära überhaupt nicht traf dies auf Eliten zu. Die Arbeitssektoren bestanden hauptsächlich in der Wirtschaft und der Verwaltung, wobei es häufig Wechsel von einem zum anderen gab. Große Karrieresprünge fanden nur selten statt. Andererseits waren Karriereunterbrechungen, wie sie vor allem durch den Krieg und die Entnazifizierung vorkamen, von vorübergehender Dauer. 2.1.7 Wendepunkte im beruflichen Werdegang Dieses Kapitel befasst sich mit der Frage, wie und warum berufliche Veränderungen in den Lebensläufen der ehemaligen Nationalsozialisten zustande kamen (oder eben nicht). Welche Motive hegten die NS-Belasteten beziehungsweise ihre Arbeitgeber, wenn ein Wechsel des Arbeitsplatzes stattfand? Wie gestaltete sich die Umsetzung: zwangsweise oder einvernehmlich? Dabei ist von herausgehobenem Interesse, welche Bedeutung diese Wendepunkte und ihre Darstellung für die Wiedereingliederung ehemaliger Nationalsozialisten in der SBZ/DDR und in der zentralen Staatsverwaltung hatten. Vor dem Hintergrund anderer Kapitel wie denen zur Arbeitsweise oder zum Karriereverlauf lassen sich einige Antworten hierauf bereits erschließen.672 Demnach trugen zum Beispiel besondere Fähigkeiten und überdurchschnittlicher Einsatz in der politisch 668 669 670 671 672 Zum sozialen Abstieg durch einen Ausstieg aus dem System der Kaderlaufbahn und der dadurch begrenzten Berufsalternativen siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 332. So der Tenor in dem Workshop „Wertorientierungen und Lebensstile des Führungspersonals in Politik, Kultur und Wirtschaft der SBZ/DDR” am 13.06.1997 im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, darüber hinaus ebenda auf der Tagung über „Berufskarrieren” am 08.06.1998; Welsh, Kaderpolitik, S. 129; vgl. Welsh, Eliten, S. 140. Plato, Entnazifizierung, S. 13 f.; Boyer, Kader, S. 9. Hübner, Einleitung, S. 19. Siehe Kapitel „Berufliche Karriereverläufe“ und „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 150 erwünschten Richtung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Bekanntschaft mit anderen Personen und Institutionen zum Aufstieg bei. Darüber hinaus spielten für die Kader familiäre und gesundheitliche Gründe stets ebenso eine Rolle wie finanzielle Anreize.673 Schließlich kamen bessere Arbeitsbedingungen hinzu, mehr Einfluss und Kompetenzgewinn sowie eine größere Entfaltung der persönlichen Vorlieben bei den konkret ausgeführten Tätigkeiten. Auch die „Zugeständnisse“ wie die hohe Politisierung und Disziplinierung im Staatsapparat und der SBZ/DDR im Allgemeinen sind zu berücksichtigen. Man ertrug sie oder irgendwann eben nicht mehr. Dabei gewannen die eigenen Wünsche der Kader bei der Nennung von Veränderungsgründen erst allmählich an Bedeutung. Anfangs wurden beispielsweise noch viele SED-Mitglieder durch Parteiaufträge zur Übernahme bestimmter Funktionen verpflichtet. Eine Prioritätensetzung auf private und subjektive Gesichtspunkte zu Lasten eines sozialistischen Gesellschaftsaufbau war verpönt.674 Neben dem vorhandenen Entscheidungsspielraum gab es natürlich auch Situationen, die keine Wahl ließen, wie der zwangsweise Berufswechsel im Zuge einer Einberufung zur Wehrmacht oder der Entnazifizierung.675 Hinzu kamen politische Säuberungen mit beruflichen Konsequenzen im Nationalsozialismus oder später im Rahmen der W-Aktion, der SED-Mitgliederüberprüfung sowie der Personalbereinigungen unter dem Deckmantel einer Reorganisation der Verwaltung wie bei Gründung der Zentralverwaltungen / der DWK, ihrer Überführung in die DDR-Regierungsdienststellen und der Personaleinsparmaßnahmen 1948/49. In diesem Zusammenhang erfolgten Bereinigungen von politisch zur SED nonkonform stehenden Kadern und Biografiefälschern.676 Aus Sicht der Personalverantwortlichen war dabei im kaderpolitischen Gesamtraster der fachliche und politische Nutzen abzuwägen. Während die Ergebnisse und Begründungen solcher Prozesse für die SED-dominierten Personalkontrolleure qualitativ recht gut belegt sind, fehlen zu den Handlungsabsichten der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission meistens eindeutige Aussagen. Um nicht allzu sehr in Spekulation zu verfallen, sollen an dieser Stelle vor allem solche Quellen im Mittelpunkt stehen, die wortwörtlich auf die anfangs genannten Fragen eingehen. Selbst dann ist insbesondere für die NS-Belasteten zu hinterfragen, ob sie immer die authentischen Gründe angaben. Wenn zum Beispiel die Arbeitsüberlastung oder die strengen Überwachungsanforderungen und politischen Anpassungszwänge im ostdeutschen Staatsapparat der eigentliche Grund für einen Veränderungswunsch waren, werden die Betreffenden dies sicher nicht der SED gegenüber geäußert haben. Mangelnde Opferbereitschaft oder Unverständnis über die Gefahrenwahrnehmung der Partei konnte zum Karrierenachteil mutieren. Familiäre, private Gründe oder der Wunsch, in die Produktion zu gehen, erschienen da unverdächtiger.677 Dabei konnten diese Motive natürlich auch der Wahrheit entsprechen oder wenigstens zum Teil und in Kombination mit anderen, oft ungenannten Ursachen. Darüber hinaus schrieb in der SBZ/DDR mit Blick auf die Zeit vor 1945 niemand, dass er in eine bestimmte Position berufen wurde, weil er als politisch zuverlässig galt oder weil NSDAP und SA ihm unmittelbar dabei halfen.678 Ein solches Zugeständnis hätte in der DDR erhebliche Schwierigkeiten heraufbeschwören können. Wir 673 674 675 676 677 678 Ein Ausschieden aus der zentralen Staatsverwaltung wegen Arbeitsunfähigkeit bzw. Krankheit ist im NSSample selten nachweisbar. Beispiele hierzu bzw. entsprechende Absichten (Georg S., Kurt Ritter) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 252; Roß, Eliten, S. 184. Zimmermann, Überlegungen, S. 328. Zur Entlassung von Ferdinand Beer durch die DVLF und deren Wiedereinstellungsabsicht siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 253. Beispiele (Herta Ludwig, Klaus K., August H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 253. Beispiele (Herta Ludwig, Otto Schä.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 253. Siehe den Fall Helmut Wikary im Kapitel »Die „Genötigten und Gedrängten“: Einschüchterung und Zwang, Versorgung und Karriere«. Jens Kuhlemann – Braune Kader 151 müssen daher alle Überlieferungen expliziter Äußerungen mit einer gesunden Skepsis betrachten, ohne pauschal in Misstrauen zu verfallen. Ein politisch unverfänglicher Veränderungsgrund war der rein fachlich begründete berufliche Aufstieg. Als Voraussetzung für eine positionelle Besserstellung wurde demnach die Sachqualifikation angeführt. Angeblich war ihr eine Karrierestufe zu verdanken und nicht dem Parteibuch, auch wenn Letzteres dann oft als zusätzliche Bedingung im Raum stand. Der DWK-Hauptabteilungsleiter Ferdinand Beer schrieb rückblickend über seine Zeit bei der Fürst Schwarzenberg´schen Forstverwaltung, der er von 1927-1939 zuletzt als Leiter angehörte: »Außer meiner rein dienstlichen Tätigkeit wurde ich auf Grund meiner Spezialkenntnisse auf dem Gebiete der Bodenkunde, der Botanik und des Waldbaus in verschiedene staatliche Kommissionen der tschechoslowakischen Versuchsanstalten berufen und habe über diese Fächer verschiedentlich in deutschen und tschechischen Fachzeitungen Aufsätze veröffentlicht, als auch an den tschechischen technischen Hochschulen in Prag und Brünn Vorträge gehalten.«679 Über seinen Wechsel zum Reichsnährstand berichtete der ehemalige Pg.: »Der Privatforstdienst behagte mir nicht mehr. Ich bewarb mich nach der Besetzung des Sudetenlandes beim Reichsnährstand als Forstmeister und bekam auch eine Zusage. Daraufhin habe ich meine Stellung beim Fürsten Schwarzenberg gekündigt.«680 Beer arbeitete dann in verschiedenen Forstämtern bzw. –abteilungen des Reichsnährstandes. Er lenkte die Versorgung der Industrie. Zuletzt wurde der Forstexperte 1943 bis Mai 1945 im Reichsforstamt Berlin bzw. bei der Reichsstelle Forst und Holz eingesetzt, wohin er wiederum aufgrund seiner Spezialkenntnisse berufen worden sei.681 Neben den Fachqualifikationen nannte Beer also als weiteren Veränderungsgrund, dass ihm seine – sehr gut bezahlte – Stelle in der freien Wirtschaft nicht mehr gefiel. Was genau ihn daran störte und was er sich vom Reichsdienst versprach, bleibt unklar. Auch eine Sachbearbeiterin der Personalabteilung der ZV Land- und Forstwirtschaft stutzte. Sie kannte Beer laut Ermittler zwar nur oberflächlich, schilderte das ehemalige NSDAP-Mitglied jedoch »als einen aalglatten Menschen, über dessen Motive hinsichtlich seiner Überwechselung aus den Schwarzenberg´schen Diensten 1940 nach Berlin sie keine Erklärung gefunden hatte.«682 Eindeutige Beweise dafür, dass der Sudetendeutsche aus nationaler oder nationalsozialistischer Begeisterung handelte, fanden sich jedoch nicht, so dass ihm bereits in der SBZ/DDR in diesem Punkt nichts Nachteiliges anzuhängen war. Manche Regierungskader machten also gar keinen Hehl daraus, dass sie bereits im NSRegime begehrte Fachleute waren und ihnen deshalb bestimmte Positionen angetragen wurden. In diesem Zusammenhang schilderte Harald Schaumburg anlässlich der SEDMitgliederüberprüfung 1951 seine Beschäftigungsaufnahme beim Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Er diente gerade als Soldat bei der Wehrmacht, als man ein verlockendes Angebot an ihn richtete: »Während des Krieges erhielt ich über einen Bekannt[en] die Anfrage, ob ich zur Dienstleitung im Reichsernährungsministerium bereit sein würde. Das Ministerium würde die u.k.-Stellun[g] betreiben. Ich sagte zu. Ich hatte damals gerade gefürchtet [sic] (Okt[ober] 1940) und hoffte auf diese Weise, in der Heimat bleiben zu können. Im Sept[ember] 1940 wurde ich von der Truppe entlassen. Meine 679 680 681 682 ZB II 3056, A. 12, Bl. 4, Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946; DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 147 f., Protokoll der Sonderkommission, [SED-Mitgliederüberprüfung 1951,] Lebenslauf, vom 25.02.1951 (Abschrift). An anderer Stelle hieß es »Im Jahre 1939 leitete die nach der Besetzung des Sudetenlandes neu errichtete Landesbauernschaft in Reichenberg mit mir Verhandlungen ein und berief mich als Forstmeister des Reichsnährstandes ein.« Siehe: ZB II 3056, A. 12, Entnazifizierungskommission beim Magistrat von GroßBerlin, Allgemeine Kommission, Protokoll der Hauptverhandlung, vom 21.10.1947, S. 1 f.; ebd., Bl. 4, Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946. ZB II 3056, A. 12, Bl. 5, Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946. ZB II 3056, A. 12, Bl. 22, [Verfasser unleserlich,] Ermittlungsbericht, vom 16.09.1947. Jens Kuhlemann – Braune Kader 152 Einberufung ins Ministerium wurde s[einer] Z[ei]t v[on] Ministerialdirektor H[...] betrieben, der mich im Assessroexamen [sic] geprüft und offenbar einen guten Eindruck über meine juristische Qualifikation erhalten hatte.« Im Januar 1941 trat Schaumburg schließlich in das Reichsministerium ein. Er war dort in der Kreditabteilung.683 Der erste konkrete Impuls entsprang demnach persönlichen Kontakten. Dabei waren laut Schaumburg fachliche Gründe für das Arbeitsangebot ausschlaggebend. Dafür, dass die Beziehungen eine größere Rolle spielten als die fachlichen Aspekte, gibt es keine Hinweise. Mit dem Ziel, nicht an die Front zu müssen, ließ sich theoretisch darüber hinaus ein kriegsnegierender Hintergrund andeuten, auch wenn es schlicht um den „Egoismus“ des nackten Überlebens gegangen sein sollte. Dokumente aus dem einzigartigen Quellenfund der Personalakte Schaumburgs beim Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft decken sich vor allem mit dem Argument der fachlichen Qualitäten. Interne Schreiben zwischen Mitarbeitern innerhalb des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft sowie dieser Behörde mit anderen Reichsministerien heben die besonderen Berufserfahrungen und Spezialkenntnisse hervor. So hieß es zum Beispiel: »Bei der Begründung der UK-Stellung wird darauf hinzuweisen sein, daß Schaumburg für einen wichtigen Auftrag im Ministerium gebraucht wird, für den er auf Grund seiner bisherigen Tätigkeit und Vorbildung als besonders geeignet erscheint, und für den eine andere Kraft nicht zur Verfügung steht.«684 Die Singularität seines Expertentums fand hinreichende Betonung. Ob es tatsächlich keinerlei Alternative zu ihm gab, sei dahingestellt. Denn es ist zu berücksichtigen, dass eine andere Begründung eines Antrages auf zivile Unabkömmlichkeit als die in der zitierten Form wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Und hätte sich das Ministerium so sehr für ihn eingesetzt, wenn es nicht gleichzeitig von der politischen Zuverlässigkeit des Kandidaten ausgegangen wäre? Diese Frage bleibt offen. Wie auch immer – wenig später konnte Schaumburg seine Tätigkeit als Hilfsreferent aufnehmen. Als der ehemalige NSDAP-Angehörige dann einige Zeit im Reichsministerium gearbeitet hatte, versuchten seine Vorgesetzten ihn zu befördern und stärker an den Verwaltungsapparat zu binden: »Er ist wegen der auf diesem Gebiete [des landwirtschaftlichen Kreditwesens] gesammelten Erfahrungen für die Zwecke des Kreditreferats als besonders geeignet anzusehen. Da er sich in sein Arbeitsgebiet sehr rasch eingearbeitet hat und mir eine ausserordentlich wertvolle Hilfe bedeutet, beabsichtige ich, ihn in das Beamtenverhältnis zu übernehmen.«685 Des Weiteren hieß es über den Juristen: »Er hat sich sehr schnell eingearbeitet und seine Aufgaben getreu und zuverlässig erledigt. Er ist für das Ministerium eine ausserordentlich wertvolle Hilfe. Seine endgültige Übernahme in das Beamtenverhältnis unter Ernennung zum Regierungsrat ist im dienstlichen Interesse dringend erwünscht.«686 Die Einsetzung als Regierungsrat, zum wiederholten Male unter Hinweis auf gute Arbeitsleistungen, fand auch tatsächlich statt. Trotzdem zog ihn die Wehrmacht im März 1942 erneut ein und Schaumburg musste die Behörde wieder verlassen. Kaderpolitisch noch vorteilhafter als herausragende Sachkenntnisse waren Widerstandsund Verfolgungsaspekte, die berufliche Veränderungen nach sich zogen.687 So wurde Günther Kromrey bereits 1932 wegen prosozialistischer Streikleitung bei der Firma Steatit-Magnesia 683 684 685 686 687 DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 53, Schaumburg, Lebenslauf, [geschrieben anlässlich der SEDMitgliederüberprüfung 1951], undatiert [1951]. R 3601 (PA) 309, Bl. 3 RS (nach anderer Zählung Bl. 6 RS), Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, Abteilung IV, an Abteilung I, vom 11.10.1940. R 3601 (PA) 309, Bl. 9 f. (nach anderer Zählung Bl. 12 f.), Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, an den Reichsminister der Finanzen, vom 24.07.1941 (Entwurf); ebd., Der Reichsminister der Finanzen, an den Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, vom 31.07.1941. R 3601 (PA) 309, Bl. 16 (nach anderer Zählung Bl. 20), Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, an den Reichsminister des Innern und den Reichsminister der Finanzen, vom 04.10.1941. Siehe Kapitel „Nationalsozialisten als Opfer des NS-Regimes“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 153 gemaßregelt und entlassen.688 Anschließend war der Altkommunist für die sowjetische Handelsvertretung tätig, aus der er 1936 wegen Einschränkung des Mitarbeiterstabes wieder ausschied. Im Zeugnis stand jedoch, der promovierte Naturwissenschaftler sei „auf eigenen Wunsch” gegangen, angeblich damit er es leichter hatte, eine neue Stelle zu bekommen.689 Nach seinem Ausscheiden bei der Handelsvertretung fand der Chemophysiker wegen des bolschewistischen Ex-Arbeitgebers im NS-Regime, wie er schrieb, „erwartungsgemäß“ zunächst keine neue Anstellung. Kromrey hatte zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben die Absicht, in einen Groß- oder Rüstungsbetrieb zu gelangen, wo die »Notwendigkeit der politischen Arbeit gegeben war. (´Die Betriebe sollen unsere Festungen sein.´ Lenin.)«690 Im Jahr 1937 arbeitete er dann einige Monate in einem Forschungslaboratorium. Dort habe der spätere DWK-Abteilungsleiter ebenfalls versucht, den Widerstand gegen die Behandlung der Angestellten durch die Firmenleitung zu organisieren, und wurde, wie er es darstellte, »wegen Aufwiegelung der Belegschaft« erneut gekündigt.691 Danach habe Kromrey vorübergehend eine Stelle im Labor eines Antifaschisten gefunden, die ihm Freunde vermittelten.692 Beim „Stellennachweis für Chemiker“ sei ihm schließlich allein auf die Angabe hin, in der sowjetischen Handelsvertretung gearbeitet zu haben, eröffnet worden, dass er in Deutschland nie wieder eine Arbeit in seinem Fach erhalten würde.693 Eine triste Perspektive für den leidenschaftlichen Entwicklungsingenieur und eine harte Probe für seinen marxistischen Idealismus. Der Versuch einer Kontaktaufnahme mit Niels Bohr in Dänemark habe beruflich keine Ergebnisse gebracht. Nach eigener Aussage hatte Kromrey aber auch gar nicht vor, ins Ausland zu gehen: »Viele, die sich in meiner damaligen Situation befanden, sind im Ausland geblieben. Die Sicherheit des Auslandes wog ihnen mehr als die Ungewissheit des Emigrantenschicksales. Für mich stand fest, in Deutschland zu bleiben, da Antifaschisten benötigt würden. Und zwar Antifaschisten, die in Betrieben arbeiteten.«694 Der ehemalige KPD-Angehörige bezog seinen Beharrungswillen also ausdrücklich auf die Absicht, in Betrieben, an der proletarischen Basis, regimefeindlich zu wirken: »In richtiger Voraussicht der Dinge, die kommen würden, sagte PJATNITZKI bereits im Jahre 1932: ..... die Arbeit im Betriebe gewänne aber eine außerordentliche Bedeutung in Verbindung mit dem herannahenden imperialistischen Kriege. Unter diesem Umstande werde die Arbeit im Betriebe mehr als sonst zur wichtigsten und fast zur einzigsten Möglichkeit, mit der Arbeitermasse im Betriebe in Verbindung zu bleiben. Es sei heute schwer im Betriebe politisch zu arbeiten. Die revolutionären Arbeiter flögen aus den Betrieben heraus. Die Aufgabe bestehe nun darin, unter allen Umständen, um jeden Preis, mit allen Mitteln, wenn notwendig unter falscher Flagge, ganz gleich wie, in die Betriebe einzudringen, um dort kommunistische Arbeit zu leisten.«695 Die Kaderabteilung der SED-Parteizentrale monierte zwar, dass sich Kromrey ausgerechnet auf den „Trotzkisten Pjatnitzky” berief.696 Doch die Argumentationsstrategie kommt klar zum Ausdruck. Die Berufung auf ideologische Vorgaben lieferte die 688 689 690 691 692 693 694 695 696 Siehe auch Kapitel „Parteizugehörigkeit, gesellschaftliches Engagement und politische Einstellungen vor 1933“. Einzelheiten zu Kromrey siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 256 f. ZB II 3532, A. 20, [Entnazifizierungskommission Berlin-Mitte,] Verhandlungsprotokoll vom 23.August 1946, vom 23.08.1946; ebd., Kromrey, Fragebogen [zwecks Entnazifizierung], vom 16.07.1946; ebd., Handelsvertretung der UdSSR in Deutschland, Personalabteilung, Schweizer, Zeugnis, vom 13.08.1936 (Abschrift). DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 5, Kromrey, Bericht, undatiert. Zu allen weiteren Ausführungen über Kromreys Berufsphase 1933-1945 siehe auch das Kapitel „Aktiver Widerstand“. DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 22 f., Kromrey, Lebenslauf, undatiert [1951] (Abschrift). ZB II 3532, A. 20, Kromrey, Lebenslauf [angefertigt anlässlich des Entnazifizierungsverfahrens], undatiert [1946]. Ebd. Ebd. DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 62, [SED,] Kaderabteilung, betr.: Kromrey, vom 21.12.1949. Jens Kuhlemann – Braune Kader 154 Rechtfertigung für „äußerliche“ Zugeständnisse in Form einer Mitarbeit beim Reichsluftschutzbund und einer Zugehörigkeit zur NSDAP. Beides ergab sich nämlich als Zeichen der Loyalität zum NS-Regime aus einer Anstellung bei Siemens697 im Jahr 1938, so jedenfalls Kromrey. Zuvor hatte die Gestapo erreicht, dass der Altkommunist schon nach sechs Wochen zur fristlosen Entlassung kam und das Röhrenwerk vorübergehend wieder verlassen musste. Kromrey aber wollte unbedingt in dieser Firma bleiben und trat unter anderem der NSDAP bei, ihm zufolge nicht aus „profanen“ wirtschaftlichen Gründen, sondern um weiterhin subversiv agieren zu können. Die Behinderungen durch die Geheime Staatspolizei nahmen aber trotzdem kein Ende, wie der spätere DWK-Verwaltungsfunktionär schilderte: »Seitens der Gestapo wurde während des Krieges al[le] 3...4 Monate versucht, mich wieder aus dem Betriebe zu entfernen. Der Firmenleitung gelang es aber jedesmal, mich zu decken.« An anderer Stelle ergänzte er: »Im Jahre 1941 wurde mir von der Firma Siemens gesagt, dass ich nach Wien versetzt werden sollte, doch wurde in der Zwischenzeit immer wieder durch die Gestapo von der Firma Siemens verlangt, dass ich aus dem Betrieb heraus müsste. Auf Grund meiner Fachkenntnisse ist es dem Leiter von Siemens gelungen, mich doch zu halten.« Nach Zerstörung des Berliner Werkes wurde Kromrey im April 1944 schließlich doch noch nach Wien geschickt.698 Die politisch motivierte Verfolgung durch die Nationalsozialisten einerseits und der eigene Wille zur betrieblichen Widerstandsarbeit innerhalb des Deutschen Reiches andererseits bestimmten etliche stattfindende und ausbleibende Arbeitsplatzwechsel. Hinzu kamen die Unterstützung durch Regimegegner sowie unpolitische Aspekte wie eine offenbar betriebswirtschaftlich begründete Stellenreduzierung, der kriegsbedingte Ausfall der Produktionsstätte oder Kromreys fachliche Qualitäten als Chemophysiker. Ein paar frühere NSDAP- und SA-Mitglieder in der Wirtschaftskommission gaben darüber hinaus an, aus politischen Gründen während der NS-Diktatur beruflich benachteiligt worden zu sein. Sie wurden demnach aus dem öffentlichen Dienst gedrängt, bei Beförderungen übergangen oder hätten nur in Nebensachgebieten arbeiten dürfen.699 Ein ehemaliger SA-Angehöriger und DWK-Referent behauptete zum Beispiel, bis 1945 „nur“ als Stahlwerksassistent und kommissarischer Betriebsleiter fungiert zu haben, weil der „Nazikreisleiter” wegen eines angeblichen SA-Ausschlusses gegen eine Beschäftigung als richtiger Betriebsleiter war. Allgemein ließen sich solche Fälle mal mehr, vor allem durch Zeugen, und mal weniger beweisen.700 Ein anderer DWK-Referent sagte beispielsweise aus, nach einem NSDAP-Ausschluss im Jahre 1941 habe er mit Berufsbehinderungen zu tun gehabt und sei von der Gestapo überwacht worden. Laut NSDAP-Mitgliederkartei fand der Parteiausschluss tatsächlich statt. Ohne Zugriff auf entsprechende Belege hegte das Ministerium für Staatssicherheit jedoch Zweifel an dieser Version, da der ehemalige Pg. bis Kriegsende „einflußreiche Funktionen in verschiedenen Konzernen inne“ hatte und „ausgezeichnete Beurteilungen“ erhielt. Es vermutete sogar, dass die Gestapo ihn angeworben hatte. Erst 1964 stellte das MfS bei Überprüfung einer Personalakte des Betreffenden aus der Zeit vor 1945 fest, dass die Behauptung des späteren Abteilungsleiter im Ministerium für Industrie, von der Gestapo überwacht worden zu sein, der Wahrheit entsprach. Dies geschah in der NS-Ära vertraulich und ohne relevante Ergebnisse. Der Abwehrbeauftragte der 697 698 699 700 Kromrey formulierte: »Im Jahre 1938 erhielt ich die Aufforderung bei der Firma Siemens einzutreten«, siehe: ZB II 3532, A. 20, Kromrey, Lebenslauf [angefertigt anläßlich des Entnazifizierungsverfahrens], undatiert [1946]. ZB II 3532, A. 20, Kromrey, Lebenslauf [angefertigt anläßlich des Entnazifizierungsverfahrens], undatiert [1946]. Zu den Umständen, die 1935/36 zur Beendigung der Tätigkeit Kurt Ritters als ordentlicher Professor führten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 259; Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1006; Černý, DDR, S. 373 f.; siehe auch Kapitel „Nationalsozialisten als Opfer des NS-Regimes“. Das genannte Exempel betraf Gerhard H., hierzu und zu weiteren Beispielen (Alfred Kr., Ernst Kaemmel) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 259. Jens Kuhlemann – Braune Kader 155 Gestapo, SS-Brigadeführer Rasch, habe 1944 schriftlich eingeschätzt, dass der Observierte nur aus Mangel an Alternativen eingestellt wurde.701 Auf der anderen Seite gab es NS-Belastete, die beruflich „anrüchige“ Posten eingenommen hatten und direkt hierauf bezogen keine besonderen Entlastungsargumente vorlegen konnten. Unter ihnen befanden sich ehemalige Beamte, die ihren Dienst im Zweiten Weltkrieg in okkupierten Gebieten versahen, außerdem solche, die ebenda als Mitarbeiter deutscher Wirtschaftsunternehmen an der Ausplünderung von Rohstoffen beteiligt waren. Wie es genau zu dieser Aufgabenerteilung kam, ist leider nicht konkret belegt. Beamte waren grundsätzlich weisungsgebunden, wurden manchmal zur Strafe versetzt, hin und wieder entdeckten sie darin aber wohl auch einen Karrieresprung. In der Wirtschaft sah es vermutlich nicht viel anders aus.702 Meist verhielt es sich so, dass der vor 1933 wahrgenommene Arbeitsbereich nach der Machtergreifung Hitlers unter der Ägide der Nationalsozialisten einfach fortgeführt und den neuen Verhältnissen angepasst wurde.703 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 modifizierten sich die spezifischen Zeitumstände der Ursachen eines Arbeitsplatzwechsels. Da ist zum Beispiel die Demontage zu nennen. Im Rahmen der Reparationsleistungen an die UdSSR wurden dadurch zahlreiche Betriebe stillgelegt. Von den daraus resultierenden Entlassungen waren auch einige der ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK tangiert.704 Wesentlich einschneidender für den beruflichen Werdegang und im NS-Sample weitaus verbreiteter waren jedoch Karrierezäsuren aufgrund der Entnazifizierung. Nach dem Dienst bei der Wehrmacht zwang die politische Säuberung weiterhin oder erneut zahlreiche NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder zum Verlassen des angestammten Arbeitsplatzes. Viele von ihnen fielen dadurch nicht nur in ein ökonomisches Loch.705 Nicht wenige empfanden dies darüber hinaus als Schock und besondere Erniedrigung.706 So ein Pg. und SA-Angehöriger, der 1918-1945 im Reichspostzentralamt Berlin-Tempelhof arbeitete, wo er wegen seiner NSDAP-Zugehörigkeit entlassen wurde. Der spätere (Haupt-)Sachbearbeiter in der DWK und im DDRPostministerium schilderte 1947 den Vorgang seines abrupten Ausscheidens minutiös: »Am 7.6.1945 während meiner Tätigkeit bei Aufräumungsarbeiten in der Auslandsstelle des Reichspostzentralamts, Abteilung Grünau, erhielt ich vormittags 11 Uhr von einer Beamtin mündlich die Aufforderung, sofort meinen Ausweis abzugeben und die Diensträume für immer zu verlassen. So endete meine 38 jährige Postdienstzeit, während der ich mir nichts habe zu Schulden kommen lassen; lediglich meine Mitgliedschaft zur NSDAP war der Grund der Entlassung.« Im Anschluss lernte er bei einer Berliner Firma als Maurer und nahm bis 1947 an Wiederaufbauarbeiten teil.707 Offenkundig konnte oder wollte der ehemalige Beamte die Erfordernis der personellen Bereinigung nicht akzeptieren, zumindest nicht in seinem Falle. Er glaubte von sich, stets nur seine Pflicht getan zu haben. Das dies eine legitime Kündigung nach sich ziehen sollte, war für ihn kaum begreiflich. Auch Ferdinand Beer musste seinen Platz in der ZV Land- und Forstwirtschaft wegen einer NSDAP-Mitgliedschaft vorübergehend frei machen. Was folgte war eine Karrierezäsur, eine Warteschleife, in der der Forstexperte notgedrungen zu einem Stundenlohn von 73 Pfennigen als Waldarbeiter in einem Forstamt tätig war. Schon kurze Zeit später nutzte die Zentralverwaltung erneut seine Fähigkeiten mit Hilfe des Kunstgriffes, ihn als freiberuflichen 701 702 703 704 705 706 707 Das MfS konnte die erwähnte Personalakte über Franz Woytt wohl nicht eher heranziehen, weil sie vermutlich erst in den sechziger Jahren zur Verfügung stand. Weitere Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 260. Siehe Franz Woytt, Heinz König, Werner Wa., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 260. Ein Beispiel (Erich K.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 260 f. Siehe Franz Woytt, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 261. Ein Beispiel (Gerhard H.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 261. Vgl. Frei, Karrieren, S. 315. Details zu Arthur G. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 261. Jens Kuhlemann – Braune Kader 156 Mitarbeiter für Redaktions- und Sonderaufgaben zu beschäftigen.708 Am Ende beschäftigte sie bzw. die DWK den ehemaligen Pg. schließlich wieder als normalen Angestellten. Dabei hatte der Präsident der Deutschen Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft Edwin Hoernle die Entnazifizierungskommission 1946 um Beschleunigung des Entnazifizierungsverfahrens gebeten – in der Hoffnung, den Spezialisten dann umso früher fest in den Staatsapparat einzubauen.709 Der Schwerpunkt der Begründung für die Beschäftigung Beers als freier Mitarbeiter sowie in der Zentralverwaltung als fest angestellter Fachreferent für Forstkulturen und Waldarbeiterfragen war diesmal keine fachliche, sondern eine politische: »Seine Berufung erfolgte, weil er sowohl von der SMA Karlshorst als auch von der Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft als politisch einwandfrei bestätigt wurde.«710 In der HV Wirtschaftsplanung der DWK sollte der Spezialist dann die Hauptabteilung Forstwirtschaft leiten. Seine politische Wandlung und Zuverlässigkeit versuchte er mehrfach zu dokumentieren. Beer trat der SED bei. Er berichtete in einem Brief an Walter Ulbricht, an einer Untersuchung gegen einen leitenden Funktionär der Forstverwaltung in Brandenburg beteiligt gewesen zu sein, der daraufhin des Dienstes enthoben wurde: »Inzwischen hatte [der Forstkader] [...] offenbar in Erfahrung gebracht, dass ich in irgend einer Form an der Untersuchung gegen ihn beteiligt sei und hat mich der verschiedensten Verfehlungen beschuldigt, u[nter] a[nderem] dass ich Trinkschulden gemacht hätte, dass ich ein aktiver Nazi gewesen wäre und andere, die er direkt an den Gen[ossen] Rau geschickt hat. Ich sollte sofort entlassen werden. Da aber inzwischen die personalpolitische Abteilung im Z[entral-] S[ekretariat der SED] meiner Berufung als stellv[ertretender] H[aupt-] A[bteilungs-] L[eiter] zugestimmt hatte und auch von der SMA in Karlshorst die Zustimmung vorlag, wurde meine Bestätigung gefordert, die aber bis heute nicht erfolgt ist.« Die Bestätigung verzögerte sich aufgrund politischer Vorbehalte des DWK-Vorsitzenden Heinrich Rau. Sie wurde am Ende schließlich doch erteilt.711 Offenbar war der ins Visier geratene Brandenburger Mitarbeiter aber sehr wohl in der Lage, durch diverse Beschuldigungen den zügigen beruflichen Wiederaufstieg Beers ernsthaft zu gefährden. Der Darstellung des Forstfachmannes nach war er Opfer eines Komplottes geworden, einer Intrige, die ein überführter „Schädling“ angezettelt hatte. So sei auch der Vorwurf einer aktiven Betätigung im Sinne des NS-Regimes unzutreffend und kein Hinderungsgrund für eine Beförderung gewesen. Wie schon angeklungen betonten die Beteiligten manchmal ausdrücklich, eine Arbeit unter Billigung der sowjetischen Besatzungsbehörden aufgenommen zu haben.712 Das sollte implizit einer politischen Unbedenklichkeitsbescheinigung gleichkommen. Karlshorst verlangte für eine dauerhafte Beschäftigung eine erfolgreich verlaufende Entnazifizierung.713 708 709 710 711 712 713 Nach Beendigung seiner Tätigkeit als Waldarbeiter war Beer auch an der Erstellung einer Enzyklopädie der Deutschen Forstwirtschaft für die Sowjetische Militäradministration beteiligt. Ferner hieß es: »In dem PgArbeitseinsatz ist er nicht eingereiht, sondern seit [dem 1.] Okt[ober] [19]46 als freier journalistischer Mitarbeiter im Deutschen Zentralverlag GmbH. [Verlagsanstalt der Deutschen Zentralverwaltungen in der sowjetischen Besatzungszone], Berlin [...] tätig.«. Dies ist damit in Zusammenhang zu sehen, dass Beer Gründer, Redakteur, später Chefredakteur der Zeitschrift „Forstwirtschaft – Holzwirtschaft“ war. Der ehemalige Pg. beschaffte Manuskripte und bearbeitete sie bis zur Druckreife. Außerdem wurde er für die Bearbeitung von Sonderaufträgen im Zentral-Forstamt der DVLF herangezogen. Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 262. Beer wurde aber erst am 21.10.1947 zu seinen Gunsten entnazifiziert, siehe: ZB II 3056, A. 12, Bl. 3, Deutsche Verwaltung der Land- und Forstwirtschaft, Der Präsident, an die Entnazifizierungskommission der Stadt Berlin, vom [?.]06.1946. ZB II 3056, A. 12, Bl. 20, Deutsche Verwaltung der Land- und Forstwirtschaft, Bescheinigung, vom 07.01.1947. Näheres zu Raus Haltung siehe Kapitel „Diskriminierung und Ächtung“; BStU, AU 5 / 52, Band 6, Bl. 14 f., Beer, an Zentralsekretariat der SED, Ulbricht, vom 23.10.1948. Ein Beispiel (Ernst Kaemmel) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263. So verfuhr die SMA 1946 bei mehreren Pgs. in der ZV Statistik, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263. Jens Kuhlemann – Braune Kader 157 Einen Automatismus gab es natürlich nicht. Die Entnazifizierung brachte daher manchmal trotzdem einen Stellenverlust mit sich.714 Dessen ungeachtet gelangten einige NS-Belastete auf derart direktem Weg aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft oder Internierung in die zentrale Staatsverwaltung, dass teils wahrscheinlich, teils unzweifelhaft eine Rekrutierung und Personalvermittlung durch die Sowjets stattfand.715 Manchmal scheint eine Vermittlung aber nicht immer geplant gewesen zu sein oder funktioniert zu haben.716 Daneben betrieben auch die deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten sofort bei Kriegsende eine Kaderpolitik, die im Einklang mit der SMAD stand. Einen Pg., der nicht entnazifiziert wurde, konnten aber auch sie selbst bei grundsätzlichem Wohlwollen nicht immer halten. So schrieb die SED im sächsischen Bannewitz über den DWK-Abteilungsleiter Hans Forsbach: »Er war der erste Bürgermeister in Bannewitz nach dem Zusammenbruch. Er wurde damals ohne Widerspruch nach dem Vorschlag des Genossen Adolf B[...] gewählt.« Aufgrund des Zuspruches der KPD oder SPD gelangte der schon vor 1933 in der Arbeiterbewegung organisierte Forsbach in eine verantwortliche Position. Anschließend sei er von einem anderen Genossen beim Landratsamt Dresden eingestellt worden. Von dort habe der ehemalige Pg. »sich freiwillig zurückgezogen«, so die SED-Ortsgruppe. Forsbach selbst schrieb, sein Hauptaufgabengebiet beim Landratsamt sei durch Umstrukturierung weggefallen, deswegen »ersuchte ich um meine Beurlaubung für 4-6 Monate, um mich auf das Doktorexamen vorbereiten zu können. Da eine Beurlaubung nicht erfolgen konnte, bat ich im Einvernehmen mit der Kreisleitung um meine Entlassung, der auch stattgegeben wurde.«717 Diese Darstellung widerspricht aber dem Umstand, dass Forsbach aufgrund der Entnazifizierungsdirektive 24 aus der Lokalverwaltung entlassen wurde.718 Es liegt nahe, dass die politischen Freunde in der SED eine geschönte Erklärung für den Arbeitsplatzwechsel angaben, damit der spätere DWK-Funktionär es bei der sich anschließenden beruflichen Laufbahn leichter hatte. Gleiches taten bei anderen Pgs. offenbar auch lokale AntifaAusschüsse in Form diverser Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die für eine Beschäftigungsaufnahme wichtig sein konnten.719 Eine genauere Betrachtung der Rekrutierungsabläufe soll im Weiteren Aufschluss darüber geben, was das auslösende Moment für einen Eintritt in die Zentralverwaltungen / die Deutsche Wirtschaftskommission bzw. in den öffentlichen Dienst der SBZ war. Diejenigen NS-Belasteten, die schon vor 1945 in einer Reichsbehörde gearbeitet hatten, waren einigen ehemaligen Kollegen, die im neuen Staatsapparat zu Personalverantwortlichen avancierten, persönlich bekannt und fanden in ihnen Förderer. Teilweise kannten Verwaltungskader bestimmte Kandidaten auch aus anderen Institutionen, aus der Wirtschaft oder vom Studium.720 Eine tatsächliche Einstellung vollzog sich dann natürlich nur mit Billigung der 714 715 716 717 718 719 720 Siehe das Beispiel Walter E., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263. Beispiele (Karl-Heinz Gerstner, Erwin Melms, Luitpold Steidle) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 22 f. Hans Naake bewarb sich nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Jahr 1947 zuerst bei der „Senatspost”, wurde aber wegen Personalüberhangs nicht eingestellt, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 264. DC 1 / 2601, Forsbach, Lebenslauf, vom 16.12.1946. Die ZKK schrieb: »Forsbach wurde auf Grund der Direktive 24 von der Landesregierung Sachsen, wo er als Regierungsangestellter tätig war, entlassen.« Unklar ist, ob sich die ZKK auf die Entlassung beim Landratsamt bezog oder auf die bei der HV Landeseigenen Betriebe, siehe: DC 1 / 2601, [ZKK,] Zusammenfassender Bericht, an Matern, vom 18.03.1950; ebd., [ZKK, Lange] an DVdI, Fischer, vom 30.10.1948; vgl. den Fall Bernd Veen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 264. Es half ehemaligen NSDAP-Mitgliedern sehr, wenn sozusagen der politische Gegner eine positive Stellungnahme über sie abgab, die einer Rehabilitierung oder Entnazifizierung gleichkam. Dadurch schien die NS-Belastung automatisch geringer auszufallen, die demokratische Reife bewiesen zu sein und einer beruflichen Behinderung die Begründung zu fehlen. Siehe das Beispiel Ferdinand Beer, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 264. Siehe Eberhard H., Gerhard Henke, Erich T., Rudolf Ha., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 265. Jens Kuhlemann – Braune Kader 158 sowjetischen Besatzungsmacht und der deutschen Kaderverantwortlichen. Die Sowjets leiteten ein Beschäftigungsverhältnis manchmal auch schon vor den deutschen Stellen ein. Der Leitungskader Ferdinand Beer berichtete zum Beispiel über seine Anstellung bei der ZV Land- und Forstwirtschaft Folgendes: »Bereits Mitte Mai [1945] versuchte ich mich der Roten Armee mit einem Exposé über die noch in der russischen Besatzungszone im Walde lagernden Nutzholzvorräte zur Verfügung zu stellen. Meine Bemühungen hatten erst nach der Errichtung einer Industrieabteilung bei der Russischen Militäradministration in Karlshorst Erfolg. Der Vorstand der Industrieabteilung Alexandrow veranlaßte, obwohl ich ihm mitgeteilt hatte, daß ich Mitglied der Nazipartei war, die Übergabe meines Exposés an den Präsidenten der deutschen Verwaltung für Industrie Skrzipzcinski, der mich an Präsident Hoernle [von der ZV Land- und Forstwirtschaft] verwies, worauf ich Ende August im Zentralforstamt zunächst als Arbeiter und ab 1. September als Forstmeister-Referent angestellt wurde.«721 Beer meldete sich also unverzüglich nach Beendigung der Kampfhandlungen mit einem fachbezogenen Schreiben, das seine Kooperationswilligkeit unter Beweis stellte und seine Arbeit auch finanziell gewinnbringend erscheinen ließ. Der Berufung durch einen General der SMAD folgte dann die Befürwortung des Leiters der Zentralverwaltung.722 Die Sowjets versuchten darüber hinaus, die Quelle des Personalstroms, der in den Aufbau der funktionalen Nachkriegseliten münden sollte, direkt in ihren Kriegsgefangenenund Umerziehungslagern beginnen zu lassen. Der spätere (Haupt-)Abteilungsleiter in der DWK und im Postministerium Rudolf Lang erhielt während seiner Zeit in der Frontschule bzw. Antifa-Schule eine Anfrage, ob er eine Tätigkeit bei einer Zeitung oder in der Verwaltung vorzieht. Er entschied sich für die Verwaltung.723 Lang wurde dann mit Zustimmung der sowjetischen Behörden am 1. September 1945 Leiter der Abteilung Post beim Magistrat Berlin. Ihm unterstanden sämtliche Postämter der Stadt. Hierzu Robert Dewey, damals beim Magistrat Personalchef der Abteilung für Post und Fernmeldewesen: »Der damalige Betrieb bei Post- und Fernmeldewesen lag selbstverständlich im argen. [...] Damals bestand für Stadtrat Köhler die Notwendigkeit, sich der Mitarbeit solcher Leute zu versichern, die technisch befähigt schienen. Es war der damaligen Personalleitung bekannt, dass Dr. L[ang] Pg und in der SA war. Es war massgebend, dass L[ang] sich am Bund “Freies Deutschland” beteiligt hat. Es war eine Frage der Entwicklung, ob es genügen würde. L[ang] hat sehr gute Arbeit geleistet.«724 Die politische Neuausrichtung führte den begehrten Fachmann trotz NS-Vergangenheit also geradewegs in eine verantwortliche Verwaltungsposition und – entnazifizierungsbedingt mit gewissen Umwegen – dann auch in die DWK. Er stand zwar unter Beobachtung, bewährte sich aber.725 Der Parteiapparat der KPD/SED vermittelte natürlich ebenfalls Kader in die Staatsverwaltung.726 Unbenommen davon sah sich der zentrale Regierungsapparat auch nach Personal um, das in anderen öffentlichen oder seiner Aufsicht unterstehenden Dienststellen arbeitete.727 Es kam zu entsprechenden Versetzungen.728 721 722 723 724 725 726 727 728 ZB II 3056, A. 12, Bl. 6, Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946. Der Zuspruch auf solch hoher Ebene bewahrte allerdings nicht vor der Überprüfung des Lebenslaufes und der Entnazifizierung. So musste Beer zwischenzeitig das Zentralforstamt verlassen und sein Geld als Waldarbeiter verdienen, bevor er dann wieder zurückkehren durfte, siehe: ZB II 3056, A. 12, Entnazifizierungskommission beim Magistrat von Groß-Berlin, Allgemeine Kommission, Protokoll der Hauptverhandlung, vom 21.10.1947, S. 2. ZJ 53, A. 6, Curt B[...],Eidesstattliche Erklärung, vom 23.07.1946. ZJ 53, A. 6, Entnazifizierungskommission beim Magistrat der Stadt Berlin, Allgemeine Kommission, Protokoll der [1.] Hauptverhandlung am 16. Januar 1947, vom 21.01.1947. Zu Langs Internierung 1946 und Entlassung im Zuge der Entnazifizierung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 266. So geschehen 1945 bei Günther Kromrey, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 266. Beispiele (Walter Pi., Arthur G.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 266. Siehe Werner Wa., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 266. Jens Kuhlemann – Braune Kader 159 Die Parteileitung oder die oberen Verantwortlichen innerhalb der Deutschen Wirtschaftskommission verpflanzten Kader vereinzelt gegen den Willen des Verwaltungszweiges, in dem ein Einsatz vorgesehen war. Ein Beispiel ist der ehemalige Pg. und DWK-Hauptabteilungsleiter Ernst Schinn, der trotz des Widerspruches der HV Leichtindustrie und der Betriebsgruppe in die Deutsche Wirtschaftskommission eingestellt wurde. Fritz Selbmann, Mitglied des Sekretariats der DWK, setzte sich sehr für ihn ein.729 Unterschiedliche Meinungen einzelner Kaderverantwortlicher über Art und Dauer der Integrierbarkeit von Kadern bzw. NS-Belasteten kamen häufiger vor.730 Bereits erwähnt wurde, dass ehemalige Nationalsozialisten auf persönliche Bekanntschaften zurückgreifen konnten, um ihre Berufskarriere voranzutreiben. Inwiefern handelte es sich dabei um (nationalsozialistisch gesinnte) Freunde, Patrone oder „Seilschaften“? Die Bedeutung der Kontakte innerhalb und außerhalb des Institutionengefüges sollte zwar nicht überschätzt werden und bedarf auch noch genauerer Erforschung.731 Doch für die konkrete Arbeit als Verwaltungskader konnten sie nur nützlich sein. Manche NS-Belastete pflegten auch Kontakte zu diversen Berufs- und Interessenverbänden, und zwar in Ost wie West.732 An dieser Stelle sollen Hilfeleistungen aus Anlass einer Bewerbung, etwa als Bürge oder durch direkte Stellenvermittlung im Blickpunkt stehen, außerdem solche im Apparat selbst, mittels Beförderungen oder Zuweisung bestimmter Arbeitsgebiete. Eine Patronatsbeziehung ist dabei gegeben, wenn „eine personalisierte wechselseitige Beziehung besteht, diese Beziehung dauerhaft sowie breit angelegt ist und affektive Elemente enthält zum Zwecke einer anhänglichen Bindung des Patrons an den Protegé”. Man kann statt einer Patron-Protegé-Beziehung auch von „informellen Gruppen” sprechen, die aufgrund früherer gemeinsamer Erfahrungen (Universität, Arbeitsstelle, Herkunft etc.) entstehen. Sie haben ähnliche Ansichten über Ziele, Aufgaben, Arbeitsstil und –methode und besitzen eine vergleichbare Identität dienstlicher Interessen (z.B. die gleiche Ergebenheit gegenüber einer dienstlichen Autorität). Der Charakter und psychologische Typ der Mitglieder informeller Gruppen ähneln einander und weisen mitunter auch Gemeinsamkeiten bei außerdienstlichen Interessen wie der Freizeitgestaltung auf.733 Beziehungen als soziales Kapital im Sinne Bourdieus waren allgemein gesehen sowohl in der NS-Ära als auch in der SBZ/DDR für die Erlangung bestimmter Ressourcen von größerer Bedeutung als politische Lippenbekenntnisse und Unterwerfungsgesten.734 Gleichzeitig sorgten nicht zuletzt die strengen Kaderkontrollmechanismen dafür, dass im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten Patronage in der DDR in relativ geringem Maße in Vetternwirtschaft ausartete.735 Von Interesse ist natürlich auch die Frage, ob frühere Pgs. selbst in die Lage kamen, Posten an andere NSBelastete zu vergeben oder in diese Richtung zu wirken vermochten. Wenn ja, aus welchen Motiven heraus taten sie dies? Um der Freundschaft willen, wegen der fachlichen Effizienz oder – der Albtraum der SED – um sich aus politischen Gründen mit anderen Faschisten zu vernetzen und Sabotage zu verüben? 729 730 731 732 733 734 735 Der Personalleiter der HV Leichtindustrie hatte seiner Ansicht nach zu weitgehende Gehalts- und Versorgungsforderungen von Schinn kritisiert, außerdem mangelnden Kontakt zur SED und Verbindungen zur Wirtschaft, Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 267. Das geschah innerhalb der DWK / DDR-Regierung, zwischen dem MdI und den anderen Fachressorts sowie zwischen Ministerien und dem zentralen SED-Parteiapparat. Beispiele für solche Meinungsverschiedenheiten (Martin Br., Erwin P.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 267. Bauerkämper, Elite, S. 28. Siehe Kurt V., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 267. Schneider, Funktionselite, S. 140 f. Bourdieu, Kapital; Frei, Karrieren, S. 8. Welsh, Kaderpolitik, S. 112. Jens Kuhlemann – Braune Kader 160 Die Einstellungen einiger NS-Belasteter konnten sich auf die Unterstützung wichtiger Institutionen sowie höchster DWK- und SED-Funktionäre stützen.736 Manche Behörden versuchten darüber hinaus, ihre NS-belasteten Fachleute vor Säuberungsmaßnahmen und vor Bestrafungen oder beruflichen Auflagen zu schützen. So berichtete die ZKK über einen DWK-Haumeister, es »wurde im April 1946 der Versuch unternommen, Kl[...] gegen einen Antifaschisten auszutauschen. Die damalige ZV Post- und Fernmeldewesen lehnte unter dem 3. April [19]46 diesen Austausch ab mit dem Hinweis, dass er als nomineller Pg. nach der Anordnung der Alliierten Kommandantur, Befehl 101a, nicht zu entlassen sei. Die Verwaltung bemühte sich sogar, Kl[...] vom sogenannten Sondereinsatz der Pg´s zu befreien, was ihr auch nach umfangreicher Korrespondenz gelang.«737 Andere Personalabteilungen befürworteten die Wiedereinstellung von Mitarbeitern, die aufgrund der Entnazifizierung gekündigt waren. Dabei kritisierte die SED Personalleiter, wenn sie eine zu „weiche” Haltung gegenüber Ex-Nationalsozialisten einnahmen. Sie setzten sich dadurch dem Verdacht aus, sich von interessierten Kreisen „schieben” zu lassen.738 Nichtsdestotrotz kam es vor, dass eine Behörde ehemalige Pgs., die sie eigentlich bereits entlassen hatte, von sich aus oder gemäß sowjetischer Order als Hilfsreferenten, freie Mitarbeiter, Zeitangestellte, auf Honorarbasis etc. weiterbeschäftigte, also in untergeordneter Stellung oder außerhalb eines festen Anstellungsverhältnisses, um ihre Kenntnisse weiter nutzen zu können. Teilweise gelangten frühere NSDAP-Mitglieder auf diesem Weg nach kürzerer behelfsmäßiger Unterbrechung wieder in ein normales Angestelltenverhältnis.739 Nur selten ist explizit belegt, dass DDRStaatsorgane dabei den Vorwurf erhoben, günstige Referenzen seien das Resultat sich einander deckender Personen.740 In einem anderen Fall schaffte es der ehemalige SA-Angehörige Willi Hintze als DWKLeitungskader, seine Sekretärin, die bereits bis 1945 bei der Ostdeutschen Erfassungsgesellschaft für ihn gearbeitet hatte, in gleicher Funktion in die Deutsche Wirtschaftskommission zu holen. Das fiel der Zentralen Kontrollkommission sogleich auf. Sie sah darin unausgesprochen ein Indiz für eine mögliche Zusammenarbeit politisch zweifelhafter Personen, das bei Vorliegen weiterer Vorwürfe dann der Verdachtserhärtung dienen konnte.741 Bei den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK ist nur im Einzelfall belegt, dass sie in aller Deutlichkeit Fürsprache für einen anderen NS-Belasteten einlegten. So beschäftigte die HV Handel und Versorgung auf Veranlassung des Hauptabteilungsleiter in der DWK und SPK Kurt Ritter einen HJ-Funktionsträger, ohne Zustimmung des Betriebsrates. Entgegen dessen Widerstand konnte Ritter die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durchsetzen, »indem er bei Entfernung des [HJ-Angehörigen] M. jede Verantwortung für die fristgemässe Erledigung der Arbeiten seiner Abteilung ablehnte«. Das frühere NSDAP-Mitglied konnte es sich in seiner Position sogar leisten, indirekt mit 736 737 738 739 740 741 Anstellungen erfolgten beispielsweise auf Wunsch eines HV-Leiters, auf Empfehlung des FDGB oder auf die des DWK-Vorsitzenden Heinrich Rau. Ein anderer wurde vom DWK-Sekretariatsmitglied Hermann Kastner aus Dresden „mitgebracht“. Hans Forsbach kam angeblich im Oktober 1947 auf Veranlassung von Fritz Selbmann zur DWK. Bernd Veen wurde angeblich von Edwin Hoernle in den Staatsapparat berufen. Bei Einstellung in die DWK im Juli 1948 ist keine personalpolitische Überprüfung durchgeführt worden, weil das Zentralsekretariat der SED auf Grund dort vorliegender Personalunterlagen eine Beschäftigung empfohlen hatte. Auf Veranlassung des ZS kam Veen aus Westdeutschland nach Berlin. Zu Kurt Ritter steht im Protokoll der SED-Mitgliederüberprüfung 1951: »Auf die Frage nach den Ursachen zu seinem Parteieintritt teilt Gen[osse] R[itter] mit, dass er 1945 durch den Gen[ossen] Handke, den jetzigen Minister für Aussenhandel und innerdeutschen Handel zur Deutschen Zentralverwaltung für Handel und Versorgung herangezogen wurde.« Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 268. DC 1 / 2582, XXVII/1/6, [ZKK,] Kurzcharakteristik Otto Kl[...], undatiert. DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 80. Ein Beispiel aus einer nachgeordneten Dienststelle, dem Deutschen Amt für Maß und Gewicht (DAMG) in Weida, siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 269. So etwas konstatierte die ZKK 1948 mit Blick auf Hans Forsbach, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 269. Vgl. einen ähnlichen Versuch von Günther Kromrey, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 270. Jens Kuhlemann – Braune Kader 161 Effizienzverlust zu drohen, um diese Arbeitskraft zu sichern. Als der ehemalige Hitlerjunge 1950 wegen Spionage und Sabotage verhaftet wurde, stellte sich für die Ermittler jedoch die Frage, warum sich ein Pg. ausgerechnet für einen anderen NS-Belasteten so auffällig eingesetzt hatte, der ein Gegner der neuen Ordnung zu sein schien.742 Letztlich bleibt das Motiv Ritters offen. Es mögen zwischenmenschlich-soziale, fachliche oder politische Gründe gewesen sein. Bei letzteren können es theoretisch solche gewesen sein, die die NSVergangenheit oder eine Nähe zur SED in den Mittelpunkt rückten oder ein anderes Spektrum bedienten. Für eine organisierte „Nazi-Kamarilla“ in der DWK und DDR-Regierung gibt es jedenfalls keine Beweise. Entsprechende Andeutungen in der bisherigen Forschung stellen in der Tat nichts anderes als ein Phantomthema dar.743 Im Juni / Juli 1949 mussten alle DWK-Hauptverwaltungen gegenüber der HA Personalfragen und Schulung schließlich Mitteilung darüber machen, welche ehemaligen Mitglieder der NSDAP, SA und SS sie beschäftigten und wie ihre Beibehaltung zu begründen war. Bei vielen teilten die Personalabteilungen mit, dass sie sie zumindest noch vorübergehend brauchten, dass eine Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses dringend erforderlich oder sehr erwünscht sei. Der Fachkräftemangel stand hier im Vordergrund ebenso wie die kaderpolitische Qualität der ehemaligen Nationalsozialisten. Bei einigen hieß es, sie seien für die Verwaltung „tragbar“, Alternativkräfte nicht vorhanden oder sie selbst nicht entbehrlich, solange kein Ersatz greifbar war. Bei anderen gab es „keine Bedenken“ gegen eine Weiterbeschäftigung. Wieder bei anderen lag eine Belassung „im dringenden Interesse“, wurde nachdrücklich befürwortet bzw. es wurde großer Wert auf ein anhaltendes Arbeitsverhältnis gelegt. Wer zur Veränderung vorgemerkt oder sogar bereits entlassen war, konnte dank des Spezialistenmangels manchmal noch ein paar Monate oder Jahre in der Staatsverwaltung bleiben bzw. die Kündigung wurde verschoben oder bis auf weiteres zurückgenommen.744 Das geschah auch noch in der Folgezeit in den DDRRegierungsdienststellen.745 Die Gründe des Ausscheidens aus der DWK / DDR-Regierung sind neben den Umständen der Beschäftigungsaufnahme und des Verbleibs in der Verwaltung natürlich ebenfalls von Interesse. Warum kam es zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wohin gingen die NS-Belasteten im Anschluss daran? Ein gutes Beispiel bietet hier einmal mehr der ehemalige Pg. und Verwaltungsfunktionär Günther Kromrey. Wie der schon in der Weimarer Republik der KPD angehörende Kader schrieb, war er in der Deutschen Wirtschaftskommission mit einer fachlich weitgehend unbekannten Materie befasst: »Mir wurde bewiesen, daß nur ich die Gewähr böte, darauf aufzupassen, daß kein Material in unrechte Hände käme. Eine zwar ehrenvolle Aufgabe, aber keine die Kenntnisse ausschöpfende Verwendung. [...] Meine bisherigen Stellungen in der DWK und DZVI zeigen, daß für meine Kenntnisse an solchen Stellen anscheinend nicht der richtige Bedarf vorliegt. Ich erwäge daher, wiederum in mein zweites Fachgebiet neben der Planung, in die 742 743 744 745 DC 1 / 2548, V/1/30; ebd., V/1/32. Minister Luitpold Steidle hatte den Behörden seine NSDAP-Zugehörigkeit verschwiegen. Sein Stellvertreter Günter Farchmin war ebenfalls Lebenslauffälscher. Denn eine Namenliste des Ministeriums für Gesundheitswesen weist ihn als „vor 1945“ parteilos aus. Darüber hinaus wurde seine NSDAPZugehörigkeit im Rahmen der SED-Mitgliederüberprüfung ebenfalls nicht erwähnt. Dabei gehörte Farchmin der NSDAP ab dem 20.4.1944 an. Ob die beiden Genannten von der NS-Vergangenheit des anderen etwas wussten, ist sehr unwahrscheinlich. Eine bewusste Förderung eines Pgs. durch einen anderen ist daher auszuschließen. Dennoch merkt Olaf Kappelt in seinem Braunbuch an, dass es angesichts einer ohnehin gegebenen Ansammlung von ehemaligen Nationalsozialisten im DDR-Gesundheitsministerium nicht verwundern könne, dass sich Steidle mit Farchmin zeitweilig noch ein ehemaliges NSDAP-Mitglied als stellvertretenden Minister hielt, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 270 f. (dort auch Quellenangaben); Nationalsozialisten (1958), S. 16; Kappelt, Braunbuch, S. 30, 186. Siehe Beispiele (Woytt, Hennig, Beer, Schaefers, Melms, Cramer, Naake, Stübner und vor allem Friedrich Z.) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 271. Siehe Konstantin Pritzel, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 271. Jens Kuhlemann – Braune Kader 162 Physikalische Chemie insbesondere die Entwicklung von Röhrenwerkstoffen zurückzugehen. Ich beabsichtige daher, mich um die Stellung eines Laboratoriumsingenieurs in OSW, dem Entwicklungsbetrieb für Röhren, zu bewerben.«746 Die HV Wirtschaftsplanung hatte seine Anregung bereits im Dezember 1948 aufgegriffen: »Da er nicht genügend systematisch arbeitet, sonst aber über viel praktische Erfahrung speziell im Labor verfügt«, schlug die Hauptverwaltung vor, Kromrey in einen Betrieb zu versetzen.747 Der SED-Landesverband Berlin wiederum setzte sich bei der SED-Betriebsgruppe der DWK dafür ein, dass Kromrey zum Hauptamt Wirtschaftsplanung beim Magistrat Groß-Berlin als Leiter der Gruppe Plankontrolle versetzt wird.748 Kromrey blieb aber noch eine Zeit lang im Regierungsapparat und wurde Leiter der Abteilung Messen und Ausstellungen. Seinen Veränderungswunsch gab er jedoch nicht auf. Dieser gewann sogar eine neue Qualität, als der Altkommunist mit dem Ausschluss aus der SED belegt wurde oder zumindest im Vorfeld desselben bereits bei seiner Dienststelle aneckte. Kromrey wurde 1951 daher nur noch mit einem begrenzten Aufgabenfeld betraut. In einem Schreiben an einen Mitarbeiter der Kaderabteilung im ZK der SED gab der ehemalige NSDAP-Angehörige in diesem Zusammenhang ein Gespräch mit demselben wieder: »Ich sagte, daß ich es nicht liebe, müheloses Einkommen zu beziehen, so wie es derzeit bei mir geworden ist. Denn einerseits wurde mir gesagt, ich sei noch Angestellter des Ministerium[s] für Außenhandel, andererseits aber verfügte G[...], ich dürfe auf meinem alten Arbeitsplatz nicht mehr arbeiten. Da die Frage meiner „Bestätigung“ einige Schwierigkeiten zu machen scheint, habe ich mich inzwischen nach der „Marktlage“ umgeschaut. Unser wichtigstes Werk für Röhrenentwicklung, HF-OSW, hat ernste Roh- und Werkstoff-Schwierigkeiten. [...] Der Leiter der Röhrenentwicklung war hoch erfreut, daß – nach etlichen Absetzbewegungen [in den Westen] – noch Menschen da sind, die auf diesem seltenen Gebiete Spezialerfahrungen haben. Einen Physikochemiker mit Röhrenpraxis, das wäre was sie bräuchten. Es war von beiden Seiten nur ein orientierendes Gespräch. [...] Ich bin die Bürotätigkeit leid geworden. Hier in der Entwicklung – und das ist meine Stärke – könnte ich mehr nützen. Um so mehr als dies eine doppelte politische Aufgabe ist: die Überzeugung der Menschen und die Entwicklung der Sache, beides Fragen des 5-Jahr-Planes. In Anbetracht der „Bestätigungsschwierigkeiten“ mache ich, um der arbeitslosen, der schrecklichen Zeit ein baldiges Ende zu bereiten, den Vorschlag, jener Beschäftigung bei HF-OSW zuzustimmen. Ich möchte nicht [...] monatelang nichts tun und [...] Geld beziehen. [...] Als ich HF-OSW einige Anregungen gab über Werkstoffentwicklung, gewann man – ich bin fünf Jahre raus – zusehends Vertrauen. Schaffen, Entwickeln, am liebsten am Objekt, das liegt mir. Aber keine Gesetze und Verfügungen. Solltet Ihr entscheiden, daß ich doch in die Verwaltung gehe, nun dann sehe ich die Notwendigkeit ein. Und ich werde die Aufgabe bewältigen, wenn ich etwas mehr Unterstützung und weniger Widerstände habe als bei den Messen. Aber erwäget das oben gesagte.«749 Kromreys großer Arbeitswille kommt deutlich zum Ausdruck, nicht zuletzt aus politischer Überzeugung. Selbst in der (inoffiziellen) Arbeitslosigkeit verfasste er politökonomische Abhandlungen. Die SED ging aber auf Konfrontationskurs zu ihm, was den letzten Ausschlag für sein Ausscheiden aus dem Regierungsapparat gegeben haben dürfte.750 Kromrey verzagte nicht, ergriff selbst die Initiative und sah sich nach einem alternativen 746 747 748 749 750 DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 69, Kromrey, Lebenslauf, vom 21.11.1949. Siehe einen ähnlichen Fall (Hans Mat.), in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 272. Das Zentralsekretariat der SED sollte sich mit dem Vorschlag befassen, siehe: DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 76, SED, LV Groß-Berlin, Abt. Personalpolitik, an Sekretariat der Betriebsgruppe der SED in der DWK, Arnold, vom 02.04.1949; ebd., Bl. 77, Aktennotiz, vom 14.05.1949. Vgl. die Parallele bei Heinrich von B., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 273 (dort auch Quellenangaben). Ein anderer Fall eines beruflichen Karriereknicks aufgrund Ausscheidens aus der SED ist Helmut Wikary, persönlicher Referent des Verkehrsministers Hans Reingruber. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 273. Jens Kuhlemann – Braune Kader 163 Arbeitsplatz in der Produktion um, wohin es ihn schon länger zog. Seine Fachkenntnisse schienen ihm dabei im erwähnten Industriewerk rasch Türen zu öffnen. Er wollte einfach nicht oder nicht mehr in der Verwaltung arbeiten.751 Dabei vermochte der frühere Pg. die Schreibtischarbeit anscheinend auch nicht besonders gut auszufüllen. Es klingt in den zitierten Zeilen an, dass die Arbeitsbedingungen in den zentralen Staatsorganen für ihn nicht die besten waren, wahrscheinlich aus organisatorischen Gründen und weniger aus politischen oder im engeren Sinne fachlichen. Letzteres kam wegen der überdurchschnittlichen Berufsausbildung und –erfahrung der NS-Belasteten in der DWK ohnehin relativ selten vor.752 Kromrey brauchte für seinen beruflichen Veränderungswunsch aber selbstverständlich die Billigung der SED. Der Naturwissenschaftler erhoffte sich mit seinem Schreiben eine entsprechende Befürwortung. Er unterwarf sich jedoch der Parteidisziplin und hätte angeblich auch einen anderslautenden Auftrag getreulich ausgeführt. Tatsächlich klopfte das Ministerium für Post und Fernmeldewesen an und wollte Kromrey als Abteilungsleiter für den Bereich Funk übernehmen. Der Personalleiter des Postressorts schrieb: »Auf Grund seiner umfangreichen Kenntnisse auf diesem Gebiete und der positiven Beurteilung seiner Gesamthaltung wird seine Versetzung vom Ministerium für Aussenhandel (wo er keineswegs nach seinem fachlichen Wissen eingesetzt ist), zum MPF auf das wärmste begrüsst. Seine Bestätigung zur Übernahme der ihm zugedachten Aufgabe ab 1.6.1951 wird von hier aus in jeder Hinsicht befürwortet.«753 Auch wenn sich hier deutliche Unterschiede bei der Einschätzung der politischen Zuverlässigkeit des Kaders andeuten, war ein Ringen unter den einzelnen Dienststellen um gute Fachleute keine Seltenheit. Der Wechsel ins Postministerium klappte jedoch nicht, »da seine Verwendung in der Industrie zweckmässiger« gewesen sei.754 Generell stand Kromreys Einsatz im Staatsapparat 1951 zur Disposition. Er wurde als „der Spezialist” für Senderöhren beschäftigt, da er nicht sofort durch einen anderen Fachmann zu ersetzen war. Es wurde aber angemahnt, dass man seiner Arbeit „Aufmerksamkeit“ widmen müsse, offenbar weil der in besonderem Maße gebildete Marxist und ehemalige Pg. der Machtelite politisch suspekt erschien.755 Kromrey wurde schließlich in das Berliner Glühlampenwerk, einen volkseigenen Betrieb, versetzt.756 Der zentrale SED-Apparat spielte also bei der vorstehenden Personalie eine bestimmende Rolle. Selbst bei Kadern der Referentenebene fällte das ZK der SED personenbezogene Entscheidungen zur beruflichen Weiterverwendung und ordnete zum Beispiel Versetzungen aus der DDR-Regierung in die volkseigene Wirtschaft an.757 Allgemein fanden punktuelle und permanente Personalbereinigungen aus politischen Gründen im gesamten Untersuchungszeitraum in großem Umfang statt. Es galt, nicht von der SEDLinie überzeugte Mitarbeiter umzusetzen, potenzielle Saboteure und Spione zu entfernen und bereits aktive auszuschalten. Davon waren natürlich auch ehemalige Pgs. betroffen, oftmals in Form von beruflichen Einschränkungen und Entlassungen.758 Verhaftungen zogen vielfach ein Ende der Beschäftigung in den Regierungsdienststellen nach sich.759 Sie fanden häufig unter Vorwurf der Agententätigkeit zugunsten des Klassenfeindes im Westen statt. Bei Nichtbestätigung dieser Mutmaßung bzw. bei ausbleibender oder moderater Bestrafung war 751 752 753 754 755 756 757 758 759 Hierzu siehe ein weiteres Beispiel (Gerhard H.) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 273. Zu fachlichen Schwächen (Martin Bierbass) und ideologischen (Heinz Fengler) hinsichtlich von Leitungspositionen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 273 f. DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 19 RS, Ministerium für Post und Fernmeldewesen, Personalabteilung, Fischbach, Kurzbiographie, vom 12.05.1951. DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 26, Rauhut, Aktennotiz, vom 03.09.1951. DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 27, Joos, Aktennotiz, vom 20.08.1951. Kuhlemann, Kader (2005), S. 274. Ein Beispiel (Kurt D.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 274. Im Zusammenhang mit einem Ausschluss aus der SED, der anlässlich der Mitgliederüberprüfung erging, wurde Konstantin Pritzel 1951 fristlos aus dem Ministerium für Gesundheitswesen entlassen. Quellenangabe siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 275. Beispiele (Harald Schaumburg, Ferdinand Beer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 275. Jens Kuhlemann – Braune Kader 164 allerdings unter bestimmten Umständen auch eine Weiterarbeit in der SBZ/DDR möglich. Allgemein stand aber ein Kader, sobald er nach Westdeutschland oder West-Berlin flüchtete und damit von sich aus den Arbeitsplatz verließ, im Verdacht ein Spion zu sein, der sich, womöglich noch mit vertraulichen Materialien, zu seinen Auftraggebern absetzt. Insgesamt ist für elf Personen des NS-Samples belegt, dass sie 1949 oder in den fünfziger Jahren in den Westen übersiedelten.760 Manchmal kamen Ermittler aber auch zu anderen oder vielfältigen Ursachen für die abrupte Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses, wie sie eine Übersiedlung in den Westen bedeutete. Neben politischen Gründen deuten sich dann auch beschränkte berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, finanzielle Gründe sowie Meinungsverschiedenheiten über Art und Umfang der auszuführenden Arbeiten an, die wesentlich zur Entscheidung, in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln, beitrugen.761 Gleichwohl handelte es sich um unerlaubte Ausreisen aus der DDR. In diesem Zusammenhang liegen mit Blick auf ehemalige Nationalsozialisten auch vereinzelt Hinweise auf andere Delikte vor, die Partei und Staat als kriminell ansahen und die zur Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses beitrugen.762 Als Ergebnis dieses Kapitels ist zu konstatieren, dass zu den untersuchten NSBelasteten und Zeitabschnitten eine Vielzahl von Gründen für berufliche Veränderungen zu nennen sind. Fachliche und arbeitsorganisatorische Stärken und Schwächen, die Arbeitsbedingungen vor Ort, einflussreiche Gegner und Befürworter (darunter keine „NaziPatrone“), Aufstiegswille, Privates und persönliche Vorlieben sowie externe Ursachen wie der Krieg, die Entnazifizierung und Säuberungen gehören dazu. Bei der Darstellung von Karrierewendungen im Nationalsozialismus wurden nach 1945 darüber hinaus politisch vorteilhafte Biografieanteile wie Widerstands- und Opferaspekte betont. Das Bekenntnis zu Opportunismus und Karrierestreben unter der Ägide des NS-Regimes entfiel in der SBZ/DDR weitgehend, obwohl es mit Sicherheit genauso wie nach dem Ende der Zweiten Weltkriegs von Bedeutung war. Des Weiteren spielten nach 1945 Vorbehalte gegen ehemalige NSDAPMitglieder und die Frage der politischen Loyalität zur neuen Machtelite eine entscheidende Rolle. Hierzu gab es unter den Kaderverantwortlichen oft divergierende Ansichten. Inwiefern die Quellen immer die tatsächlichen Veränderungsgründe nennen oder von Anpassungsmechanismen überformt sind, muss vielfach offen bleiben. Ein Gemisch verschiedenster Aspekte ist jedoch unverkennbar. 2.1.8 Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz Bislang behandelten elitenhistorische DDR-Forschungen nicht die Frage, inwiefern die Abgrenzung zum Nationalsozialismus das konkrete Handeln der Kader am Arbeitsplatz bestimmte. Wie stark ausgeprägt war die ausdrückliche Bezugnahme der Mitarbeiter auf historische Erfahrungen bei ihrer Art, Entscheidungen zu treffen, zu rechtfertigen und 760 761 762 Insgesamt siedelten folgende Angehörige des NS-Samples in den Westen über: Konstantin Pritzel, Hans Forsbach, Willi Hintze, (wahrscheinlich) Rudolf Lang, Bernd Veen, Hans W., Kurt D., Friedrich L., Alfred Kr., Herbert So., Friedrich Z.; teilweise befanden sie sich zum Zeitpunkt des Wegganges noch im zentralen Staatsapparat, teilweise bereits in anderen Einrichtungen. Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 275. Zu punktuellen politischen Säuberungsaktionen, die auch NS-Belastete berührten, siehe die Kapitel „Westkontakte“ und „Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien“. Siehe den ausführlich dargestellten Fall Hans Forsbach, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 275-279. Siehe den Fall Rudolf Lang, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 277. Jens Kuhlemann – Braune Kader 165 umzusetzen? Gab es einen spezifischen antifaschistischen Arbeitsstil, den auch NS-belastete Verwaltungsangestellte mit Leben füllten?763 Die Förderung gewünschter Arbeitsweisen durch die Installation bestimmter Strukturen steht dabei nicht im Mittelpunkt, sondern deren Anwendung durch die ehemaligen Pgs. Es geht also nicht darum zu beschreiben, dass es zum Beispiel in den Ministerien Wettbewerbe um die beste Planerfüllung gab oder eine genaue Aufgabenverteilung mit Fristsetzung und Erledigungskontrolle oder Verpflichtungserklärungen zur Weiterbildung. Wichtig ist allein, wie frühere Nationalsozialisten auf diese Formen reagierten und wie sie sie ausfüllten. Eine Antwort hierauf zu finden ist ein schwieriges Unterfangen. Denn es sind zwar eine ganze Reihe von zeitgenössischen Beschreibungen zur Arbeitsweise bekannt. Doch es sei vorweggenommen, dass diese keine direkten Angaben zur Motivation machen. Es bleibt also der Interpretation überlassen, ob das Arbeitsverhalten eines Pgs. auf althergebrachte Gewohnheiten zurückzuführen war oder auf sein politisches Engagement.764 Zunächst zu den Rahmenbedingungen: Zur Durchführung des Zweijahrplanes musste sich nach Ansicht der SED die Verwaltungsorganisation und –arbeit ändern. Denn obwohl der Verwaltungsapparat durch den „Demokratisierungsprozess“ personell bereits viele neue Köpfe zählte und so gesehen einen anderen Charakter aufwies, stammten nach Meinung der Parteiführung Strukturen und Arbeitsmethoden noch aus der Zeit vor 1933 und aus der Ära des Nationalsozialismus: »Man klammert sich noch immer zu stark an Hergebrachtem und fürchtet sich, ausgefahrene Gleise zu verlassen«, hieß in einer Analyse der SED-Führung.765 Ulbrichts Forderung auf dem 2. Parteitag, aus Demokraten Fachleute und aus Fachleuten Demokraten zu machen, kam nur mühsam voran. Der Mangel an Spezialisten, die die politische Linie der SED verfolgten, förderte noch die Tendenz, fachliche Qualität beim Personal durch Quantität zu ersetzen. Die staatliche Verwaltung blähte sich mit Angestellten auf, die in erster Linie den gewünschten „antifaschistischen Willen“ mitbrachten oder bereit waren, diesen ohne tiefgründiges politisches Bewusstsein umzusetzen. In der Folge arbeitete der Apparat in hohem Maße ineffektiv. Er produzierte zum Beispiel statt eigener Gestaltung Unmengen an Berichterstattungen über die Arbeit anderer. Der Bürokratismus erfreute sich so auch nach Abschaffung des Berufsbeamtentums einer ungebrochenen Kontinuität.766 Besonders bei ehemaligen Beamten fürchteten die neuen Machthaber, dass sie eine ausufernde Bürokratie im Arbeitsstil früherer Behörden erneut verankern könnten.767 Das Bild vom unpolitischen Beamten, dem die Form im Grunde wichtiger war als der Inhalt seiner Handlungen, war den Verfechtern einer revolutionären Umwälzung ein Graus. Nichtsdestoweniger schuf die Regierung unter der Federführung der „Arbeiteravantgarde“ teilweise eben auch selbst wahre Papierfluten. Dieser Umstand resultierte nicht zuletzt aus einer gewissen Regelungswut und einer schlechten Abstimmung der zentralen Leitungen.768 Trotzdem versuchten die Machthaber, das Übel bei der Wurzel zu packen und jeglichen Bürokratismus zu bekämpfen, das heißt zunächst solchen, dem keine respektablen Ergebnisse 763 764 765 766 767 768 Danyel, Macht, S. 74. Nachfolgende Beschreibungen der in der DWK angestellten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder beziehen sich zum ganz überwiegenden Teil auf die Beschäftigungszeit in der Wirtschaftskommission und in den DDR-Ministerien, teilweise aber auch auf andere Dienststellen und Betriebe vor und nach Eintritt in den Staatsapparat, einschließlich derer vor 1945. Entsprechende, meist kurz gehaltene Informationen waren zu mehr als hundert Personen des untersuchten NS-Samples zu ermitteln. Fälle nennenswerter Unterschiede zwischen den diversen Beurteilungen habe ich extra ausgewiesen. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 281. DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 30-32, [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert. Welsh, Wandel, S. 85. DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium des Innern, Personalabteilung, Vierteljährliche Berichterstattung [zum 31.03.1950], S. 6. Ein nicht unerheblicher Teil der Bürokratie ist auf die Vielzahl der Befehle und Anweisungen der SMAD zurückzuführen, die nach wiederholt vorgetragener Klage deutscher Stellen schlecht miteinander koordiniert waren und so bei der Bearbeitung Zeitverzögerungen nach sich zogen, siehe: Foitzik, Inventar, S. 43. Jens Kuhlemann – Braune Kader 166 gegenüberstanden. Entscheidungen sollten zügig und pragmatisch ergehen. Rücksicht auf juristische Prinzipien fehlte des Öfteren völlig. Das Ziel der neuen Staatsform war das Wichtigste und rechtfertigte manchmal sogar enorm aufwändige Verwaltungsmethoden. Von den Beamten hingegen hatte die neue Machtelite den Eindruck, eine umständliche Arbeitsweise zu pflegen, ohne gleichzeitig eine „fortschrittliche“ gesellschaftliche Vision zu verfolgen. Bürokratie in diesem schlechten Sinne wurde fast automatisch mit alten Staatsdienern in Verbindung gebracht, fast so als gäbe es einen entsprechenden Biologismus, ein „Bürokratie-Gen“, das diesen Menschen zu eigen war. Nachhaltige Abhilfe schien nur die Entschlackung des Personalkörpers, sprich die Entfernung der „alten Beamten“, oder die Abwehr ihres neuerlichen Eindringens zu versprechen. Bürokratismus galt bei SED-Funktionären darüber hinaus eigentlich als „kleinbürgerliche Erscheinung“, getragen von Charakterzügen wie Gleichgültigkeit, Unentschiedenheit, Untertanengeist, Herrschsucht und Wichtigtuerei. Bürokratismus war laut SED auch Tarnung und Einfallstor für Saboteure, weil sie über Papierkrieg und verzögerte Entscheidungen die eigentliche Aufbauarbeit lähmen konnten. Innere SED-Zirkel fürchteten einen Rückfall in die überwunden geglaubte traditionelle „Beamten-Ideologie“ und die Überheblichkeit der losgelöst von der Basis agierenden Bürokraten. Sie registrierten auch offen propagierte Forderungen „reaktionärer Kreise“ der bürgerlichen Parteien, vor allem der LDP, nach Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und Wiedereinstellung der durch Befehl 201 aus der Verwaltung entfernten „nazistischen Elemente“. Um all diesen Erscheinungen zu begegnen, beschloss das Zentralsekretariat die Einberufung der Verwaltungskonferenz von Werder (Havel), die am 23./24. Juli 1948 stattfand.769 Auf der Konferenz unterstrichen führende Partei- und Staatsfunktionäre, welches berufliche Selbstverständnis und welche Arbeitsweise sie von den Kadern erwarteten. Beides sollte von der Verbundenheit und Zusammenarbeit der neuen Verwaltung mit der werktätigen Bevölkerung und den Massenorganisationen durchdrungen sein. Eine Behandlung des Volkes „von oben herab“, eine schematisch verfahrende Bürokratie, die den Menschen zur Nummer degradierte, ein Bewusstsein, das zwischen der Chefetage und den Untergebenen unterschied – all das sollte passé sein. Es war abzulösen durch selbstlosen Einsatz und Wettbewerb zugunsten der breiten Masse, durch enge, kommunikative Zusammenarbeit mit Betrieben und anderen Verwaltungen.770 Der gewünschte Arbeitsstil schloss ressortbeschränktes Denken oder individualistisches Arbeiten aus.771 Trotz aller Mühen sollten sich die Hoffnungen der Machtelite auf die Umsetzbarkeit des neuen Arbeitsstils am Ende nicht erfüllen. Zwar war scharfe Kritik weit verbreitet, begünstigt durch die ständige Krisenlage in den fünfziger Jahren. Doch die Steigerung von Effizienz und Kompetenz des Staatsapparates bei synchroner Parteilichkeit blieb hinter den Erwartungen zurück. Stattdessen waren Verantwortungsscheu772 bei zugleich zentralistischer Fixierung auf die obersten Entscheidungsinstanzen, fehlende schöpferische Initiative, Disziplinlosigkeit, Formalismus, unzureichende Professionalität, sachliche Inkompetenz, verwaltungstechnische Mängel sowie mehrfache und unnötige Arbeiten weit verbreitet. Damit in Zusammenhang stand eine geringe Leistungsfähigkeit des gesamten Apparates, Bürgerferne, Überheblichkeit, politische Indifferenz, Korruption und die Abzweigung von Ressourcen für Privatzwecke.773 Diese Vorgaben werfen die Frage nach der Anpassungsfähigkeit und –bereitschaft der NS-Belasteten in der DWK auf. Die meisten von ihnen hatten in ihrer langjährigen Berufskarriere Stationen der bürgerlichen Verwaltung und der kapitalistischen Wirtschaft 769 770 771 772 773 DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 30-32, [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert. Boyer, Kader, S. 23, 27 f., 52. Welsh, Kaderpolitik, S. 111. Schon in den Zentralverwaltungen war die Angst vor der „operativen Leitung“ weit verbreitet, siehe: Merker, Zentralverwaltungen, S. 67. Dazu ausführlich: Boyer, Bürohelden, hier S. 255-257, 259 ff. Jens Kuhlemann – Braune Kader 167 durchlaufen. Da der berufliche Habitus in der Sozialisationsforschung als stabiles System verinnerlichter interner Handlungsregeln und –schemata gilt, sollte zu vermuten sein, dass manchen ein Umdenken sehr schwerfiel. Eine professionelle Rollensozialisation setzt nicht nur bloßes Fachwissen voraus, sondern zusätzlich die Kenntnis des „kulturellen Codes“.774 Dieser kann eine identitätsstiftende Wirkung haben. Seit der Machtübernahme der Kommunisten galt nach den oben skizzierten Mustern ein anderer Code als vor 1945. Seine individuelle Akzeptanz bei den Kadern war eine Voraussetzung für deren dauerhaften Verbleib im zentralen Staatsapparat. Allgemein ist jedoch festzustellen, dass es auch in Sachen Berufsverständnis und –stil zu erheblichen Konflikten innerhalb des Verwaltungspersonals kam. Das geht bereits aus den Auseinandersetzungen zwischen Teilen der alten bürgerlichen Dienstklasse und den Kommunisten in den Deutschen Zentralverwaltungen hervor.775 Der politischen Ausrichtung der täglichen Arbeit kam in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu. Die SED agitierte gegen politikferne Verwaltungsfachmänner. Der Angestellte neuen Typs hatte seine Arbeit als politische Aufgabe zu verstehen, anders als der „neutrale“ Berufsbeamte.776 Ein klassisches Beamtenverständnis dokumentierte ein SSFördermitglied und DWK-Hauptreferent, der nicht in die NSDAP eintrat, rückblickend für die NS-Ära: »Für eine politische Betätigung fehlte mir nicht nur die Zeit, auch aus grundsätzlichen Überlegungen lehnte ich es ab, mich parteipolitisch zu organisieren. Nach meiner Auffassung ist der Berufsbeamte ein Diener des Staates und hat für das gesamte deutsche Volk ohne Rücksicht auf die einzelnen politischen Strömungen seine Berufspflichten zu erfüllen. Die Erfüllung meiner staatsbürgerlichen Pflichten war geformt durch das ständige Eintreten für die Interessen meiner Kollegenschaft, für die Einhaltung von recht und Gerechtigkeit.« Seine politische Überzeugung sei ferner durch einen Ausgleich der Gegensätze und das Eintreten für Recht und Freiheit geprägt gewesen.777 Der ehemalige Beamte wollte dadurch eine politische Distanz zum Nationalsozialismus begründen. Ob ihm diese Berufsauffassung jedoch bei den SED-Personalleitern geholfen hat, darf bezweifelt werden. Leitlinie für jede Handlung musste daher die Bekämpfung der alten Machtträger und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nach den Vorgaben der SED sein.778 Durch die Hervorhebung der politisch „richtigen“ Linie bei der Beurteilung der Kompetenz versuchten die Kommunisten nebenbei, das Selbstwertgefühl der fachlich oft unterlegenen neuen Kader zu stützen.779 Bei der Betrachtung der politisch korrekten Arbeitsweise ist für die Beurteilung von Anpassung und Loyalität, aber auch für die Wirksamkeit der Kontrollmechanismen darüber hinaus die Frage wichtig, ob und mit welchem Erfolg die ehemaligen Nationalsozialisten versuchten, statt marxistischer Inhalte oppositionelles oder sogar faschistisches Gedankengut über ihre Arbeit mit Leben zu füllen. Hierzu sei angemerkt, dass SED-Funktionäre nur bei äußerst wenigen ehemaligen Pgs. kritisierten, ihre Arbeitsweise oder –organisation weise politisch unerwünschte Züge auf. Ein Beispiel dafür ist Luitpold Steidle, der seine kurzzeitige NSDAP-Mitgliedschaft verheimlicht hatte. Die Abteilung Landwirtschaft im SEDZentralsekretariat warf ihm vor, als Vizepräsident der ZV Land- und Forstwirtschaft die Selbständigkeit der wirtschaftlich stärkeren bäuerlichen Schichten gefördert zu haben. Moniert wurde außerdem, dass er nur den alten Förstern eine Bewaffnung zur Wildschadensbekämpfung erlaubte und nicht den neuen, nach Ansicht der SED politisch 774 775 776 777 778 779 Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 288. Kuhlemann, Teufel. Boyer, Bürohelden, S. 258. So Paul K. 1948 anlässlich der Entnazifizierung, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 284. Glaeßner, Herrschaft, S. 123. Danyel, Macht, S. 77. Jens Kuhlemann – Braune Kader 168 zuverlässigeren. Vor allem aber fand das Zentralsekretariat Steidles Arbeitsweise bei dem Bemühen hinderlich, „Reaktionäre“ aus dem untergeordneten Verwaltungsapparat zu entfernen. In der DWK habe Steidle dann oft über den SED-Funktionär Edwin Hoernle hinweg Maßnahmen eingeleitet und diesen nicht informiert. Die Abteilung Landwirtschaft im ZS wünschte sich von Rau, auf Steidle einzuwirken, damit Hoernle künftig besser eingebunden werde.780 Auch Greta Kuckhoff beschwerte sich bei der SED-Parteiführung, dass sie als Stellvertreterin von Steidle mangels fehlender Zuständigkeiten Schwierigkeiten habe, ein Gegenwicht zu ihm im Sinne der SED zu bilden. Der CDU-Angehörige verfolgte angeblich »konsequent die Linie, mich mit formalbürokratischen Begründungen weitmöglichst auszuschalten und mir nur solche Sachen zur Erledigung zu übergeben, in denen die Bevölkerung ihre Unzufriedenheit« zum Ausdruck bringt. Sie gab an, einen völlig unzureichenden Informationszugang zu haben und sich diesen geradezu illegal erschleichen zu müssen. Kuckhoffs Fazit: »M[eines] E[rachtens] findet auch hier die sich immer mehr zuspitzende Klassensituation ihren Ausdruck.«781 Versuchte der spätere Minister Steidle also, den Einfluss der SED zu beschneiden? Das lässt sich bejahen, auch wenn die beschriebenen Klagen überzogen gewesen sein mögen. Steidle verfolgte als Repräsentant der CDU eben auch Politikelemente, die dieser Partei wichtig waren, obwohl er anscheinend nie in ernsthafte oder folgenreiche Konflikte mit den Kommunisten geriet. Der Biografiefälscher wandte sich dabei laut Quellenlage gegen allzu radikale Maßnahmen, wie sie die SED in ihrer Klassenkampfhysterie vielfach forderte. Steidle sah in Jagdhorn blasenden Waidmännern keine „Konterrevolutionäre“ und wandte sich gegen extrem rigorose Säuberungsmaßnahmen. Damit handelte er sich prompt den Vorwurf ein, als Bürgerlicher im sich verschärfenden Klassenkampf auf der Seite der Bourgeoisie und des Monopolkapitals zu stehen. Alles in allem gibt es aber keinen Beleg dafür, dass Steidle inkognito früheren NS-Parteigenossen besonderen Schutz gewährte oder gar eine Politik des Rassenhasses und Antibolschewismus betrieb. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Kommentaren zu zwei Kadern, deren NS-Belastung der DWK-Personalabteilung bekannt war: Der eine habe in Ausübung seines Berufes die Privatwirtschaft gefördert. Der andere soll laut Staatssicherheitsdienst gesellschaftlich passive Mitarbeiter durch Einstufung in niedrigere Gehaltsstufen gegenüber politisch aktiven bevorzugt haben.782 Hieraus lassen sich jedoch kaum politisch wirklich konträre Schwerpunktsetzungen ablesen, eher schon gewinn- und effizienzorientierte Handlungsweisen.783 Neben solchen raren Momenten politischer Linienuntreue tauchen auch explizite Hinweise auf einen gewissen unpolitischen Arbeitsstil mancher ehemaliger Nationalsozialisten in der DWK und den DDR-Ministerien recht selten auf. Wenn das der Fall war, dann bescheinigten ihnen die Kaderverantwortlichen zwar gute bis hervorragende Fachkenntnisse, Anleitungen und Arbeitsergebnisse. Sie seien jedoch wie Technokraten ohne politisches Herzblut an ihre Arbeit herangegangen. Über den Leitungskader Konstantin Pritzel hieß es 1951 beispielsweise: »P[ritzel] ist im Ministerium für Gesundheitswesen verantwortlich für Apotheken- und Arzneimittelwesen. Sein Aufgabengebiet beherrscht er formal, sieht nur seine fachliche Arbeit und beteiligt sich wenig an der gesellschaftlichen Arbeit im Ministerium.«784 Die „Nur-Fachleute“ scheinen bei allen Werbeversuchen der SED 780 781 782 783 784 DY 30 / IV, 2/2.027/6, Bl. 140 VS+RS, Zentralsekretariat der SED, Abteilung Landwirtschaft, Scholz, Aktenvermerk, vom 13.09.1948 (Anlage zu ebd., Bl. 139, Zentralsekretariat der SED, Merker, an DWK, Rau, vom 25.09.1948). NY 4182/976, Bl. 63-65, [DWK, Sekretariat Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Handel und Versorgung,] Kuckhoff, an die Vorsitzenden der SED, vom 13.10.1948 Über das Verhältnis zur Privatwirtschaft von Hans Forsbach und Walter F. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 286. Vgl. Hübner, Menschen, S. 355. DY 30 / IV, 2/11/176, Bl. 113, Protokoll der Sonderkommission, vom 10.05.1951; weitere Beispiele (Walter F., Alfred Kr.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 286 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 169 weitgehend geduldet worden und nicht sonderlich ins Visier der Kaderabteilungen geraten zu sein. Man ließ sie in Ruhe, solange sie als Teil des Apparates funktionierten, schlecht zu ersetzen waren und kaum andere negative Kadermerkmale besaßen.785 Manche NS-belasteten Experten galten auch insofern als entwicklungsfähig, als sie ihr politisches Profil in der Arbeit noch finden sollten. Schließlich gibt es noch die Gruppe von NS-Belasteten, deren Tätigkeit nach Ansicht der Kontrollorgane klar von der ideologischen Seite her bestimmt war und die den Marxismus-Leninismus in die Praxis übertrugen: Mitarbeiter, die die fachliche mit der politischen Arbeit verschmelzen wollten und ihre Kollegen in der Aufbauarbeit politisch beeinflussten. Von den Pgs. ausdrücklich bewusst verfolgte, politisch positiv gefüllte Arbeitsinhalte sind zwar nur ein wenig häufiger überliefert als die vorgenannten Arbeitsstile. Doch bei den anderen, scheinbar rein fachlich belobigten NSDAP-Mitgliedern ist zumindest davon auszugehen, dass sie die ihnen vorgegebene politische Linie zur vollen Zufriedenheit beachteten – sei es aus politischer Gleichgültigkeit oder aus Überzeugung. Wie auch immer, die Deutsche Wirtschaftskommission bescheinigte einigen ihrer Ex-Nationalsozialisten nicht nur rein fachlich an Probleme heranzugehen, sondern sich eine fortschrittliche gesellschaftliche Einstellung dazu erarbeitet zu haben.786 So urteilte die HA Personalfragen und Schulung der DWK über einen Oberreferenten, er »vertritt absolut die sozialistische Finanzpolitik der Ostzone«.787 Die HV Wirtschaftsplanung schrieb über den Hauptabteilungsleiter Kurt Ritter, er sei ein Kader, der »in allen fachlichen Fragen politisch richtig und in unserem Sinne entscheidet«.788 Das Ministerium für Planung gab 1949 zur Arbeit des ehemaligen Pgs. und Leitungsfunktionärs Ferdinand Beer folgenden Kommentar ab: »Herr Beer, der auf dem Gebiet der Forstwirtschaft ein beachtliches fachliches Wissen und Können besitzt, hat dies in einer weitsichtigen und gleichzeitig wissenschaftlich fundamentierten Planung unter Beweis gestellt. Gerade diese Verbindung spielt auf seinem Gebiet eine besondere Rolle, da die Beobachtung der Plandurchführung ihn in unmittelbare Berührung mit dem einseitig-fachlich orientierten Apparat des Forstwesens bringt. Auf dem Gebiet der Aufforstung hat er eigene, grundlegende Gedanken entwickelt. Er ist ein fleißiger, kollegialer und zuverlässiger Mitarbeiter. Seine Einstellung zum demokratischen Aufbau ist positiv. Politisch ist er noch nicht stark genug; er zeigt gewisse Neigung, nur sein eigenes Fachgebiet zu sehen.«789 Die SED wünschte also, dass die Dienstklasse bei der Anwendung ihres Fachwissens nicht nur interministerial mit Umsicht vorging, sondern auch immer den Sozialismus im Auge behielt. Und so manche der ehemaligen Nationalsozialisten im Staatsapparat verhielten sich entsprechend. Sie sollten außerdem aus eigenem Antrieb heraus nach dem Schneeballprinzip die Anleitung politisch noch unbewusster Angestellter übernehmen. Zugleich hatten sie eigene ideologische Defizite weiter zu bekämpfen und den Blick für ressortübergreifende polit-ökonomische Gesamtzusammenhänge zu schärfen. Der Apparat sollte also durchaus eine „künstliche Intelligenz“ entwickeln, die bloße, per Befehl funktionierende Maschinenteile in linientreu mitdenkende Bioelemente verwandelte. Was die fachlichen Merkmale im engeren Sinne betraf, verfügten die meisten NSBelasteten im zentralen Staatsapparat über eine langen Berufsvorlauf. Über Jahre hinweg hatten sie Erfahrungen gesammelt, sich mit der Materie vertraut gemacht und bei ihrer praktischen Anwendung bewährt. Das betraf sowohl das eigentliche Spezialgebiet als auch 785 786 787 788 789 Der ZKSK-Vorsitzende Fritz Lange äußerte 1951 in der Deutschen Verwaltungsakademie Forst Zinna, dass man von bürgerlichen Spezialisten keine mehr oder weniger erzwungenen politischen Glaubensbekenntnisse verlangte, sondern lediglich eine „ehrliche Arbeit“ in ihrem Fach, siehe: Boyer, Kader, S. 48. Beispiele (Hans Forsbach, Werner B.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 287. Zu Gerhard B., ferner Erwin Melms, Kurt D., Werner B. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 287. DO 1 / 26.0, 17098, [DWK,] HV Wirtschaftsplanung, Beurteilung über Kurt Ritter, vom 15.06.1949. DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 7, Ministerium für Planung, Zentrales Planungsamt, Wittkowski, Dienstleistungsbericht, vom 16.12.1949. Jens Kuhlemann – Braune Kader 170 damit verbundene administrative Kenntnisse. Ihre fundierten Praxiseinblicke erhielten sie zumeist in der Verwaltung oder in Betrieben, privatwirtschaftlichen wie volkseigenen.790 Bei der Beschreibung der fachlichen Qualifizierung vieler in der DWK angestellter ExNationalsozialisten sprudelten die Staats- und Parteiorgane dann vor Lob nur so über. Demnach waren sie wertvolle Mitarbeiter und gute bis exzellente Kenner ihrer Materie, fachlich sehr befähigt und weit überdurchschnittlich qualifiziert. In ihren jeweiligen Sparten hätten sie ein ausgezeichnetes und umfangreiches Sachwissen besessen, einen erstaunlichen Kenntnisreichtum bewiesen und außerordentlich gute, hochqualifizierte Wissenschaftler abgegeben. Damit verbunden war die Anerkennung einer guten bis ausgezeichneten Auffassungsgabe sowie einer hohen Intelligenz. Die DWK-Hauptverwaltungen befanden zum Beispiel, der ehemalige Pg. und Hauptabteilungsleiter Kurt Ritter sei ein »vorzüglicher Versorgungsplaner, der sein Fachgebiet vollkommen beherrscht«. Auch Hauptabteilungsleiter Rudolf Lang soll eine überragende Fachkraft gewesen sein, die ihren Aufgabenbereich absolut im Griff hatte und bis auf weiteres durch keine gleichwertige Kraft zu ersetzen war. Sein Verbleiben sei eine dringende dienstliche Notwendigkeit gewesen. Die SED-Betriebsgruppe des Statistischen Zentralamtes urteilte 1951 über ein früheres SA-Mitglied, er sei »einer der besten IndustrieStatistiker Gesamtdeutschlands«. Einem anderen Experten in der HV Kohle wurde noch Mitte der fünfziger Jahre bescheinigt, seine Arbeiten seien »von grundlegender Bedeutung für die Weiterentwicklung der Tagebautechnik«. Zu Konstantin Pritzel meinte die HV Gesundheitswesen, dass es in der SBZ keinen gleichwertig qualifizierten Apotheker gab, der ihn nur annähernd ersetzen konnte. Über einen Hauptreferenten schrieb die HV Land- und Forstwirtschaft, er sei auf dem Gebiet der Pferdezucht eine Kapazität. In ganz Deutschland habe es nur drei entsprechende Fachkräfte gegeben, von denen er sich als einziger in der SBZ aufhielt. Den ehemaligen NSDAP-Angehörigen und Abteilungsleiter Bernd Veen charakterisierte sie als ausgezeichnete Fachkraft mit schneller Auffassungsgabe und hohem Verständnis für alle Aufgaben, die auch noch auf anderen Gebieten über besondere Fähigkeiten verfügte.791 Aus diesen insgesamt äußerst positiven Einschätzungen lässt sich der Schluss ziehen, dass die Ausbildung und Berufserfahrung der betreffenden NS-Belasteten den Anforderungen des ostdeutschen Staatsapparates vollauf genügten. Man hätte ja auch denken können, dass die ganz überwiegend im kapitalistisch geprägten Deutschland erfahrenen Lehr- und Praxisinhalte nicht ohne weiteres mit einem sozialistischen Wirtschaftssystem kompatibel waren. Doch nach dem Motto „Kuh bleibt Kuh“ gab es keine Notwendigkeit, aufgrund des politischen Wandels an den rein fachlichen Inhalten im Nachhinein Änderungen vorzunehmen. Das galt selbst für ursprünglich in besonders verdächtigen Bereichen verwurzelte Mitarbeiter wie Ökonomen, Bankangestellte etc. Vielmehr waren alte Ausbildungs- und Berufskenntnisse durch ideologische Erziehungseinheiten zu ergänzen. Wie sich schon bei der politisch „korrekten“ Ausrichtung der fachlichen Arbeit beschreiben ließ, sollte so nicht das Wirtschaften selbst, sondern seine Zielrichtung neu bestimmt werden. Das galt vor allem in Hinblick auf die Fragen, wer begünstigt wird und wer entscheidet. Ehemalige Pgs. und andere Personen, die nicht bereit waren, ihr Fachwissen für diesen Zweck einzusetzen, kamen gar nicht erst in den Regierungsapparat hinein oder blieben nicht allzu lang dort. Konsequenterweise zog das sehr gute fachliche Wissen der früheren Nationalsozialisten beachtliche Erfolge bei seiner Anwendung im Staatsapparat nach sich. Andere Arbeitsstellen 790 791 Zur Verbindung fachlichen und politischen Wissens (Ernst Hennig) sowie zu Bestätigungen langjähriger Berufspraxis und –erfahrungen (u.a. Konstantin Pritzel, Rudolf Lang, Wilhelm Salzer, Franz Woytt, Helmut A., Wilhelm W.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 288. Die erwähnten Beispiele beziehen sich auf Kurt D., Hans Mat., Kurt V.; Quellenangaben und weitere Beispiele (Ernst Kaemmel, Ernst Schinn, Heinz König) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 289. Jens Kuhlemann – Braune Kader 171 waren von den Arbeitsergebnissen ebenso beeindruckt. Danach haben viele NS-Belastete überdurchschnittliche und überragende Leistungen demonstriert und sich große Verdienste erworben. Sie zählten zu den besten, hervorragendsten Fachangestellten und lieferten ausgezeichnete Ergebnisse. Die Pgs. hätten wertvolle Dienste geleistet und selbst schwierige Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Ihre sehr lobenswert ausgeführte Arbeit machte aus manchen von ihnen „unentbehrliche“ Experten. Einige seien die einzigen Fachkräfte auf ihrem Gebiet weit und breit gewesen, was natürlich auch ihrem Ruf in den Dienststellen sehr förderlich war.792 Eventuell ließ sich auf diese Weise nicht nur bei den Kaderleitern, sondern auch unter den einfachen Kollegen – sofern den Mitarbeitern die NS-Vergangenheit überhaupt bekannt war – eine individuelle Belastung durch fachliche Anerkennung relativieren. Zumindest teilweise dürften solche Anerkennungen auch das gleichzeitige Vorhandensein der politisch erwünschten Arbeitsausrichtung impliziert haben. Bereits der Präsident des Statistischen Zentralamtes und Vizepräsident der Deutschen Zentralfinanzverwaltung, Bruno Gleitze, kommentierte zum Beispiel die Tätigkeit eines Pgs. und späteren DWK-Mitarbeiters mit den Worten, er habe »das in ihn gesetzte Vertrauen und die Erwartungen voll und ganz erfüllt. Er hat unter schwierigsten Arbeitsbedingungen der Neuordnung der demokratischen Verwaltung in dem vergangenen Jahre hervorragende Dienste geleistet. Er wird von der Sowjetischen Finanzverwaltung als Spezialist und fleissiger Mitarbeiter sehr geschätzt und hat deren volles Vertrauen. Dasselbe kann ich von der Deutschen Zentralfinanzverwaltung sagen, in der [er] [...] auch unter seinen Kollegen den besten Ruf hat.«793 Mitunter deutet sich an, dass die ehemaligen NSDAP-Mitglieder sich ihres Stellenwertes absolut bewusst waren und sie sich sogar zu gewissen Trotzreaktionen hinreißen ließen. Dergleichen tat ein Pg., der in der DWK als Hauptsachbearbeiter tätig war. Schon die ZV Post und Fernmeldewesen hatte ihm bescheinigt, sehr wertvolle Dienste geleistet und tatkräftig am Wiederaufbau mitgewirkt zu haben. Als er aufgrund seiner NSParteizugehörigkeit nach dem Krieg aus dem Postdienst entlassen wurde, soll er auf seine Unentbehrlichkeit gepocht und gesagt haben: »Meine Zeit kommt schon noch und sie werden mich bald wiederholen.«794 So geschah es dann auch. Doch selbst bei den übrigen NSBelasteten, die nicht über dermaßen herausragende Eigenschaften verfügten, fanden die Personalverantwortlichen Worte der Anerkennung. Sie unterschieden sich von den bisher genannten in ihrer Nuancierung und ließen die Superlative beiseite. Die betreffenden ExNationalsozialisten in der DWK seien jedoch immer noch gute bis passable Mitarbeiter gewesen, die sich bewährt haben. Eine fachliche Befähigung und Eignung lag demnach vor. Ihre Arbeitsergebnisse seien voll zufriedenstellend oder nicht zu beanstanden gewesen. Ihren Aufgaben seien sie gerecht geworden oder hätten sie sachkundig gelöst. Eine wirklich schlechte Meinung über fachliche Voraussetzungen und Arbeitsergebnisse tauchte mit Blick auf die Deutsche Wirtschaftskommission so gut wie überhaupt nicht auf, eine zwiespältige oder unschlüssige nur selten.795 792 793 794 795 Diese und ähnliche Kommentare liegen vor zu Harald Schaumburg, Kurt Ritter, Rudolf Lang, Kurt D., Gerhard B., Kurt V., Franz H., Alfred Kr.; Quellenangaben und weitere Beispiele (Gerhard H., Wilhelm St.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 290. Vgl. Hübner, Einleitung, S. 11. Gemeint war Ernst Kaemmel, siehe: ZB II 3544, A. 7, Bl. 12, Der Präsident des Statistischen Zentralamtes und Vizepräsident der Deutschen Zentralfinanzverwaltung, Gleitze, Erklärung, vom 02.11.1946. Das Zitat entstammt einem Ermittlungsbericht im Rahmen der Entnazifizierung 1946. Auch der ehemalige Verwaltungsdirektor der Reichsschuldenverwaltung hatte Hellmuth T. hervorragende dienstliche Leistungen attestiert. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 291. Im großen und ganzen gute Kommentare ernteten Martin Bierbass, Werner Wa., Otto Kl., Hans W.; Quellenangaben und weitere Beispiele (Werner Wilcke, Otto Ka., Gerhard H., Wilhelm Salzer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 291 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 172 Über Hans Forsbach schrieb zum Beispiel die Werkleitung der VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB): »Kollege Dr. Forsbach [...] verfügt über ein sehr gutes theoretisches Wissen. Er bemüht sich nach Kräften, in der Industrieplanung festen Fuß zu fassen. Seine Zielsetzung ist theoretisch klar, jedoch bedarf sie praktisch noch der festen Fundamentierung und Klarheit. Seine Entwicklung ist positiv zu bewerten, sodaß in absehbarer Zeit die Aufgaben durch ihn gelöst werden können.«796 Das bedeutet übersetzt, dass Forsbach Schwächen in der Praxis hatte. Der Personalleiter des VEB bestätigte dieses Defizit: »Als hemmend für seine Arbeit erweist sich aber, dass er von der Landesebene kommend zu theoretisch an die Planaufgaben herangeht. Er bemüht sich aber, unter laufender Anleitung des Werkleiters diese Schwäche abzustellen.«797 Der ehemalige Pg. versuchte angeblich ständig, seine technischen Kenntnisse zu erweitern. Er habe aber eine gewisse Zeit für die Einarbeitung gebraucht.798 Über den Erfolg seiner Arbeit in Brandenburg liegen unterschiedliche Angaben vor. Personalleitung und BGL des Hennigsdorfer Werkes sprachen von „spürbaren und wesentlichen Erfolgen“, die sich nach der auf Forsbach zurückgehenden Reorganisation der Planungsabteilung schon nach kurzer Zeit gezeigt hätten.799 Im Gegensatz dazu kommentierte der Werkdirektor nach der Übersiedlung des Pgs. in den Westen lapidar: »Der Abgang des Koll[egen] Dr. Forsbach reist keine fühlbare Lücke.«800 Das kann auch eine Trotzreaktion gewesen sein. Insgesamt scheint Forsbach sein Aufgabengebiet aber tatsächlich nicht hundertprozentig beherrscht zu haben.801 Bereits als der frühere NSDAP-Angehörige noch bei der Landesregierung tätig war, urteilte das Brandenburger MdI über seine Arbeit am Investitionsplan für 1950: »Und es hat den Anschein, als ob er diese Frage nicht ganz fest in der Hand hat. Auch fehlt ihm oft die politische Beurteilung zu den einzelnen Plänen.«802 Auch in den Reihen des SEDLandesvorstandes zeigte man sich über die Wirtschaftsplanung, für die Forsbach verantwortlich war, unzufrieden.803 Trotz solcher Ausnahmen lässt sich aber festhalten, dass die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK als gute bis hervorragende Fachleute und einige sogar als absolute Spitzenkräfte galten. Bei soviel Respekt gegenüber der Arbeit der ehemaligen Nationalsozialisten wird nachvollziehbar, dass die Betreffenden bei den Kaderabteilungen erfolgreich von so manchen Zweifeln über ihre antifaschistische Reife ablenken konnten.804 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die genannten Einschätzungen dermaßen gut ausfallen, dass der Verdacht aufkommt, einige Verwaltungen könnten etwas übertrieben haben.805 Denn in Zeiten schlimmer Personalnot fürchteten viele Personalleiter um die Arbeitsfähigkeit ihrer Behörde. Einer Druckausübung seitens der HA Personal zwecks Entlassung politisch makelbehafteter, fachlich aber sehr wertvoller Angestellter wäre demnach vorzubeugen gewesen. Die Fachressorts machten den übergeordneten Kaderkontrolleuren folgerichtig die positiven 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB), Werkleitung, Beurteilung, vom 18.07.1951. DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB), Personalleitung, Steinert, an Ministerium für Maschinenbau, HV Elektrotechnik, Personalabteilung, Beurteilung, vom 11.09.1951. DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB), Personalleitung, Steinert, Beurteilung, vom 18.07.1951. DC 1 / 2601, VEM LEW Hennigsdorf, Betriebsgewerkschaftsleitung, Beurteilung, an die VVB des Elektromaschinenbaues, Personaldirektion, vom 03.01.1951. Über seine Arbeit hieß es zu diesem Zeitpunkt ferner, dass er fast den Plan für das Jahr 1953 fertiggestellt hatte, siehe: DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hans Beimler VEB, Werkdirektor, an Ministerium für Maschinenbau, Leiter der HV Elektrotechnik, vom 08.11.1952. Mehr Informationen hierzu in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 292 f. DC 1 / 2601, MdI [Brandenburg], Beurteilung, vom 23.01.1950. DC 1 / 2601, [Landesregierung Brandenburg, Kaderabteilung,] Protokoll der Sitzung in der Kaderabteilung am 4. Mai 1950 betreffs Angelegenheit Dr. Forsbach. Danyel, Macht, S. 77. Siehe das Beispiele Erwin Melms, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 293. Jens Kuhlemann – Braune Kader 173 Aspekte einer Weiterbeschäftigung schmackhaft, um wenigstens etwas Zeit zu gewinnen. Die Sorge, dass die HA Personal bei zu günstigen Charakteristiken eine Versetzung in eine ihr wichtiger erscheinende Dienststelle anordnen könnte, war offenbar zweitrangig. Dabei vertraten die Personalabteilungen der Hauptverwaltungen und Ministerien einerseits und die HA Personalfragen der DWK bzw. des MdI oder auch die SED-Parteiführung andererseits keine grundsätzlich verschiedenen Ansichten zur Kaderpolitik. Es ging jedoch um das Setzen von Prioritäten, um die manchmal verschieden eingeschätzte Dringlichkeit von Säuberungen und unterschiedliche Toleranzgrenzen. Bei den hier angesprochenen fachlichen und arbeitstechnischen Aspekten hat es sich jedoch, wenn man die überdurchschnittlich guten Bildungsabschlüsse, die Karriereverläufe sowie die Zeugnisse anderer Arbeitgeber, Parteiund Staatsorgane mit in Betracht zieht, wohl allenfalls um Nuancen und Überbetonungen gehandelt. Nicht jedoch um absichtliche Verfälschungen und eindeutig widersprüchliche Bewertungen. Mögliche Konflikte bestanden denn auch weit weniger in konträren Ansichten zur Arbeitsweise, als vielmehr etwa in denen zur Frage politischer Merkmale. Wie nehmen sich die genannten Qualifikationen der NS-Belasteten im Vergleich zum Gesamtpersonal aus? Das Ministerium des Innern erhob tatsächlich Statistiken darüber, wie die Qualifikation der Regierungsangestellten einzuschätzen sei. Ein Viertel bis ein Drittel aller Regierungsangestellten füllte ihre Funktion nach Meinung des MdI bzw. der jeweiligen Ministerien Mitte der fünfziger Jahre nicht voll aus. 2-5% des Gesamtpersonal sollten aus diesem Grund ausscheiden. In der Tendenz zeigt sich über zweieinhalb Jahre zwar eine Verbesserung. Doch ist festzustellen, dass selbst Ende 1956 noch immer ein erhebliches Kompetenzproblem und ein gravierender Mangel an geeigneten Fachkräften existierte. Ein Vergleich zur DWK oder zur Situation vor punktuellen Säuberungen wie der SEDMitgliederüberprüfung 1951, der weitere Fachleute zum Opfer fielen, wäre angesichts fehlender Quellen spekulativ. Ebenso eine Antwort auf die Frage, wie die Qualifikation gemäß anderer Kriterien als der des Ministeriums des Innern zu bewerten sei. Nichtsdestotrotz sind die Zahlen wenigstens in Relation zu den verschiedenen Positionshöhen zu setzen. Auf der mittleren Ebene (Referenten) und der unteren (Sachbearbeiter, Sekretärinnen etc.) gab es kaum Abweichungen von den genannten Werten. Bei den ungeeigneten Leitungskadern (HV-Leiter, Hauptabteilungsleiter etc.) ebenfalls nicht. Diejenigen leitenden Mitarbeiter hingegen, die ihrem Aufgabengebiet nur eingeschränkt gerecht wurden, lagen 2-6% unter dem Durchschnittswert. Auf der anderen Seite zählten diejenigen Leitungskader, die ihre Funktion voll ausfüllten, 2-6% mehr als der Mittelwert. Das MdI schätzte die leitenden Mitarbeiter also als tendenziell etwas leistungsfähiger ein als die mittleren und übrigen Verwaltungsangestellten. Am zufriedensten waren die Kaderverantwortlichen jedoch mit dem technischen und dem Fachpersonal. Sie setzten bei beiden Gruppen den Prozentsatz der voll verwendungsfähigen Angestellten auf insgesamt 8992% an. Im Kreis der nur teilweise ihre Funktionen ausfüllenden Mitarbeiter verharrte der Wert unter den technischen Kräften bei lediglich 6-8%. Beim Fachpersonal sank er von insgesamt 14 auf 8% und rangierte damit ebenso deutlich niedriger als bei den eigentlichen Verwaltungskadern. Bei den wegen mangelnder Qualifikation zur Veränderung vorgesehenen Angestellten lagen die Werte für das technische und das Fachpersonal nur halb so hoch wie der Durchschnitt.806 Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass die Kaderverantwortlichen die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK insgesamt als qualifizierter und leistungsfähiger beurteilten als ihre Kollegen. Wie verhielt es sich nun mit den anderen zu Beginn des Kapitels genannten Merkmalen „fortschrittlicher Arbeitsmethoden“, zum Beispiel mit dem Teamgeist und der Volksnähe? Eine ganze Reihe von NS-Belasteten wurde als „kollegial“ oder „sehr kollegial“ beschrieben. Sie hätten sich um ein gutes Verhältnis zu allen Angestellten bemüht und sich ihnen gegenüber einwandfrei, offen, verträglich, kameradschaftlich und korrekt benommen. 806 Eine grafische Darstellung siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 294 f. (Abb. 44). Jens Kuhlemann – Braune Kader 174 Anderen wurde zumindest ein durchaus „korrektes“ Verhalten gegenüber nachgeordneten Mitarbeitern bescheinigt. In diesem Zusammenhang wurde einigen wenigen Kadern auch expressis verbis die Fähigkeit zur Anleitung bestätigt.807 Fast nie hingegen bescheinigte man mangelndes Durchsetzungsvermögen, Unsicherheit oder Unentschlossenheit. Mangelnde Kommunikationsfähigkeit wie die Vermeidung jeder Stellungnahme zu wirtschaftlichen Problemen wurde, sofern sie bezüglich der Ex-Nationalsozialisten überhaupt Erwähnung fand, beispielsweise mit dem Stereotyp des „alten Beamten“ in Verbindung gebracht, der für moderne Arbeitskonzepte wie „Kritik und Selbstkritik“ nicht empfänglich war. Eher selten wurden allerdings auch gute Verbindungen zu Betrieben, zur Partei und zu den Massenorganisationen hervorgehoben. Ebenfalls außergewöhnlich sind Beurteilungen, die ausdrücklich eine von den Mitarbeitern abgekapselte Arbeitsweise unterstreichen.808 Zu den Ausnahmen gehörte Hans Forsbach, in der DWK Abteilungsleiter und später dann in einem Industriebetrieb tätig. Über letztere Berufsphase hieß es: »Allgemein wird über Forsbach gesagt, dass er absolut keine Verbindung zu den Arbeitern des Betriebes hatte, sondern seine Tätigkeit nur vom Schreibtisch aus erledigt.«809 Er soll eine gewisse Arroganz ausgestrahlt haben. Charakterisierungen, die von Selbstüberschätzung und Hochmut gegenüber Kollegen sprechen, weil sie zum Beispiel unter respektheischender Betonung ihrer Position als Regierungsangestellter bestimmte Forderungen stellten, waren ebenso absolute Einzelfälle. Wenn sie vorkamen, dann sprachen die Kaderverantwortlichen auch abwertend von „Intellektuellen“.810 Sie stehen solchen NS-Belasteten gegenüber, die durch ihren unprätentiösen Umgang auffielen. So schrieb das Ministerium für Industrie 1949 über ein ehemaliges NSDAP-Mitglied: »Er besitzt nicht die bei juristischen Akademikern oft vorhandene Überheblichkeit. Er ist im Gegenteil durch sein bescheidenes und zurückhaltendes Wesen, durch sein kollegiales Zusammenarbeiten bei den Mitarbeitern geschätzt.«811 Diese Worte verdeutlichen, dass bei der Frage nach Gruppenfähigkeit oder Elitedenken natürlich auch der Konflikt zwischen Arbeitern und Intelligenz hineinspielte. Die Fachleute stellten besondere Maßstäbe an die Qualität einer Arbeit. Wenn die weit weniger gebildeten Proletarier dabei jedoch registrierten, dass die Experten sie aufgrund ihrer fachlichen Fähigkeiten auch noch unverhohlen herabwürdigten, nahmen sie es ihnen übel. Bescheidenheit und ein egalisierender Habitus standen hingegen hoch im Kurs. Wie skizziert scheinen sich entsprechende bekannt gewordene anstößige Vorkommnisse bei den ehemaligen Nationalsozialisten jedoch sehr in Grenzen gehalten zu haben. Auch eine verallgemeinerbare Affinität zu autoritären Führungsstilen lässt sich aus den vorstehenden Ausführungen nicht ableiten.812 Die politischen Vorgaben und die strikten Kontrollen werfen weiterhin die Frage auf, inwiefern die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder als Dienstklasse die gewünschte Kreativität am Arbeitsplatz entfalten oder gar Impulse für Reformen einleiten konnten.813 Die Mangelwirtschaft verhalf dabei solchen Kadern zum Erfolg, die durch Organisationstalent, Ideen und Improvisationsvermögen Versorgungslücken schließen konnten und eigenverantwortlich komplexe Vorgänge gestalteten.814 Tatsächlich bescheinigten die 807 808 809 810 811 812 813 814 Entsprechende Beispiele sind: Heinz König, dem die ZKSK ein Bemühen um „fortschrittliche Arbeitsmethoden“ attestierte, Kurt Ritter, Konstantin Pritzel, Wilhelm Salzer, Hans Mat., Walter F., Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 295. Vgl. Hübner, Menschen, S. 355. Weitere Details zu Forsbach und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 295. Beispiele (Heinz Fengler, Josef Schaefers, Wilhelm Salzer) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 296. Das letzte Zitat bezieht sich auf den Angestellten Werner P., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 296 (dort auch Quellenangaben für ein Beispiel aus einer nachgeordneten Dienststelle). Vgl. Hübner, Menschen, S. 353. Vgl. Hübner, Einleitung, S. 35. Hübner, Menschen, S. 348. Jens Kuhlemann – Braune Kader 175 Kaderverantwortlichen den beschäftigten NS-Belasteten manchmal, Einfallsreichtum zu besitzen und eigene Initiative zu entwickeln, aber auch selbständig,815 zuverlässig, pflichttreu und verantwortungsbewusst zu handeln. Besonders gewissenhafte Arbeitsausführung war ein weiteres Merkmal. Formalismus wurde hingegen fast nie kritisiert,816 ebenso wenig eine Scheu vor der Übernahme von Verantwortung.817 Hinzu kamen vereinzelt Wissbegier und eine schnelle Auffassungsgabe.818 Eine fachliche Innovationsfähigkeit liegt daher nahe. Politische Modernisierungsanstöße gingen von den Ex-Nationalsozialisten jedoch ganz sicher nicht aus. Hin und wieder finden sich Betonungen eines Arbeitsstils, der Gründlichkeit, Akkuratesse und Genauigkeit besondere Wertschätzung entgegenbrachte. In diesem Zusammenhang urteilte das Ministerium für Industrie 1949 über Josef Schaefers: »Herr Dr. Schaefers hat in der Chemie reiche Erfahrungen und eine große Übersicht, die wir für eine Koordinierung unserer Produktionsaufgaben brauchen. Er hat das Verantwortungsbewußtsein, das wir von einem Mitarbeiter in seiner Stellung fordern müssen.« Doch die Verantwortung zu übernehmen, obwohl der Apparat nur fehlerhaft funktionierte, bereitete dem Kader keine Freude. So hielt eine SED-Prüfkommission 1951 über Schaefers fest: »Mit der Arbeit in der HV Chemie ist er nicht zufrieden, es geht ihm alles zu langsam. Oft scheitere man an der ungenügenden Sorgfalt bei der Arbeit. Er sei aus der Industrie höchste Ordnung gewöhnt, aber in der Verwaltung würden unvollständige Arbeitsunterlagen geliefert, schlecht erstellte Statistiken, die dann die Arbeit erschweren.«819 Die monierte mangelnde Zuverlässigkeit kann theoretisch natürlich auch eine Entschuldigung für Unzulänglichkeiten gewesen sein, die der ehemalige Gasschutzlehrer der SA selbst zu verantworten hatte. Grundsätzlich war Kritik an Personen darüber hinaus geeignet, programmatische und strukturelle Defizite, wie sie zum Beispiel in der Planwirtschaft vorkamen, auszublenden.820 Doch mir scheinen Exaktheit und Effizienz Wesensmerkmale zu sein, die jemandem, der wie Schaefers fast dreißig Jahre lang in der chemischen Industrie gearbeitet hatte, sehr wohl in Fleisch und Blut übergehen konnten. Einigen NS-Belasteten wurden zudem explizit gute anleitende, koordinierende und organisatorische Fähigkeiten sowie Zielbewusstsein zuerkannt. Demgegenüber gab es Fälle, bei denen die Kaderverantwortlichen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern für die Arbeit in der Verwaltung trotz guten Willens eine „fehlende Systematik“ attestierten.821 Die Verwaltungsarbeit lag ihnen nicht, und sie waren als „Praktiker“ beispielsweise in der Produktion besser aufgehoben. Bei einigen NS-Belasteten wurde darüber hinaus mehrfach ein leichtfertiger Umgang mit vertraulichen Materialien beanstandet. Andere hätten mitunter wochenlang bestimmte Angelegenheiten unbearbeitet gelassen, ihre Aufgaben nicht vorbereitet und sich deswegen von ihren Vorgesetzten eine Rüge sowie einen 815 816 817 818 819 820 821 Selbständigkeit war natürlich nur innerhalb des vorgegebenen politischen und verwaltungstechnischen Rahmens zu entwickeln. Zu individuellen Entscheidungskompetenzen siehe das Beispiel der DJV, in der nur wenig Spielräume für Alleingänge und „quer“ verlaufende oder gar faschistoid geprägte Arbeitsinhalte blieben, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 296 f.; vgl. Werner B., in: ebd. So bei Bernd Veen, Erwin Melms, Werner Wilcke, Otto Kl., Kurt D., Wilhelm Salzer, Martin Bierbass. Siehe auch Ernst Hennig und seltene Negativschilderungen (Herta Ludwig, Gerhard B.) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 297. Siehe den Fall Hans Forsbach, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 297. Siehe das Beispiel Günther Kromrey, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 297. DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 16, Protokoll der Sonderkommission , [SED-Mitgliederüberprüfung,] vom 03.04.1951; Kuhlemann, Kader (2005), S. 298. Die Machtelite führte mangelhafte Arbeitsergebnisse auf individuelle Fehler der Kader zurück, um die Unfehlbarkeit des Sozialismus zu verteidigen und sich selbst gegen Kritik zu immunisieren. Dabei half ihr eine traditionelle Staatsorientierung und Unterordnungserwartung, siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 60 f. So die HV Wirtschaftsplanung über Günther Kromrey, siehe: BStU, AP 15627/56, Bl. 13, [DWK,] HV Wirtschaftsplanung, Charakteristik, vom 02.07.1949 (Abschrift). Jens Kuhlemann – Braune Kader 176 Prämienausschluss eingehandelt.822 Als Grund für Letzteres dürfen wir im Regelfall entweder Überlastung oder einfach Schlamperei vermuten. Wie so viele ihrer Kollegen empfanden auch frühere Pgs. im Personalstamm etliche Sicherheitsvorschriften als zu umständlich, übertrieben oder ihrem Zweck nach nicht nachvollziehbar. Hinzu kam die drückende Last, eine Unzahl von Aufgaben termin-, form- und sachgerecht zu erledigen, was oft ein Ding der Unmöglichkeit war. Eine besonders harsche Kritik an der Arbeitsweise des ehemaligen NSDAPAngehörigen und Abteilungsleiters Bernd Veen unterbreitete ein hoher Verwaltungsfunktionär aus dem Ressort für Land- und Forstwirtschaft der Zentralen Kontrollkommission. Er forderte die Entbindung Veens von seinen Aufgaben wegen wiederholt auftretender Verfehlungen: »Am 20.8.49 habe ich erneut in Form einer dienstlichen Charakteristik über V[een] zu den wiederholt aufgetretenen Fällen von Unzuverlässigkeit, Unaufrichtigkeit und Nachlässigkeit in der Arbeit Stellung genommen, wobei ich bereits die damals gerade bekanntgewordenen Machenschaften des V[een] anläßlich des Kompensationsgeschäftes der Landesregierung Sachsen-Anhalt mit dem westen (Holz- [für] forstliche Werkzeuge) hinwies und keinen Zweifel darüber ließ, daß die leichte, oberflächliche Art des V[een], seine Wandelbarkeit in seinen Anschauungen und sein mangelndes Klassenbewußtsein ihn für seine derzeitige Funktion nicht geeignet erscheinen lassen.« Der Beschwerdeführer zitierte ein weiteres Schreiben von ihm, »in dem auf die schlechte Arbeit des Gen[ossen] Veen in der Nachwuchsfrage der Forstwirtschaft hingewiesen wurde und zum Ausdruck kam, daß in der Person des Gen[ossen] Veen nicht die Kraft gesehen wird, die fortschrittliche Veränderungen hierin herbeiführen kann.« Eine gleiche Einschätzung sollen diverse andere Organe und Personen vertreten haben, darunter die Landesregierung Mecklenburg, das Landesforstamt und bestimmte Kreise im Forstapparat.823 Bei dem erwähnten Kompensationsgeschäft ließ Veen angeblich staatliche Gelder in Höhe von ca. 3000 DM (Ost) zu seinen Gunsten verrechnen. Außerdem habe der ehemalige NSDAP-Angehörige als verantwortlicher Leiter einer Überprüfungskommission ohne Zustimmung der HA Forstwirtschaft „wegen angeblich entstandener besonderer Auslagen“ einen „Beschluß fassen lassen“, jedem Mitglied der Kommission eine zusätzliche Vergütung von täglich 20 DM auszuzahlen. Mit einer Übersiedlung in den Westen kam Veen einer möglichen Absetzung oder Schlimmerem zuvor. Trotz hervorragender Fachkenntnisse kennzeichneten also nach Ansicht diverser Funktionäre mangelnde Seriosität, Unehrlichkeit, minimales Beharrungsvermögen und geringe Ernsthaftigkeit den persönlichen Umgang des ehemaligen Pgs. mit seinen Mitarbeitern. Bemerkenswert ist die Verbindung all dieser Umschreibungen mit einem fehlenden politischen Hintergrund, fast so als würden die skizzierten Verfehlungen bei klassenbewussten Menschen nicht auftauchen können. Bei den Geldbeträgen hat es sich offenkundig um Fälle von Korruption, Bereicherung und Kompetenzüberschreitung gehandelt.824 Doch selbst hier ist die Frage erlaubt, ob die Begünstigten ohne ein monetäres „Extra“ überhaupt willens gewesen wären, die Arbeit so, wie sie von den Planern erwartet wurde, durchzuführen. Finanziell lukrativ war die Verwaltungsarbeit insbesondere für Spitzenkräfte, die in der Wirtschaft weit mehr verdienen konnten, jedenfalls nicht. Und um den beim letzten Beispiel gewonnenen Eindruck der kriminellen Energie wieder etwas zu relativieren, sei ein Pg. und DWK-Referent angeführt, der der ZKK auf Grundlage der Wirtschaftsstrafverordnung eine Frau wegen Verschiebens von seidenen Damenstrümpfen nach West-Berlin meldete. Außerdem drückte er in einem anderen Fall von Lebensmittelverschiebung seine Unzufriedenheit mit dem laxen Vorgehen der 822 823 824 Namentlich Franz Woytt, Wilhelm Salzer, Werner P., Walter F.; Quellenangaben und das Beispiel Alfred Kr. siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 299. Quellenangaben und weitere Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 299. Siehe auch den Fall Hans Forsbach, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 300. Jens Kuhlemann – Braune Kader 177 Kriminalpolizei aus und bat um eine eingehende Untersuchung.825 Beide wohl eher geringfügigen Vorgänge fielen dem ehemaligen NSDAP-Mitglied im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit auf und veranlassten ihn als „Musterkader“ zu Denunziation und Scharfmacherei, mit möglicherweise gefährlichen Konsequenzen für die Betroffenen. Der zuletzt dargestellte Fall soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Personalverantwortlichen vom Verhalten der Pgs. am Arbeitsplatz in der Regel äußerst angetan waren. Davon zeugen auch so manche Beschreibungen, die ihnen reges Interesse, ausgesprochene Freundlichkeit, zuvorkommende Hilfsbereitschaft und einen gediegenen Umgang bescheinigten. Hinzu kamen vereinzelt Erwähnungen von Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Geschick.826 Angesichts von soviel Vertrauen und Bestätigung, die den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der DWK und den DDR-Ministerien entgegenschlugen, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auch einmal Verdacht erregten. Denn wer sich allzu unauffällig gab, machte sich dadurch anscheinend schon wieder auffällig. Die Durchschaubarkeit der Handlungen musste Bestand haben. Zumindest im Einzelfall fürchteten Kaderleiter – ganz eins mit der hypermisstrauischen Hysterie des Stalinismus und Kalten Krieges –, dass die Spezialisten dank ihrer geistigen Fähigkeiten unerkannt etwas im Schilde führen und Schaden anrichten könnten. Sie hätten die Kontrollmechanismen täuschen können, so dass Vorsicht und erhöhte Wachsamkeit angemahnt wurden. Der Verfasser einer Analyse des Finanzministeriums urteilte über einen ehemaligen Pg. und DWK-Mitarbeiter, er sei »ein versierter Jurist, der Gen[osse] K[...] eine wertvolle Stütze war. Seine ausserordentliche Redeg[e]wandtheit und sein Verhandlungsgeschick machen es nur schwer möglich, ihn intensiv zu beurteilen und einen wirklichen Kontakt zu ihm herzustellen. Er versteht es ausgezeichnet, gewisse Dinge, die ihm nicht ganz angenehm sind, zu bagatellisieren und mit geschickten Redensarten darüber hinwegzugehen. Er ist Mitglied des Zentralvorstandes der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und durch seine weit überdurchschnittliche Intelligenz, verbunden mit den oben erwähnten Fähigkeiten, zu einem wertvollen Mitarbeiter dort geworden. Nach unseren bisherigen Feststellungen hat er keinerlei schädliche Tendenzen entwickelt. M[eines] E[rachtens] ist er ein Mensch, der die Situationen klar erkennt und rein verstandesmässig sich darauf einstellt. Die Qualitäten eines Abteilungsleiters besitzt er unbedingt, jedoch muss die Wachsamkeit in Bezug auf seine Arbeiten von Seiten der Direktion besonders auf ih[n] gerichtet sein.«827 Eine Methode zur Kontrolle am Arbeitsplatz war die Beiordnung von politisch einwandfreien Mitarbeitern an die Seite verdächtiger Kader. Sie sollten die Betreffenden auf Schritt und Tritt im Auge behalten und sicherstellen, dass deren gute Fachqualitäten bei der Anwendung die „richtige“ Linie einschlugen.828 Um die Palette der positiven Arbeitseigenschaften zu vervollständigen, sei im Weiteren auf ein überaus verbreitetes Merkmal unter den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK hingewiesen: ihren außerordentlichen Fleiß. Verschiedene Staats- und Parteiorgane beurteilten ihre Bereitschaft zur Mitarbeit fast durchweg als beeindruckend.829 Einige der hierbei gewählten Attribute hießen „einsatzbereit, arbeitswillig, arbeitsam, rührig, energisch“. Die NS-Belasteten hätten unermüdliche und bemerkenswerte, vorbildliche und nie erlahmende Einsatzfreude gezeigt. Ihre Ausdauer und Energie sei erstaunlich gewesen, ihr 825 826 827 828 829 Der betreffende DWK-Mitarbeiter war Hans W., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 300. Teilweise traten solche Charakterisierungen schon in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ auf. So bei Wilhelm St., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 300 f. Der betreffende Pg. war Leitungsfunktionär Ernst Kaemmel. Weitere Details zu dessen Arbeitsweise siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 301. Ein Beispiel (Egon Wagenknecht) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 301. Zu Beispielen für positive Beurteilungen von NS-Belasteten in nachgeordneten Dienststellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 302. Jens Kuhlemann – Braune Kader 178 Eifer sehr groß.830 Soviel Aktivität darf nicht verwundern, denn Aufopferung am Arbeitsplatz galt als Zeichen für die Unterstützung der neuen Staatsordnung. Zusätzlich demonstrierten die Pgs. dadurch bußfertige Reue hinsichtlich der eigenen politischen Belastung. So hieß es über ein NSDAP-Mitglied, er habe als hilfsbereiter Fachmann ersten Ranges seine Kenntnisse rückhaltlos zur Verfügung gestellt, unermüdlich am Aufbau mitgearbeitet und damit »bewiesen, daß er mit dem Geist des Nazismus gefühlsmäßig nicht einverstanden war«. Der ehemalige Pg. habe sich aus einem innerem Gefühl heraus konsequent in den Dienst der neuen Sache gestellt.831 Emsigkeit zugunsten des Sozialismus war also ein essenzielles Element der Bewährung. Sie galt als Beleg dafür, nur ein formaler und kein überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein. Denn ein „uneinsichtiger Nazi“ hätte nie mit anhaltendem Tätigkeitsdrang den kommunistischen Todfeinden dabei Hilfe geleistet, ihre Weltordnung durchzusetzen. Die schon während der Entnazifizierung abverlangte Bewährung in harter, körperlicher Arbeit setzte sich also nach der Rückkehr in die Verwaltung in Form eines geradezu erwarteten Ausmaßes an besonders tüchtigem Einsatz fort. Dem genügten die Pgs. vollauf. Allerdings war es sowohl für die Personalverantwortlichen als auch für die NS-Belasteten selbst kein großes Problem, Arbeitseifer und erfolgreiche Berufsausübung entweder auf eine individuelle politische oder eine rein fachliche Motivation zurückführen, je nach Adressat und Absicht. Keine Hinweise gibt es mit Blick auf das NS-Sample darauf, dass Fleiß und Wissensdrang als Tarnung eines Spions erachtet wurden, der sich auf diese Weise in immer höhere und vertraulichere Kreise vorarbeiten wollte. Welche innere Motivation auch immer ausschlaggebend war – Tatsache ist, dass sich sehr viele NS-Belastete nach 1945 bemühten, durch besonderen Eifer eine persönliche Wiedergutmachung für ihre Mitverantwortung am NS-Regime zu bekunden. Sie wollten mit pflichtbewusster Einsatzbereitschaft ihre Loyalität gegenüber einem antifaschistischen System unter Beweis stellen. Dabei nahmen sie entweder billigend in Kauf, eine neue Diktatur aufzubauen, oder befürworteten den Sozialismus sogar als Konsequenz der Geschichte.832 Die Machtelite zog aus dem überdurchschnittlichen Arbeitseinsatz ehemaliger NSDAP-Mitglieder natürlich ihre Vorteile bei der Festigung der Nachkriegsverhältnisse. Das geschah im Angesicht einer in weiten Teilen der berufstätigen Bevölkerung nach 1945 eher sinkenden Arbeitsmoral, die durch hohe Arbeitsnormen, Abgabeauflagen etc. bei verhaltenen Zuwächsen und Versorgungsverbesserungen provoziert wurde. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Arbeitswut neben ihrer Eigenschaft als bewusst politisch gedachtes Beweismittel genauso gut dem ursprünglichen Wunsch entsprungen sein konnte, sich nach den schlechten Erfahrungen mit dem „Dritten Reich“ in das unpolitische Berufs- und Privatleben zurückzuziehen. Diese Motivation war schließlich auch in der westdeutschen Bevölkerung eine verbreitete Grundstimmung. So gesehen hätte ein Berufsethos, sich in der Arbeit selbst zu verwirklichen, ohne ständig an politische Bedingungen und eine durch ihre Beachtung eröffnete Karriere zu denken, mithin der Stolz auf saubere, gute „deutsche“ Wertarbeit eine wichtige Rolle gespielt.833 Es gab allgemein auch die Motivation aufgrund 830 831 832 833 So bei Konstantin Pritzel, Werner Wilcke, Wilhelm Salzer, Kurt D., Franz H.; Quellenangaben und das Beispiel Wilhelm W. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 302. Entnommen einer Charakteristik des Brandenburger Ministeriums für Wirtschaftsplanung aus dem Jahr 1947 über den späteren DWK-Referenten Friedrich S., siehe: ZB II 4519, A. 7. Nach Manfred Wille ließen sich die aufbauwilligen Pgs., „ohne daß der Mehrheit von ihnen es zunächst bewußt wurde“, für die Errichtung eines stalinistischen Systems missbrauchen. Während in der Provinz der SBZ viele noch an eine Beibehaltung freiheitlich-demokratischer Grundelemente glaubten, war in den Deutschen Zentralverwaltungen besonders frühzeitig klar, dass die KPD/SED die Macht für sich alleine beanspruchte und den Pluralismus immer weiter zurückdrängte, siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 213; Kuhlemann, Teufel. Zu ähnlichen Feststellungen kommt Alf Lüdtke bereits in Hinblick auf Industriearbeiter, siehe: Lüdtke, Helden, S. 189-191. Jens Kuhlemann – Braune Kader 179 einer besonderen persönlichen Beziehung zu Kollegen, die Freunde waren oder hohes Ansehen genossen und die einander beistanden und die Bewältigung von Aufgaben gemeinsam angingen.834 Doch selbst wer für sich im Stillen ein solches Selbstverständnis entwickelt hatte, konnte im zentralen Staatsapparat der faktisch alles überformenden Politik nicht aus dem Weg gehen. Nicht zuletzt die ideologisch bedingte Aufwertung der Arbeit als Grundlage der gesellschaftlichen Verhältnisse interpretierte Tüchtigkeit und die besondere Qualität einer Arbeit als Zeichen von Klassenbewusstsein. Und beiläufig erfüllte die Strebsamkeit der Ex-Nationalsozialisten so ihre Bewährungsfunktion.835 In Zusammenhang mit Indizien für gute Arbeitsleistungen ist noch auf verschiedene Formen der Belohnungen hinzuweisen. Eine Arbeitsweise, die den Vorstellungen der Kaderverantwortlichen in besonderem Maße entsprach, honorierten diese zum Beispiel mit der Verleihung von Titeln und Orden. Die Ehrenden belohnten auf diese Weise öffentlich „positive“ Verhaltensmuster und manifestierten so bestimmte Werte. Außerdem waren solche „weichen“ Herrschaftsmittel eine billige Methode, um die Geehrten stärker an sich zu binden. Denn ihr Wert bestand vor allem in symbolischem Kapital, weniger in finanziellem, wie es bei Geldprämien der Fall war. Kein Wunder also, dass es in der ständig devisenschwachen DDR haufenweise Verleihungen von Orden etc. gab. Sie „erhoben“ die Geehrten in einen Status, durch den sie sich von ihren Mitmenschen unterschieden. Hierbei vom Merkmal einer Elitezugehörigkeit zu sprechen, erscheint wegen der fast inflationären Vergabepraxis allerdings nur bei höheren Auszeichnungen gerechtfertigt.836 Das Prestige stieg grundsätzlich jedoch auf jeden Fall, nach eigener und äußerer Wahrnehmung. Besondere Verleihungszeremonien wirkten dabei als pointierte Verstärker von Ehr- und Pflichtgefühl. Der Wert beziehungsweise das Ansehen der Auszeichnungen beruhte dabei auf dem Ansehen, das der Aussteller genoss.837 Eine stärkere Verbundenheit kam also kaum zustande, wenn ein gelobtes ehemaliges NSDAP-Mitglied grundsätzliche Identifikationsprobleme mit dem ostdeutschen Herrschaftssystem hatte. Und die Reputation des offiziell ausgezeichneten Pgs. konnte sogar abnehmen, wenn sein soziales Umfeld in diesem Vorgang einen Beleg für dessen Übereinstimmung mit dem verhassten Kommunismus sah. Umgekehrt reagierten Befürworter des Staates DDR natürlich positiv. Eine diesbezügliche Differenzierung hing offenbar sehr von der Art der Belohnung ab. Hohe Orden waren anders zu beurteilen als die fast obligatorischen für die breite Masse, Anerkennungen für überwiegend fachliche Leistungen anders als solche mit primär politischem Charakter. Die persönliche Motivation für eine belohnte Aktivität, zum Beispiel ideologischer Idealismus oder technokratisches Berufsethos, war für Außenstehende allerdings oft schwer zu erkennen. Die Ehrung durch die Machthabenden in Anlehnung an deren Wertekatalog verdeutlichte den Ausgezeichneten und ihrer Umgebung jedenfalls, dass die Geehrten akzeptiert wurden und sich als Teil der Gemeinschaft sogar besonders verdienstvoll verhielten. Eine solche uneingeschränkte Bewährungsbestätigung war für ehemalige NSDAPAngehörige nach den Jahren der Isolierung umso wichtiger. In Berlin hatte es auch bei Prämierungen während der Entnazifizierung noch Fälle von Ungleichbehandlungen gegeben. Frühere Pgs. blieben zwar rechtlich nicht immer von besonderen Zuweisungen ausgenommen. Die Behördenleiter drückten aber manchmal noch symbolisch ihre Abneigung gegen sie aus und bestellten ihnen im Gegensatz zu anderen Angestellten zum Beispiel keine Glückwünsche – eine faktische Ausgrenzung durch menschliche Missachtung.838 Im 834 835 836 837 838 Zimmermann, Überlegungen, S. 350. Zur Arbeitsmoral ehemaliger SS-Angehöriger vgl.: Eschebach, Elemente, S. 202 f. Vgl. Westdeutschland, wo Ordensträger immer wieder aus einer elitären Gruppe von Trägern mit viel kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital stammten, in: Hornbostel, Vertreter, S. 199 f. Hornbostel, Vertreter, S. 199 f. Glückwünsche der Dienststellenleitungen an frühere Nationalsozialisten, die unter Einbeziehung vor 1945 geleisteter Dienstzeiten in einem besonders langen Beschäftigungsverhältnis, etwa bei der Post, standen, unterblieben zumindest in einigen Ostberliner Dienststellen. So steht in einem Beschluß des Jens Kuhlemann – Braune Kader 180 Allgemeinen durften NS-Belastete eine öffentliche Belobigung jedoch als weiteren Schritt zu ihrer Wiedereingliederung betrachten. Sie konnten sicherer auftreten und mehr riskieren, weil ihr „Marktwert“ sichtbar gestiegen war.839 Die Abhängigkeit, die in dem besonderen Bewährungsverhältnis der Pgs. begründet lag, nahm also etwas ab. Zugleich verstärkte die soziale Hervorhebung durch Privilegierung tendenziell Loyalität und Bindungskraft zu der Ressourcen verteilenden Machtelite. Auszeichnungen wurden in den Kaderakten vermerkt und spielten eine Rolle bei der Karriereentwicklung. Besonders die wenigen Minister, Mitglieder des Ministerrates und Angehörigen der Ministerialverwaltung verfügten daher im Vergleich zu anderen Kadern bald über besonders viel „symbolisches Kapital“ in Form von Auszeichnungen.840 Für die DWK-Periode sind allerdings nur sehr wenige Verleihungen an ehemalige Pgs. bekannt. Doch auch in der Wirtschaftskommission waren sie unter den ersten „Aktivisten“ vertreten.841 Die Ehrenbezeugungen setzten für einige der in der DWK beschäftigten ehemaligen Nationalsozialisten dann nach der Staatsgründung erst richtig ein. Sie erhielten eine ganze Reihe von Orden und Auszeichnungen, vereinzelt auch sehr hohe. Dazu zählten die zum Bestarbeiter, die Medaille für ausgezeichnete Leistungen, die Verdienstmedaille der DDR, der Nationalpreis der DDR sowie die Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, Silber und Gold.842 Oftmals waren Orden und Auszeichnungen mit einer Geldprämie gekoppelt. Prämien wurden aber auch isoliert verliehen, als Anreiz und Bestätigung für die Leistung erwünschter Arbeitsergebnisse. Die Zahlungen an die Ex-Nationalsozialisten betrugen meist 200-500 DM (Ost), selten um 1000 DM. Sie erfolgten fast alle ab Ende des Jahres 1949, also nicht in der Wirtschaftskommission. Ob der Grund dafür Überlieferungsprobleme oder Vorbehalte gegenüber den Pgs., Geldmangel oder fehlende Verbreitung des Prämiensystems darstellten, sei dahingestellt. Ihre Arbeitsleistung in der DWK war sicherlich mit der in den DDR-Ministerien vergleichbar. Ebenso interessant, aber nur spekulativ zu beantworten ist die Frage, ob die Empfänger auch ohne finanzielle Sonderzuweisungen überdurchschnittlichen Einsatz gezeigt hätten. In Einzelfällen sind Häufungen von Prämien oder Auszeichnungen nachweisbar. Auch die Möglichkeit, eine Wohnungszuweisung als besondere Anerkennung zu vergeben, ist belegt. Zur Begründung wurden die schon genannten positiven Arbeitsergebnisse und –weisen angeführt. So hieß es zum Beispiel, die bedachten NSBelasteten hätten überdurchschnittlichen, „rücksichtslosen Einsatz“ und außerordentliches Geschick demonstriert. Darüber hinaus sollen sie vorbildliche, besondere und „weit überdurchschnittliche Leistungen“ gezeigt haben.843 Ein Leitungsfunktionär kam wegen 839 840 841 842 843 Hauptpersonalamtes des Magistrats von Groß-Berlin: »Von der Aushändigung eines Glückwunschschreibens ist bei der Gewährung von Treugeld an fr[ühere] Parteigenossen zweckmässig abzusehen«. Steigerungen solcher Ungleichbehandlungen – etwa Fälle einer Aberkennung von Auszeichnungen als Sanktionsmöglichkeit – sind im Rahmen dieser Arbeit hingegen nicht bekannt geworden, siehe: DM 3 / 284, Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung für Post- und Fernmeldewesen, an alle Ämter des Bezirks u[nd] die Staatsdruckerei, betr.: Anrechnung von Dienstzeiten bei wiedereingestellten fr[üheren] Angehörigen der NSDAP im Arbeiterverhältnis, vom 23.08.1948 (Abschrift). Zimmermann, Überlegungen, S. 343 f. NSDAP-Mitglied und DDR-Minister Hans Reichelt erhielt zum Beispiel den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, das Banner der Arbeit (St. 1) und den Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland in Silber, in: Kappelt, Braunbuch, S. 336 f.; Nationalsozialisten (1965), S. 75; Hornbostel, Vertreter, S. 201. Eine Statistik zur Einstellung von Aktivisten aus Produktionsbetrieben siehe in: DO 1 / 26.0, 17367, 374/51/1/1. Details zu Auszeichnungen an Angehörige des NS-Samples (Cramer, Stübner, Salzer, Woytt, Gerstner, Kaemmel, Ritter, Naake, Wagenknecht, Gerhard H., Ilse H., Kurt D., Hans Mat.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 305 f.; Kappelt, Braunbuch, S. 344. Eine Prämienvergabe oder in wenigen Fällen ein entsprechender Vorschlag mit höchstwahrscheinlich anschließender Verleihung war feststellbar bei Harald Schaumburg, Ferdinand Beer, Konstantin Pritzel, Heinz Cramer, Heinz König, Franz Woytt, Alfred Kr., Gerhard H., Kurt D., Heinz Fr., Arthur G., Erich J.; weitere Beispiele (Ernst Hennig, Kurt Ritter) und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 306. Jens Kuhlemann – Braune Kader 181 entscheidender Mitarbeit an der Planerstellung in Vorschlag.844 Ein Dolmetscher unter ihnen erhielt schließlich einen Betrag von 200 DM, weil er Arbeiter und Intelligenz zu einem Erfahrungsaustausch zusammenbrachte und dadurch die Produktqualität verbessert werden konnte.845 Selbst wenn diese Beurteilungen etwas geschönt gewesen sein sollten, geben sie doch einen Eindruck davon, dass die prämierten braunen Kader gegenüber ihren leer ausgehenden Kollegen eine Anerkennung ihrer Arbeitsweise und -erfolge erfuhren. Abschließend ist zu resümieren, dass die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK ihrer Arbeit ganz überwiegend mit guten bis ausgezeichneten Resultaten nachgingen. Ihr fachlicher Ruf war entsprechend. Signifikant war auch der weit verbreitete Fleiß. Beides zog manchmal symbolische Anerkennung in Form von Prämien und Auszeichnungen nach sich. Die ehemaligen Nationalsozialisten scheinen eher kollegial als elitär und mehr zuverlässig als unzuverlässig gewesen zu sein. Ein besonderer Hang zum Bürokratismus findet sich in den Quellen nicht. Demgegenüber besaßen einige gute organisatorische Fähigkeiten. Ansonsten hat es neben Fällen von Genauigkeit und Staatstreue auch solche von Ungenauigkeit und Korruption gegeben. Bei der Betrachtung der Charakterisierungen ist cum grano salis nicht auszuschließen, dass sie bestimmte Eigenschaften überbetonten oder gar nicht erwähnten. Das geschah entweder weil subjektiv variierende Bewertungsmaßstäbe galten oder weil man die Pgs. zweckgerichtet in ein besonders gutes und in wenigen Fällen vielleicht auch schlechtes Licht rücken wollte. Hiervon abgesehen muss weitgehend offen bleiben, inwiefern die NSBelasteten als Funktionseliten die Vorgaben der SED so modifizierten, dass sie von den Untergebenen und den Bürgern akzeptiert wurden, in welchem Maße also innerbetrieblicher Pragmatismus und solcher zugunsten der Bürger und nicht der Partei stattfand. Es lohnt allerdings der Hinweis, dass eine gute Arbeit ehemaliger NSDAP-Mitglieder nicht negativ beurteilt wurde, nur weil sie politisch belastet waren. Umgekehrt konnte dies schon eher passieren. Als Verbindung von politischen Erfahrungen und dem Arbeitsverhalten wurde häufiger genannt, durch eine Mitarbeit am „demokratischen“ Staatsaufbau die Konsequenz aus der Vergangenheit gezogen zu haben. Die Verbreitung faschistoider Inhalte durch Entscheidungen am Arbeitsplatz ist nicht nachweisbar, dafür jedoch manchmal eine politisch neutrale Haltung oder eine ausdrücklich bewusste Umsetzung prosozialistischer Vorgaben. Alles zusammen erhob das Gros der Ex-Nationalsozialisten im Vergleich zum Gesamtpersonal in der zentralen Staatsverwaltung fast in den Stand einer Art „Leistungselite“. 2.1.9 Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige Die Arbeitsbereiche, in die ehemalige Nationalsozialisten in der SBZ/DDR vordringen konnten, indizieren das Ausmaß von Strafmaßnahmen und das Bedürfnis der neuen Machthaber nach Sicherheit. Sie waren Ergebnis einer Abwägung, wo der Fachkräftebedarf und die Erfordernis politisch zuverlässiger Kader besonders groß zu sein schienen. Zugleich künden berufliche Tätigkeitsfelder von den Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten der NSBelasteten. Das betrifft horizontale Arbeitsbereiche, also die einzelnen Branchen, ebenso wie vertikale, d.h. die jeweils eingenommenen Positionen in der Ämterhierarchie. Beides überkreuzte sich. Deshalb besitzen manche der hier dargelegten Ausführungen auch 844 845 Zu Erwin Melms siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 306. DO 1 / 26.0, 3715, Ministerium für Industrie, HA Metallurgie, Personalabteilung, Prämien für Mitarbeiter der Hauptabteilung 1. Quartal 1950, vom 28.03.1950, S. 4. Jens Kuhlemann – Braune Kader 182 Gültigkeit für das nachfolgende Kapitel und umgekehrt. Die Differenzierung des zentralen Staatsapparates in Einzelsegmente ist dabei das eine, die Betrachtung des Status´ des gesamten Regierungsapparates als Teil der Verwaltung im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Sektoren wie Politik, Wirtschaft etc. ist das andere.846 In diesem Zusammenhang wurde außerdem bereits auf Unterschiede zwischen zentralen, regionalen und lokalen Verwaltungsebenen hingewiesen.847 Der SMAD-Befehl 35 aus dem Jahr 1948 stellte den Nominellen die Rückkehr in die Verwaltung gemäß ihren Fächern in Aussicht. Die Justiz- und Polizeiorgane blieben hiervon jedoch zunächst ausgenommen.848 Das Gleichstellungsgesetz von 1949 gewährte ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Wehrmachtsoffizieren ebenfalls grundsätzlich den Zugang zum öffentlichen Dienst sowie zu gesellschaftlichen Organisationen. Ausnahmen galten aber bis zu deren Aufhebung durch das zweite Gleichstellungsgesetz 1952 weiterhin für die „innere Verwaltung“ und die Justiz. Schon sehr bald tauchten in der Praxis Unklarheiten darüber auf, was genau unter diesen Bezeichnungen zu verstehen war.849 Die NDP-Führung beklagte beim Ministerium des Innern im Herbst 1950, dass es besonders in Sachsen-Anhalt Probleme bei der Anwendung des Gesetzes gegeben habe. Dort seien in größerem Umfang sogar Entlassungen ehemaliger NSDAP-Mitglieder erfolgt, nachdem eine besondere Kommission jeden Einzelnen überprüfte. Dieses Gremium bewertete angeblich die politische Vergangenheit je nach Betätigung mit einer Punktvergabe und nicht die gegenwärtige Einstellung. Es seien Kündigungen nicht nur in der eigentlichen Staatsverwaltung, sondern beispielsweise auch bei den Sozialversicherungskassen vorgekommen, die in diesen Fällen zur inneren Verwaltung gezählt wurden.850 Der stellvertretende NDP-Vorsitzende Vincenz Müller bat Innenstaatssekretär Warnke um Prüfung dieser Erscheinungen und mahnte zum wiederholten Male eine Klarstellung der Ausnahmebereiche an, was Warnke auch zusagte. Die NDP-Führung beschwerte sich beim Ministerium des Innern allgemein darüber, dass ehemalige Pgs. trotz der neuen Rechtslage auf besondere Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche und bei anderen Tätigkeiten stießen. Das galt nach Mitteilung Müllers entgegen anderslautender Zusagen durch MdI-Vertreter auch bei der Wiedereingliederung ehemaliger Internierter. Die Einstellung von früheren NSDAP-Angehörigen sei sogar in der Wirtschaft, bei VEB und VVEAB, auf Ablehnung gestoßen. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass in der Provinz neben Verärgerung über die Reintegrationspolitik auch schlicht Unsicherheit existierte, das Gesetz richtig zu deuten, beziehungsweise Angst vor Bestrafung bei Fehlern.851 Das Ministerium des Innern und die SED-Führung sahen sich daraufhin einerseits genötigt, allgemeine Klärungen vorzunehmen und manchmal auch bei konkreten 846 847 848 849 850 851 Zur Zusammensetzung der zentralen Staatsorgane Ende der achtziger Jahre im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Sektoren siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 205. Siehe Kapitel „Quantitative Ausmaße der Beschäftigung ehemaliger Mitglieder der NSDAP, SA, SS und sonstiger NS-Organisationen“; Rössler, Aspekte, S. 142. DP 1 / VA 980, Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration und Oberbefehlshabers der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Nr. 35 über die Auflösung der Entnazifizierungskommissionen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, vom 26.02.1948; Kowalczuk, Stalin, S. 185. Zur Auseinandersetzung der NDP mit dem MdI über Zulassungen zum Rechtspfleger und Referendar bzw. zur Laufbahn zum Richter, Rechtsanwalt etc. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 308 f. Die Landesversicherungsanstalt Sachsen stellte Anfang 1950 trotz der neuen rechtlichen Rahmenbedingungen ebenfalls keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder ein. Einzelheiten hierzu siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 309. Das sächsische Ministerium des Innern fragte 1951 beim MdI in Berlin an, ob ehemalige NSDAPMitglieder als Betriebsarchivare in den volkseigenen Betrieben eingestellt werden durften. Dieses betonte, dass es nicht zweckmäßig sei, den genannten Beruf ausdrücklich unter die Ausnahmebestimmungen des Gesetzes fallen zu lassen. Es sei vielmehr individuell unter Berücksichtigung der personalpolitischen Grundsätze zu verfahren, wobei die Betriebsleiter und Personalleiter die Verantwortung zu tragen hatten. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 309 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 183 Personalentscheidungen korrigierend einzugreifen.852 Sie wollten andererseits aber auch nicht die diversen Kaderleiter von ihrer Aufgabe entbinden, die Richtlinien im Einzelfall selbständig anzuwenden. Eine Durchsicht der von Müller an das MdI weitergeleiteten Beispiele für berufliche Benachteiligungen, auf die sich dessen Ausführungen stützten, brachte verschiedene Erklärungsansätze der betroffenen NS-Belasteten zutage. Teilweise vertraten sie die Ansicht, es handele sich bei ihnen um Fälle, die unter „Befehl 2“ fielen, weil sie sich in westlicher Kriegsgefangenschaft befunden oder Verwandtschaft im Westen hatten. Auf diese Kaderaspekte wird an anderer Stelle noch eingegangen. In einem weiteren Beispiel habe eine Geheimverfügung eines ungenannten Verfassers die Arbeitsaufnahme ehemaliger NSDAP- und dann NDP-Mitglieder verhindert. Danach waren nur SED-Mitglieder einzustellen. In einem anderen Fall scheint eine Ablehnung aufgrund eines NSDAP-Eintritts im Jahre 1931 erfolgt zu sein. Bemerkenswert ist, dass die Personalleiter vor Ort diese Umstände den Betreffenden mitunter in großer Offenheit mitteilten oder diese selbst Entsprechendes von alleine vermuteten. Die NDP-Führung betrachtete alle diese Vorkommnisse als Verstoß gegen das Gleichstellungsgesetz. Das MdI bestritt nach einer Untersuchung, dass in den genannten Fällen Entlassungen nach „Befehl 2“ vorgekommen seien. Die erwähnte Kommission in Sachsen-Anhalt habe allerdings sehr schematisch gearbeitet und der persönlichen Entwicklung nach 1945 nicht die gebührende Beachtung geschenkt.853 Auch wenn die Quellen unterschiedliche Erklärungen für die Probleme ehemaliger Pgs. bei der Wiedereingliederung beinhalten, erscheint es mir einleuchtend, dass zwar einerseits in einer Reihe von Fällen Personalverantwortliche die NS-Belastung weiterhin als so gravierend betrachteten, dass sie juristische Grauzonen zu Ungunsten ehemaliger Nationalsozialisten interpretierten oder das Gesetz praktisch ignorierten und eine Reintegration im Sinne des Gleichstellungsgesetzes dadurch unterliefen. Auf der anderen Seite gab es aber auch Beispiele, bei denen eben nicht ein grundsätzlicher Unwille zur Wiedereingliederung der Nominellen der ausschlaggebende Grund für deren Ausschluss von bestimmten Arbeitsplätzen war. Die Pgs. waren eben wie alle anderen von den Auswirkungen der allgemeinen kaderpolitischen Maßnahmen betroffen, ob sie dies nun nachvollziehen konnten oder nicht. Teilweise stieß ein solches Vorgehen an der Basis auf großes Unverständnis, etwa wenn sich politisch loyal entwickelnde Berufssoldaten aufgrund ihrer militärischen Vergangenheit den Hut nehmen mussten, aber „Reaktionäre“ – zumindest vorläufig – verweilen durften. Auch die Arbeitsrichter rügten die Sprunghaftigkeit und mangelnde Planbarkeit der Arbeitsverhältnisse für die Arbeitnehmer.854 Dass es mit Blick auf den zentralen Staatsapparat oder dessen einzelne Verwaltungszweige zu ähnlichen Deutungsproblemen kam, ist nicht bekannt. Doch um sich nicht allzu sehr mit Ausnahmebestimmungen aufzuhalten, leiten wir jetzt auf die generelle Präsenz NS-Belasteter in vertikalen Arbeitsbereichen über. Schon vor 1948 gab es unter den Deutschen Zentralverwaltungen solche, die wie die für Inneres und Umsiedler sowie die Sequesterkommission besonders strenge Maßstäbe an das Personal anlegten. Ihnen standen solche gegenüber, die nach Prüfung durch die SMAD relativ viele bürgerliche Fachleute aus der Wirtschaft sowie Beamte und Angestellte aus den ehemaligen Reichs- und Länderverwaltungen beschäftigten. Alte Staatsbedienstete fanden sich vor allem in den 852 853 854 Ein Beispiel aus der HV Deutsche Volkspolizei siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 310. Das MdI stellte intern klar, dass etwa die Stelle eines Stadtrats für innere Verwaltung nicht mit einem ehemaligen NSDAP-Mitglied besetzt werden kann. Zum „Befehl 2“ siehe Kapitel „Kriegsgefangenschaft, Antifa-Schulung und Emigration“, zu Familienangehörigen im Westen siehe Kapitel „Westkontakte“; DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950, S. 5 f.; ebd., [MdI, HA Personal,] Zum Schreiben der NDP an Herrn Staatssekretär Warnke vom 1.6.1950, vom 01.07.1950, S. 2 f. DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 08.09.1950 (samt Beispielen als Anlagen); ebd., MdI, HA Personal, Riemer, an MdI, Warnke, vom 10.10.1950; ebd., [MdI,] Warnke, an NDPD, Müller, vom 30.10.1950. Jens Kuhlemann – Braune Kader 184 Ressorts Justiz, Finanzen, Statistik sowie Post und Fernmeldewesen. Entscheidend war einerseits die sicherheits- und machtpolitische Relevanz des Organs, seine Bedeutung für Planung und Kontrolle.855 Andererseits spielte aufgrund von Effizienzerwägungen die mangelnde Alternative zu politisch eigentlich unerwünschten Spezialisten in dem jeweiligen Fachgebiet eine Rolle.856 Eine Varianz zwischen einzelnen Branchen setzte sich innerhalb der DWK und DDR-Regierung fort. Sie drückte sich dort anders als bei den Deutschen Zentralverwaltungen, die scheinbar so gut wie keine anstellten, auch in Gestalt ehemaliger NSDAP-Mitglieder aus.857 Dieses Phänomen resultierte nicht zuletzt aus dem Umstand, dass manche Berufsgruppen vor 1945 mehr als andere nationalsozialistisch unterwandert waren und sich während der NS-Ära unterschiedlich stark kompromittierten.858 Welche konkreten Ergebnisse liefert nun die Untersuchung der Teilbürokratien innerhalb der zentralen Staatsverwaltung hinsichtlich der Beschäftigung früherer Nationalsozialisten ab 1948? Interessant ist, dass Klagen über manche Hauptverwaltungen als „Hort der Reaktion“ teilweise mit einem erhöhten Anteil ehemaliger Pgs. übereinstimmten.859 Spitzenreiter in der Deutschen Wirtschaftskommission war die Hauptverwaltung Post und Fernmeldewesen mit bis zu zehn Prozent ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Mitverantwortlich dafür war offenkundig der traditionell hohe Anteil an Beamten, die zur Zeit des NS-Regimes wiederum in erheblichem Maße der NSDAP angehörten. Auch die Bereiche Energie, Metallurgie sowie Land- und Forstwirtschaft wiesen mit zeitweilig 5-8% höhere Pg.-Werte auf. Es folgten mit Maximalwerten von 3-5% die Hauptverwaltungen Finanzen, Leichtindustrie und Kohle. Die genannten Gebiete waren allesamt im engeren Sinne wirtschaftsorientiert.860 Die machtpolitisch sensibleren Verwaltungsarme hingegen waren fast völlig frei von NSDAP-Angehörigen.861 Von drei auf zuletzt nur noch ein Prozent kam die HV Wirtschaftsplanung. Im Kopf der DWK, den Sekretariaten, lag ihr Anteil bei einem Prozent. Der Ausschuß zum Schutze des Volkseigentums, ein Vorläufer des Ministeriums für Staatssicherheit, beschäftigte vorübergehend ein einziges ehemaliges NSDAP-Mitglied. In der HV Reparationen, die für die UdSSR zwecks Kompensation von Kriegsschäden von besonderer Bedeutung war, und in der Zentralen Kontrollkommission lag der Wert bei Null.862 855 856 857 858 859 860 861 862 Richert, Macht, S. 260; Kuhlemann, Teufel. In der DDR sei die Forschung laut Wolfgang Weißleder zu dem Schluss gekommen, die Kaderpolitik in den Zentralverwaltungen habe sich zwischen einer „differenzierten Zerschlagung des alten Staatsapparates“ und einer „differenzierten Nutzung einzelner Teile der ehemaligen Beamtenschaft“ bewegt. Zitiert nach: Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 109 f.; Kuhlemann, Teufel. Jessen, Elitewechsel; Boyer, Kader, S. 45; vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26, 28. Welsh, Entnazifizierung, S. 72. Vgl. Boyer, Kader, S. 43. Vgl. Schulz, Elitenwandel, S. 120 f., 218; Danyel, Macht, S. 81; zur unterschiedlichen Säuberungsintensität zwischen einzelnen Fachgebieten während der Entnazifizierung siehe: Welsh, Entnazifizierung, S. 72; vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26, 28. Diese Aussage wird für Personalabteilungen, die Ressorts für Inneres, Justiz und Volksbildung, das Ministerium für Staatssicherheit und die HVA bestätigt, siehe: DO 1/7/211, Bl. 37; DP 1 / VA 7591, Bl. 16; DR 2 / 911, Bl. 47, [DVV,] Personalabteilung, Lehmann, betr.: Liste von ehem[aligen] nazistischen Mitarbeitern, an SMAD, Zivile Verwaltung, vom 13.07.1949; DO 1 / 26.0, 17198, Personelle Zusammensetzung der Personalleiter der Ministerien der DDR und der angeschlossenen Dienststellen per 1. November 1950, S. 61 f.; Boyer, Kader, S. 22; Gieseke, Mitarbeiter, S. 132 f.; Vollnhals, Ministerium, S. 502; Wenzke, Wege, S. 255; Wentker, Neuordnung, S. 103; Amos, Justizverwaltung, S. 20; Jessen, Elitewechsel, S. 40; Rössler, Justizpolitik, S. 140-143; vgl. Richert, Macht, S. 260; König, Integration, S. 391. Im Ausschuß zum Schutze des Volkseigentums arbeitete lediglich der Oberreferent Bruno R., ein SSFördermitglied. Noch weiter ins Detail gehende Informationen über die den NS-Belasteten zugewiesenen Unterabteilungen und Referate innerhalb der DWK-Hauptverwaltungen / Ministerien sowie zugewiesene Aufgaben sind zwar vielfach im Rahmen dieser Arbeit bekannt geworden. Ihre Aussagekraft erschien jedoch meist zu gering, als dass sich verallgemeinerbare Rückschlüsse daraus ziehen ließen. Siehe hierzu das Beispiel Günther Kromrey nebst Quellenangaben, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 312. Jens Kuhlemann – Braune Kader 185 Der Trend, der für die Deutschen Zentralverwaltungen festzustellen ist, hielt also an. Die genannten Relationen bedeuten im Ergebnis, dass die Machtelite die ExNationalsozialisten kaum oder gar nicht in solche Verwaltungszweige vordringen ließ, die eine übergeordnete lenkende und überprüfende Funktion hatten. Das galt partiell sogar für Minderbelastete wie HJ-Mitglieder.863 Hier wurde die Grenze des Vertrauens und Vergebens sichtbar. Außerdem war in den „rein administrativen und ökonomischen“ Bereichen der Mangel an Fachkräften zur Gewährleistung des gewünschten Betriebsverlaufes besonders groß. Dort nahm sich die Bereitschaft, in Sachen politische Belastung des Personals Kompromisse einzugehen, größer aus. Kontinuitätslinien von den DWK-Hauptverwaltungen zu den DDR-Regierungsdienststellen zu ziehen ist nicht immer einfach, weil in den fünfziger Jahren zahlreiche Strukturveränderungen stattfanden.864 Einige Ministerien wurden in mehrere Behörden aufgefächert, andere zusammengelegt. Teils verschwanden welche, teils entstanden sie neu. Doch lässt sich sagen, dass sich 1951-1958 das für die DWK konstatierte Verhältnis im Wesentlichen fortsetzte. Dabei erreichten einige Dienststellen Höchstwerte beim Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder von bis zu achtzehn Prozent, so vor allem in den Bereichen Energie, Verkehr, Post und Fernmeldewesen, gefolgt von diversen Industrieministerien.865 Solche Steigerungen im Vergleich zu den Spitzenwerten der DWKHauptverwaltungen waren Ausdruck der zunehmend toleranteren Haltung der Personalverantwortlichen gegenüber dem Kadermerkmal „NSDAP-Mitgliedschaft“. Im Laufe der fünfziger Jahre wuchs ihre Bereitschaft, angesichts zunehmend fundamentierter Machtverhältnisse bei gleichbleibenden Aufbauzwängen diesbezüglich vermehrt Zugeständnisse zu machen. Demgegenüber wirkte sich jener Trend nur minimal oder gar nicht auf die sicherheitsund machtpolitisch besonders wichtigen sowie andere Ministerien beaufsichtigenden und anleitenden Regierungszweige aus. In der Staatlichen Plankommission sank die Pg.-Rate von fünf auf drei Prozent. Die Regierungskanzlei verzeichnete fast durchgängig 2-3% frühere NSDAP-Mitglieder, das Ministerium für Volksbildung 1-4% und das Ministerium des Innern bzw. das Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten 0,5 – 2%. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten zählte nur 0-1% ehemalige Pgs. und stand damit in klarem Gegensatz zum Auswärtigen Amt in Bonn, das eine Hochburg der „Ehemaligen“ darstellte. Im Ministerium der Justiz befand sich lediglich ein NSDAP-Mitglied, nämlich Günter Scheele, auf dessen Vita noch eingegangen wird. Das entsprach etwa einem Prozent des Gesamtpersonals. Dazu kam zeitweilig ein zweiter Pg. außerhalb des regulären Verwaltungspersonals. Nach Ausscheiden Scheeles im Zuge des 17. Juni 1953 gab es bis mindestens bis 1958 keinen einzigen Pg. mehr im MdJ.866 Die Ausnahmebestimmungen des Gleichstellungsgesetzes von 1949 für Inneres und Justiz fanden in den obersten Ministerien 863 864 865 866 Siehe die sehr strengen Ansprüche der DJV an Nachwuchskräfte, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 313. Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 401. Eine Auflistung der jeweiligen Regierungsdienststellen mit besonders hohem Pg.-Anteil im jeweiligen Verwaltungspersonal in der Zeit von 1951 bis 1956/58 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 313. Angaben zu absoluten Zahlen des jeweiligen Gesamtpersonals (ohne technische Kräfte) der genannten Dienststellen für den Zeitraum 1951 bis 1956/58 und Quellenhinweise siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 314. Die Einzelaufstellungen der jeweiligen DDR-Regierungsdienststellen, die in den Quellen den für diese Arbeit verwendeten Zusammenfassungen beiliegen, machen keine Angaben zur ZKSK, zum MfS und Ministerium für Nationale Verteidigung, siehe: DO 1 / 26.0, 17446, 9/58/1/1, Operativstatistik, Stand: 15.10.1958; zur Regierungskanzlei siehe auch: DO 1 / 26.0, 17348, 113/51/6/1; zu ehemaligen Mitgliedern der NSDAP und HJ sowie Wehrmachtsoffizieren in der DVdI siehe: DO 1/7/211, Bl. 144 f., 148; zu einem aus der SED ausgeschlossenen ehemaligen Pg. im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten siehe ferner: DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 321 ff.; zu Pgs. in Auslandsvertretungen 1957/58 siehe: DO 1 / 26.0, 17446, 9/58/1/1; zum Bonner Auswärtigen Amt vgl.: Frei, Karrieren, S. 322; zum MdJ, Obersten Gericht und zur Obersten Staatsanwaltschaft siehe: Rössler, Justizpolitik, S. 140-143. Jens Kuhlemann – Braune Kader 186 also (fast) rigoros Beachtung.867 Selbst nach deren Aufhebung 1952 änderte sich dort real nichts. Diese Konsequenz zeigte sich auch in der Personalpolitik solcher Ministerien bei öffentlichen Ämtern und nachgeordneten Organen.868 Allgemein kam es häufiger vor, dass bei denselben Bewerbern, die für den Zentralapparat aufgrund einer NSDAP-Zugehörigkeit für Arbeitsbereiche mit wesentlichen Entscheidungsbefugnissen als grundsätzlich ungeeignet erschienen, keine Bedenken bestanden, sobald ihr Einsatz im Rahmen einer nachgeordneten Dienststelle oder in der Wirtschaft erfolgte. Dort ließen sich durch Weisung der vorgesetzten Stelle eventuelle subversive Entwicklungen leichter korrigieren.869 Eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft stellte in den Augen des engeren SED-Zirkels eben in begrenztem Umfang ein latentes Sicherheitsrisiko dar. Das galt umso mehr, wenn sich mehrere Pgs. an einer Stelle konzentrierten. Selbst wenn es zahlreiche Pluspunkte auf den individuellen Kaderkonten gab, reichte dies nicht aus, um die Befürchtung restlos aus dem Weg zu räumen, dass diejenigen, die sich schon einmal vor 1945 dem Klassenfeind unterworfen hatten, es erneut tun könnten. Diese Furcht war zwar nicht groß genug für das Verwehren einer generellen Zusammenarbeit im Exekutivapparat. Doch sie war ausreichend, um bestimmte Restzonen Pg.-frei zu halten oder sogar besonderen Wert auf Kader mit „rein sozialistischen“ Lebensläufen zu legen.870 Diejenigen Ressorts, die angesichts eines Durchschnittswertes von etwa zwei Prozent in der DWK und 5-6% in der DDR-Regierung auffällig viele NSDAP-Mitglieder beschäftigten, korrespondieren mit den bereits festgestellten Bildungs- und Berufswegen der NS-Belasteten.871 Technik- und wirtschaftsorientierte Felder dominierten. Dieses Prinzip ist auch beim Personal anderer Institutionen festzustellen.872 Den Verwaltungen für Kohle, Energie, Aufbau oder Post und Fernmeldewesen, die ab 1950 die meisten Pgs. einstellten, sowie etlichen anderen Organen mit hohem Bedarf an fachlich sorgfältig ausgebildeten Kadern standen eben zu wenige Spezialisten zur Verfügung, die nicht in der NSDAP waren und aus der Arbeiterschaft bzw. den „fortschrittlichsten Kreisen“ der Bevölkerung stammten.873 Politisch belastete oder nicht hinreichend entwicklungsfähige Kader sollten zwar 867 868 869 870 871 872 873 Das Oberste Gericht sollte ebenfalls niemanden einstellen, der unter den Ausschlusskatalog der Ausführungsbestimmungen zum Erlass von Sühnemaßnahmen fiel, siehe: DO 1 / 26.0, 2462, Ministerium des Innern, Allenstein, an Zentralvereinigung der Gegenseitigen Bauernhilfe, Abteilung Personal, vom 03.01.1950; DO 1 / 26.0, 17602, Oberstes Gericht, Benjamin, Vierteljährliche Berichterstattung an die Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern, vom 05.05.1950, S. 1 f. Einzelheiten zu NS-Belastungen bei Richtern, Staatsanwälten, sonstigen Angehörigen des Justizdienstes und Rechtsanwälten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 315; Wentker, Neuordnung, S. 103; Broszat, Siegerjustiz, S. 487-489; Amos, Justizverwaltung, S. 183; vgl. ebd., S. 61. Beispiele (Ministerium für Planung, DJV) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 315; zu nachgeordneten Dienststellen des Staatsapparates und ehemaligen Nationalsozialisten in ihnen siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17182, Projektierungs- und Konstruktionsbüro der Kohlenindustrie, Personalleitung, Bericht über Konzernverbindungen und Agententätigkeit im P.K.B., vom 26.01.1950, S. 10 f.; DO 1 / 26.0 / 17183, s.v. „OP“, betr.: Günter P[...]; ebd., s.v. „S“, betr.: Kurt S[...]; DO 1 / 26.0 / 17270, Ministerium für Verkehr, vom 15.06.1951; Richert, Macht, S. 181 ff. Weitere Quellen zu ehemaligen Pgs. in einzelnen Regierungsdienststellen siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 316; Richert, Macht, S. 150 ff.; vgl. ehemalige Pgs. in der Volkskammer, in: ebd.; Fricke, Nazigrößen, S. 141; Joseph, Nazis, S. 106 f. Siehe insbesondere die Kapitel „Quantitative Ausmaße der Beschäftigung ehemaliger Mitglieder der NSDAP, SA, SS und sonstiger NS-Organisationen“, „Bildung und Weiterbildung“ sowie „Berufliche Karriereverläufe“. So in den Hochschulen bzw. bei Professoren, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 316; Jessen, Elitewechsel, S. 37 f., 40; Jessen, Professoren, S. 226, 241. DO 1 / 26.0, 3707, s.v. „I. Quartal 1951“, [MdI, HA Personal,] Bericht für das I. Quartal 1951, vom 12.04.1951, S. 3; DO 1 / 26.0, 17488, Ministerium für Industrie, HA Bauindustrie, Personalabteilung, betrifft Personalstatistik [per 30.06.1950], vom 08.07.1950, S. 1; DO 1 / 26.0, 17554, s.v. „G“, Ministerium für Gesundheitswesen, Kaderabteilung, Jahresbericht 1953 über die Kaderarbeit im Arbeitsbereich des Ministeriums für Gesundheitswesen, vom 31.12.1953, S. 9 f.; der Fachkräftemangel kam auch ehemaligen Offizieren und Feldwebeln der Wehrmacht zugute, siehe: DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 343. Jens Kuhlemann – Braune Kader 187 tendenziell ausgetauscht werden. Ihre guten Qualifikationen verhinderten oder verzögerten dies jedoch oft für längere Zeit.874 Ähnliches galt für viele nachgeordnete Dienststellen in den genannten Arbeitsgebieten und für Wirtschaftsbetriebe generell.875 Nicht zuletzt befanden sich dort genauso wie im Zentralapparat unter den Wissenschaftlern und Technikern zahlreiche ehemalige Beamte, die sich der Nazi-Partei nicht hatten fernhalten können.876 Wenn die Fachleute zu einem großen Teil aus ehemaligen Pgs. bestanden und gleichzeitig nicht der SED angehörten oder der Anteil der SED-Mitglieder im restlichen Personal schwach war, versuchten die Kaderleitungen, fachlich qualifizierte Genossen in die Ministerien oder Abteilungen einzuschleusen, um die Relation ausgeglichener zu gestalten. Ihre Beaufsichtigung durch politisch zuverlässige Angestellte sollte die Risiken verkleinern, die von einer befürchteten Disposition für die Ideen des Klassenfeindes auszugehen schienen.877 Die besonders strenge Anwendung der kaderpolitischen Vorgaben in den macht- und sicherheitspolitisch besonders wichtigen Organen wurde auch außerhalb der zentralen Staatsverwaltung deutlich. In erster Linie galt dies für die bewaffneten Kräfte. Darunter fielen die reguläre Polizei und die kasernierte Volkspolizei als Vorläufer der NVA sowie die sogenannte Hauptverwaltung Ausbildung als militärisch ausgerichteter Bereich des Ministeriums des Innern. Ehemalige NSDAP-Mitglieder waren dort insbesondere in den Führungspositionen nur marginal vertreten. Angehörige sonstiger NS-Organisationen hatten es ebenfalls sehr schwer, Eingang zu finden. Anfangs betraf das sogar HJ-Mitglieder, so groß war das Bedürfnis nach „sauberem“ und politisch vertrauenswürdigem Personal.878 Nach den Richtlinien des Ministeriums für Staatssicherheit kamen frühere NSDAP-Mitglieder für eine hauptamtliche Beschäftigung grundsätzlich nicht in Frage, ebenso wenig Personen, die vor 1945 im Polizeidienst standen. Behördeninterne Konflikte zwischen alter und neuer Intelligenz stellten sich hier erst gar nicht. Das MfS sollte nur einwandfreie Mitglieder der SED und FDJ einstellen, die wegen kommunistischer Tätigkeit inhaftiert waren, möglichst aktiv gegen den Faschismus gekämpft oder sich in sowjetischer Emigration bzw. Kriegsgefangenschaft gut bewährt hatten. Sie sollten aktiv am Wiederaufbau teilgenommen und sich am 17. Juni 1953 treu für die SED eingesetzt haben. Die Tschekisten hielten diese radikalen Rekrutierungsvorgaben tatsächlich bis auf ganz seltene Ausnahmen ein.879 Ähnlich verhielt es sich im Apparat des SED-Zentralkomitees, im Politbüro sowieso.880 874 875 876 877 878 879 Vgl. DO 1 / 26.0, 17525, Ministerium der Finanzen, Abgabenverwaltung, Personalabteilung, Arbeitsbericht für das 4. Quartal 1951, vom 02.01.1952, S. 1. Letzteres betraf die VVB der Hauptverwaltungen Chemie, Energie, Kohle, Leichtindustrie, Maschinenbau, Metallurgie und Steine / Erden. Im Januar 1949 befanden sich dort unter 6946 Mitarbeitern 1682 Pgs., im Juni 1949 waren es von 7920 dann 1683, siehe: DO 1 / 26.0, 17509, Personalstatistik der den 7 Industrieverwaltungen der DWK nachgeordneten VVB (1.1.1949 – 30.6.1949), dort auch Einzelübersichten der jeweiligen HV; DO 1 / 26.0, 3707, MdI, HA Personal, Bericht für das II. Quartal 1951 für die Ministerien Verkehr, Post- und Fernmeldewesen und Aufbau, vom 10.07.1951, S. 4. So etwa beim Meteorologischen Dienst, der dem Ministerium des Innern unterstand. Hinzu kam, dass sich dort kaum einer von ihnen nach 1945 einer „fortschrittlichen“ Organisation zuwandte, siehe: DO 1 / 26.0, 3707, s.v. „IV. Quartal 1950“, [MdI,] Berichterstattung für das IV. Quartal 1950, Nachgeordnete Dienststellen, undatiert, S. 1; DO 1 / 26.0, 17563, s.v. „W“, Amt für Wasserwirtschaft, Personal[abteilung], Jahresbericht 1952, vom 05.01.1953, S. 3. So im Fahrzeugbau im Ministerium für Maschinenbau, siehe: DY 30 IV, 2/11/168, Bl. 144; Hoefs, Kaderpolitik, S. 158. In der Polizei sollte nach Vorstellung von Erich Mielke „absolute Reinheit“ herrschen, was vor allem durch Entfernung ehemaliger NSDAP-Mitglieder und Berufsoffiziere zu erreichen war. Doch im August 1948 stellte die ZV Inneres fest, dass sich die angestrebten Sollzahlen nicht erreichen ließen, wenn nicht wenigstens auf HJ-Mitglieder zurückgegriffen werden durfte. Anfang der fünfziger Jahre konnten ehemalige Mitglieder der NSDAP und SA schließlich nach besonderer Prüfung ausnahmsweise in die bewaffneten Formationen eintreten. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 317 f.; Wenzke, Wege, S. 211, 217, 243, 255, 269; Wenzke, General, S. 172, 174; zu Kontinuitätslinien in der Bundeswehr vgl.: Frei, Karrieren, S. 316. Gieseke, Mitarbeiter, S. 132 f.; Roß, Eliten, S. 184; Vollnhals, Ministerium, S. 502; Joseph, Nazis, S. 178 ff.; Zolling / Höhne, Pullach, S. 247 ff.; Fricke, DDR-Staatssicherheit, S. 193 f.; zu Franz Gold, Jens Kuhlemann – Braune Kader 188 Neben Unterschieden von Ressort zu Ressort wurden darüber hinaus auch noch innerhalb der jeweiligen Dienststellen Abstufungen vorgenommen, egal auf welcher Verwaltungsebene.881 Eine striktere Handhabung der kaderpolitischen Richtlinien betraf natürlich die Führungsebene sowie Abteilungen mit hervorgehobener Leitungs- und Kontrolltätigkeit oder Verschlusssachenbearbeitung. Soweit für den Zuständigkeitsbereich der Deutschen Verwaltung des Innern ersichtlich, befanden sich zum Beispiel keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder im Kommissariat K 5. Diese Einheit repräsentierte schließlich die politische Polizei und war maßgeblich an der Durchführung der personellen Entnazifizierung beteiligt, einem Kernstück des Gesellschaftswandels in der SBZ.882 In diesem Zusammenhang spielten Personalabteilungen eine besondere Rolle. In ihnen waren ganz besonders bewährte Kader und Antifaschisten einzusetzen.883 Zwar ließ sich die gewünschte Kaderhygiene auch hier nicht erzielen. Doch gelang trotzdem nur äußerst wenigen Pgs. ein solcher Sprung.884 Es erscheint im Vergleich zu den fünfziger Jahren fast ungewöhnlich häufig, dass gleich zwei Mitarbeiter der HV Post und Fernmeldewesen in der Deutschen Wirtschaftskommission dazu zählten. Ihnen wird zugute gekommen sein, dass die beiden ehemaligen NSDAP-Mitglieder der Jahrgänge 1919 und 1920 deutlich jünger waren als die meisten anderen NS-Belasteten.885 Gleiches traf auf eine noch später geborene NSDAP-Angehörige zu, die in der Deutschen Verwaltung für Volksbildung die Funktion einer Karteiführerin in der Personalabteilung ausübte. Zu ihrem Arbeitsgebiet gehörte die sogenannte „NSDAP-Kartei“, welche vermutlich Schul- und Hochschullehrer etc. erfasste. Dieser Umstand war selbst in Anbetracht ihrer Jugend äußerst ungewöhnlich.886 Trotz dieser Ausnahmen galten Personalabteilungen jedoch grundsätzlich einfach als zu sensibel. Auch bei leitenden Angestellten war eine Zuständigkeit für Personalfragen des Öfteren nur indirekt gegeben, etwa über die Aussprechung von Empfehlungen.887 Für die KPD/SED war ihre weit verbreitete Zuständigkeit für Personalfragen in den wichtigsten Verwaltungen der sowjetischen Besatzungszone von den ersten Nachkriegstagen an der Schlüssel zur Macht. Das noch so geringe Restrisiko, dass Anhänger einer kapitalistisch-faschistischen Ordnung Spionage und Sabotage betreiben könnten, während Gesinnungsgenossen in der Kaderleitung sie deckten, erschien ihr einfach unakzeptabel.888 Relativ seltene Ausnahmen finden sich für den Untersuchungszeitraum 880 881 882 883 884 885 886 887 888 Generalleutnant im MfS, Chef der HV Personenschutz, der angeblich NSDAP-Mitglied gewesen sein soll, jedoch mit einer anderen Person verwechselt wurde und kein Pg. war, siehe: Fricke, Nazigrößen, S. 142; Gieseke, Frage, S. 138 f. Zu NS-Belasteten im ZK der SED bzw. unter den (Familienangehörigen von) Mitarbeitern des Zentralkomitees siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 318; Schneider, Funktionselite, S. 90, 118; Joseph, Nazis, S. 106 f. Zu einzelnen Fachabteilungen auf Bezirksebene siehe: DO 1 / 26.0, 17451, IV/56, 16/57/1/1; DO 1 / 26.0, 17468, 23/55/1/1. DO 1/7/212, besonders Bl. 80-97; vgl. die Arbeitsbereiche der Pgs. in der DVV, in: DR 2 / 950, Bl. 1-18; zu MdI-Abteilungen siehe: DO 1 / 26.0, 17334, 83/52/8/1; daneben ist für das Wachbataillon eine Namenliste erhalten von einigen wenigen, die selbst oder deren Familienangehörige in der NSDAP, HJ etc. waren, erwähnt ist auch ein SS-Mitglied, siehe: DO 1 / 26.0, 19552, Namenliste politisch unzuverlässiger Angehöriger des Wachbataillons, 1950. Boyer, Kader, S. 22. Am 15.12.1954 befanden sich drei NSDAP-Mitglieder in den einzelnen Kaderabteilungen. Keiner der im Zeitraum 1954-1956 insgesamt 84-119 angestellten Kaderleiter in den DDR-Regierungsdienststellen gehörte der NSDAP an, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 319. Details zu Heinz Cramer und Hans Naake siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 319. Einzelheiten zu dieser Person siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 319. In der DWK, HV Leichtindustrie zählte keiner der dort beschäftigten ehemaligen NSDAP-Mitglieder, auch nicht Hauptabteilungsleiter Schinn, zu denjenigen Mitarbeitern, die unmittelbar Personalangelegenheiten bearbeiteten, siehe: DO 1 / 26.0, 17600, DWK, HV Leichtindustrie, Namenliste „Personal, das unmittelbar Personalangelegenheiten bearbeitet“, vom 12.08.1948. Gleiches galt für Wehrmachtsoffiziere und scheinbar auch für leitende Mitarbeiter ehemaliger Reichsdienststellen, nicht aber für einstige Unteroffiziere, rangniedere Reichsbedienstete und Angestellte Jens Kuhlemann – Braune Kader 189 ferner bei nachgeordneten Organen.889 Doch sobald eine kontrollierende Dienststelle oder die SED von einer Personalabteilung erfuhren, die sich kaderpolitisch auf unerwünschte Weise zusammensetzte, kam es auch dort vor, dass sie Kritik übten und eine Umbesetzung veranlassten.890 Relativ unproblematisch scheint in den Ministerien demgegenüber der Zugang zu Pressestellen oder publizistischen Arbeiten gewesen zu sein. Manche Pgs. verfassten Fachartikel, hielten Vorträge und waren maßgeblich an der Erstellung von ressortbezogenen Zeitschriften beteiligt. Dabei überschnitten sich fachliche Inhalte zwangsläufig mit politischen.891 Einige NS-Belastete waren neben ihrer Arbeit in der zentralen Staatsverwaltung außerdem wissenschaftlich aktiv, etwa als Hochschuldozenten und im Rahmen von Forschungsaufträgen. Bei anderen war eine solche Verwendung zumindest geplant.892 Ein paar Ex-Nationalsozialisten pflegten ganz offiziell während ihrer Tätigkeit in der Verwaltung den Kontakt zu Wirtschaftsbetrieben und betreuten sie. Andere gehörten speziellen Fachkommissionen an. Ihr Wissen sollte auch bei der Ausbildung von Nachwuchskadern genutzt werden.893 All diese Formen der Nebentätigkeiten sind als Funktionshäufung der Kader zu sehen, zusätzlich zur Übernahme von Aufgaben in politischen Organisationen. Sie sind Beleg für die guten Fachkenntnisse der früheren Pgs., die möglichst vielfältig abgeschöpft werden sollten. Nicht nur für die leitenden Kader unter den ehemaligen Nationalsozialisten liegen viele Zeugnisse darüber vor, dass sie ihre Aufgabenbereiche im Griff hatten, anders als so manch andere Funktionäre.894 Ihre „Unersetzlichkeit“ kam im Einzelfall sogar darin zum Ausdruck, dass DDR-Regierungsdienststellen noch Arbeitsaufträge an sie erteilten, obwohl sie bereits aus politischen Gründen den Apparat verlassen mussten.895 Die Konzentration zahlreicher Aufgaben bei den ausgewiesenen Experten steigerte deren Stellenwert als Funktionselite. Sie führte jedoch auch unweigerlich zu ihrer Überlastung. Ferdinand Beer etwa war Leiter der Abteilung Forstwirtschaft in der Staatlichen Plankommission, Dozent für Forstpolitik und Betriebswirtschaft an der Forstakademie in Eberswalde, Leiter des dortigen Instituts für Forstpolitik und Betriebswirtschaft sowie Chefredakteur der Zeitschrift Forstwirtschaft / Holzwirtschaft. Das ehemalige NSDAPMitglied hatte damit in Personalunion einen Großteil der wichtigsten Funktionen inne, die in der DDR zu Beginn der fünfziger Jahre in Sachen Forstpolitik zu vergeben waren.896 Dabei stellte die SED 1951 fest, dass Beer sich mehr und mehr von der Verwaltung weg in Richtung Hochschule orientierte: »Hauptsächlich ist er jetzt in Eberswalde als Professor der Humboldt-Universität tätig, dadurch gerät seine Facharbeit im Ministerium in den Hintergrund. Es soll eine Regelung geschaffen werden, daß ein junger Genosse, der sich entwickelt hat, ihn im Ministerium (Staatl[iche] Plankommission) allmählich ersetzt und er 889 890 891 892 893 894 895 896 früherer Wirtschaftsverbände, siehe: DO 1 / 26.0, 17198, Personelle Zusammensetzung der Personalleiter der Ministerien der DDR und der angeschlossenen Dienststellen per 1. November 1950, S. 61 f. Ein früherer SD-Offizier, der „angebl[ich] Jugoslav[ien-] Referent d[er] Personalabt[eilung]“ war und dessen sich der Staatssicherheitsdienst angenommen hatte, fand sich beim Berliner Rundfunk, Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 320. Vgl. einen Wehrmachtsoffizier in einer nachgeordneten Dienststelle, der durch „die Sorglosigkeit der leitenden Funktionäre“ Hauptsachbearbeiter für Kaderfragen wurde, in: DO 1 / 26.0, 17168, Staatliches Komitee für Körperkultur und Sport, Arbeitsbericht des I. Quartals 1954, undatiert, S. 2 f. Beispiele (Konstantin Pritzel, Bernd Veen, Hans W., Heinz B.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 320. Beispiele (Bernd Veen, Hans Mat.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 320 f. Ein Beispiel (Gerhard H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 321. Zur abwartenden Haltung einer SED-Prüfkommission zu Josef Schaefers siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 321. So im Fall von Gerhard B., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 321. BStU, AU 5/52, Band 1, Bl. 22 f., [MfS,] Vermerk, vom 14.04.1951 (SPK, Verleih, Arbeitsweise der Abteilung Forstwirtschaft in der Staatlichen Plankommission und der HA IV Forstwirtschaft im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft). Jens Kuhlemann – Braune Kader 190 sich fast ausschliesslich in Eberswalde betätigt, wobei er den Wunsch hat, in der Frage des Holzanbaus auch weiterhin operativ tätig zu sein.«897 Die Berücksichtigung persönlicher Aufgabenwünsche scheint allerdings nicht immer so reibungslos vonstatten gegangen zu sein, wie sich das hier andeutet. Ein Jahr später sagte Beer nämlich Folgendes: »Man hatte mich mit Funktionen und Funktionen überlastet, ich wollte an die Universität, aber man liess mich nicht gehen. [...] Ich habe bei meiner Einstellung gesagt, beruft einen anderen, aber nicht mich. Ich bin Wissenschaftler, ich wollte an die Universität. Ich war mit meinen Nerven fertig.«898 Im Weiteren noch ein paar andere Beispiele zu den Tätigkeitsbereichen ehemaliger Nationalsozialisten. Grundsätzlich wurden alle Kader beobachtet und je nach Bewältigung des Aufgabengebietes und politischer Entwicklung an Ort und Stelle belassen oder nicht.899 Einen besonderen Akt der Intervention versuchte die SED hinsichtlich des Arbeitsgebietes des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Luitpold Steidle zu unternehmen. Der CDU-Politiker war im Sekretariat der DWK für Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Handel und Versorgung zuständig. Seiner Aufsicht unterstanden die entsprechenden Hauptverwaltungen. Nach Behandlung in den Abteilungen Personalpolitik und Wirtschaftspolitik sowie im Kleinen Sekretariat sollte im Juli 1949 allerdings eine offenbar schon seit längerem beabsichtigte „interne Aufgabenteilung“ zwischen Steidle und seiner Stellvertreterin Greta Kuckhoff vorgenommen werden.900 Die offizielle Funktion Steidles sollte dabei nicht angetastet werden. Im Ergebnis machte Walter Ulbricht dem stellvertretenden DWK-Vorsitzenden Bruno Leuschner den „Vorschlag“, eine Vereinbarung mit Steidle über eine Arbeitsteilung zwischen ihm und der SED-Funktionärin zu treffen und dies danach im Sekretariat der DWK beschließen zu lassen. Demnach sollte Steidle Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Fischwirtschaft bearbeiten, Kuckhoff demgegenüber Handel und Versorgung, Erfassung und Aufkauf (landwirtschaftlicher Güter).901 Die konkreten Motive für einen solchen Vorstoß sind unbekannt. Steidles Amtsführung ließ keine Konfrontation mit der SED-Linie erkennen.902 Ob diese Vereinbarung tatsächlich noch vor der Restrukturierung im Zuge der Staatsgründung getroffen wurde, ist aus den vorgefundenen Quellen ebenfalls nicht ersichtlich. Selbst wenn das geschah, wurde sie mit der kurze Zeit später erfolgenden generellen Neuverteilung der Ressorts zwar obsolet. Dieser Vorgang zeigt jedoch in aller Deutlichkeit, dass die SED-Führung auch in Angelegenheiten repräsentativer Spitzen der Blockparteien im Staatsapparat einen entscheidenden Einfluss ausübte. Eine Kompetenzverringerung aufgrund der NSDAP-Zugehörigkeit erfolgte allerdings nicht, weil der ehemalige Oberst der Wehrmacht sie zu diesem Zeitpunkt noch erfolgreich verbergen konnte. In seiner Zuständigkeit eingeengt und beobachtet fühlte sich Steidle aber dennoch. Nach einem Dossier des DDR-Staatssicherheitsdienstes von 1954 habe man ihn im Auftrag Georg Dertingers gedrängt, sein Ressort als Minister weiterzuführen. Er wollte es angeblich aufgeben, da man ihm „zu sehr auf die Finger sah“.903 Ein Stasi-Informant berichtete im selben Jahr über Steidle: »Von Natur ist er sehr weich und empfindlich. Es verärgerte ihn sehr, dass er bei der Gründung der DDR nicht, wie in der DWK, das 897 898 899 900 901 902 903 DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 145, Protokoll der Sonderkommission, [SED-Mitgliederüberprüfung 1951,] vom 27.02.1951. BStU, AU 5/52, Band 5, Bl. 40, I. große Strafkammer des Landgerichts Greifswald, Sitzungsprotokoll, vom 04.04.1952. Ein Beispiel (Josef Schaefers) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 322. NY 4182/976, Bl. 69, SED-Hausmitteilung, Abteilungen Personalpolitik und Wirtschaftspolitik, Vorlage, an das Kleine Sekretariat, vom 25.07.1949; Zank, Zentralverwaltungen, S. 282; zu Arbeitsgebieten Steidles vgl.: NY 4062/9, Bl. 25. NY 4182/976, Bl. 71, Walter [Ulbricht], an DWK, Leuschner, vom 28.07.1949. Zank, Zentralverwaltungen, S. 266. BStU, MfS A 4, 449/54, Band 7, Bl. 99, [MfS,] Bericht [1954]. Jens Kuhlemann – Braune Kader 191 Landwirtschaftsministerium erhielt, sondern das Ministerium für Arbeit und Gesundheit. Es bedurfte starker Überrednung [sic], daß er das Ministeramt annahm. Als er 1950 auf das Gesundheitsministerium beschränkt wurde, gab es in meiner Gegenwart Weinkrämpfe, weil er darin ein Mißtrauen gegen seine Person erblickte. Seine Unsicherheit wird noch dadurch gesteigert, daß er für sein gegenwärtiges Fachgebiet keine Sachkenntnisse besitzt.«904 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das Politbüro der SED 1950 zunächst beabsichtigte, Steidle zum Minister für Handel bzw. für Handel und Versorgung zu machen. Der bisherige Amtsinhaber Karl Hamann (LDPD) sollte dafür Gesundheitsminister werden.905 Warum sich dieser Personalvorschlag am Ende nicht durchsetzte, allerdings ebenso wenig der Wunsch Steidles nach dem Landwirtschaftsressort, geht aus den Quellen nicht konkret hervor. Offenkundig waren es jedoch Erwägungen der Blockpolitik und die Berücksichtigung aller kleineren Parteien mit adäquaten Spitzenposten, die zu einer relativen Beliebigkeit des Arbeitsgebietes des CDU-Repräsentanten führten. Demnach stand der Bauernpartei fast zwangsläufig das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft zu. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern DDR-Spitzenpolitiker eigentlich etwas von der ihnen anvertrauten Materie verstanden, wenn sie wie Steidle als Gesundheitsminister nie etwas mit Medizin, Krankenpflege oder dergleichen zu tun hatten. Der ehemalige Berufssoldat selbst suchte darüber hinaus die Gründe für seinen Ressortzuschnitt anscheinend weniger in übergeordneten politischen Interessen als vielmehr in seiner Autobiografie. Er scheint befürchtet zu haben, dass ihn die SED nicht als vollwertig resozialisierten Wehrmachtsoffizier akzeptierte, dem man jedwede Aufgabe übertragen konnte. Dieser Eindruck wird Steidle alles andere als ermutigt haben, sich den Kommunisten wegen seiner verheimlichten NSDAPZugehörigkeit doch noch anzuvertrauen. Vielleicht spiegelte das angesprochene „Misstrauen“ aber auch seine Angst wider, dass die SED-Führung in Sachen verschwiegener NSDAPZugehörigkeit einen Verdacht hegen könnte und deshalb seinen Zuständigkeitsbereich einschränkte. Der ehemalige Pg. Harald Schaumburg stellte in gewisser Hinsicht ein Gegenbeispiel hierzu dar. Denn dessen Kompetenzen wurden tendenziell ausgeweitet, bei anfänglich noch ungenutztem persönlichem Potenzial. Wenngleich die Ursachen für die einzelnen Etappensprünge nicht immer explizit genannt werden, dürften sie generell neben fachlichen Qualitäten auch in einem wachsenden politischen Vertrauen zu suchen sein. Zunächst bewarb sich Schaumburg bei der ZV Handel und Versorgung als Kreditreferent in der damaligen Abteilung „Finanzierung“. Die Einstellung erfolgte im September 1945. Er sollte die Preisabteilung in der Zentralverwaltung aufbauen. Trotz fremder Materie gelang es ihm „mit Unterstützung der sowjetischen Freunde“ und in enger Zusammenarbeit mit der ZV Finanzen. Dazu schrieb der Regierungskader rückblickend: »Im Jahre 1948 war der Aufbau der Preisabteilung soweit fortgeschritten dass ich glaubte, durch die Leitung dieser Abteilung nicht voll ausgelastet zu sein. Ich [...] erhielt als weitere Abteilung eine Abteilung der Lebensmittelindustrie (Referate Getreide, Zucker, Kartoffeln, Getränke). [...] Bei Ausscheiden des Gen[ossen] Kurt Ritter, der damals in die Hauptverwaltung Wirtschaftsplanung berufen wurde, übernahm ich dessen Hauptabteilung Planung und Statistik in der Hauptverwaltung Handel und Versorgung. Das war am 1.2.1949. [...] Bei Bildung der DWK und Errichtung der selbständigen Hauptverwaltung Lebensmittelindustrie schied ich am 1.6.1949 aus Handel und Versorgung aus und übernahm bei der [HV Lebensmittel-] Industrie die neu aufzubauende kaufmännische Abteilung und die Abteilung Genussmittelindustrie. Es war also wieder ein doppeltes Pensum. Später tauschte ich auf Wunsch der SKK die Abteilung Genussmittelindustrie mit der Planungsabteilung aus.« 904 905 BStU, MfS A 4, 449/54, Band 24, Bl. 585, [MfS,] Dossier Steidle [1954]. DY 30 / IV, 2/2/114, Bl. 2, 38 f., Protokoll Nr. 14 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees am 17.10.1950; DY 30 / IV, 2/2/116, Bl. 3 f., Protokoll Nr. 16 der Sitzung des Politbüros der SED vom 31.10.1950. Jens Kuhlemann – Braune Kader 192 Etwa im Februar 1950 gab Schaumburg die Leitung der kaufmännischen Abteilung im Ministerium für Industrie, HV Lebensmittelindustrie, aus gesundheitlichen Gründen ab. Er war schlicht überlastet. Der früherer NSDAP-Angehörige behielt jedoch ebenda die Abteilung Planung, bis es wenige Monate später erneut zu einer Umbesetzung kam: »Im Juni 1950 verhandelte die Gen[ossin] Erna Trübenbach mit mir über meine Rückkehr zu Handel und Versorgung und zwar sollte ich die koordinierende Planung übernehmen. Da ich in der Zwischenzeit persönliche Differenzen mit dem Genossen Erich T[...] hatte, war ich mit dieser Aufgabenveränderung einverstanden. Mein Ausscheiden wurde ausserdem durch Maßnahmen des Gen[ossen] T[...] beschleunigt.« Seit Juli 1950 leitete Schaumburg dann die Abteilung „Koordinierende Planung“ im Ministerium für Handel und Versorgung.906 Diese stand über den Hauptabteilungen und war direkt dem Staatssekretär unterstellt.907 Die Kaderverantwortlichen waren mit seiner Aufgabenerfüllung sehr zufrieden. Das unterstreicht, dass die doch recht häufigen Aufgabenwechsel nicht persönlichen Defiziten geschuldet waren, sondern im Rahmen einer allgemein hohen Personalfluktuation und -not im Regierungsapparat anzeigten, dass der ehemalige Pg. im Gegenteil vielseitig verwendbar war. Es bestand erheblicher Bedarf an sachverständigen Führungskräften, die immer an den jeweils wichtigsten Stellen einzusetzen waren und oft kurzfristig umbeordert wurden, sobald sich die Notwendigkeit eines Einsatzes woanders größer ausnahm. Die individuelle Abwägung aller Kaderkriterien einschließlich der Einschätzung der ideellen Entwicklung ging der Zuordnung eines bestimmten Arbeitsgebietes mit seinen spezifischen fachlichen Anforderungen und seiner machtpolitischen Bedeutung natürlich voraus. Das Ministerium für Handel und Versorgung urteilte: »Schaumburg ist der Fachmann für koordinierende Planung. Bereits im Ministerium für Industrie hat er diese Aufgabe erfüllt und dank seiner Intelligenz und seines großen fachlichen Wissens beste Erfolge gehabt.«908 Wie sich zeigt nahmen zumindest die leitenden Verwaltungskader unter den NSBelasteten auch strategische Aufgaben wie die Wirtschaftsplanung wahr. Sie konnten sich zudem durch ein großes Maß an Schaffung und Erhalt exklusiver Informationen auszeichnen, die inhaltlich besonders weitreichend waren. Dies setzte sich auch nach Ausscheiden aus der zentralen Staatsverwaltung fort, wie für Hans Forsbach belegt ist. Die Landesregierung in Potsdam urteilte über ihren Mitarbeiter, dass »der Genosse Forsbach der einzigste Genosse im Lande Brandenburg ist, der über die Vorschläge und Unterlagen für den 5-Jahrplan informiert ist und daran mitgearbeitet hat in einer zentralen Kommission, die sehr vertraulich durchgeführt wurde. Darüberhinaus ist klar, dass Forsbach als Verantwortlicher für die Wirtschaftsplanung sehr grossen Einblick in unser gesamtes Wirtschaftsgeschehen hat.«909 Zusammenfassend ist zu sagen, dass die NS-Belasteten innerhalb der DWK und DDRRegierung nicht in allen Fachressorts gleichmäßig stark vertreten waren. Domänen waren die im engeren Sinne wirtschaftsorientierten. In macht- und sicherheitspolitisch besonders bedeutsamen Zweigen fanden sie sich hingegen wesentlich seltener. Dort galt aufgrund eines latenten Restes an Misstrauen annähernd „zero tolerance“ gegenüber ehemaligen NSDAPMitgliedern und im Extremfall auch gegenüber allen anderen Personen, die irgendeiner NSOrganisation angehört hatten. In anderen Bereichen waren sie demgegenüber teilweise mit verantwortlichen Aufgaben betraut und übten arbeitstechnisch einen nicht unerheblichen Einfluss auf ihr Fachgebiet aus. Dieses Prinzip galt entsprechend für die jeweils 906 907 908 909 Schaumburg war in der HV Lebensmittelindustrie und Fischwirtschaft nach Angaben der Hauptverwaltung Hauptabteilungsleiter, siehe: DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 53-55, Schaumburg, Lebenslauf, [geschrieben anlässlich der SED-Mitgliederüberprüfung 1951], undatiert [1951]; DO 1 / 26.0, 17601, DWK, HV Lebensmittelindustrie und Fischwirtschaft, Beurteilung über Harald Schaumburg, vom 01.07.1949. DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Handel und Versorgung, Abteilung I Personal, Erläuterungen zum Bericht über das II. Quartal 1950, an MdI, HA Personal, vom 30.06.1950, S. 1. Zitiert nach Unterlagen der ZKK, siehe: DC 1 / 2575, XX/22, ZKK, Personalauszug, vom 13.06.1952, S. 2. DC 1 / 2601, [Landesregierung Brandenburg,] Abteilung Wirtschaftspolitik, an [Landesregierung Brandenburg,] Kaderabteilung, vom 11.05.1950 (Abschrift). Jens Kuhlemann – Braune Kader 193 nachgeordneten Organe. Faktisch hielt die genannte Verteilung im gesamten Untersuchungszeitraum mit kleineren Abweichungen an, unbeschadet der zeitweilig rechtlichen Verwehrung bestimmter Arbeitsbereiche. 2.1.10 Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen Der Positionsansatz ist ein Hilfsmittel, um den Umfang der einem Kader zur Verfügung stehenden Macht zu umreißen. Er umgrenzt Gestaltungsfreiräume und Verantwortlichkeiten. Dadurch ist die Höhe der jeweils erklommenen Stufe auf der Hierarchie-Leiter auch ein Indiz für das vorhandene oder nicht vorhandene Vertrauen, das die Kaderverantwortlichen den Betreffenden schenkten, insbesondere politisch gesehen. Andererseits konnte sie auch Zeichen für die fachlichen Qualitäten der Person sein bzw. für den Zwang, Spezialisten an Stellen einzusetzen, in denen sie ihre Kompetenz ausreizen konnten. Eingeschränkt wird die Aussagekraft in puncto Einflussmöglichkeiten bestimmter Funktionsträger in der zentralen Staatsverwaltung durch die Entscheidungsgewalt der SMAD und der SED-Führung. Um die Aufstiegsmöglichkeiten und den Autonomiegrad der ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und DDR-Regierung wenigstens grob zu beschreiben, ist der Positionsansatz jedoch quellenbedingt noch immer der beste. Denn zum einen sind die eingenommenen Ämter gut dokumentiert. Zum anderen stehen sonstige Herangehensweisen wie der Reputationsansatz auf relativ tönernen Füßen, weil die NS-Vergangenheit der hier untersuchten Kader nur wenigen im Mitarbeiterkreis oder gar in der Bevölkerung bekannt war. Es ist daher schlecht zu beurteilen, inwiefern die politische Belastung das Ansehen dieser früheren NSDAP-, SAund SS-Mitglieder im damaligen sozialen Umfeld beeinflusste. Ein recht hohes Prestige genossen viele von ihnen zwar beispielsweise aufgrund ihrer Bildung und fachlichen Leistung.910 Dieser Umstand wurde aber von Außenstehenden in der Regel nicht in Bezug zur NS-Belastung gesetzt, weil das Wissen darüber fehlte. Wo es vorhanden war, hing die Reputation sehr von der jeweiligen Bezugsgruppe ab. SED-Mitglieder und vor allem NSOpfer sowie Altkommunisten zollten den Pgs. tendenziell weniger Achtung als ein unpolitischer Durchschnittsbürger oder ein anderer NSDAP-Angehöriger. Man kann aber davon ausgehen, dass ehemalige Nationalsozialisten, die es in höhere oder kompetenzreiche Positionen schafften, auch bei der kommunistischen Wertelite und den Kaderabteilungen eine höhere Akzeptanz, ein größeres Ansehen und Vertrauen genossen als andere NS-Belastete. Beim Positionsansatz lege ich zugrunde, dass die DWK und DDR-Regierung zentrale Organisationen darstellten, die es den Eliten an ihrer Spitze erlaubten, (para-)nationale Politik regelmäßig und nachdrücklich zu beeinflussen. Beeinflussung konnte dabei natürlich nur in einem Rahmen erfolgen, der die dominante Rolle der SMAD und der SED-Führung als übergeordnete Planungs- und Entscheidungsinstanzen beachtete.911 Stellungnahmen des Politbüros und Zentralkomitees oder „Bitten“ der Besatzungsmacht konnten Befehlen gleichkommen. Der Handlungsspielraum der Leitungsebene im Staatsapparat war somit deutlich begrenzter als in einer freiheitlichen Demokratie. Ihre Macht- und 910 911 Siehe Kapitel „Bildung und Weiterbildung“ sowie „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz“. Vorlagen der DWK für die SMAD waren auf der Fachebene vorzubereiten. Befehls- und Verordnungsentwürfe, die häufig auf deutsche Entwürfe zurückgingen, durften erst nach Zustimmung des DWK-Sekretariats an die SMAD weitergeleitet werden. Insbesondere Grundsatzfragen wurden mit den zuständigen SMAD-Fachabteilungen besprochen. Das Kontrollnetz war also dicht gespannt, Handeln im Alleingang von deutscher Seite aus im größeren Maßstab relativ schwer möglich, siehe: Foitzik, Inventar, S. 41 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 194 Handlungsbefugnisse nahmen daher mit steigender Hierarchie nicht zwangsläufig zu.912 Gleichwohl galt das Prinzip der Einzelverantwortung, sowohl der Dienststellen als auch der Mitarbeiter.913 Deren Initiative und Organisationstalent war gefragt, was ihre Bedeutung hinsichtlich der Systemfunktionalität steigerte. Hierin lag aber auch ein gefährliches Risiko, weniger für die Machthaber, die ihre Vorgaben korrekt umgesetzt sehen wollten, als vor allem für die Kader, die im konkreten Einzelfall Richtlinien zu interpretieren und für Fehlentwicklungen den Kopf hinzuhalten hatten. Dabei verfügten sie wegen der Geheimhaltungspolitik und der unerwünschten horizontalen Kommunikation oft nicht über alle relevanten Informationen.914 Entscheidungsprozesse in der SBZ/DDR waren nicht eindeutig strukturiert. Die Möglichkeiten und die Verantwortung von Positionsinhabern lassen sich daher nicht immer klar umreißen.915 Angestellte waren einerseits abhängig und sollten Zielvorgaben gehorsam ausführen, andererseits selbständig und kreativ in der Anwendung sein, um eine möglichst effektive Umsetzung zu erreichen. Daraus resultierte ein Doppelcharakter, der sich aus einem bloßen Befehlsempfänger und einem selbständigen Mitarbeiter zusammensetzte. Die übergeordnete politische Richtung war jedoch im Grundsatz für alle verbindlich.916 Angeblich charakteristische Merkmale der Dienstklasse (Ausübung von Herrschaft, autonome Gestaltung der Arbeitssituation, beaufsichtigende Tätigkeit) stoßen hier also an ihre Grenzen.917 Unter die strategischen Führungspositionen, zur Elite im engeren Sinne, zähle ich deshalb nur Minister, stellvertretende Minister, Staatssekretäre und vergleichbar hohe Posten. Für diese enge Begrenzung spricht neben der internen Machtposition die sich merklich abhebende intersektorale Vernetzung, etwa mit Parteiführungen, und der dadurch gestärkte Zusammenhalt von Eliten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Außerdem entfielen die repräsentativen Funktionen gegenüber der Öffentlichkeit im Wesentlichen allein auf sie. Die genannten Kriterien trafen nur in deutlich beschränktem Maße auf andere Leitungskader wie Hauptverwaltungs- und Hauptabteilungsleiter zu, so dass ich diese zusammen mit den Abteilungs-, Gruppen- und Kaderleitern zur Subelite rechne. Hinzu kamen noch die persönlichen Referenten der Minister, die deren besonderes Vertrauen genossen und durch Kontaktpflege, Themenselektion, -vorbereitung und Beratung den Arbeitsablauf ihrer Patrone immens beeinflussten. Ihre Position verlieh ihnen also durchaus informelle Macht.918 Das Ministerium des Innern zählte alle genannten Positionen zusammen mit weiteren Angestellten, die der Besoldungsgruppe nach mit ihnen vergleichbar waren, zu den „leitenden Mitarbeitern“. Auf der mittleren Ebene rangierten von oben nach unten die Hauptreferenten, Oberreferenten und Referenten. Diese können wir zu den Professionen rechnen. Obwohl die DWK und das MdI die Hauptreferenten bis 1952 den leitenden Funktionen zuordnete, ist eine Zuordnung zur mittleren Ebene hinsichtlich eines Vergleichs mit den darauffolgenden Jahren sinnvoll. In der institutionellen Hierarchie folgten dann die Hauptsachbearbeiter, Sachbearbeiter und Hilfssachbearbeiter. Das untere Ende bildeten schließlich die Sekretärinnen und Stenotypistinnen. Auf diese Positionen passt in ganz überwiegendem Maße die Bezeichnung der Subprofessionen.919 912 913 914 915 916 917 918 919 Ross, Aufstieg, S. 150; vgl. Welsh, Eliten, S. 147. Vgl. Richert, Macht, S. 159. Zimmermann, Überlegungen, S. 349. Hübner, Einleitung, S. 11. Hübner, Einleitung, S. 27 f. Herz, Dienstklasse, S. 231-233, 238. Beispiele zu persönlichen Referenten (Wikary, Cramer, Ludwig, Gerstner) von hohen Funktionären siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 329. Eine Auflistung von Angehörigen des NS-Samples, die in der DWK oder DDR-Regierung die Position eines Hauptreferenten einnahmen, siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 329 f. In der SBZ standen nach den Besoldungsrichtlinien am unteren Ende Stenotypistinnen, Boten, Pförtner. Darüber rangierten Hilfssachbearbeiter. Dann kamen die Sekretärinnen. Es folgten die Sachbearbeiter und die weiteren Positionen wie beschrieben. Zur Einteilungsdefinition siehe auch Einleitung und Kapitel „Berufliche Jens Kuhlemann – Braune Kader 195 Das Personal der DDR-Regierung lässt sich auch anderweitig klassifizieren. Das Ministerium des Innern unterschied es in leitende Mitarbeiter und sonstige. Ich benenne die Gruppe der Leitungskräfte aufgrund ihrer teilweise umfassenden Führungsaufgaben zusätzlich als obere Dienstklasse. Auf der anderen Seite bildete die Referentenebene die untere Dienstklasse. Ihre Angehörigen hatten zwar kaum Führungsaufgaben, aber dennoch schwierigere Arbeiten eigenverantwortlich zu erfüllen. Ähnlich verhielt es sich vermutlich mit dem sogenannten „Fachpersonal“, das erst ab 1952 statistisch als solches erfasst wurde. Dazu gehörten zum Beispiel wissenschaftliche Mitarbeiter und Juristen. Das MdI zählte es nicht zu den eigentlichen Verwaltungsangestellten. Ihrem Tätigkeitsfeld nach stellten diese Mitarbeiter zumeist Professionen dar und übten durch ihre Arbeit inhaltlichen Einfluss auf die Verwaltungsabläufe aus. Da das Fachpersonal jedoch als quasi externes Arbeitskraftreservoir vermutlich über keine formalen Entscheidungskompetenzen verfügte, erscheint eine Zuordnung zur unteren Dienstklasse nur eingeschränkt möglich. Die Sachbearbeiterebene zähle ich zusammen mit den Sekretärinnen und Stenotypistinnen zur Nichtdienstklasse. Denn sie verrichteten dem Anforderungsprofil nach vergleichsweise einfache Tätigkeiten. Gleiches gilt für die technischen Kräfte, die die Personalabteilungen ebenso wenig zu den Verwaltungsangestellten im engeren Sinne zählten. Darunter fielen Putzfrauen, Boten, Chauffeure, Hausmeister etc. In Betracht zu ziehen sind gewisse Übergangszonen wie die der Hauptreferenten, die teilweise auch Führungsaufgaben wahrnahmen. Eine unflexible Gruppeneinteilung ist daher fehl am Platze.920 Die Höhe der eingenommenen Position beeinflusst die Professionalisierung. Da die Entscheidungskompetenzen in der institutionellen Hierarchie nach oben hin wachsen, vergrößert sich die individuelle Durchsetzungsfähigkeit. Darüber hinaus dürfen wir annehmen, dass mit steigendem Positionsniveau auch die Zusammenarbeit mit anderen Sektoren des öffentlichen Lebens an Intensität gewinnt. Doch selbst wenn die Kontakte zu anderen Organisationen häufiger werden, bedeutet dies nicht, dass gleichzeitig diejenigen innerhalb des eigenen Sektors zunehmen.921 Angewandt auf den zentralen DDRRegierungsapparat heißt das, dass die leitenden Angestellten, Staatssekretäre und Minister zum Beispiel mit der SKK, dem SED-Politbüro oder den Leitungen der Blockparteien und Massenorganisationen in relativ enger Verbindung standen. Die Mitarbeiter auf den mittleren und unteren Ebenen taten das hingegen nicht. Dies traf auch für die ehemaligen Nationalsozialisten im Personal zu. Gleichzeitig hat ein quasi externer Austausch die 920 921 Karriereverläufe“ sowie: DO 1 / 26.0, 17452, 20/57/2/2; zu Personalleitern siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17338, 1/51/2/2, 2/51/2/1, 3/51/2/1; Die Unterscheidung in obere und untere Subelite entfällt, da es sich bei der DWK um eine auf (quasi-) nationaler Ebene angesiedelte Einrichtung handelte und nicht um eine kommunale. Zur Klassifizierung siehe: Machatzke, Elitestudie, S. 35; Schneider, Verwaltung, S. 209 f.; Boyer, Kader, S. 18. DWK und MdI zählten Hauptreferenten bis 1952 zu den leitenden Mitarbeitern. Wie es scheint, haben Hauptreferenten auch danach manchmal (kommissarisch) eine Abteilung geleitet, ohne die Planstelle eines Abteilungsleiters zu besetzen. Die Beschäftigung ehemaliger Pgs. auf Honorarbasis war allgemein eine weitere Möglichkeit, eine lose Zusammenarbeit einzugehen. Dieser Status war auf klar eingegrenzte Arbeiten beschränkt, die für die Verwaltung dennoch von Bedeutung sein konnten. Dabei gingen die Personalabteilungen nebenbei eine geringere Gefahr ein, dass politisch Belastete dauerhaft Gelegenheit bekamen, sich einen größeren Überblick über die Arbeit der Dienststelle zu verschaffen. Grundsätzlich unterstanden aber auch Honorarempfänger denselben kaderpolitischen Auswahlkriterien wie alle anderen Beschäftigten. In diesem Zusammenhang sind darüber hinaus Mitarbeiter zu nennen, deren Beschäftigungsverhältnis auf Einzelverträgen beruhte (z.B. bei Wilhelm Salzer ab 1952, Hans Mat. um 1955 mit Sondergehalt). Dadurch ließen sich besondere Konditionen und zusätzliche Zahlungen aushandeln. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 330; siehe ferner eine Namenliste des Statistikressorts über Honorarempfänger, die praktisch alle mit wissenschaftlichen Arbeiten befasst waren und ehemals der NSDAP und / oder dem Statistischen Reichsamt angehörten, in einem Falle dem OKW, in: DE 2 / 991, Namenliste, undatiert. Zur Einteilungsdefinition siehe Einleitung und Kapitel „Berufliche Karriereverläufe“. Sauer / Schnapp, Elitenintegration, S. 267 f.; Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 293. Jens Kuhlemann – Braune Kader 196 Kommunikationsdichte von Vertretern einzelner Hierarchiestufen innerhalb der jeweiligen Verwaltungsdienststellen nur bedingt begünstigt. Zwar trafen sich Angehörige aller Positionshöhen beispielsweise in der SED-Betriebsgruppe. Doch die Gesprächsthemen waren limitiert. Außerdem gehörten viele Kader der SED weiterhin nicht an und blieben außen vor. Darüber hinaus kam der Leiter einer Abteilung zwar regelmäßig mit „seinen“ Referenten zusammen, nicht aber zwangsläufig mit denen eines anderen Abteilungsleiters. Schließlich saßen im Ministerrat zwar die Spitzen der Regierungsdienststellen strukturell an einem Tisch. Den „normalen“ Kadern fehlte eine solche interministerielle Begegnung mit Kollegen aus anderen Ressorts jedoch, egal welcher Hierarchie-Ebene sie zuzurechnen waren. Die Kontakthäufigkeit der NS-Belasteten untereinander, die sich auf sämtliche Rangstufen verteilten, erfuhr aus den genannten Gründen kaum eine fördernde Wirkung. Nun zu den empirischen Befunden: Zur Spitze der Deutschen Wirtschaftskommission gehörten die Mitglieder des Sekretariats und in der DDR-Regierung die berufenen Minister und Staatssekretäre. Bei ihnen ist die typische, mit zunehmender Positionshöhe stärker ausgeprägte, sich vor allem auf Partei und Staatsapparat erstreckende Häufung von Ämtern und Funktionen nachweisbar.922 Die Statistikquellen des MdI schließen sie nicht unter leitende Angestellte mit ein. Gesonderte Auflistungen vom Beginn der fünfziger Jahre sind nur für zwei Personalstatistiken bekannt, die eine mit Stand vom 31.12.1950, die andere datiert vom 31.12.1951. Sie betreffen explizit und exklusiv Minister (25 bzw. 27) und Staatssekretäre (34 bzw. 43). Zum ersten Termin soll demnach kein Minister und nur ein Staatssekretär ehemaliges NSDAP-Mitglied gewesen sein. Da der frühere Pg. Wilhelm Feldmann bereits im November 1950 zum Minister für Leichtindustrie berufen wurde, stimmt die Statistik nicht. Es kann sein, dass dem Ministerium des Innern die Kadermerkmale dieser höchsten Staatsfunktionäre nur mit zeitlicher Verzögerung oder, was die seltenen Quellen zu diesem Personenkreis nahe legen, nur bruchstückhaft zur Kenntnis kamen. Die SEDParteiführung wird in diesen Fällen besser informiert gewesen sein. Bei dem Staatssekretär handelte es sich um den ehemaligen DWK-Leitungskader Alfred Wunderlich. Ein Jahr später weist die Statistik des MdI einen Minister und einen Staatssekretär als frühere Pgs. aus, offensichtlich die beiden genannten NDP-Mitglieder.923 In den Folgejahren kamen jedoch eine ganze Reihe weiterer Pgs. hinzu,924 und zwar mehr als die Forschung bis vor wenigen Jahren vermutete.925 Die Toleranz der SED-Führung gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten in den Chefetagen der Ministerien nahm also im Laufe der fünfziger Jahre deutlich zu. Ein stärkeres Effizienzbemühen angesichts ihrer sich 922 923 924 925 Siehe die umfassenden Darstellungen am Beispiel von vier Ministern bzw. Staatssekretären im Abschnitt 3 „NS-belastete hohe Staatsfunktionäre“ in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 842-967; vgl. Rautenberg, Eliten, S. 195. Siehe dazu ausführlich die Kapitel über Feldmann und Wunderlich in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 870888, 918-967; siehe ferner die Statistikquellen in: DO 1 / 26.0, 17341, [MdI, HA Personal,] Personalstatistik, Stand vom 31.12.1950; DO 1 / 26.0, 17321, [MdI, HA Personal,] Personalstatistik, Stand vom 31.12.1951. Siehe die umfangreichen Ausführungen zu Paul Straßenberger (ehemaliges SA-Mitglied) und Werner Winkler in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 843-869, 889-917; eine Auflistung von 17 weiteren Ministern und anderen hohen Staatsfunktionären mit NS-Belastung siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 331 f.; Nationalsozialisten (1958), S. 16; Stern, Nazis, S. 178; Kappelt, Braunbuch, S. 16 f.; 186; Kappelt, Entnazifizierung, S. 145, 150 f., 154-161, 171 f.; Joseph, Nazis, S. 121-125, 130; Baumgartner / Hebig, Handbuch, S. 694; zur Fragebogenfälschung vgl. Max Hartwig (stellv. Staatssekretär für Kirchenfragen) und Karl-Heinz Bartsch (stellv. Minister für Landwirtschaft), in: ebd., S. 96; Danyel, SED, S. 180; Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 961; Joseph, Nazis, S. 129; Baumgartner / Hebig, Handbuch, S. 519; MüllerEnbergs / Wielgohs / Hoffmann, DDR, S. 688; weitere ehemalige NSDAP-Mitglieder, die als (stellv.) DDR-Minister und in vergleichbaren Ämtern fungierten, siehe: Kappelt, Braunbuch, insbesondere S. 16 ff.; ders, Entnazifizierung. In einer Beilage zur Wochenzeitschrift „Das Parlament“ hieß es 1997, es habe unter den Ministern bzw. stellvertretenden Ministern nur zwölf ehemalige NSDAP-Mitglieder gegeben, zitiert nach: Joseph, Nazis, S. 106 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 197 verfestigenden Macht mag hierfür der Grund gewesen sein, ebenso die sich mit den Jahren häufenden Gelegenheiten, sich als loyale und nützliche Kader zu beweisen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass nur ein sehr kleiner Kreis von Personalverantwortlichen über die Lebensläufe solcher Spitzenkader genauestens im Bilde war. Die meisten Kollegen, geschweige denn die Bevölkerung hatte von deren NS-Vergangenheit keine Ahnung. Sie wurden, um die antifaschistische Staatsdoktrin nicht in Frage zu stellen, hierüber bewusst in Unkenntnis gelassen. Und wer davon wusste, legte wie die SED einen eigenen Maßstab an die Glaubwürdigkeit einer Wendebiografie an und wog nach persönlichen politischen oder moralischen Werten ab, ob eine Personalentscheidung vertretbar war.926 Die zitierten Statistikquellen sind darüber hinaus einer von mehreren Belegen dafür, dass zumindest der Minister für Arbeit und Gesundheitswesen, Luitpold Steidle, den Behörden seine kurzzeitige NSDAP-Zugehörigkeit verschwieg. Der zuvor stellvertretende DWK-Vorsitzende war somit anscheinend das einzige Sekretariatsmitglied in der Deutschen Wirtschaftskommission, das der NSDAP angehörte, wenn auch als Biografiefälscher.927 Wie verhielt es sich nun mit der Masse des Apparates unterhalb der obersten Führungsebene? Die Gliederung des Gesamtpersonals der DDR-Regierungsdienststellen in einzelne Positionshöhen wurde bereits erörtert.928 Deshalb gehen wir gleich zu den Funktionen über, die die Angehörigen des NS-Samples bekleideten.929 Die den Quellen entnommenen Zahlen geben das Binnenverhältnis innerhalb der Gruppe der ExNationalsozialisten wieder. Würden wir das technische und Fachpersonal unberücksichtigt lassen, so ergäben sich noch etwas höhere Prozentwerte für die reinen Verwaltungsangestellten. Es ist klar ersichtlich, dass die untersuchten NS-Belasteten in der Deutschen Wirtschaftskommission überdurchschnittlich oft Leitungspositionen belegten. Allein die Hauptabteilungs- und Abteilungsleiter machten bereits dreizehn Prozent des NSSamples aus. Berücksichtigen wir ferner, dass daneben bis 1952 auch die Hauptreferenten 926 927 928 929 Bis heute werden sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Intensität und Außenwirkung der politischen Säuberung deutlich, auch in der Forschung. Heike Amos schrieb über die Ernennung des ehemaligen Kriegsgerichtsrats Kurt Schumann zum Präsidenten des Obersten Gerichtes der DDR: »Unverständlich blieb, warum das SED-Zentralsekretariat an die Spitze eines so hohen Justizamtes einen Mann stellte, dem eine „NSDAP-Vergangenheit“ anhaftete. Die konsequente Entnazifizierung der Justiz stand dazu im Widerspruch. Auch wenn man berücksichtigte, daß die Wahl Schumanns ein Zugeständnis an die „SEDBlockpolitik“ war und seine fast sechsjährige politische Schulung in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft seine politische Zuverlässigkeit garantierte, erschien diese Besetzung als zumindest politisch sehr ungeschickt.«, siehe: Amos, Justizverwaltung, S. 126; zu Schumann siehe ferner: Fricke, Nazigrößen, S. 142; Herbst / Ranke / Winkler, Band 3. S. 310; Černý, DDR, S. 415 f.; Nationalsozialisten (1958), S. 35; Nationalsozialisten (1965), S. 84; Kappelt, Entnazifizierung, S. 126. Ein DWK-Sekretariatsmitglied besaß ein Weisungsrecht. Laut Personalstatistik über Minister und Staatssekretäre (Leiter übriger Regierungsdienststellen mit anderen Positionsbezeichnungen sind offensichtlich miterfasst) vom 13.11.1953 war Steidle ebenfalls kein Pg. Als ehemalige NSDAP-Mitglieder registriert waren hingegen Minister Wilhelm Feldmann, der zu dieser Zeit als Staatssekretär fungierende Hans Reichelt, Staatssekretär Alfred Wunderlich und Staatssekretär Werner Winkler. Paul Straßenberger wurde als früheres SA-Mitglied offenbar nicht gezählt. Theoretisch ist es denkbar, dass zwischen den genannten Erhebungsdaten der Statistiken noch andere Pgs. als Minister oder Staatssekretäre beschäftigt waren. Doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die genannten Funktionäre bis mindestens Ende 1953 sämtliche NSDAP-Mitglieder darstellten, die als Minister oder Staatssekretäre tätig waren, siehe: DO 1 / 26.0, 17319, 86/53/1/1, Personalstatistik über Minister und Staatssekretäre (S – E 2), vom 13.11.1953; DO 1 / 26.0, 17320, 88/53/1/1, Namenliste zu Nomenklaturfunktionären [1953]; NY 4182/976, Bl. 63-65, [DWK, Sekretariat Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Handel und Versorgung,] Kuckhoff, an die Vorsitzenden der SED, vom 13.10.1948; Stern, Nazis, S. 178. Siehe Kapitel „Personalbestand und Fachkräftemangel“. Zum Gesamtpersonal der DWK machen die vorgefundenen Statistikquellen keine Angaben zu Positionshöhen, Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333. Vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 222. Berücksichtigt wurde die höchste in der DWK nachweislich erreichte Position. Zu 143 von insgesamt 154 NS-Belasteten waren Positionshöhen zu ermitteln. Erläuterungen und eine grafische Darstellung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 f. (Abb. 45). Jens Kuhlemann – Braune Kader 198 noch zu den leitenden Angestellten zählten, so nahm sogar jeder fünfte ehemalige Nationalsozialist in der DWK eine Leitungsfunktion ein. In den Zentralverwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung gab es ebenfalls ehemalige Pgs. in leitenden Stellungen.930 SMAD-Befehl 35 vom Februar 1948 gestattete es zwar, nominelle NSDAP-Angehörige in der Verwaltung zu beschäftigen, jedoch nicht auf leitenden Posten.931 In diesem Sinne bekannte sich die DWK, HA Personalfragen und Schulung im März 1949 gegenüber der NDP und in einem behördeninternen Personalrundschreiben dazu, dass Bewerbungen ehemaliger Pgs. in der Verwaltung zwar unter bestimmten Bedingungen Berücksichtigung finden konnten. Das sollte aber nicht für leitende Stellungen gelten.932 Die erwähnten Zahlen sprechen eine andere Sprache und belegen eine zweckorientierte Personalpolitik. Es gab zwar stets von verschiedener Seite her Bemühungen, Ex-Nationalsozialisten aus Leitungsfunktionen abzulösen oder herauszuhalten. Nicht zuletzt wegen des notorischen Fachkräftemangels ließ sich dieser Vorsatz aber nicht einhalten.933 Die Subelite bzw. obere Dienstklasse war also relativ stark vertreten. Sie wurde aber noch deutlich je für sich von den Professionen bzw. der unteren Dienstklasse auf der einen Seite und den Subprofessionen bzw. der Nichtdienstklasse auf der anderen übertroffen. Denn ungefähr zwei Drittel der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Wirtschaftskommission befanden sich auf der mittleren Ebene der Referenten und am oberen Ende der unteren Verwaltungsschicht. Zu letzterer gehörten je 25 Hauptsachbearbeiter und Sachbearbeiter. Sie machten den Großteil des nach der Eingangsdefinition als Nichtdienstklasse zusammengefassten Personalsegments aus. Zumindest die Hauptsachbearbeiter bewegten sich sozusagen an der Schwelle zu den Professionen und zur unteren Dienstklasse. Im Gegensatz dazu fanden sich im NS-Sample nur sehr wenige Büround technischen Kräfte. Die eher einfachen und mechanischen Arbeiten, die eine relativ geringe Berufsqualifikation erforderten und für die es hinreichend politisch unbelastete Personalalternativen gab, musste die HA Personalfragen und Schulung eben nicht unbedingt mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzen. Generell galt, dass eine Dienststelle einigermaßen erleichtert war, wenn sie eine Zunahme des Pg.-Anteils in ihrem Personalbestand durch die Hereinnahme in untere Positionen erklären konnte. Der Rechtfertigungszwang fiel hier deutlich geringer aus als bei höheren Funktionen.934 Die dennoch starke Repräsentation in der unteren Führungsschicht sowie auf der mittleren Ebene und im oberen Bereich der unteren Verwaltungshierarchie spricht demgegenüber für die 930 931 932 933 934 In der DJV handelte es sich um Günter Scheele, siehe: Kapitel »Illegale Untergrundarbeit der „doppelten Parteigenossen“: Eintritt im Auftrag der KPD und SPD« und »Erkenntnis, Abkehr und Neuorientierung«; Rössler, Justizpolitik, S. 140-143; Amos, Justizverwaltung, S. 20; zur DVdI siehe: DO 1/7/211, Bl. 37 ff.; zur DVV siehe: DR 2 / 952; DR 2 / 643; DR 2 / 918; DR 2 / 999; Quellenangaben zu einem Pg., der Leiter einer nachgeordneten Dienststelle war, die dem Landwirtschaftsressort unterstellt war, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 f. DP 1 / VA 980, Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration und Oberbefehlshabers der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Nr. 35 über die Auflösung der Entnazifizierungskommissionen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, vom 26.02.1948; Kowalczuk, Stalin, S. 185. DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49, vom 25.03.1949; Boyer, Kader, S. 25 f.; zur inhaltsgleichen Anordnung für den nachgeordneten Apparat siehe: DM 3 / 284, DWK, HV Post und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung betr. Abschluß der Entnazifizierung, (veröffentlicht im Amtsblatt Nr. 17), vom 17.04.1948; DP 1 / VA 980, DWK, HV Post und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung Nr. 64/1948 betr. Abschluß der Entnazifizierung, vom 01.05.1948. Hinsichtlich einer nachgeordneten Dienststelle hieß es intern: »Soweit noch Mitglieder der ehemaligen NSDAP kommissarische Leitungen inne haben, soll eine Auswechselung vorgenommen werden, wenn entsprechende Kräfte [...] zur Verfügung stehen.«, siehe: DO 1 / 26.0, 3715, Besprechungsnotiz, betr.: Geologische Landesanstalt, vom 20.10.1948. DO 1 / 26.0, 17602, Hauptamt Verwaltung, Personalabteilung, Vierteljährliche Berichterstattung, an MdI, Abteilung Statistik, vom 03.07.1950, S. 3. Jens Kuhlemann – Braune Kader 199 fachlichen Qualitäten der NS-Belasteten. Gleichzeitig signalisieren sie weiterhin bestehende politische Vorbehalte, die ihnen nicht zuletzt auch die Posten mit dem größten Ausmaß an Kontroll- und Entscheidungsgewalt im Staatsapparat vorerst verwehrten. Eine Disproportionalität der Elitenrekrutierung, wonach mit zunehmender Positionshöhe kaderpolitisch günstige Merkmale häufiger auftreten, kam also bei ehemaligen Nationalsozialisten nur partiell zum Tragen.935 Je nach Posten (und Ressort) stachen mal die fachlichen Aspekte stärker hervor und mal die politischen. Inwiefern allgemein die geforderte politische Zuverlässigkeit der Dienststellenleiter zu Lasten ihrer fachlichen Qualitäten ging, sei hier dahingestellt. Vergleichen wir die Positionshöhen der Angehörigen des NS-Samples mit denjenigen der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in der DDR-Regierung 1950-1956, so setzte sich die skizzierte Verteilung mehr oder weniger fort. Allerdings gab es im Binnenverhältnis einige erhebliche Verschiebungen: Innerhalb der Gruppe der früheren Pgs. waren 1950 nur drei Prozent mit leitenden Funktionen betraut (Hauptreferenten nicht eingerechnet). Dieser Anteil stieg auf zuletzt 28%. Demgegenüber fiel der Anteil der mit übrigen Funktionen befassten ehemaligen NSDAP-Mitglieder gleichzeitig von 48 auf 13%. Relativ konstant war die Gruppe der Referenten mit 45-55% an allen beschäftigten Pgs., die der technischen Kräfte mit 4-7% und die des Fachpersonals mit zumeist etwa 5%.936 Diese Befunde untermauern, dass die ehemaligen Nationalsozialisten in den DDR-Regierungsdienststellen ganz besonders vom Ausbau der leitenden und mittleren Funktionen in den fünfziger Jahren profitierten. Dadurch gewann diese Subgruppe im Regierungspersonal weiter an Professionalisierung und Einfluss. Ein Vergleich der Binnenstruktur des NS-Samples mit den Positionshöhen, die sämtliche Mitarbeiter der DDR-Regierungsdienststellen einnahmen,937 scheint anhand der der DWK zeitlich am nächsten liegenden Werte zu bestätigen, dass die ehemaligen Nationalsozialisten mit Abstand häufiger leitende und mittlere Funktionen ausübten als ihre politisch unbelasteten Kollegen. Wesentlich seltener nahmen die „Braunen Kader“ demgegenüber untere Verwaltungsposten ein. Auch im technischen Personal waren sie unterrepräsentiert. Andererseits waren die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in solchen Stellen, die man Anfang der fünfziger Jahre wohl zum Fachpersonal gerechnet hätte, scheinbar wieder stärker vertreten als die NS-unbelasteten Angestellten. Ändern wir jetzt die Bezugsgruppe und betrachten statt der Binnenstruktur des NSSamples den Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder an den jeweiligen Hierarchie-Ebenen des DDR-Regierungsapparates 1950-1957. Dies schenkt weiteren Aufschluss darüber, mit welchen Aufgaben sich die Pgs. im Vergleich zu ihren Kollegen beschäftigten. Die Präsenz früherer NSDAP-Angehöriger auf der Leitungsebene entsprach dabei im öffentlichen Dienst der SBZ ziemlich genau derjenigen im DDR-Regierungsapparat des Jahres 1950.938 Danach waren zunächst nur 3% aller Leitungskader, von denen einige namentlich identifiziert werden konnten, einst in der NSDAP.939 Der Anteil stieg dann jedoch in bemerkenswerter Weise auf 935 936 937 938 939 Vgl. Best, Strategien, S. 243; Hübner, Einleitung, S. 21. Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 f. (Abb. 46), 335. Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 (Abb. 5 und 6), 335. Ein Diagramm siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 ff. (Abb. 47). Zum öffentlichen Dienst der SBZ siehe in diesem Zusammenhang: ebd., S. 336. Eine Auflistung von 19 Leitungskadern in den DDR-Regierungsdienststellen, die in der NSDAP und / oder SA organisiert waren, siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 336; Kurzbiografien zu Leitungskadern im NS-Sample siehe: ebd., Anhang 1; Joseph, Nazis, S. 18 f.; zu NS-belasteten Nomenklaturkadern siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17320, 88/53/1/1; BStU, AIM 701/70; BStU, AOP 159/61; siehe ferner ehemalige NSDAP-Mitglieder in niedrigeren Positionen in der DDR-Regierung oder in untergeordneten Verwaltungsstellen, in: DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 321-325; DY 30 / IV, 2/11/172, Bl. 199-203; DY 30 / IV, 2/11/175, Bl. 276-284, 621-627; DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 330-333; siehe insbesondere einen Pg. und Verwandten von Paul Merker, der Direktor in der DHZ Zellstoff und Papier war, in: DY 30 / IV, 2/11/175, Bl. 396-399. Jens Kuhlemann – Braune Kader 200 bis zu 10%.940 Bemerkenswert deshalb, weil der Anteil der Pgs. auf den anderen Ebenen ansonsten eher abnahm. Und das bei einer bis Ende der fünfziger Jahre insgesamt stark steigenden Anzahl von Leitungsposten, die vergeben wurden. Dieser Zuwachs scheint mir vor allem ein Beleg für das wachsende Vertrauen zu sein, das die Kaderverantwortlichen den betreffenden Ex-Nationalsozialisten entgegenbrachten. Sie übergaben ihnen mehr und mehr Kompetenzen, weil sie sich über einen immer längeren Zeitraum bewährt und in den Augen der Machtelite stetig an ihrer Resozialisierung gearbeitet hatten. Dieser Einflussgewinn entsprach ihrem fachlichen Können, so dass die betreffenden Positionen ein wenig mehr mit Leuten besetzt waren, die das nötige Wissen für diese Funktionen mitbrachten, die ihnen bis dato vorenthalten waren. So half der vermehrte Rückgriff auf frühere Pgs., die besonders eklatante Personalnot bei den Leitungskadern im Laufe der Zeit einigermaßen in den Griff zu bekommen. Diese NS-Belasteten verbanden Fachwissen mit Führungsqualitäten.941 In abgeschwächter Form galt dies auch für die mittleren Funktionen. Sie wurden zwar im gleichen Zeitraum nur relativ konstant zu circa 8% von ehemaligen NSDAP-Angehörigen besetzt, allerdings bei einer in absoluten Zahlen gerechneten Vervierfachung der insgesamt besetzten Referentenposten. Die übrigen Funktionen zeigen einen leichten Rückgang von 4 auf 2%. Soweit die Quellen eine Aufschlüsselung beinhalten, waren knapp die Hälfte der unter „übrige Funktionen“ zusammengefassten Regierungsangestellten Sekretärinnen und Stenotypistinnen. In diesem Teilsegment lag die Pg.-Quote deutlich niedriger als bei den höher rangierenden Sachbearbeitern. Deshalb täuschen die niedrigen Werte für die „übrigen Funktionen“ etwas über den tatsächlichen Einfluss hinweg. Den geringsten Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder zeigten die technischen Kräfte mit 1-2%. Dieser Wert ist allerdings – ebenso wie der bei den übrigen Funktionen – vor alles in allem absolut steigenden Mitarbeiterzahlen in diesen Personalsegmenten zu sehen. Insgesamt zeigt sich erneut, dass tendenziell umso mehr Pgs. im Staatsapparat vorhanden waren, je anspruchsvoller die Position fachlich war. Dafür spricht auch der 4-7%ige Anteil ehemaliger Pgs. in der kleinen Gruppe des Fachpersonals.942 Den Blick auf andere Verwaltungsebenen gerichtet, kann man feststellen, dass sich die beschriebenen Prinzipien auf die kommunalen Funktionsträger weitgehend übertragen lassen.943 Auch hier lässt sich sagen, dass die bedeutendsten Positionen vergleichsweise „Pg.rein“ waren. Offenkundig gab es genug unbelastete Kader bzw. für die kommunalen Spitzenposten wurde die Auslese unmittelbar zu Beginn der fünfziger Jahre deutlich strenger 940 941 942 943 Vgl. den „Globke-Effekt“: 1950-53 waren 60% der Abteilungsleiter im Bonner Ministerialapparat ehemalige Pgs. 80% der Referatsleiter hatten entsprechende Kommandohöhen bereits vor 1945 eingenommen. Es fanden heftige politische Auseinandersetzungen um den öffentlichen Dienst statt. Eine Artikelserie der Frankfurter Rundschau, die eventuell eine US-Dienststelle initiierte, erhob Vorwürfe gegen diesen Zustand. Diese Informationen entstammen einem Vortrag von Curt Garner mit dem Titel „Zur Sozialgeschichte des öffentlichen Dienstes in den 1950er Jahren: Sozialstruktur, geschlechtsspezifische Zusammensetzung und die Rolle ehemaliger NSDAP-Mitglieder“, gehalten am 21.01.1997 im Forschungskolloquium an der Universität Göttingen unter der Leitung von Bernd Weisbrod. Zimmermann, Überlegungen, S. 324. Zur statistischen Auswertung der Pg.-Zahlen im Fachpersonal siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 (Abb. 47), 337 f. Zu Positionshöhen ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der DDR-Regierung siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17313, 65/53/3/1, Personalstatistiken zum DDR-Regierungspersonal 4. Quartal 1952 bis 3. Quartal 1953; DO 1 / 26.0, 17334, 83/52/8/1; DO 1 / 26.0, 17463, I/55, 7/55/5/4; DO 1 / 26.0, 17099, XL/49/3/3; DO 1 / 26.0, 17105, CLX/50, CLXI/50; DO 1 / 26.0, 17476, II/54 (29/54/5/1); siehe darüber hinaus die Jahresberichte der Regierungsdienststellen an das MdI für 1952 und 1953 in: DO 1 / 26.0, 17563. In diesem Zusammenhang ist auf Alexander Mallickh hinzuweisen (NSDAP, 1950-1952 persönlicher Referent des Ministers für Leichtindustrie Feldmann, seit 1958 Mitglied im NDP-Hauptausschuss, in den sechziger Jahren stellvertretender Oberbürgermeister von Ost-Berlin), siehe: BDC; BStU, MfS, HA IX/11, SV 3/82, Bd. 24, Bl. 59 f.; BStU, MfS AP 12076/92, Bl. 1-33; ZB II 3915, S. 61 f.; Nationalsozialisten (1965), S. 64; Kappelt, Braunbuch, S. 292; Kappelt, Entnazifizierung, S. 111; Baumgartner / Hebig, Handbuch, S. 508. Jens Kuhlemann – Braune Kader 201 gehandhabt als bei weniger wichtigen Lokalfunktionen. Die Entwicklung bei der Masse der übrigen Funktionsträger belegt nämlich, dass sich 1950 bis Anfang 1951 beinahe so etwas wie ein „Pg.-Boom“ mit hohen Steigerungsraten innerhalb kürzester Zeit ereignete. Das könnte eine leicht verzögerte Folge des SMAD-Befehls 201 und des Gleichstellungsgesetzes von 1949 gewesen sein, die ja früheren NSDAP-Mitgliedern das passive Wahlrecht verliehen.944 Hinsichtlich der nachgeordneten Dienststellen945 und der Wirtschaft946 scheint sich das Muster, dass sich ehemalige NSDAP-Mitglieder am stärksten auf der unteren Leitungsebene und in den mittleren Funktionen fanden, vorbehaltlich weiterer Einzelfalluntersuchungen ebenfalls zu bestätigen. Hierin kamen deren fachliche Qualitäten zum Ausdruck. Während wegen der geringeren machtpolitischen Bedeutung allgemein eine stärkere Beschäftigung NSBelasteter in Produktionsbetrieben und weniger wichtigen Verwaltungsorganen zu verzeichnen war, blieben frühere Pgs. bei den obersten Führungspositionen weiterhin fast völlig ausgespart. Darüber hinaus griff man augenscheinlich auch dort bei Aufgaben, für die keine höherqualifizierten Kräfte benötigt wurden, häufiger auf politisch unbelastete Personen zurück, da sie annähernd vergleichbare Bildungs- und Berufserfahrungen mitbrachten. Wie bereits geschildert nahm eine ganze Reihe von NS-Belasteten allein aufgrund ihrer Positionshöhe in der zentralen Staatsverwaltung Leitungsaufgaben wahr. In der DDRRegierung unterstanden sie der Nomenklatur des Ministeriums des Innern, das solche Beschäftigungsverhältnisse zu prüfen und zu billigen hatte.947 So manchen erkannten die Behörden auch von der Reputation und Autorität her eine absolut tragende Rolle zu. Über den ehemaligen Pg. Hans Forsbach hieß es, er sei „eine gewisse Zeit die rechte Hand des II. Vorsitzenden der DWK“ Selbmann gewesen.948 Ein in der Forstverwaltung Beschäftigter, dem die Entlassung drohte, kommentierte den Stellenwert des früheren NSDAP-Mitglieds Ferdinand Beer in der Forstverwaltung wie folgt: »Ich ging in meiner Not zu Beer weil er für uns der massgeblichste Mann der DDR war, und überhaupt in allen Dingen ausschlaggebent war. [...] Weil Beer für uns der massgebenlichste Mann war, haben ich allen seine Anweisungen die er traf, für richtig gehalten.«949 Auch das Ministerium brachte dem Forstexperten derart großes Vertrauen entgegen, dass es dessen Meinung nicht sonderlich hinterfragte, sondern ihr Vertrauen schenkte und dann auch formal die Verantwortung übernahm.950 Es kam darüber hinaus vor, dass gegen eine Verwendung von Pgs. an leitender Stelle zwar grundsätzlich keine Bedenken bestanden.951 Ein entsprechendes Amt wurde dann aber doch nicht überantwortet. Auf der anderen Seite gab es in der DWK ehemalige 944 945 946 947 948 949 950 951 Genaue Zahlen und Erläuterungen zu örtlichen Funktionsträgern sowie Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 ff. (Abb. 48 und 49), 338 f. Beispiele (ADN-Filialen, Defa, Radiosender; Hochschulen) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 339; Jessen, Professoren, S. 226, 241; vgl. die Verwendung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere und Generäle in Führungspositionen der KVP, in: Wenzke, General, S. 172, 174. In der Wirtschaft waren Pgs. in Leitungspositionen zumindest in einigen Bereichen generell wesentlich öfter vertreten als in der Verwaltung. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 339; Danyel, Macht, S. 81; Schulz, Elitenwechsel, S. 217 f.; Schulz, Elitenwandel, S. 117-121. Zu Beginn der fünfziger Jahre unterlagen auch Hauptreferenten wie Werner P. (Ministerium für Industrie, HA Energie, Abteilung Allgemeine Verwaltung) und Hans Mat. (Ministerium für Industrie, HA Kohle, technische Abteilung, zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter) als leitende Angestellte der Nomenklatur des MdI, Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 340; zur Struktur und Funktionsweise der Nomenklatur siehe: Wagner, Gerüst; ders., Kadernomenklatursystem; vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 216 ff. DC 1 / 2601, [Landesregierung Brandenburg,] Vermerk, vom 16.02.1949; vgl. DC 15 / 322, DWK, Sekretariat, 10. Sitzung, 5.5.1948, S. 2. BStU, AU 5 / 52, Band 4, Bl. 15 f., [Staatssicherheitsdienst Sachsen-Anhalt,] Verhörprotokoll, vom 30.05.1951. Ein Beispiel zum Einfluss Beers (Verordnung zur Hektarbegrenzung bei Kahlschlägen, gegen die er verstieß und deshalb 1951 verhaftet wurde, siehe Kapitel „Agenten und Saboteure“) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 340. Siehe die Entnazifizierung von Werner M., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341. Jens Kuhlemann – Braune Kader 202 Nationalsozialisten, die verantwortungsreichere Arbeiten erledigten, obwohl sie kein adäquates Amt ausfüllten.952 Partiell war die Übernahme entsprechender Funktionen zwar gegeben, aber nur kommissarischer und vorübergehender Natur.953 Das konnte manchmal an nicht zur Verfügung stehenden Planstellen liegen oder an dem Bemühen, den Richtlinien zur Nichtbeschäftigung ehemaliger Pgs. in Leitungspositionen weiterhin eine wie auch immer geartete Beachtung zu schenken. Ressentiments mögen ebenfalls zu „gewissen Verzögerungen“ bei der Bestätigung bestimmter Ernennungen geführt haben.954 Allgemein waren emotionale Vorbehalte und politisch begründetes Misstrauen kaum zu leugnen. Dabei ist nur selten überliefert, dass sich die ehemaligen NSDAP-Mitglieder über solche Zurückstellungen offiziell beklagten.955 Manchmal stellten sich Kaderverantwortliche dabei auf den Standpunkt, die betreffenden Ex-Nationalsozialisten sollten erst noch eine gesellschaftliche Schulung durchlaufen, bevor sie etwa als Abteilungsleiter bestätigt werden konnten.956 In anderen Fällen negierten sie – ausdrücklich aufgrund der persönlichen politischen oder auch militärischen Vergangenheit – zumindest zeitweilig die Möglichkeit einer leitenden oder politisch bedeutsameren Tätigkeit. Der Arbeitseinsatz solcher Kader sei in der DWK dann angeblich so erfolgt, dass sie kaum irgendeinen Schaden anrichten konnten.957 Sie wurden durch politisch zuverlässige Kräfte beobachtet und angeleitet. Man steckte sie auch in niedrigere Ämter, die dem Fachwissen unangemessen waren. Ihr Aktionsradius wurde aus Gründen der Sicherheit auf diese Weise stark eingegrenzt. Mal gingen solche Maßnahmen auf Einschränkungen zurück, die im Rahmen der Entnazifizierung verhängt wurden, mal aufgrund interner Entscheidungen ohne direkte Rechtsgrundlage.958 Im Gegensatz zu einem Entzug bestimmter zu bearbeitender Aufgaben ist eine positionelle Zurückstufung auf der Rangleiter, also quasi eine „Degradierung“ innerhalb des zentralen Staatsapparates, nicht überliefert. Stattdessen kamen nach besonderen Vorkommnissen, derentwegen sich beispielsweise die Befürchtung einer Agenten- oder Sabotagetätigkeit nicht gänzlich aus dem Weg räumen ließ, Versetzungen in andere Verwaltungsorgane und Betriebe samt Rückschritt in der Personalhierarchie vor.959 Es sei aber betont, dass neben solchen Sanktionen und Hinhaltungen andere ehemalige Nationalsozialisten gute bis sehr gute Aufstiegsperspektiven besaßen.960 Sie bekamen Aufgaben anvertraut, die die Behörden selbst als bedeutend und wichtig einstuften.961 Vereinzelt wurden sie schon sehr frühzeitig, nämlich in den Deutschen Zentralverwaltungen, zu vertraulichen Beratungen hinzugezogen, einschließlich solcher mit Angehörigen der SMAD, die auch politische Strategien und selten sogar skurrilerweise die Entnazifizierung beinhalteten. Dies sind Zeichen recht großen Vertrauens, das die Betreffenden genossen. Sie wurden in exklusive Informationen eingeweiht und übten Umgang mit vertraulicher Materie.962 Dazu zählten auch Elemente der Planung, anleitende und kontrollierende Arbeiten. Trotz aller strukturellen Überwachungsvorkehrungen zeichneten sie sich in ihrer Arbeit durch ein höheres Maß an Eigenständigkeit aus.963 In der DWK nahmen also ehemalige Nationalsozialisten vor allem Positionen im unteren Leitungssegment, auf der mittleren Ebene der Referenten und in der oberen 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 Beispiele (Werner Stübner, Ernst W.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341. Siehe Bernd Veen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341. Siehe die zurückgestellte Beförderung von Gerhard F. in der DWK, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341. Es beklagten sich Franz Woytt und Erwin Melms, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341 f. So das Ministerium des Innern im September 1950 über Martin Bierbass, der seiner Nomenklatur unterstand. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342. So geschehen bei Egon Wagenknecht, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342. Ein Beispiel (Kurt V.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342. Siehe den Fall Hans W., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342. Beispiele (Otto Schä., Franz H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342 f. Siehe Aufgabenbereiche von Heinz Fengler, Wilhelm W., Kurt D., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 343. Beispiele (Ernst Kaemmel, Hans W., Martin Br., Hans Naake) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 343. Siehe Wilhelm Salzer, Johannes P., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 343 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 203 Unterschicht der Verwaltungsangestellten ein. In den obersten Führungsposten fehlten sie wegen politischer Vorbehalte und bei den technischen Kräften aufgrund ausreichend vorhandener unbelasteter Alternativkader. Im Laufe der fünfziger Jahre besetzten ehemalige NSDAP-Mitglieder angesichts wachsenden Vertrauens und größerer Effizienzbemühungen jedoch mehr und mehr verantwortliche Positionen. Die Aussage, dass „hohe und höchste Ämter“ in der DDR nicht mit politisch belasteten Personen besetzt gewesen seien, stimmt also nicht.964 Der sogenannte „doppelte Rangeffekt“, wonach die Machtelite umso strengere Ansprüche an die Zuverlässigkeit des Personals stellt, je höher die Position und die Verwaltungsebene ist, galt offenbar nur bedingt.965 Denn auch in weniger wichtigen Organen existierte das skizzierte Muster, wenngleich bei einer insgesamt etwas toleranter gehandhabten Kaderpolitik und daraus resultierenden höheren Pg.-Raten. 2.2 Politische Eigenschaften und Entwicklungen unter den Bedingungen kommunistischer Kaderpolitik Der Verlauf ihrer politischen Orientierung war von essenzieller Bedeutung für die Wiedereingliederung ehemaliger Nationalsozialisten in der SBZ/DDR. Die Personalverantwortlichen interessierten bereits Zugehörigkeiten zu Parteien und sonstigen Verbünden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.966 Für das „Dritte Reich“ galt dies umso mehr. Beitrittsmotive und das Ausmaß des Engagements standen im Mittelpunkt.967 Neben politischen Gruppierungen im engeren Sinne war auch das Verhalten im Privatleben, im Beruf und beim Militär968 betroffen. Hinzu kamen mögliche Anzeichen der Abkehr und Opposition. In den Augen der Kommunisten war der Wandel weg vom Faschismus und hin zum Sozialismus durch erkenntnisverhelfende Schulungen zu fördern. Neben Kursen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft spielten partei- und behördeninterne Fortbildungen eine wichtige Rolle. Über den Eintritt in die neuen Parteien und Massenorganisationen sollte dann eine Aktivität aus Überzeugung entfaltet werden. Zu bekämpfen waren hingegen bürgerlich, kapitalistisch und faschistoid geprägte sowie mit dem Westen in Verbindung stehende Personen, die möglicherweise als beauftragte Agenten und Saboteure im Sinne des Klassenfeindes den Aufbau des Sozialismus stören sollten. Die folgenden Kapitel geben einen Eindruck davon, inwiefern die genannten Punkte ausgefüllt wurden. Dabei ist vorab an die jeweiligen Umstände der Vergangenheitsdarstellungen und Bekenntnisbeschreibungen zu erinnern. Fast alle vorgefundenen Schriftstücke rühren von Behörden und Parteistellen her oder sind an diese gerichtet. Der Zeitpunkt ihrer Erstellung liegt nur in geringer Zahl vor 1945. Die allermeisten stammen aus der Säuberungs- und Bewährungssituation der SBZ und frühen fünfziger Jahre. Um sich in ein gutes Licht zu rücken, unterschlugen viele ehemalige NSDAP-Mitglieder belastende Biografieanteile oder 964 965 966 967 968 Joseph, Nazis, S. 64, 112. Derlien, Elitezirkulation, S. 13, 15. Siehe hierzu: Kuhlemann, Kader (2005), S. 348 ff. Zu den Umständen des Eintritts in die NSDAP, SA und SS siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 421 ff.; zu geschilderten Erfahrungen im Nationalsozialismus und zum politischen Engagement in NS-Organisationen, zum Mitgliedsstatus und zur Zugehörigkeitsdauer siehe: ebd., S. 477 ff., 590 ff. Siehe zum Thema Militärdienst das gleichnamige Kapitel in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 622 ff. Jens Kuhlemann – Braune Kader 204 relativierten sie, egal ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Selbst nachdem man sich zunächst als Pg. zu erkennen gegeben hatte, erwähnten einige NS-Belastete ihre alte Parteizugehörigkeit in weiteren Lebensläufen und Personalfragebögen nur mit äußerst knappen Worten oder gar nicht mehr. Es scheint, als wenn sie diesen Part durch Ignorierung so schnell wie möglich hinter sich lassen wollten.969 Die SED gab sich damit natürlich nicht zufrieden, wenn sie das Bedürfnis verspürte, die NS-Belastung genauestens zu durchleuchten. Politisch hilfreiche Gesichtspunkte wurden dagegen erfunden oder überbetont und erhielten in den Schilderungen der ehemaligen NSDAP-Mitglieder breiten Raum eingeräumt. Dieser Umgang mit Schuld ist bezeichnend. Wegen drohender Nachteile wurden praktisch nur solche Bilder der Vergangenheit geschildert, die dem vorgegebenen Kodex der neuen Machthaber entsprachen und nicht politisch tabu blieben.970 Der Rest war Schweigen. Deshalb ist es damals wie heute manchmal sehr schwierig, wenn nicht sogar unlösbar, aufzuzeigen, worin eigentlich genau eine NS-Belastung bestand und wie mit ihr angemessen zu verfahren war.971 Es gab eben unterschiedliche Erfahrungen und Verarbeitungskonzepte der Opfer, der Machthabenden sowie der ehemaligen Mitglieder und Stützen der NSDAP. Darüber hinaus unterblieb in der Praxis eine differenzierte und der Wahrheit nahekommende Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart häufig selbst dort, wo es Versuche in diese Richtung gab.972 Oft reduzierten standardisierte Denk- und Ausdrucksmuster die Komplexität solcher Fragen. Perspektiven und Erinnerungen wurden dabei zunehmend bestimmt durch das Verhalten nach 1945, wenngleich eine NS-Belastung auch seit dem offiziellen Ende der Entnazifizierung und trotz rechtlicher Gleichstellung faktisch immer noch von Gewicht war.973 Die schriftlichen Quellen geben meistens auch nur indirekt Auskunft über mentale Neigungen. Thesen, wonach ehemalige NSDAP-Mitglieder in der SED (und im Staatsapparat) sowohl für die Disziplinierung der Basis als auch für die strikte Befolgung der Anweisungen der Zentrale besonders gut geeignet waren, weil sich das Führerprinzip kaum vom „demokratischen Zentralismus“ unterschieden habe und die Pgs. ein beachtliches und erpressbares Rekrutierungspotenzial der Kommunisten gewesen seien, betrachte ich deshalb mit einer gewissen Skepsis.974 Dergleichen hat sicherlich eine Rolle gespielt. Doch die in 969 970 971 972 973 974 Beispiele (Hans Forsbach, Heinz Fengler, Martin Bierbass, Wilhelm R., Helmut A.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 345 f. So auch Christoph Boyer in dem Workshop „Wertorientierungen und Lebensstile des Führungspersonals in Politik, Kultur und Wirtschaft der SBZ/DDR“ am 13.06.1997 im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Merkel, Leitbilder, S. 378; Lübbe, Nationalsozialismus, S. 584; Danyel, Macht, S. 71; Kocka, Gesellschaft, S. 550; Niethammer, Erfahrungen, S. 106 f.; vgl. Lejeune, Pakt, S. 220, 250; Frei, Karrieren, S. 10 f., 306 f., 309; Plato, Entnazifizierung, S. 8. Danyel, Macht, S. 75 f.; Danyel, SED, S. 196; vgl. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 20; Niethammer, Entnazifizierung, S. 76. Jaspers, Schuldfrage, S. 67 f., 70 f.; Weizsäcker, Mai, S. 17; Schütrumpf, Stalinismus, S. 78; Materialien, Bd. III/1, S. 154; Meinecke, Katastrophe, S. 153 ff.; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 88 f., 269 f., 277, 288, 300 f.; Eschebach, Elemente, S. 207 f. Leide, Vergangenheit, S. 515; Boyer, Kader, S. 53; vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 14-16, 400 f., 404; Frei, Karrieren, S. 10. Die These, dass die ehemaligen Pgs. erpressbar waren und autoritäre Charakterzüge trugen, die eine zweite Diktatur begünstigten, wird oft und gerne erhoben. In der Bonner Republik und selbst nach der Wiedervereinigung im Rahmen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ zog man wegen des Vorkommens von „Nazi-Größen in der DDR“ den Schluss, es habe „in der SBZ/DDR Kontinuitäten nationalsozialistischen Denkens gegeben“. Nach Lutz Niethammer beruhte die moralische Unterstellung der HJ-Generation unter die alten Genossen „auf dem in der HJ und im Militär ausgebildeten exekutiven Verhaltenstyp“. Berufsfunktionäre aus der FDJ-Generation „verzichteten auf eine eigene politische Willensbildung und perfektionierten den Apparat auf allen Ebenen“. Heutige Medien führen neonazistische Erscheinungen in der NVA pauschal unter anderem darauf zurück, dass die Armee der DDR von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren aufgebaut wurde. Dabei wird eine Kontinuität und Weiterreichung faschistoiden Geistes impliziert. Das MfS sammelte personenbezogene Informationen zur NS-Zeit und nutzte sie innerhalb des eigenen Machtbereichs unter Jens Kuhlemann – Braune Kader 205 diesem Punkt verbreitete Pauschalität erscheint mir zu undifferenziert. Einerseits haben sich aber auch andere Deutsche, die nicht parteipolitisch organisiert waren, mental sehr gut in die neuen obrigkeitsstaatlichen Strukturen eingepasst. Andererseits gab es in der Massenpartei NSDAP zahlreiche im Grunde unpolitische Menschen, die sich den Zwängen der NS-Diktatur beugten und ein politisches Bekenntnis ablegten, um daraus für die eigene Lebensgestaltung Nutzen zu ziehen, die sich aber auch in einer freiheitlichen Demokratie zurechtgefunden hätten (und haben) und nicht orthodox antidemokratisch waren. Es gab zwar Eigenschaften wie unbedingte Treue und Gehorsam, Begeisterungsfähigkeit und Selbstpreisgabe, die in der SED genauso gefragt waren wie in der NSDAP.975 Insofern blieb in der SBZ/DDR eine Auseinandersetzung mit dem Verhalten im NS-Regime aus.976 Doch alles, was spezifisch der NS-Ideologie zuzurechnen war wie der Rassenhass, fand praktisch keinen Raum mehr, sich zu artikulieren, selbst wenn davon in den Köpfen noch etwas übrig gewesen sein sollte. Der Wiedereingliederung der ehemaligen Pgs. folgte daher keine Wiedereingliederung des nationalsozialistischen Gedankengutes. 2.2.1 NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation Die Verheimlichung oder entstellte Wiedergabe von politisch belastenden Biografieanteilen in der Nachkriegszeit war ein Massenphänomen.977 Begünstigt wurde es durch die Entnazifizierung, die eine Solidarisierung der besiegten Deutschen untereinander förderte, Unterschiede zwischen „echten“ Nationalsozialisten und „Mitläufern“ unkenntlich machte und letztlich eine „Verschweigensgemeinschaft“ schuf. Alexander von Plato schrieb hierüber, dass »die meisten logen, was die Vergangenheit anbelangte – auch dann, wenn man spürte, daß der Nationalsozialismus gescheitert und zu recht niedergerungen war. Jeder wußte, daß sich alte Nazis ihre Biographien für die neuen Zeiten zurechtbogen, ihre Zeugen für die neuen Bedingungen fanden oder sogar Menschen vorführen konnten, die sie im Nationalsozialismus geschützt hätten. [...] Oder man wollte aus Trotz nicht „so schnell“ seine „Wandlung vom Saulus zum Paulus“ offenbaren.« Solche Muster haben erfahrungsgeschichtliche Arbeiten in Ost und West ergeben.978 Dabei war eine Wiedereingliederung definitiv um so besser zu bewerkstelligen, je schneller der eigene Wandel vonstatten ging. Seine Existenz oder sein Tempo und Umfang wurden daher von vielen vorgetäuscht. Lebenslauffälschungen stellten unmittelbar ab 1945 ein großes Problem für die Personalarbeit im Regierungsapparat dar.979 Über den gesamten Untersuchungszeitraum 975 976 977 978 979 anderem, um Biografiefälscher zu überführen und zu bestrafen. Direkte Hinweise auf Erpressungen zwecks Zusammenarbeit mit dem MfS waren im Rahmen dieser Arbeit nicht zu finden, obwohl durchaus denkbar ist, dass der „Wiedergutmachungsdruck“ so hoch war, dass manche NS-Belastete sich auch dem Staatssicherheitsdienst zur Verfügung stellten, siehe: Baum, Karl-Heinz: Neonazis standen in NVA stramm. In: Frankfurter Rundschau, vom 25.09.1998, S. 7; Skiba, Beitrag; Kowalczuk, Stalin, S. 183, 186, 240; Gieseke, Frage, S. 129 f., 147 f.; Niethammer, Erfahrungen, S. 108; vgl. die Bundeswehr: Bei einem überproportional großen Anteil der Soldaten soll sich der Geist der alten Eliten in Form konservativer und nationalistischer Denkweisen fortgesetzt haben, in: Scholten, Offiziere, S. 161. Kowalczuk, Stalin, S. 184. Vgl. Kowalczuk, Stalin, S. 228, 236 ff., 240. Sebastian Simsch läuft Gefahr, das Ausmaß der Fragebogenfälschung zu unterschätzen, wenn er andeutet, dass die drastischen Konsequenzen bei Entdeckung einer verschwiegenen NS-Organisationszugehörigkeit Biografiemanipulationen weitgehend verhindert hätten, siehe: Simsch, Grenzen, S. 247 f. Plato, Entnazifizierung, S. 11, 23. Beispiele finden sich bereits in den Deutschen Zentralverwaltungen, siehe: DO 1/7/210, Bl. 36-40. Jens Kuhlemann – Braune Kader 206 hinweg deckten die Kaderverantwortlichen Fälschungen oder Halbwahrheiten in Personalunterlagen auf. Dies betraf grundsätzlich sämtliche Kadermerkmale: Die günstigen wurden dabei unverhältnismäßig hervorgehoben oder erfunden, die schlechten verharmlost, relativiert oder ganz verschwiegen. Die Menschen waren im Großen und Ganzen recht bald darüber im Bilde, worin diese bestanden. Und sie wussten durchaus, zwischen den offiziellen Verlautbarungen und der Realität zu unterscheiden. So befanden sich unter den Fragebogenfälschern beispielsweise auch sehr junge Mitarbeiter, denen selbst die Jugendamnestie keine Gewähr für eine tatsächliche Gleichberechtigung darzustellen schien. Hinzu kam die Entnazifizierung und die allgemeine Ächtung und Bestrafung der Anhänger des Hitler-Regimes, wodurch unauthentische Lebenslaufdarstellungen hinsichtlich der NSVergangenheit ganz besonders häufig Anwendung fanden. Da die Personalleiter in solchen Fällen nicht wussten, wen sie vor sich hatten, darf die Anzahl der Manipulatoren und die Schwere ihrer Vergehen zur Beantwortung der Frage, wer integrierbar war und wer nicht, keine Beachtung finden. Dies ist lediglich bei der Behandlung von entlarvten Angestellten von Interesse. Denn dann schlug die entdeckte Belastung zusammen mit dem Vergehen der Verbergung im persönlichen Kaderkonto zu Buche. Im Gegensatz zur Bundesrepublik hat es eine gesetzliche Amnestie für Fragebogenfälscher in der SBZ/DDR im 980 Untersuchungszeitraum nicht gegeben. Die Beweggründe, eine Fälschung zu begehen, liegen auf der Hand. Die Betreffenden hatten die Hoffnung, den Sanktionen zu entgehen und frei von der Last der Vergangenheit einen Neuanfang als gleichberechtigte Bürger in Angriff zu nehmen. Sie versprachen sich bessere Einstellungschancen und dadurch auch materielle Vorteile. Wer demgegenüber wahrheitsgemäße Angaben zur politischen Belastung machte, dem wurde diese Ehrlichkeit oft als Dummheit ausgelegt. Denn damit war eine Aussichtslosigkeit verbunden, in den alten Beruf zurückzukehren. Finanzielle Not folgte.981 Hinzu kam der Verlust des sozialen Ansehens. Auch nach offizieller Beendigung der Entnazifizierung war das Klima für die verfemten Pgs. nicht automatisch ein besseres. Misstrauen und Distanz gegenüber den großen und kleinen Stützen Hitlers saßen bei vielen der neuen Machthaber tief. Das Bekanntwerden einer früheren NSDAP-Mitgliedschaft ließ bei so manchen alten Kommunisten und Opfern des NS-Regimes meist unterschwellige Aversionen hochkommen. Keiner der ehemaligen NSDAP-Angehörigen war vor diesem Hintergrund darauf erpicht, trotz gesetzlicher Gleichberechtigung noch Jahre nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur Rechtfertigungen über die eigene politische Verstrickung abgeben zu müssen. Es ist auch nicht bekannt, dass sich ein Pg., der seine politische Belastung zur Zeit der Entnazifizierung vertuschte, später durch die rechtliche Gleichstellung aber eigentlich keinen Grund mehr hatte, dies zu tun, im Nachhinein freiwillig offenbarte. Die drohende Bestrafung für ihre einmal begangene Lüge haftete diesen Menschen durchaus im Bewusstsein. Sie wollten endlich ein ganz normales Leben führen, frei von fragenden und kritischen Blicken. Die Pgs. mochten keine Sondergruppe mehr sein, der eine besondere Schuld zugeschrieben wurde, sondern in der großen Masse der in Ruhe Gelassenen aufgehen. Diese Sehnsucht nach einem Neuanfang trieb viele von ihnen dazu, ihre Lebensverläufe fälschlicherweise in ein besseres Licht zu rücken. Es ist ferner denkbar, dass einige ihre Taten leugneten oder verdrängten, um ihrem abgelaufenen Lebensabschnitt einen Sinn zu geben. Neben Scham und Angst schoben manche Fälscher auch vor, bestimmte Verlautbarungen gar nicht oder falsch verstanden zu haben, so dass sie angeblich glaubten, entsprechende Angaben unterlassen zu dürfen. Oder sie seien zwar über Meldepflichten im Bilde gewesen, hätten ihre eigene Belastung aber als davon nicht tangiert eingeschätzt. Diese Motive, Staat und Partei irrezuführen, sind deutlich von 980 981 Zur Straffreiheit in der BRD siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 375. So jedenfalls die Meinung eines vertriebenen Pgs. und Lehrers, in: National-Zeitung, Beitrag „Der PgLehrer als Neubürger“, vom 05.01.1949. Jens Kuhlemann – Braune Kader 207 jenen zu trennen, die die Kaderverantwortlichen in Staat und Partei dazu bewegten, Biografiemanipulationen „von oben“ vorzunehmen. Letztere betrafen hochrangige Funktionäre und richteten sich an die Öffentlichkeit. Bei Nachrufen oder sonstigen Angaben zu solchen Personen in Zeitungen etc. ließ man eine NSDAP-Mitgliedschaft und dergleichen in der Regel einfach ungenannt.982 Dies geschah, um die Position im innerdeutschen Systemkampf nicht zu verschlechtern und um keine Zweifel an der eigenen antifaschistischen Herrschaftslegitimation zu nähren. In diesem Zusammenhang ist Arthur Werner zu nennen. Werner war vom 17. Mai 1945 bis Dezember 1946 Oberbürgermeister von Berlin, später dann in der DWK beschäftigt.983 Ulbricht und mit Sicherheit auch von Beginn an die Siegermächte wussten, dass der ehemalige Regierungsbaumeister 1932 in die NSDAP eingetreten war, sie jedoch bereits nach wenigen Monaten wieder verlassen hatte. Es erscheint delikat, dass der sowjetische Stadtkommandant Bersarin nach der Befreiung vom Faschismus wissentlich einen Pg. zum Oberhaupt der Stadt erkor. Doch Werners Ablehnung des Nationalsozialismus, die 1942 zur Schließung der von ihm eingerichteten technischen Privatschule geführt habe, scheinen dieses Manko glaubhaft ausgeglichen und Gewähr genug dargestellt zu haben.984 Gleichwohl haben die wenigen Eingeweihten trotz des genannten Entlastungsaspektes die NSDAPMitgliedschaft im Rahmen der Amtsübertragung nicht publik gemacht.985 Denn erst, als Werner sich von West-Berliner SED-Delegierten als Parteiloser für die im Dezember 1954 stattfindenden Wahlen als Kandidat nominieren ließ, berichtete der „Tagesspiegel“ im November des Jahres, dass das Abgeordnetenhaus festgestellt habe, dass „der von den Sowjets 1945 eingesetzte“ ehemalige Oberbürgermeister Werner „seit dem 1. Januar 1932 Mitglied der NSDAP (Nr. 855778) gewesen“ sei. So geriet das Wissen um Werners frühere Parteizugehörigkeit zum passenden Zeitpunkt zur Delegitimierungsattacke des Westens auf einen Unterstützer der SED.986 982 983 984 985 986 So im Fall von Luitpold Steidle. Bei Erscheinen der gleichnamigen Abhandlung in der DDR war dessen NSDAP-Zugehörigkeit aufgrund westdeutscher Veröffentlichungen spätestens ab 1958 eigentlich bekannt. In der Biografie bleibt sie aber unerwähnt. Aufgeführt werden hingegen sein Rang als Oberst in der Wehrmacht, seine Funktion als Regimentskommandeur und die Zugehörigkeit zum BdO / NKFD. Diese Details wurden zum Beispiel 1949 in Pressemeldungen noch unterschlagen, um keine politisch unerwünschten Diskussionen über die Vergangenheit von Spitzenkadern aufkommen zu lassen, siehe: Neues Deutschland, vom 13.10.1949, S. 3; National-Zeitung, vom 13.10.1949; Weißhuhn, Luitpold Steidle; Siehe auch Abschnitt 3 über „NS-belastete hohe Staatsfunktionäre“. Vgl. die „von oben“ manipulierten Biografien von Antifaschisten in: Hirschinger, Fälschung. Werner wurde im Dezember 1948 von der HA Personalfragen und Schulung als „Leiter der Verw. Schule“ den Sekretariaten der DWK zugeordnet und als ehemaliger NSDAP-Angehöriger unter den Mitarbeitern der Deutschen Wirtschaftskommission erfasst. Nach anderen Angaben war er Leiter der Abt. VI Kontrolle der Erfassung und Verteilung mit landwirtschaftlichen Gütern bzw. der HA VI Kontrolle der Versorgungswirtschaft in der HV Handel und Versorgung. Zu den Umständen seiner Beschäftigung siehe: Heuer, Arthur Werner, S. 160 f.; Kuhlemann, Kader (2005), Anhang 1 (s.v. Werner, Arthur). Zu den Umständen des Eintritts in die NSDAP und Werners Verhalten im Nationalsozialismus siehe: Heuer, Arthur Werner, S. 20 f., 26. Was die Einschätzung dieser Personalie anbelangt, muss ich mit Blick auf die Dissertation eine Korrektur vornehmen. So habe ich mich damals auf die Angaben im SBZ-Handbuch verlassen. Darin war eine NSDAP-Mitgliedschaft nicht erwähnt und ich ging deshalb von einer Verheimlichung derselben allein durch Werner selbst aus, siehe: Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1055 f.; Heuer, Arthur Werner, S. 40 ff., insb. S 42 f.; [Ungenannter Autor:] Dr. Arthur Werner. In: http://www.luiseberlin.de/historie/spitze/zukap5/arthurwerner.htm (Abruf vom 21.12.2009); Kuhlemann, Kader (2005), S. 386 und Anhang 1 (s.v. Werner, Arthur). Dass Werner kurze Zeit nach dem Eintritt in die NSDAP wieder ausgetreten war, wurde nicht erwähnt, offenbar um die Belastung schwerer erscheinen zu lassen. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff „Einsetzung“ zu sehen (Werners Ernennung ging ja nicht auf eine freie Wahl zurück), zumal sie vom gegenwärtigen politischen Gegner, den „Sowjets“, vorgenommen worden sei, was suggestiv den Verdacht der Kollaboration nährte. Die Überschrift im „Tagesspiegel“ habe darüber hinaus abfällig „SED-Werner war Pg“ gelautet; zitiert nach: Heuer, Arthur Werner, S. 168 f.; vgl. die RIAS-Meldung von 1949 über den damaligen Staatssekretär Alfred Wunderlich in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 945 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 208 Neben diesem Zurückhalten (bzw. gezielten Einsetzen) belastender Informationen „von oben“ ist bekannt, dass zum Beispiel einzelne Betriebsräte ungerechterweise „Persilscheine“ ausstellten, damit bestimmte Personen wieder in die Betriebe zurückkehren konnten.987 Mit Blick auf die Angehörigen des NS-Samples ist die Beihilfe einer öffentlichen Dienststelle zur Biografieverfälschung – mit Ausnahme hoher Staatsfunktionäre und deren Außenrepräsentation – sehr selten zweifelsfrei belegbar.988 Was genau wurde verborgen? Im Detail umfassten Lebenslaufverfälschungen alle Punkte, die eine NS-Belastung ausmachten. Dazu zählte unter den Verwaltungskadern die Totalverheimlichung einer Zugehörigkeit zur NSDAP, SA, SS oder zu anderen NSOrganisationen.989 Die Annahme eines komplett neuen Namens zur Strafvereitelung war in diesem Zusammenhang allerdings nur sehr selten nachweisbar bzw. wurde so gut wie nie von den Behörden aufgedeckt und aktenkundig.990 Daneben versuchten etliche Personen, die zugegebenermaßen der Partei etc. angehörten, ihre politische Belastung zu verkleinern und ihre NS-Vergangenheit in ein besseres Licht zu rücken. Recht viele datierten ihren Organisationseintritt auf einen späteren Zeitpunkt, obwohl sie partiell schon vor 1933 zur NSDAP gestoßen waren.991 Wieder andere behaupteten stock und steif, nur Anwärter der NSDAP bzw. SA gewesen zu sein. Angeblich bekamen sie keine Mitgliedsnummer und zahlten nie Beiträge, weshalb es sich um gar keine richtigen Mitglieder gehandelt habe.992 Dabei sollte die Anwartschaft gemäß interner Parteirichtlinien nie länger als ein Vierteljahr dauern. Oder es sei keine satzungsgemäße Aufnahme erfolgt wegen angeblicher Formfehler wie der ausbleibenden Aushändigung der roten NSDAP-Mitgliedskarte.993 Einige meinten, sie seien bereits vor 1945 faktisch aus der NSDAP ausgeschieden, indem sie sich nach Wohnungsumzügen nicht mehr bei der neuen Ortsgruppe gemeldet oder die Zahlung der Mitgliedsbeiträge eingestellt hätten. Manchmal soll die Mitgliedschaft auch geruht haben oder ein offizieller Austritt bzw. Ausschluss erfolgt sein, was die Quellen aber nur teilweise bestätigen.994 Manche verschwiegen ihre ausgeübten Ämter, vor allem, wenn sie oberhalb der untersten Stufe (Kassierer etc.) lagen und „mehr politischer als technischer Natur“ waren. Überhaupt wollten praktisch alle sich mit Aktivitäten innerhalb der NS-Organisationen oder zu deren Gunsten sehr zurückgehalten haben. Auskünfte über menschliche Denk- und Verhaltensweisen sind den Quellen wesentlich schwieriger zu entlocken als Daten und Funktionen. Doch auch hier lassen sich Fälle belegen, bei denen die aktive Mitwirkung in der Maschinerie des Nationalsozialismus nicht immer so passiv, die Zustimmung zur NS-Politik nicht so gering ausfiel, wie das nach Kriegsende oft vorgetragen wurde. Manchmal ist bestimmten Personen nur ein einziger dieser Aspekte zuzuschreiben, manchmal eine Kombination von ihnen.995 Die Einbeziehung des familiären Umfeldes in das Kaderkonto führte auch zur Unterschlagung nationalsozialistisch geprägter Aktivitäten der 987 988 989 990 991 992 993 994 995 Plato, Entnazifizierung, S. 11. Zum Fall Werner Wa. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 376 f. Beispiele zur zentralen Staatsverwaltung, zu nachgeordneten Dienststellen und solchen aus den Ländern siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 377; auch im Ministerium für Staatssicherheit gab es einige Mitarbeiter, die ihre NS-Belastung bei der Einstellung verschwiegen hatten, siehe: Gieseke, Frage, S. 136, 141 ff. Bei NS-Belasteten, die unter einem anderen Namen weiterlebten, entsteht insofern ein Sonderfall der autobiografischen Forschung, als die Identität bzw. Einheit des Namens bei Figur, Autor und Erzähler keine gemeinsame ist, vgl. Lejeune, Pakt, S. 226 ff.; zur Aufdeckung der Namensänderung von zwei NSBelasteten in der DWK und SPK samt Reaktion der Kaderverantwortlichen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), 377. Siehe Heinz König, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 377. Entsprechende Beispiele (Wilhelm Salzer, Helmut Wikary, Werner B.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 378. Stach, Unterlagen, S. 153-155. Zu den widerlegbaren Ausführungen von Werner Wa. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 378. Siehe Gerhard H. und Gerhard F. in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 378. Jens Kuhlemann – Braune Kader 209 Anverwandten.996 Alle Angaben betreffen nur solche NS-Belasteten, die zu irgendeinem Zeitpunkt in der SBZ, der DDR, nach der deutschen Wiedervereinigung und durch mich anhand schriftlicher Unterlagen als Biografiefälscher identifiziert wurden. Sie sollen an dieser Stelle und in den nachfolgenden Kapiteln behandelt werden. Die Dunkelziffer derjenigen Kader, deren Manipulationen bis heute unentdeckt geblieben sind, ist kaum abzuschätzen.997 Absolute Ausnahmeerscheinungen waren solche Vorkommnisse, bei denen die Vermutung, dem Nationalsozialismus nahegestanden zu haben, nicht beschwichtigt, sondern im Gegenteil genährt wurde. Im Einzelfall kam es also vor, dass Kader mehr oder weniger offen mit NS-Belastungen prahlten. Beispielsweise verkehrten sie angeblich mit NS-Größen oder erhielten als Soldat hohe Auszeichnungen, was die Personalleiter ebenfalls als politische Belastung einstuften. Die Betreffenden dürften die damit assoziierte Nähe zur Macht, die Einbildung der eigenen Wichtigkeit und ein persönliches Geltungsbedürfnis dazu veranlasst haben. Egal, ob solche Behauptungen der Wahrheit entsprachen oder nicht: Eine derartige politische Unkorrektheit zog personalpolitische Konsequenzen nach sich.998 Dies führt zu der Frage, wie viele Lebenslaufverdrehungen im Kreis der untersuchten Ex-Nationalsozialisten oder darüber hinaus im zentralen Staatsapparat festzustellen waren. Was ehemalige Pgs. anbelangt, müssten die Lebenslauffälscher dann zu den intern bekannten dazugerechnet werden, um die „echte“ Pg.-Rate im Personal zu bestimmen.999 Die Anzahl der entdeckten Verheimlichungen ist jedoch nicht mit Bestimmtheit zu beziffern. Dazu tragen verschiedene Umstände bei. Zum einen gibt es beispielsweise bei der Nennung der Parteimitgliedsdauer im Vergleich zur NSDAP-Mitgliederkartei manchmal nur geringfügige Abweichungen von einigen Monaten.1000 Deshalb ist fraglich, ob überhaupt eine Täuschungsabsicht vorlag, weil parteiorganisatorische Gründe dafür verantwortlich sein konnten, oder ob die Betreffenden sich nach 1945 genau diese Interpretationsmöglichkeit zunutze machten und lediglich eine graduelle Manipulation mit geringem Strafrisiko im Fall der Entdeckung vornahmen. Neben solcherart unterschiedlichen Perspektiven, die sich zu bestimmten Sachverhalten einnehmen lassen, ist darüber hinaus zumindest theoretisch möglich, dass die entlastenden Schilderungen einiger Kader der Wahrheit entsprechen, wenngleich dies oft unwahrscheinlich ist. Nicht nachweisen lässt sich zum Beispiel, ob die NSDAP-Mitgliedskarten an die Parteineulinge übergeben wurden, wodurch die Mitgliedschaft satzungsgemäß erst rechtswirksam wurde. Aus den Rahmenbedingungen lassen sich jedoch gewisse Indizien ableiten. So erscheint es unglaubwürdig, dass solche Personen oder auch Parteianwärter über Jahre hinweg kein Parteibuch erhielten oder ebenso lang keine Beitragszahlungen leisteten, aber dennoch als Mitglied in der NSDAP-Reichskartei geführt und nicht gestrichen wurden.1001 Schließlich gab es noch eine Reihe relativ eindeutiger Fälle wie die Komplettverschweigung einer Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation oder zumindest die Verheimlichung des Stellens eines Aufnahmeantrags.1002 In solchen Fällen blieben auch entlastende bzw. günstige politische Begleitumstände häufig ungenannt. 996 997 998 999 1000 1001 1002 Siehe das Beispiel des Abteilungsleiters Günther in der Deutschen Notenbank, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 379. Plato, Entnazifizierung, S. 11, 23; Häder, Sozialporträt, S. 395. Siehe das Beispiel eines Dozenten an der DVA „Walter Ulbricht“ in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 379; siehe auch den Fall der Fragebogenfälscherin Renate B. alias Gertrud H., in: ZB II 1052; Kammer / Bartsch, S. 204 f.; Gieseke, Frage, S. 143. Auch in anderen Forschungszusammenhängen wurde erkannt, dass die ausgewiesenen Pg.-Zahlen wegen Fragebogenfälschung nicht oder nur ungefähr die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegeln, siehe: Häder, Sozialporträt, S. 395. Siehe Helmut Wikary, Walter F., Walter Pi., Albert K., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 380. Zu dieser Problematik siehe auch das Kapitel „Parteianwärter, ruhende Mitglieder sowie zeitliche Anfänge und Beendigungen der NS-Organisationszugehörigkeit“. Siehe Konstantin Pritzel, Heinz König, Gerhard B., Paul K., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 380. Jens Kuhlemann – Braune Kader 210 Lebenslauffälschungen wurden in größerem Umfang bereits in der SBZ/DDR als Betrugsmanöver identifiziert, nicht immer jedoch noch während der Beschäftigung im zentralen Staatsapparat. Unter Berücksichtigung der genannten Bedingungen ließen sich für die untersuchten NS-Belasteten in der DWK im Rahmen dieser Arbeit zu etwa jedem Dritten Unstimmigkeiten zwischen den jeweiligen Vergangenheitsbeschreibungen finden.1003 Von welcher Schwere waren die verheimlichten Biografieanteile? Versuchten auch „Hauptschuldige“ und „Belastete“, wie sie die Kontrollratsdirektive 38 definierte, an den Personalprüfern vorbei im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR Fuß zu fassen? Die Antwort lautet „Ja“. Es ist allerdings vorab an unterschiedliche Vorstellungen des Kontrollrates, der Anwender in den Entnazifizierungskommissionen und heutiger Betrachter zu erinnern.1004 Auch die SED nahm im Laufe des Kalten Krieges eine zunehmend duldsamere Haltung gegenüber bestimmten Vergehen ein, intern wie offiziell. Zur Beschreibung der Sachverhalte ist der Blick weniger auf die bloße Weltanschauung als vor allem auf das jeweilige Handeln unter der NS-Herrschaft zu richten. An konkreten Ämtern, die die Betreffenden in NSOrganisationen ausübten, lässt sich der Aktivismus allerdings nicht unbedingt festmachen. So sind im NS-Sample keine Parteifunktionäre aufgetaucht, die in der NSDAP einen höheren Rang als den des Block- oder Zellenleiters bekleidet hatten und dies später verbargen.1005 Gau-, Kreis- und scheinbar auch Ortsgruppenleiter waren dazu einfach zu bekannt. Regierungsmitarbeiter, die einstmals in einer anderen NS-Organisation als Offizier oder maßgeblicher Funktionär agierten, sind für den zentralen Staatsapparat gleichfalls äußerst selten nachweisbar. Und wenn es möglich ist, dann nur für die niedrigsten Ränge.1006 In nachgeordneten Dienststellen scheinen schwerer Belastete ein wenig häufiger vorgekommen zu sein, so nach Aussage von Ministerien leitende SS-Funktionsträger1007 und sogar ein Angehöriger der Waffen-SS, der Lagerführer in einem Konzentrationslager gewesen sein soll.1008 Trotz dieser mitunter spektakulär anmutenden Beispiele hatten aber insbesondere in den Ost-Berliner Ministerien die allermeisten entdeckten NS-Amtsträger lediglich rangniedrige Funktionen ausgeübt, die mit einem Mannschaftsdienstgrad oder Unteroffiziersrang vergleichbar waren. Neben dem so gut wie unausweichlichen Erkennen ranghöherer Nationalsozialisten ließe sich daraus der Schluss ziehen, dass für diese Amtsträger ein Engagement in der zentralen Staatsverwaltung zugunsten des Aufbaus einer „antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ aus ideellen Gründen nicht in Frage kam. Oder sie hofften in der Provinz auf weniger strenge Personalkontrollen. Außerdem gestalteten sich die Aufstiegschancen in Westdeutschland allgemein erheblich besser als im Osten. Doch erschöpfte sich das unterschlagene Engagement nicht auf übernommene Funktionen. Die Lebenslauffälscher verheimlichten darüber hinaus eine Reihe sonstiger Aktivitäten, die es manchmal sehr zweifelhaft erscheinen lassen, noch von Nominellen zu reden.1009 Dabei nahm sich die bekundete Unterstützung des NS-Regimes, wie zu zeigen sein 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 Kuhlemann, Kader (2005), S. 381. Während des Kalten Krieges versuchte man im Westen, zu Propagandazwecken „Enthüllungen“ aufzubauschen, die eigentlich gar keine NS-Belastung darstellten. So bei Willi Stoph, der 1937 in einem Fachblatt der DAF die „wahre Volksgemeinschaft beim Kommiß“ pries, siehe: Danyel, SED, S. 180 f. Kuhlemann, Kader (2005), S. 381. Siehe auch Kapitel „Politische Ämter und Funktionen 1933-1945“. Diverse Beispiele (u.a. zu einem Kaderleiter im Ministerium für Maschinenbau) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 381 f. Der Hauptreferent und SED-Angehörige war darüber hinaus seit 1931 in der NSDAP, siehe: DO 1 / 26.0, 17597, Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, Namenliste [der „DAHA Kompensation“], betr. Andreas Fritz S[…], [1950]. Die fristlose Entlassung des parteilosen Oberbuchhalters erfolgte auf Weisung des Arbeitsgerichtes, siehe: DO 1 / 26.0, 17600, Ministerium für Handel und Versorgung, Namenliste ausgeschiedener Mitarbeiter, betr.: HO-Gaststätte in Gotha, Kunibert S[...], undatiert [wohl 1950]. Zu einigen Fällen von Nicht-Pgs. (z.B. ein VVN-Vorsitzender und Abteilungsleiter Hofmeister, Staatssekretariat für Materialversorgung) mit Gestapo-Kontaktaufnahme, Gewalt gegen Zwangsarbeiter, Erpressung von Juden etc. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 382. Jens Kuhlemann – Braune Kader 211 wird, bei so einigen DWK-Mitarbeitern deutlich größer aus als von ihnen zugegeben. Man kann allerdings darüber streiten, ob auch diejenigen Belastungen, die die Kader eingestanden, noch als nominell anzusehen waren. Die verheimlichten Biografieanteile fallen meist auch nicht in allen Punkten, die eine politische Aktivität ausmachten, gravierender aus als bei denjenigen, die die Behörden kannten.1010 Dennoch wurden sie vorenthalten, weil sie einen Rechtfertigungszwang und häufig Benachteiligungen begründeten. In ihrer Gesamtheit ergaben solche „Kleinigkeiten“ manchmal ein Niveau, das über dem damals normalerweise akzeptierten lag. Hin und wieder traf schließlich eine intolerable Belastung bereits auf ein einzelnes Merkmal des politischen Werdeganges zu. Hierzu ein Beispiel: Ein Justitiar in der DWK und verschiedenen DDRRegierungsdienststellen gab in einem Lebenslauf an, 1927-1943 beim Landgericht Berlin gearbeitet zu haben, zuletzt als Landgerichtsrat. Ab 1943 habe er dann bei der Wehrmacht gedient. Originalunterlagen aus der NS-Ära, die in einer Z-Akte archiviert sind, zeichnen jedoch ein anderes Bild. Demnach war der spätere Verwaltungskader noch Ende 1944 am Landgericht Berlin tätig und wirkte sogar an einem Todesurteil mit. Dabei wurde ein vorbestrafter Arbeiter wegen des Diebstahls eines Fahrrades und eines Koffers verurteilt. Der spätere DWK-Jurist nahm als beisitzender bzw. „beauftragter Richter“ an der Sitzung teil und unterschrieb das Urteil. Die Todesstrafe wurde am 24. November 1944 vollstreckt. Wenngleich man über den Handlungsspielraum eines einzelnen Richters streiten kann, begründete doch bereits die Zugehörigkeit zu einer Institution, die wie das genannte Gericht in herausragender Weise den Unrechtscharakter der NS-Diktatur mitprägte, eine persönliche Schuld.1011 Wann genau den ostdeutschen Behörden dies zur Kenntnis gelangte, ist wie bei allen ZAkten unbekannt. Es erscheint aber ausgeschlossen, dass der Betreffende dies von Anfang an mitgeteilt hat, weil er unter Bekanntgabe seiner schweren Belastung als „Blutrichter“ nie in die Deutsche Wirtschaftskommission gelangt wäre. Ob es in der DDR nach Bekanntwerden eine Anklage gegen den Juristen gab oder ob sie unterblieb, um sich nicht der Peinlichkeit stellen zu müssen, angesichts der Kampagne gegen NS-Richter in der Bundesrepublik zugeben zu müssen, selbst einen im Ministerium beschäftigt zu haben, ist noch zu recherchieren.1012 Was die anderweitige Zugehörigkeit zu politisch besonders diskreditierten Vereinigungen und Einrichtungen anbelangt, so ließen sich unter den Mitarbeitern der Deutschen Wirtschaftskommission und DDR-Regierung einige Lebenslauffälscher ausfindig machen, die der SS angehörten. Augenscheinlich diente einer davon mit einem Mannschaftsdienstgrad in den Totenkopfverbänden. Eine Stenotypistin im Sekretariat Leuschner teilte im Nachhinein mit, im „Einsatzstab Rosenberg“ und bei der Gestapo als Sekretärin gearbeitet zu haben.1013 Ein Wachmann im Ministerium für Arbeit verschwieg, dass er von den Vorgängen im Konzentrationslager Ravensbrück, wo er als Heizer tätig war, 1010 1011 1012 1013 Ein Beispiel siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 383. Vgl. den Fall einer Angestellten, die für ein deutsches Gericht in der Ukraine tätig war, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 384. Dem Angeklagten Walter N. wurde in diesem Zusammenhang ein Verbrechen nach § 1 des Gesetzes vom 4. September 1941 vorgeworfen. Es ist denkbar, dass Werner P. tatsächlich ab 1943 bei der Wehrmacht war, aber für die Gerichtsverhandlung abgestellt wurde. Eine Verwechselung mit einem zweiten Juristen am Landgericht Berlin, der den gleichen Nachnamen trug, gleichermaßen die Befähigung zum Richteramt besaß und praktisch zur gleichen Zeit dort tätig war, erscheint extrem unwahrscheinlich. Einzelheiten zum Gerichtsprozess siehe: ZJ 207, A. 17, Bl. 1 ff., Sond[ergericht] I [beim Landgericht Berlin], Urteil in der Strafsache gegen Walter N[...], [November 1944] (Abschrift); Kuhlemann, Kader (2005), S. 383 f. Zu den SS-Angehörigen, speziell zu Kurt Un., siehe Kapitel „Zugehörigkeit zur SS und sonstigen NSOrganisationen“; ZB II 1052; zu SS-Mitgliedern in nachgeordneten Dienststellen siehe auch: DO 1 / 26.0, 17597, Amt für Information, Namenliste entlassener Mitarbeiter, betr.: Haus der Kultur der Sowjetunion, Gertrud S[...], undatiert. Jens Kuhlemann – Braune Kader 212 wusste. Erst später gab er zu, dass ihm die dort begangenen Verbrechen bekannt waren.1014 Die Familienangehörige eines Nomenklaturkaders bezichtigte diesen, an der Organisierung der Vergasung in einem Konzentrationslager beteiligt gewesen zu sein.1015 In diesem Zusammenhang ist auch Herta Ludwig zu nennen, die in der DWK im Sekretariat Handke als persönliche Referentin arbeitete. Sie gab in der SBZ zunächst an, sich ab 1934 im BDM organisiert und die Mitgliedschaft nur bis 1936 „ausgeübt“ zu haben. Ihr sei unbekannt gewesen, ob man sie weiter als Mitglied geführt habe. Diese Formel bildete möglicherweise ein „Hintertürchen“ dergestalt, dass die promovierte Volkswirtin bei Bekanntwerden ihrer verheimlichten NSDAP-Mitgliedschaft sagen konnte, sie sei ohne ihr Wissen in die Partei überführt worden. Tatsächlich fand man dann heraus, dass sie Pg. war. Wegen dieser Täuschung schied Ludwig im November 1947 vorerst aus der ZV Handel und Versorgung aus. Zumindest die vorliegende Entlassungsbescheinigung der Zentralverwaltung erwähnt die Fragebogenfälschung nicht. Die Verwaltungsangestellte ließ sich dann als Pg. polizeilich registrieren. Sie gab im Januar 1948 beim zuständigen Polizeipräsidium zwecks Entnazifizierung an, sie sei 1934-1938 im BDM gewesen und anschließend zur NSDAP überwiesen worden, der sie 1938-1945 angehörte. Letzteres stimmt mit der NSDAPMitgliederkartei überein. Mit Einverständnis des Zentralsekretariats der SED wurde Ludwig im Mai 1948 nach einer Prüfung des Falles erneut angestellt und verblieb bei der DWK bis Juli 1949. Bei der Wiedereinstellung und dem ausbleibenden SED-Ausschluss kamen der Fragebogenfälscherin ihre Jugend, die scheinbare „Nur-Mitgliedschaft“ und ihre guten Fachkenntnisse zugute. Doch war das wahre Ausmaß der politischen Belastung nach Enthüllung der Parteizugehörigkeit immer noch nicht ans Tageslicht gekommen. Wäre es zur Kenntnis gelangt, hätte dies eine Rückkehr in die zentrale Staatsverwaltung mit Sicherheit verhindert. Ludwig war nämlich ab Dezember 1942 in einem „Ministerium“ als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin tätig. Bis zum Januar oder März 1945 war sie beim „SS-Hauptamt, Amt C I“ als Referentin beschäftigt. Diese Tätigkeit blieb bis auf weiteres unentdeckt.1016 Mehrere SSOrgane trugen den Begriff „Hauptamt“ im Namen. Eine genaue Zuordnung erscheint daher schwierig.1017 Solche gravierenderen Fälle bildeten aber die Ausnahme im Kreis der Biografietäuschungen. Es sind auch keine NS-Staatsbediensteten bekannt geworden, die im Nationalsozialismus hohe Funktionen bekleideten und dies dann verheimlichten. Ähnlich wie wichtige politische Amtsträger waren diese einfach zu bekannt, als dass sie sich lange Zeit verstecken konnten. In der Staatsverwaltung der SBZ/DDR nahmen Fragebogenfälscher 1014 1015 1016 1017 Er wurde nach Bekanntwerden dieser Umstände aus der SED ausgeschlossen. In den VVN-Karteikarten zum Konzentrationslager Ravensbrück, die sich im SAPMO / Bundesarchiv Berlin befinden, taucht der Heizer nicht auf. Auch nach mündlicher Auskunft des über das KZ Ravensbrück forschenden Bernhard Strebel mir gegenüber ist der Betreffende nach seinen Aufzeichnungen weder unter den Häftlingen noch beim SS-Personal nachzuweisen. Es sei aber nicht völlig auszuschließen, dass er unter diesen war, oder es handelte sich um einen Zivilangestellten, siehe: DY 55 / V 278/5/50; DY 30 / IV, 2/11/169, Bl. 9; DY 30 / IV, 2/11/167, Bl. 73; DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 187, 326. Der Leiter der Hauptverwaltung Gas, Reinhardt Schacht, war zudem 1933-1945 in der NSDAP. Die erwähnte Aussage ist der einzige Hinweis. Eine anderweitige Bestätigung des Vorwurfs war nicht zu ermitteln, siehe: BStU, AOP 159/61. Die Aussage eines Kollegen von Ludwig aus der ZV / DWK lässt den Schluss zu, dass entweder ihre NSDAP-Mitgliedschaft der SMA 1946 schon bekannt gewesen ist. Oder die Kaderverantwortlichen taten später gegenüber bestimmten Mitarbeitern nur so, als hätten sie von der NSDAP-Mitgliedschaft bereits 1946 gewusst, um nicht zugeben zu müssen, eine Fragebogenfälscherin in die Zentralverwaltung eingestellt zu haben, siehe: DO 1 / 26.0, 17565, s.v. „W-Z“, Walter W[...], Entgegnung auf die gegen mich erhobenen Anschuldigungen, die in der Sitzung am 14. Februar [19]49 erörtert wurden, vom 24.02.1949; Kuhlemann, Kader (2005), S. 385. Zu „Hauptämtern“ der SS siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 386; Hofer, Nationalsozialismus, S. 385; Kammer / Bartsch, Nationalsozialismus, S. 177-179, 200-203; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 483 f., 556; Benz / Graml / Weiß, Enzyklopädie, S. 692-694. Jens Kuhlemann – Braune Kader 213 hingegen die ganze Bandbreite der neu geschaffenen Positionshöhen und Verwaltungszweige ein.1018 Zu den prominentesten und hochrangigsten Vertretern zählte Luitpold Steidle, in der DWK stellvertretender Vorsitzender und Sekretariatsmitglied sowie DDR-Minister für Arbeit und Gesundheitswesen. Er verschwieg in der SBZ/DDR und offensichtlich schon in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft seine vorübergehende NSDAP-Mitgliedschaft, die 1933 einsetzte und 1934 durch Ausschluss endete.1019 Schließlich ist noch das DWKSekretariatsmitglied Erwin Lampka zu nennen, dessen verheimlichte Mitgliedschaft in mehreren NS-Organisationen früh entdeckt wurde, der aber dennoch in Spitzenpositionen der Staatsverwaltung verbleiben durfte.1020 Nur eine kleine Minderheit der Fragebogenfälscher fand von sich aus, wie SEDFunktionäre es nannten, „den Weg zur Partei“ und „bewies Vertrauen“, indem sie bis dato verschwiegene Belastungen beichtete. Zwar behielten manchmal selbst solche Kader bestimmte Details noch für sich oder verfremdeten sie.1021 Wer sich aus eigenem Antrieb der SED offenbarte, konnte aber mit einer etwas günstigeren Ausgangsposition für einen erneuten Resozialisierungsanlauf rechnen, etwa indem er nicht aus der Partei ausgeschlossen, sondern nur in den Kandidatenstand zurückversetzt wurde.1022 Die Mehrheit der Manipulatoren gab demgegenüber erst dann etwas zu und auch nur das, was angesichts von Beweisen nicht mehr zu leugnen war. Manchmal stritten sie auch noch alles ab, wenn sie nur mündlich auf entsprechende Sachverhalte angesprochen wurden. Spätestens bei schriftlichen Dokumenten setzte dann aber im Wesentlichen die gleiche Relativierungsszenerie ein, wie sie bei den behördenbekannten Ex-Nationalsozialisten zu registrieren ist und im Weiteren noch erläutert wird. Bevor die Kaderverantwortlichen den Biografietäuschern nicht auf die Schliche kamen, verhielten sie sich also still. Öfter machten sie anfangs nur knappe, allgemein gehaltene oder sich widersprechende Angaben zur politischen Vergangenheit.1023 Sie verloren sich auch in ausweichenden, phrasen- und schleierhaften Darlegungen.1024 Vereinzelt verschwiegen NSBelastete dabei Sachen, die zwar Konflikte mit dem NS-Regime belegten, aber auch in der SBZ/DDR unvorteilhaft erschienen. Darunter fiel eine Verfolgung als Homosexueller oder ein Parteiausschluss, der aufgrund von strafrechtlich nach wie vor zu verurteilenden Umständen erfolgte.1025 Eine Strategie, die manche Pgs. verfolgten, war, von vornherein durch das partielle Bekenntnis einiger „brauner Sünden“ Vertrauen in die eigene Transparenz zu schaffen. Das half dabei, andere Belastungen weiterhin verbergen zu können. Josef Schaefers etwa teilte in der SBZ mit, dass er 1933-1934 der SA angehörte, angeblich als Anwärter und Gasschutzlehrer. Dabei beeindruckte er 1948 eine Überprüfungskommission der SED durch seinen Umgang mit der eigenen Biografie. Die Kommunisten urteilten: »Schaefers ist ein Mensch, der sofort ein offenes und klares Bild über seine Vergangenheit und Entwicklung gibt. Er verschweigt nichts, gibt zu, dass er schon vor 1933 nationalistische Auffassungen 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025 Siehe auch einen Mitarbeiter (keinen Pg.) der Verschlusssachen-Abteilung im MdI Sachsen-Anhalt, der Zwangsarbeiter misshandelt hatte, in: DC 1 / 2554, IX, MdI, HA Personal, Bericht über die Personalarbeit in der staatlichen Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1950, vom 15.01.1951, Anlage 1, S. 1. Steidle war zudem einziger CDU-Vertreter im DWK-Sekretariat und der einzige Christdemokrat unter den vier stellvertretenden DWK-Vorsitzenden, siehe: DO 1 / 26.0, 17098, DWK, Sekretariate, betr.: Offiziere der Wehrmacht, die in unserer Verwaltung beschäftigt sind, vom 21.06.1949; Zank, Zentralverwaltungen, S. 266. Einzelheiten zu Erwin Lampka siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 386 f. Siehe ein entsprechendes Beispiel (Walter R.) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 387. Siehe den Fall eines Dozenten und den eines wissenschaftlichen Mitarbeiters an der DVA, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 387 f. Siehe einen Mitarbeiter, der mit der Gestapo kollaboriert habe, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 388. Vgl. Beispiele zu Nicht-Pgs. in: DY 30 / IV, 2/11/169, Bl. 7; DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 56. So bei Kurt Ul. und Alfred Wunderlich, zu Letzterem siehe auch das gleichnamige Kapitel; Kuhlemann, Kader (2005), S. 388. Jens Kuhlemann – Braune Kader 214 hatte, die aber trotzdem so kritisch den Nazis gegenüber waren, dass er nie hätte Parteimitglied werden können. Seine SA-Anwärterzeit bis zur Röhm-Affäre war die letzte Konzession.« Man muss heute zu der Einschätzung gelangen, dass die SED-Abordnung dem DWK-Hauptabteilungsleiter voll auf den Leim ging. Denn Schaefers verschwieg, dass er ausweislich der Mitgliederkartei vom 1.5.1933 bis etwa September 1934 (Ausschluss) zusätzlich in der NSDAP war.1026 Als Beispiel dafür, wie „ertappte Sünder“ reagierten, sei der Fall eines DWKOberreferenten genannt, der anfänglich seine SA-Zugehörigkeit 1933-1937 unterschlagen hatte. Im Jahr 1946, nach der Einstellung in die ZV Industrie, machte er diesen Umstand nach Aussage des Leiters des DWK-Büros für Erfindungswesen selbst bekannt. Wegen seiner dienstlichen Haltung und aktiven politischen Betätigung habe man geglaubt, ihm Vertrauen schenken zu können, und beließ ihn in Übereinstimmung mit der Personalabteilung und der zuständigen Abteilungsleitung der DZVI bis zur Entnazifizierung vorläufig in der Zentralverwaltung. Im folgenden Verfahren sagte der Betreffende laut Protokoll, »dass er sich bei Vorlage politischer Fragebogen nicht angesprochen fühlte, da jede Bindung mit der SA bereits 1937 unterbrochen war«. Über die Gründe des Verheimlichens seiner NSBelastung, was er angeblich „in vielen bitteren und schweren Stunden“ schon tief bereut habe, ergänzte er: »Das damalige Verschweigen war eine grosse Dummheit meinerseits [...]. Ich fühlte mich in keiner Weise als Nationalsozialist, sondern war antinazistisch eingestellt; mein Austritt aus der SA lag bereits 8 Jahre zurück! [...] Schon während der Nazizeit, d.h. seit meinem Austritt 1937, habe ich es vermieden, überhaupt davon zu sprechen, dass ich einmal Mitglied der SA war. [...] Ich hatte also praktisch während der Nazizeit schon 8 Jahre hierüber geschwiegen. [...] Ich hatte den brennenden Wunsch, mit meiner ganzen Kraft und meinem ganzen Können am Wiederaufbau mitzuhelfen, ohne hieran durch formale Dinge gehindert zu sein, umsomehr als stets die ehemaligen „Pg´s“ angesprochen wurden, der ich ja nie gewesen bin.« Seine Frau habe ihn in der allzu leichtfertigen Ansicht bestärkt, die SAMitgliedschaft als Bagatelle anzusehen. Er will außerdem die Entnazifizierungsbestimmungen falsch verstanden und gedacht haben, dass eine Entnazifizierung erst ab dem Rang des Scharführers notwendig sei. Doch schließlich sei er eines Besseren belehrt worden und erstattete Meldung: »Wegen des Verschweigens hatte ich jedoch dauernd Gewissensbisse und ich war daher bald entschlossen, einen Weg zu finden, um diese Unterlassung wieder gutzumachen. Ich war mir auch darüber klar geworden, dass es eine Dummheit ist, auf einer solchen Lüge ein neues Leben aufzubauen. [...] Alle beteiligten Stellen, bei denen ich mein Vergehen melden musste, sahen davon ab, mich einer Bestrafung zuzuführen, nachdem sie erkannten, dass ich dieses wirklich bereute, und nachdem sie meine Gründe und bisher geleistete Mitarbeit am Wiederaufbau überprüft hatten, und um mir die von mir erbetene Chance für eine Wiedergutmachung zu geben.«1027 In diesem Fall führte der DWK-Oberreferent also bestenfalls indirekt profane Existenzgründe an, indem er seinen Willen betonte, sich ohne Behinderungen am Aufbau in (einem antifaschistischen) Deutschland beteiligen zu können. Er habe somit bereits die politisch „richtige“ Einstellung gehabt. Die Betonung egoistischer Motive vermied er. Der Kader habe sich darüber hinaus schon vor 1945 nicht mehr als Nationalsozialist betrachtet und zog so eine Kontinuitätslinie zur Nachkriegszeit. Hinzu seien Missverständnisse über die Meldepflichten gekommen. Seit Erkennen derselben habe er eine Phase der Reue durchlaufen und vertraute sich dann, wie von Staat und Partei gefordert, seinen Vorgesetzten an, allerdings nicht ohne auf diverse Arbeitsleistungen als Teil der Bewährung in der Nachkriegszeit hinzuweisen. Einige Entlastungszeugen stärkten ihm den Rücken und bescheinigten, nicht vermutet zu haben, dass der Appellant in der SA war, da er nicht nazistisch aufgetreten sei, 1026 1027 Kuhlemann, Kader (2005), S. 389. ZW 254, A. 19, Franz H[...], an die Entnazifizierungskommission für den russischen Sektor, vom 26.11.1947. Jens Kuhlemann – Braune Kader 215 vielmehr Kritik am Nationalsozialismus geübt habe und jemanden hätte denunzieren können, was er aber nicht tat. Andere Belastungszeugen erinnerten sich im Gegensatz dazu, dass der Betreffende als Werber der NSV im Wohngebiet teilweise hartnäckig an die Nachbarn herangetreten sei. Seine mittlerweile getrennt von ihm lebende Ehefrau fügte hinzu: »1937 ist er ausgetreten aus der SA. Nach dem Zusammenbruch hat er mich geschlagen, weil ich davon gesprochen habe, dass er in der SA gewesen ist. Ich wollte nicht immer lügen. Er hatte doch falsche Angaben in seinem Fragebogen gemacht.« Der Angesprochene hielt dem entgegen, dass seine Ex-Frau aus persönlichen Gründen einen Hassfeldzug gegen ihn führe. Im zweiten Anlauf wurde der Entnazifizierungsantrag schließlich unter Würdigung seiner Aufbauleistung und des Täuschungsgeständnisses befürwortet.1028 Das Gegenteil einer Abwehrhaltung zeigt sich besonders signifikant in den stalinistisch geprägten Bekenntnis- und Loyalitätsergüssen eines Oberreferenten und SED-Parteisekretärs aus dem Ministerium der Finanzen, der seine NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen hatte. Er wurde im Zuge der SED-Mitgliederüberprüfung 1951 überführt. Der ehemalige Pg. beanspruchte für sich zwar am Rande einige mildernde Umstände, sowohl was die eigentliche NS-Belastung anbelangte als auch den Grund ihres Verschweigens. Ansonsten gab er aber seine „Untat“ in sich scheinbar völlig ausliefernder und selbstkasteiender Manier zu. Er musste einen Nachtrag zum Lebenslauf einreichen, in dem der Biografiefälscher schrieb, dass er »nicht den Mut hatte, der Partei die volle Wahrheit zu sagen. Stattdessen habe ich aus kleinbürgerlichem Schamgefühl und Sentimentalität heraus versucht, mit diesen Dingen meiner ideologisch unklaren und oft verwirrten Vergangenheit auf individualistische Art und Weise fertig zu werden, was folgenden Ursprung hat: Als ich 1945/46 erstmalig Gelegenheit hatte, das kommunistische Manifest zu lesen und den 1. Band das „Kapital“, begann es bei mir politisch zu dämmern. Seitdem versuchte ich, meine eigenen und die Fehler meiner Familie durch aktive politische Arbeit gut zu machen und auf diese Weise mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Im Verlauf dieser Betätigung kam ich zur kommunistischen Partei. Dies soll keinerlei Rechtfertigung für meine begangene Unehrlichkeit sein, für die mich die Partei zur Verantwortung ziehen muss. Unabhängig von allen individuell bedingten Motiven habe ich bisher die Partei belogen und damit kein restloses Vertrauen zur Partei gehabt. Das ist ein entscheidender Fehler, der schwerwiegender ist, als die Dinge, die ich verschwiegen habe. [...] Dadurch habe ich selbst die Partei gezwungen, mich als ein klassenfremdes, kleinbürgerliches Element zu betrachten. Die Partei muss deshalb die härteste Entscheidung gegen mich treffen, die jemals gegen mich getroffen werden kann – Entfernung aus der Partei. Das ist eine notwendige Maßnahme im Interesse der Höherentwicklung unserer Partei zu einer marxistisch-leninistischen Kampforganisation. Der Partei bin ich dankbar, daß sie den Druck meiner Vergangenheit von mir genommen hat und ich dadurch ein freier Mensch geworden bin. Ich will arbeiten und kämpfen für die Sache des Proletariats ohne Rücksicht auf meine Person, um auf diese Weise das Vertrauen wiederzugewinnen und rückkehren zu dürfen in die Reihen des Vortrupps der deutschen Arbeiterklasse.«1029 Das frühere NSDAPMitglied führte also an, im ideologischen Bewusstseinsstand zurückgeblieben zu sein, und wollte angeblich auf eigene Faust Wiedergutmachung leisten. Er bekannte sich dazu, egoistisch gehandelt zu haben, tat dies aber gleichzeitig unter derart umfassender Bezugnahme auf das weltanschauliche Grundgerüst der SED, dass er sich als entwicklungsund resozialisierungsfähiger Kader empfahl. Bei der Entdeckung von Fragebogenfälschern vergingen manchmal nur Wochen, teilweise aber auch Jahre und Jahrzehnte, bis die Wahrheit ans Tageslicht kam.1030 Dies hing davon ab, ob die falschen Angaben bereits im Zuge der Bewerbungsüberprüfung zutage traten oder ob erst durch das Auftauchen neuer Zeugen oder bis dato noch nicht greifbarer 1028 1029 1030 Weitere Einzelheiten zu Franz H. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 390 f. Weitere Details zu diesem Fall siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 391 f. Gieseke, Mitarbeiter, S. 133. Jens Kuhlemann – Braune Kader 216 Dokumente eine Neubewertung anstand.1031 Es kam dabei vor, dass manche Dienststellen unter Umgehung der normalen Kontroll- und Genehmigungsprozeduren Bewerber einstellten, die sich dann im Nachhinein als Fragebogenfälscher herausstellten und den Apparat meist wieder verlassen mussten. Das Bedürfnis, so rasch wie möglich den Mangel an Fachkräften zu lindern, begünstigte also überhastete Rekrutierungen, die korrigiert werden mussten, was wiederum die Personalfluktuation förderte.1032 Obwohl außer den unmittelbar betroffenen Personalabteilungen auch andere Dienststellen, zum Beispiel die Zentrale Kontrollkommission und das Ministerium für Staatssicherheit, zur Aufklärung beitrugen, ist klar erkennbar, dass sich trotz aller Bemühungen die Kontrollmaßnahmen als alles andere als perfekt herausstellten und die Informationskette nicht lückenlos war.1033 Die Behörden waren natürlich bemüht, diese Mängel nicht bekannt werden zu lassen. Welchen Eindruck die Belastungslügner von der Effizienz der Personalprüfungen hatten, ist unklar. Dass sie aber ein nicht geringes Risiko eingingen, musste ihnen bewusst gewesen sein. Immer wieder kam es schließlich im Kollegenkreis zu Entlassungen und Parteiausschlüssen. Die wahren Gründe dafür ließen sich bestimmt nicht in allen Fällen verbergen und haben sich über Mundpropaganda weiterverbreitet. Wahrscheinlich verfuhren Lebenslauffälscher nach dem Prinzip Hoffnung, spielten auf Zeit und bangten unablässig, damit irgendwie durchzukommen. Besonders schwierig gestaltete sich eine Überprüfung der Heimatvertriebenen. Ihre Angaben zur politischen Vergangenheit stellten sich häufig als erlogen heraus. Die Behörden hielten daher auch deren eidesstattlichen Versicherungen, die wegen fehlender Dokumente abgegeben wurden, noch mehr als bei anderen Personen nicht automatisch für einwandfrei. Die Sachverhalte ließen sich bei „Umsiedlern“ oft nicht mehr richtig klären.1034 Die Lebenslauffälscher haben soweit erkennbar genauso loyal oder illoyal mitgearbeitet wie die anderen Regierungsangestellten. Es gab keine nennenswerten Unterschiede. Viele von ihnen engagierten sich in der SED oder den politischen Massenorganisationen und erzielten gute Ergebnisse am Arbeitsplatz. Demgegenüber finden sich gerade im Hinblick auf solche Mitarbeiter, denen Agententätigkeit oder Sabotage vorgeworfen wurde, nur selten Hinweise darauf, dass sie im Nachhinein auch der Biografiemanipulation überführt wurden. Die vermeintliche Bedrohung, dass im Auftrag des Klassenfeindes unerkannte Faschisten in den Apparat einsickern konnten, war in den Augen der Kommunisten durchaus real. Die SED hegte dann wie auch bei Konzentrationen ehemaliger Nationalsozialisten an bestimmten Stellen den Verdacht der faschistischen Umtriebe, der gegenseitigen Deckung und feindlichen Zusammenrottung. Obwohl nur selten belegbar, ist zu vermuten, dass zumindest einige Personalverantwortliche von einer NS-Belastung mancher Mitarbeiter wussten und diese gegenüber der Partei oder anderen Kader- und Behördenleitern verheimlichten.1035 Sei es aus 1031 1032 1033 1034 1035 Bei Quellen aus der NS-Ära, die in „Z-Akten“ archiviert sind, ist unklar, ab wann genau sie den Behörden in der SBZ/DDR zur Kenntnis gelangten. Unterlagen des BDC standen den ostdeutschen Personalverantwortlichen außer in der anfänglichen Phase der Zusammenarbeit von sowjetischen und amerikanischen Besatzungsbehörden nicht zur Verfügung. Kuhlemann, Kader (2005), S. 392. Ein Beispiel aus dem Ministerium für Land- und Forstwirtschaft siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 392. Gieseke, Mitarbeiter, S. 133. Zu Flüchtlingen, die teils als „aktive Faschisten“ entlarvt wurden, sich bei Kriegsende aber als Kommunisten ausgegeben hatten, siehe: DO 1 / 26.0, 3715, Arbeitsgericht Magdeburg, Urteil in Sachen Otto G[...] gegen das Deutsche Amt für Maß und Gewicht, Weida, verkündet am 14.10.1949 (Abschrift); Wille, Entnazifizierung, S. 26. Siehe die Verheimlichung der Umstände des NSDAP-Eintritts von Günter Scheele durch Justizminister Max Fechner im Kapitel »Die „doppelten Parteigenossen“ und ihre illegale Untergrundarbeit: Eintritt im Auftrag der KPD und SPD«. Fechner sagte nach seiner Verhaftung infolge der „faschistischen Konterrevolution“ am 17. Juni 1953 ferner aus, dass ihm und dem illegalen Ausschuss der SPD in BerlinNeukölln bekannt war, dass Erwin Lampka Mitglied einer nazistischen Organisation war, nach seiner Erinnerung des NSKK. Ob Lampka auch der NSDAP angehörte, konnte Fechner nicht mit Bestimmtheit Jens Kuhlemann – Braune Kader 217 persönlicher oder politischer Sympathie: So ließ sich verhindern, dass bestimmte Angestellte gehen mussten oder in ihrem Aktionsradius Einschränkungen erfuhren. Wenn eine NSDAPMitgliedschaft bekannt wurde, konnte der Disput zwischen Personalabteilung und den obersten Staatsfunktionären über die Frage der Behandlung von Biografiemanipulierern auch offen ausbrechen.1036 Wie reagierten die Kaderverantwortlichen auf eine entdeckte Biografietäuschung? In der Regel führten die Personalverantwortlichen nach Aufdeckung der wahren Verhältnisse eine Aussprache mit dem Missetäter. Darin mag wie bei so vielen anderen Gelegenheiten der Gedanke des Erzieherischen und Disziplinierenden gelegen haben. Es kam auch vor, dass die Personalverantwortlichen bei Vorliegen erster Erkenntnisse insgeheim weitere Untersuchungen einleiteten, die sich über mehrere Monate erstrecken konnte.1037 Eine diskrete Beobachtung erscheint konsequent angesichts des Szenarios, wonach der Klassenfeind sich verschwörerisch in die eigene Schaltzentrale der Macht einzuschleichen versuchte. Unaufrichtige Angestellte machten sich verdächtig, eben aus diesen und nicht nur aus rein persönlichen Gründen die DDR-Behörden hintergangen zu haben. Bei entlarvten Fragebogenfälschern gab das gesamte Kaderkonto den Ausschlag für das weitere Vorgehen der Partei und der Behörden. In der SED, wo es unter Parteiangehörigen zahlreiche Fragebogenfälscher gab, stellten die Zurückversetzung in den Kandidatenstand, die Streichung der Mitgliedschaft oder der Parteiausschluss die gängigen Sanktionen dar. Eher selten fand die mildeste Form, die der Parteirüge, Anwendung.1038 Manche Sanktionen wurden nach einiger Zeit auch wieder aufgehoben, besonders im Zuge der „Tauwetterperiode“ nach Stalins Tod.1039 Zunächst wurde jedoch der Kampf gegen solche Kader, die ihre wahre NS-Vergangenheit verschwiegen hatten, im Rahmen der SEDParteisäuberungen verstärkt. Eine ganze Reihe von Recherchen wurden in diesem Zusammenhang eingezogen – mit einigem Erfolg. Die SED-Mitgliederüberprüfung wirkte dabei bereits präventiv. Die rund 30.000 Parteiaustritte in der ersten Jahreshälfte 1951 gehen vermutlich auch in gewissem Maße auf die Furcht vor der Entdeckung von Fragebogenfälschungen zurück. Einige offenbarten ihre NS-Belastung auch schon im Vorfeld, weil es ihnen das kleinere Übel zu sein schien. Andere hofften, unentdeckt zu bleiben und wurden dann teilweise doch entlarvt. Eine ungewisse Zahl blieb weiterhin verborgen.1040 Die Partei trieb ein ungebrochenes Wissens- und Kontrollbedürfnis um. Sie verlangte daher von ihren Mitgliedern „Ehrlichkeit“. Zu Falschdarstellungen und Verheimlichungen von NS-Belastungen habe kein Grund vorgelegen, weil die SED allen Nominellen eine neue Chance gegeben habe.1041 Die Frage war nur, wie groß diese Chance in Wirklichkeit ausfiel, zumal manche verborgenen Begebenheiten aktivistischer Natur waren. Dabei gewinnen 1036 1037 1038 1039 1040 1041 sagen. Die schon skizzierte Fragebogenfälschung des Lampka wurde beim MfS im Zusammenhang mit der Festnahme Fechners aktenkundig, da Lampka Fechner in einem Fragebogen als Person nannte, die über ihn Auskunft erteilen konnte und dies z.B. im Rahmen der Einstellung bei der Sequesterkommission gegenüber Bruno Leuschner auch tat, in: BStU, AU 307/55, Bd. 2, Bl. 39 f., [MfS,] Aktenvermerk, vom 02.02.1954; ebd., Bl. 48 f., Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Fechner, vom 10.02.1954. Siehe ein Beispiel aus dem Volksbildungsressort, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 394. Siehe den Fall eines Referenten im Ministerium für Post und Fernmeldewesen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 394. Laut „Merkblatt für ausgeschlossene Mitglieder“ sollten u.a. diejenigen aus der SED ausgeschlossen werden, die „wahrheitswidrige Angaben bei der Aufnahme über ihre politische Vergangenheit während der Hitlerzeit machten“. Im Jahr 1948 wurden 2609 Mitglieder ausgeschlossen, davon wegen „wahrheitswidriger Angaben zur NSDAP“ 272 (10,4%), siehe: DO 1 / 26.0, 17554, s.v. „A“, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Personalabteilung, zur Fluktuationsstatistik – Stand 15.12.1952, vom 05.01.1953, S. 4; Stern, Porträt, S. 111-113; Kowalczuk, Stalin, S. 183; Friedrich / Hübner / Mayer / Wolf, Entscheidungen, S. 533 f. Siehe den Fall eines Nicht-Pgs., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 395. Staritz, Sozialismus, S. 157, 165; Danyel, SED, S. 184. So Erich Honecker 1963 auf der 2. Tagung des ZK der SED, siehe: Danyel, SED, S. 178. Jens Kuhlemann – Braune Kader 218 heutige Betrachter den Eindruck, dass die seit jeher bekannten Pgs. eigentlich latent unter dem Verdacht stehen mussten, den eigenen Wandel nur zu heucheln, weil ihre Bewährungssituation offenkundig war. Fragebogenfälscher hingegen standen, solange sie unerkannt blieben, nicht unter dem gleichen Druck. Ihr Verhalten bis zur Enthüllung ihrer NS-Vergangenheit hätte daher im Grunde als ehrliches Benehmen im Rahmen der Nachkriegsordnung durchgehen können. Doch die SED sah das anders. In der Staatsverwaltung kam es meistens zur sofortigen Kündigung oder Versetzung in ein untergeordnetes Organ.1042 Der Verdacht auf eine Verheimlichung konnte bereits zur Veränderung des Arbeitsverhältnisses oder Mitgliedsstatus ausreichen.1043 Schlagende Beweise waren nicht immer nötig. Dem Ausscheiden des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Hans Forsbach ging beispielsweise folgende Beurteilung der Zentralen Kontrollkommission Ende 1948 voraus: »Die ZKK hält Forsbach für einen gewissenlosen Karrieristen, der es sehr gut verstand, die antifaschistische Wachsamkeit 1945 zu täuschen, Mitglied der Partei wurde, sich als Antifaschist aufspielte und schliesslich im Hause der DWK in entscheiden[d]er Position landete.« Letzteres sei Forsbach im „Zusammenspiel mit seinen Freunden“ gelungen, die nicht namentlich genannt wurden. Die ZKK vertrat die Ansicht, dass es sich um einen „Karrieristen übelster Sorte“ handelte. Konkrete Details einer Biografiefälschung prangerte die Kontrollkommission jedoch nicht an. Es ging wohl mehr um den Gesamteindruck. Wenige Wochen später kam dann die Versetzung zur Landesregierung Brandenburg.1044 In umgekehrter Richtung war es praktisch kaum möglich, NSDAP-Mitglieder aus der Provinz, die man bereits zu einem früheren Zeitpunkt der Fragebogenfälschung überführt hatte, in den zentralen Apparat nach Ost-Berlin zu holen. Obwohl leitende Funktionäre im Einzelfall solche Personalvorschläge machten, scheint das MdI sie, selbst wenn es sich um gute Fachleute handelte, nicht bestätigt zu haben.1045 Allgemein war dabei neben „Karrierist“ auch „Schädling“ ein geläufiger Begriff, wenn es eine Biografiefälschung in Zusammenhang mit anderen negativen Kadermerkmalen und Verhaltensweisen zu beanstanden galt.1046 Überhaupt zogen Kaderverantwortliche zur Begründung einer Bestrafung alle möglichen ungünstigen fachlichen, sozialen, politischen oder auch charakterlichen Eigenschaften heran, um mit spitzer Zunge ein abschreckendes Gesamtbild zu zeichnen, egal ob es sich um Lebenslauftäuscher handelte oder nicht.1047 Als weitere Sanktion ist die zumindest vorläufige Belassung in der Dienststelle bei manchmal veränderten, weniger sensiblen Aufgabengebieten bekannt.1048 Dies kam einer Degradierung gleich. Welches Mittel Anwendung fand, war davon abhängig, welche kaderpolitischen Pluspunkte für eine Weiterbeschäftigung sprachen. Die SED gab dabei fast 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 DO 1 / 26.0, 17328, 33/52/1/1, „Aufstellung über Personen, die seit Gründung der DDR aus polit[ischen] oder krim[inellen] Gründen entfernt werden mussten“ [1952]; DK 1 / 2046, Bl. 31 (nach anderer Zählung Bl. 91), DWK, HV Land- und Forstwirtschaft, Personalabteilung, betr.: Kaderpolitik in den Hauptverwaltungen der DWK, an DWK, Hauptabteilung Personalfragen und Schulung, vom 23.06.1949. Siehe hierzu ein Beispiel in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 395. Unwiderlegbare Beweise scheinen nicht vorgelegen zu haben, doch wird Forsbachs Curriculum Vitae einfach zu dubios erschienen sein. Nähere Einzelheiten werden an verschiedenen Stellen in dieser Arbeit erörtert, siehe: DC 1 / 2601, [Verfasser unklar,] Charakteristik, undatiert; ebd., [ZKK, Lange,] an die Vorsitzende der Betriebsgruppe der DWK der SED, Wittkowski, vom 22.11.1948; ebd., [ZKK,] Zusammenfassender Bericht, an Matern, vom 18.03.1950; zu weiteren möglichen Gründen, die zur Entlassung Forsbachs aus der DWK führten, siehe u.a. Kapitel „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz“. DO 1 / 26.0, 17566, Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Personalabteilung, Arbeitsbericht über das 3. Quartal 1951, vom 30.09.1951, S. 1 f. Siehe das Beispiel eines ehemaligen SA-Mitglieds in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 396. Siehe u.a. die Beispiele einer Referentin der ZKK und eines Dozenten an der DVA „Walter Ulbricht“, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 396 f. Ein Beispiel siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 397. Jens Kuhlemann – Braune Kader 219 allen, auch den schwer Bestraften, unter der Prämisse der politischen Erziehung eine erneute Bewährungschance.1049 Die Möglichkeit, sie wahrzunehmen, gestaltete sich für die Überführten je nach neuer Arbeitssituation und Verhältnis zur Partei nur unterschiedlich schwierig. Wer seine NS-Vergangenheit verschwieg oder verfälschte, wurde wegen Anlügens der Partei und mangelnden Vertrauens zur Rechenschaft gezogen. Anders als Karl Wilhelm Fricke meint, spielte die Vergangenheit als solche aber durchaus ebenfalls eine Rolle.1050 Die Ahndung strafwürdiger Vergehen fiel nur eben uneinheitlich aus, je nach politischer oder wirtschaftlicher Verwertbarkeit der konkreten Person. Sie reichte entsprechend von mündlichen „Standpauken“ unter vier Augen bis hin zu Schauprozessen. Regelrechte Versprechen, überführte Fälscher später wieder in den Regierungsapparat zurückzuholen, oder eine strafrechtliche Verurteilung derselben, waren im Rahmen dieser Arbeit anders als beim Ministerium für Staatssicherheit nicht zu ermitteln.1051 Um eine weitere, möglichst effiziente Nutzung der Fähigkeiten entlarvter Kader zu ermöglichen, kam es vor, dass der Umstand der Fragebogenfälschung in offiziellen Entlassungspapieren nicht auftauchte beziehungsweise als Kündigungsgrund ein anderer Erwähnung fand.1052 Diejenigen Dienststellen, die darüber im Bilde waren, scheinen ihre Informationen auch mündlich nur teilweise weitergegeben zu haben. Sie warfen aber mit Sicherheit weiterhin ein Auge auf den betreffenden Kader, nicht zuletzt wegen der Gefahr der Westflucht des potenziellen „Schädlings“ und seiner Rückkehr in das „Lager der Auftraggeber“. Der innerbehördliche Versuch einer Billigung von Lebenslauftäuschungen ist zwar vereinzelt überliefert, setzte sich aber nicht durch.1053 So erteilte die DWK-Hauptverwaltung Verkehr an die Reichsbahndirektion Halle im Oktober 1948 eine Verfügung, wonach in Fällen von Fragebogenfälschung in strafrechtlicher Hinsicht nichts zu veranlassen sei. Eine solche Vorgehensweise war äußerst ungewöhnlich. Sie war sicherlich ganz nach dem Geschmack derer, die nach einem Schlussstrich unter die unaufhörlichen Fragen nach der eigenen NS-Vergangenheit riefen. Doch im Sinne der SED konnte sie nicht liegen. Nach Intervention unter anderem durch die Deutsche Justizverwaltung musste diese Anordnung deshalb rasch wieder zurückgezogen werden. Es ist bei all dem bezeichnend, dass sich die „Pro-Pg.-Seite“ in einem Restglauben an ihre Wirksamkeit der verbliebenen Mittel der Juristerei bediente und eine ihrer Absicht entsprechende Interpretation der Gesetzbücher heranzog. Denn politisch hatte sie keine Handhabe. Und genauso signifikant ist die Reaktion der Gegenseite. Denn das „Recht“ wurde solange „bearbeitet“, bis es der politisch vorgegebenen Linie entsprach. Die ursprüngliche Verfügung zugunsten der Fragebogenfälscher erscheint im Vergleich zur Macht der SED-Kaderpolitik deshalb wie ein Lachs, der gegen den Strom schwimmt und am Ende doch nur im Maul des Bären landet.1054 Dass die ostdeutsche Justiz ein Instrument zur Bestätigung der politischen Vorgaben der SED war und eine Fragebogenfälschung auch bei geänderter Gesetzeslage nicht rückwirkend als gesetzeskonform erklärte, zeigt ein Gerichtsurteil zu einem Fall aus einer nachgeordneten Dienststelle, dem Deutschen Amt für Maße und Gewichte (DAMG): Im Frühling 1949 wurde 1049 1050 1051 1052 1053 1054 Siehe hierzu den Fall eines noch relativ jungen Pgs. in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 397. Materialien, Bd. III/1, S. 164. Gieseke, Frage, S. 144 f. Siehe das Beispiel eines leitenden Mitarbeiters der HO Sachsen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 397 f. Anlässlich der Personalie Franz Gold im MfS hält Jens Gieseke es für möglich, dass ihm politisch belastende Biografieanteile verziehen wurden und man bestrebt war, diese dann in der Kaderakte zu tilgen. Diesbezüglich konnte ich aber von Seiten der DWK und DDR-Regierung weder Versuch noch Vollzug eindeutig nachweisen, siehe: Gieseke, Frage, S. 141; vgl. den Fall einer Kaderleiterin einer nachgeordneten Dienststelle, die einem Angestellten die Personalakte aushändigte, damit er die bis dahin verschwiegene SA-Zugehörigkeit nachtragen konnte, in: DO 1 / 26.0, 17171, Ministerium für Handel und Versorgung, Quartalsbericht für das I. Quartal 1954, S. 9. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 398 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 220 der Leiter der Eichverwaltung Sachsen-Anhalt, ein Ostflüchtling, fristlos entlassen. Als Grund wurde angegeben, es habe sich einwandfrei herausgestellt, dass er entgegen seinen bisherigen Angaben Mitglied der NSDAP sei. Außerdem habe er sich bei der Arbeit „undemokratisch“ verhalten. Der Betroffene reichte daraufhin Klage beim Arbeitsgericht Magdeburg ein, um seine Wiedereinstellung auf dem Rechtsweg zu erstreiten. Der Kläger war zur Zeit der Entnazifizierung, im Oktober 1946, beim DAMG als Eichdirektor für die Eichverwaltungen im Lande Sachsen Anhalt eingestellt worden. Das Amt hat rückblickend festgestellt, dass er diese leitende Stellung der irreführenden Darstellung der politischen Vergangenheit verdankte. Denn während der Entnazifizierung war eine nominelle NSDAP-Zugehörigkeit offiziell ein Kriterium zur Einstellungsunterlassung. Mitte 1949 war es das gemäß den Richtlinien zumindest für die Besetzung leitender Positionen immer noch. Und auch nach Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes gab es keine Amnestierungserscheinungen, die Jahre alte Fragebogenfälschungen gegenstandslos gemacht hätten. Auch wenn eine einfache NSDAP-Mitgliedschaft in der DDR rechtlich kein Hinderungsgrund mehr war, um in Leitungsfunktionen aufzusteigen, wurde ihre in den Jahren bis 1949 begangene Verheimlichung nachträglich geahndet und als Grund für eine andauernde berufliche Zurücksetzung herangezogen. In diesem Sinne argumentierte das DAMG: »Eine Rücknahme der Kündigung würde dem Gedanken der politischen Säuberung widersprechen.« Das Arbeitsgericht schloss sich dieser Meinung an und wies die Klage ab. Es fügte hinzu, dass der Kläger keinesfalls beanspruchen konnte, besser gestellt zu werden als sonstige NSDAP-Mitglieder, die bereits früher aufgrund der Säuberungsverordnung der Provinz Sachsen von der Berufsausübung ausgeschlossen wurden. Es hieß, der Kläger müsse die aus der Verordnung resultierende nachteilige Rechtsfolge gegen sich gelten lassen. Denn unstreitig sei laut Gerichtsurteil, dass die „Grundgedanken“ der Säuberungsverordnung auch noch am Tag der Urteilsverkündung (am 14. Oktober 1949) ihre Anwendung fanden, und zwar gerade bei leitenden Positionen. In anderen Fällen konnten hingegen „Erleichterungen“ möglich sein – Diese Aussage erging wohl auch vor dem Hintergrund des drei Tage zuvor verabschiedeten Gleichstellungsgesetzes. Die staatliche Verwaltung sollte also dauerhaft von solchen ehemaligen Pgs. frei bleiben, die nicht den Weg der ehrlichen Reue und besonderen Bewährung gegangen waren. Das Gerichtsurteil zeigt, dass es keine nachträgliche Milde gegenüber NSDAP-Mitgliedern gab, die ihr Belastungsmerkmal verborgen hatten. Ehrlichkeit zur SED oder den staatlichen Organen war kaderpolitisch unbefristet relevant.1055 Im Weiteren ein paar Beispiele zum Kontrast zwischen dem persönlichen Benehmen unter der Hakenkreuzfahne und seiner Darstellung nach 1945: Hier ist ein DWKSachbearbeiter anzuführen, der zur Zeit der Machtergreifung Hitlers große finanzielle Not litt. Im Oktober 1933 trat er der SA bei. Einen Monat später schrieb er einen Lebenslauf an die Sturmabteilung. Der spätere Verwaltungskader beschwerte sich darin, nur wegen eines bürokratischen Fehlers unter die Aufnahmesperre für Neumitglieder der NSDAP zu fallen, die im selben Jahr verhängt wurde. Ohne ihn hätte er seiner Meinung nach längst Pg. sein können. Sein Motiv sei Idealismus gewesen, obwohl er jahrelang SPD-Mitglied war. Wie er mitteilte, habe er frühzeitig Verbindung mit der NSDAP-Ortsgruppe Berlin-Treptow aufgenommen, »bei welcher ich mich ordnungsmäßig mehrere Male vor der Sperre im April 1933 zwecks Aufnahme gemeldet habe. Anscheinend durch ein Versehen des Büros ist meine Aufnahme nicht erfolgt, da die an mich gerichtete Aufforderung später abgesand[t] wurde, als ich zwecks Aufnahme erscheinen sollte. Trotz mehrerer Erinnerungen habe ich keine Antwort erhalten. Den Beschwerdeweg an den Gau behalte ich mir vor. Ich bin Deutscher, arisch, [...]. Trotz meiner Verirrung zur S.P.D. habe ich mich aus innerer Überzeugung und Bewunderung unseres großen Führers der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen. Somit glaube ich fest und habe das Vertrauen zu unserer derzeitigen Regierung, daß wir einer 1055 Eine ausführliche Behandlung dieses Falles siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 399-401. Jens Kuhlemann – Braune Kader 221 wirtschaftlich besseren Zeit entgegensehen und daß auch der Wille und die Kraft des Einzelnen wieder geachtet und geehrt wird.«1056 Offenkundig versprach er sich von einer NSDAP-Mitgliedschaft materielle Vorteile. Seine bekundete Zustimmung zur Person Hitlers und dem NS-Regime kann theoretisch natürlich auch ein wenig vorgeschoben gewesen sein, um sich einzuschmeicheln, zumal er als alter Sozialdemokrat bekannt war, was in der NS-Ära eher Nachteile mit sich brachte. Ob seine innere Haltung tatsächlich seinen Worten entsprach, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Bemerkenswert ist dennoch die verwendete Sprache, die einige Begriffe aus dem NSJargon aufgriff. Ziehen wir sein Verhalten in der SBZ/DDR hinzu, so handelte es sich zumindest nach außen um einen „multiplen Wendehals“. Bei der Entnazifizierung 1947 unterschlug er nämlich die SA-Zugehörigkeit in Gänze. Darüber hinaus habe er keine Auszeichnungen erhalten. Dabei hatte er gegenüber der SA noch davon gesprochen, aus dem Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz und das Verwundetenabzeichen zu besitzen. Auch der politische Kontext, in dem man Orden bekam, d.h. der eigentliche Anlass, aber auch der Status des Verleihers, war Gegenstand von Biografiefälschungen. Denn sie legten eine aktive Unterstützung der jeweiligen Machthaber und ihrer Ziele nahe, was später unter anderen Rahmenbedingungen nachteilig sein konnte. Schließlich behauptete er anlässlich der Entnazifizierung, der NSDAP vom 1.5.1938 bis 1945 angehört zu haben. Laut NSDAP-Mitgliederkartei im BDC wurde die Parteiaufnahme aber bereits am 16. November 1937 beantragt und galt rückwirkend zum 1.5.1937. Hinweise auf ein Ruhen der Mitgliedschaft während seiner Wehrmachtszugehörigkeit 1939-1945 gibt es nicht. Genau diese Vermutung hegte der spätere DWK-Angestellte jedoch im Entnazifizierungsverfahren. Außerdem gab er dort an, kein Parteibuch erhalten zu haben, wodurch die NSDAP-Mitgliedschaft eigentlich nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sei. Eine Zugehörigkeit zur NSV und der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung bestand zwar. Die zur NSKOV sei jedoch nicht aus eigener Initiative, sondern durch Übernahme vom alten Reichsbund der Kriegsbeschädigten erfolgt. Demgegenüber soll es im NS-Regime zu persönlichen Benachteiligungen aufgrund der politischen Betätigung in der Weimarer Republik gekommen sein. So war der Biografiefälscher bis 1936 selbständiger Besitzer und Gastwirt einer Trinkhalle, einem Reichsbannerlokal, dessen Räumlichkeiten er offenbar von der Reichsbahn gepachtet hatte. Diese Pacht ging angeblich nur wegen der früheren Zugehörigkeit zur SPD verloren. Er arbeitete dann bei der Deutschen Lufthansa als Verwaltungsangestellter, bis er in das Militär eintrat und dort zum Oberleutnant aufstieg. Bei der Entnazifizierung wählte er dabei die Bezeichnungen „Feldwebel und Technischer Offizier“, um seine Karriere mit dem Hinweis zu relativieren, dass er nicht immer Offizier war. Der Appellant fasste gegenüber der Entnazifizierungskommission in Berlin-Treptow resümierend Folgendes zusammen: Aus wirtschaftlicher Not »habe ich mich trotz meiner inneren Abneigung aus Selbsterhaltungstrieb und Notwehr im Jahre 1938 zur Aufnahme in die NSDAP bereit erklärt, ohne jemals irgendwelche Posten oder Ämter zu bekleiden.« Als Beweis seiner inneren Gegnerschaft brachte er vor, einen im Untergrund arbeitenden KPDGenossen gedeckt und ihn vor einer Razzia gewarnt zu haben. Er sei zu vier Monaten Gefängnis und Rangverlust verurteilt worden, weil er am 20. Juli 1944 die ihm bei der Wehrmacht unterstehende Fernschreibstelle wegen Personalmangels abgemeldet hatte, was ihm angeblich als Unterstützung des missglückten Aufstandes ausgelegt wurde. Wegen der Überstürzung der Ereignisse Anfang 1945 habe ihn die Strafe aber nicht mehr erreicht. Er will einigen Menschen davon erzählt haben. Schriftstücke darüber besaß er keine. Eintragungen auf einer Militärkarteikarte deuten tatsächlich auf ein Disziplinarverfahren hin. Ob dies aber 1056 Die Zugehörigkeit zur SA dauerte vom 12.10.1933 bis mindestens Dezember 1934 bzw. 1935. Es handelte sich bei der Einheit um die Nachrichten-SA, beim Rang um den eines SA-Mannes, siehe: ZB II 3577, A. 5, Otto Ka[...], Lebenslauf, [an SA,] vom 07.11.1933. Jens Kuhlemann – Braune Kader 222 aus dem behaupteten Anlass heraus geschah, ist unklar.1057 Der ehemalige Pg. jedenfalls kam zu dem Schluss: »Durch die vielen Ungerechtigkeiten und Maßregelungen, die ich erdulden mußte, kann kein Mensch ernsthaft annehmen, daß ich dem Nationalsozialismus eine Lobeshymne singen könnte und bereue aufrichtig den Tag, der mich niederzwang in die NSDAP zu gehen [...] Daß ich mich nie als Nationalsozialist gefühlt und aufgespielt habe soll ein Ausspruch meiner alten Bekannten und Freunde bekunden: „Der will Offizier sein? Das ist ja ein Kommunist!“.«1058 Es sollte also das Bild eines politisch Verfolgten, aktiven Oppositionellen und eines Freundes der Kommunisten entstehen, der sich nur aus Geldmangel genötigt sah, einen Aufnahmeantrag bei der NSDAP zu stellen. Sofern es aus formalen Gründen überhaupt zu einer Parteimitgliedschaft kam, habe sie vor allem wegen der Militärdienstzeit faktisch nur kurze Zeit bestanden. Ansonsten habe sich der spätere Verwaltungskader in der NSDAP in Wort und Tat absolut passiv verhalten. Diese Version ist durch das erwähnte Schreiben an die SA widerlegt. Wann dieses Dokument den ostdeutschen Behörden zur Kenntnis gelangte, ist unbekannt. Auch die manchmal dargelegte Erklärung, man sei nur zur Tarnung in die Partei gegangen und habe dort diese oder jene Aufgabe übernommen, um als NS-Gegner keinen Verdacht zu erregen, erscheint in diesem Fall abwegig. Dagegen spricht nicht zuletzt, dass der Betreffende, selbst wenn es vor 1945 so gewesen sein sollte, in der SBZ/DDR nichts dergleichen für sich in Anspruch nahm. Es sieht eher alles nach einem Musterbeispiel für politischen Opportunismus aus. Ebenfalls sehr markant nimmt sich die Kontrastierung im Falle eines weiteren DWKSachbearbeiters aus. Dieser berichtete 1936 der SA über seine Vergangenheit und begann mit den Jahren um 1912 herum: »Zu dieser Zeit wurde ich Anhänger und Leser des vom völkischen Vorkämpfer Theodor Fritsch in Leipzig herausgegebenen antisemitischen „Hammer“ und der „Deutschen Zeitung“. [...] Wenn ich auch in der Nachkriegszeit unter dem Zusammenbruch des Vaterlandes, im besonderen unter dem Verlust von ElsaßLothringen, dessen Schönheit und Reichtum ich persönlich kennen gelernt hatte, sehr gelitten habe und mit dem „November-Staat“ recht unzufrieden war, so fand ich doch nirgends den Anschluß zur aktiven Betätigung. Ich trat am 27. April 1933 dem Stahlhelm bei und bin freudigen Herzens dem Ruf zum Übertritt zur SA[-]R[eserve] am 1. März 1934 gefolgt.«1059 Er bekannte sich also als traditioneller Anhänger antisemitischen und deutschnationalen beziehungsweise rechtskonservativen Gedankengutes. Nur der fehlende Kontakt zu entsprechenden Gruppierungen habe ein früheres Engagement verhindert. 1935 bekam der spätere DWK-Angestellte das SA-Sportabzeichen in Bronze verliehen. 1939 musste er jedoch seinen Austritt aus der SA beantragen, dem im Folgejahr stattgegeben wurde. Er konnte seinem Dienst, zu dem anfangs auch Gepäckmärsche gehörten, aus gesundheitlichen Gründen nicht weiter nachkommen. Hierzu der Kommentar des vorgesetzten SA-Sturmführers: »R[o]tt[en]f[ührer] G[...] ist bis vor wenigen Wochen ein stets diensteifriger und einsatzbereiter SA M[ann] gewesen. Treue, Gehorsam – sind hervorstechende Charaktereigenschaften des R[o]tt[en]f[ührers] G[...]. [...] Ich bedauere, das 1057 1058 1059 Auf einer Karteikarte der Wehrmacht ist unter der Rubrik „Dienstgrad“ das Wort „Hauptm[ann]“ durchgestrichen und darüber die Bezeichnung „Oberl[eutnan]t“ eingetragen. Unter „Bemerkungen“ stehen schlecht lesbar – daher unter Vorbehalt – das Datum 16.11.44, die Worte „Stubenarrest“ und „Verabsäumung der Aufsichtsdienstpflicht“ sowie „noch nicht bestätigt“. Anzeichen einer Degradierung und sonstigen Bestrafung lassen sich also verifizieren, das Motiv dafür nicht, siehe: BA Aachen, Karteikarte Otto Ka.; Kuhlemann, Kader (2005), S. 403 f. Das Ergebnis der Entnazifizierung blieb offen, weil der Antrag wegen fehlender Zuständigkeit nicht weiterbearbeitet wurde, siehe: ZB II 3577, A. 5, Otto Ka[...], Lebenslauf, an die Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, vom 25.09.1946. ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], Lebenslauf [an SA], vom 02.02.1936. Jens Kuhlemann – Braune Kader 223 Entlassungsgesuch des R[o]tt[en]f[ührers] G[...] befürworten zu müssen«.1060 Laut SAStammrolle war er ein „sehr fleißiger Soldat, guter Kamerad“ und „politisch einwandfrei“. Die Dienstbeteiligung und Dienstauffassung sei „gut“ gewesen, die Führung „gut“ bis „sehr gut“.1061 Die vorstehenden Dokumente lagen bei der Entnazifizierung 1947 ganz offensichtlich noch nicht vor. Bekannt war den Mitgliedern der Kommission jedoch ein Auszug aus der NSDAP-Zentralkartei, den die Amerikaner weitergeleitet haben müssen. Demnach gehörte der Appellant der NSDAP vom 1.5.1937 bis 1945 an. Der Betreffende selbst bestätigte seine NSDAP-Zugehörigkeit. Darüber hinaus teilte er mit, dass er aus dem Stahlhelm in die SA überführt wurde und dort Rottenführer war, was einem Gefreiten bei der Wehrmacht entsprach. Schließlich war er noch Mitglied in der NSV, im RLB, Reichskolonialbund und RDB. Der ehemalige Nationalsozialist referierte dazu Folgendes: »Da ich 1916 – 1918 wirklicher Frontsoldat war, habe ich mit dem „Stahlhelm“, Bund der Frontsoldaten, sympathisiert und trat diesem Bund im April 1933 bei, weil ich die NSDAP nicht unterstützen wollte. Solange die schwarz-weiss-rote Fahne erlaubt war, habe ich diese Flagge gehisst. Als 1934 der „Stahlhelm“ aufgelöst wurde, bin ich automatisch zur SA-Reserve überführt worden. Ich blieb hier nur einfacher Rottenführer, weil ich den SA-Dienst nur notgedrungen, ohne Eifer und ohne Begeisterung versah. [...] Nach 2 jähriger Zugehörigkeit zur SA, als festgestellt wurde, dass ich zu denjenigen SA-Männern gehörte, die gar nicht Parteimitglieder waren, kam ich automatisch, am 1.5.1937, zur NSDAP.«1062 Er sei einfach zur Parteimitgliedschaft gemeldet worden und habe sich dem ausgelösten Mechanismus nicht zu widersetzen vermocht. Dem Drängen der SA-Führung, aus der Kirche auszutreten, oder demjenigen älterer Pgs., schon 1932/33 in die Partei einzutreten, sei er aber nicht gefolgt. Der Appellant gab also eine Verbundenheit zum rechten Politspektrum zu, distanzierte sich aber von den Nationalsozialisten. Seine Darstellung, ohne Eifer und Begeisterung in der SA gewirkt zu haben, darf angesichts der zuvor erwähnten Beurteilungen seiner Vorgesetzten als Lüge angesehen werden. Er habe zudem keinerlei Vorteile wegen der NSDAP-Zugehörigkeit genossen und keine ungewöhnlichen Beförderungssprünge vollzogen. Das Reichspostministerium habe dem Postbeamten 1937 oder 1938 mitgeteilt, ihn mit Vorrang befördern zu wollen und dass als Voraussetzung für eine Beförderung bei der Post neben der NSDAP-Mitgliedschaft dienstliche Befähigung und entsprechende Leistungen erforderlich seien: »Weil ich aber wohl nicht zu den besonders eifrigen Pgs gerechnet wurde, denn ich kam ja nicht aus eigener Initiative, sondern aus dem „Stahlhelm“ zur Partei, wurde ich erst im Juni 1939 als eine gewisse Massenbeförderung ausgesprochen wurde, befördert«.1063 Er habe sich also politisch passiv verhalten und sei deshalb beruflich eher noch benachteiligt worden. Dennoch fungierte er nach Aufforderung 1942-1944 als Vertreter des NSDAP-Blockleiters, wie in den Entnazifizierungsunterlagen zu lesen ist: »Er will aber nicht agitatorisch hervorgetreten sein und habe auch niemand denunziert, weil er innerlich die nazistische Ideologie ablehnte. Die Judenpogrome habe er verurteilt und er versichert, daß er daran als SA-Mann nicht teilgenommen hat. Das Parteiprogramm der NSDAP habe er gelesen und geglaubt, daß es in dieser Form nie durchgeführt werden würde. In seiner Parteizugehörigkeit habe er nichts Unrechtes gesehen, da in Deutschland nur diese eine Partei zugelassen war und ein großer Teil der Beamten als Träger des damaligen Staates dieser Partei bereits angehörten. Wenn er 1060 1061 1062 1063 ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], an SA der NSDAP, Standarte 5, vom 26.11.1939 [darauf hs. Vermerk des Führers des SA-Sturmes 33/5, undatiert]. ZA VI 3952, A. 9, SA-Stammrolle Nr. 149, vom 01.01.1935; ebd., Der Führer des [SA-] Sturmes 61/R.28, Ueberweisungsschein, undatiert [1935]. ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], an die Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, vom 19.09.1947. ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], an die Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, vom 19.09.1947. Jens Kuhlemann – Braune Kader 224 auch die nazistische Ideologie ablehnte, so sah er damals in der nur passiven Mitgliedschaft kein Vergehen oder eine strafbare Handlung.« Er sei also in gutem Glauben gewesen. Auch die mangelnden Parteialternativen als Ergebnis der Diktaturetablierung haben keine Zweifel aufkommen lassen. Im Gegenteil habe ihn der große Verbreitungsgrad der NSDAP in der Legitimität seines Handelns noch bestärkt. Zum Volkssturm habe er sich freiwillig gemeldet, weil dies die Dienststelle von allen Pgs. verlangte. Soviel mangelndes Verantwortungsbewusstsein wurde seltsam widersprüchlich flankiert von Aussagen, sich innerlich von der NS-Politik abgegrenzt zu haben. Der ehemalige Beamte habe sogar das Parteiprogramm gekannt. Während er dieses nicht ganz ernst genommen habe, behauptete er, gegen Judenfeindlichkeit gewesen zu sein und sich nicht an antisemitischen Exzessen beteiligt zu haben – und das, nachdem er sich gegenüber der SA als klarer Feind der Juden zu erkennen gab und sie ihn als aktives Mitglied lobte! Sollte sich bereits im „Dritten Reich“ oder spätestens in der Nachkriegszeit ein mentaler Wandel vollzogen haben? Oder verleugnete sich der spätere DWK-Mitarbeiter selbst? Es sieht nach Letzterem aus. Dabei stärkten mehrere Entlastungszeugen dem Appellanten den Rücken. Einer behauptete, dass der ehemalige Pg. in Unterhaltungen mit ihm „die nazistische Führung sehr scharf angegriffen hat und die Sinnlosigkeit des Krieges verurteilte“. Er sei anständig und wahrheitsliebend gewesen. Ein anderer Zeuge meinte, der Postbeamte sei nur nominelles Parteimitglied gewesen und nicht aus Überzeugung in die NSDAP gegangen, sondern wegen des Berufes. Ein „altes KPD-Mitglied“ äußerte, er sei sehr anständig und korrekt gewesen und niemals aggressiv im Sinne der NSDAP hervorgetreten. Ein Zeuge, der den Appellanten seit zwanzig Jahren kannte, gab schließlich zu Protokoll, dass er zwar von dessen Mitgliedschaft in der NSDAP und SA wusste. Er habe aber nie beobachtet, dass der Betreffende „sich aktiv für die Ziele des Nazismus eingesetzt habe“. Der zuletzt genannte Zeuge war Leiter eines Konservatoriums und hatte dasjenige Symphonieorchester gegründet, in dem der spätere DWK-Kader als Violinspieler mitwirkte und als Vorstandsmitglied fungierte. Dieses Orchester war der Fachschaft Volksmusik in der Reichsmusikkammer angeschlossen und hatte sich wiederholt der NSDAP in Berlin zur Verfügung gestellt. Das nährt natürlich den Verdacht, dass der Zeuge ebenfalls der NSDAP verbunden war und den Appellanten nun mit einer positiven Aussage deckte. Gemeinhin genossen Zeugen eigentlich um so mehr Ansehen und Glaubwürdigkeit, je antifaschistischer sich ihre Biografie darstellte.1064 Zweifel an der Version des Lebenslauffälschers waren allerdings schon einigen Zeitzeugen gekommen. Im Rahmen der Vorermittlung zur Entnazifizierung stellte der Ermittlungsstab fest, der Antragsteller sei »nicht so harmlos, wie er sich gern in seinem Antrag hinstellen möchte«. Recherchen an seiner früheren Arbeitsstätte, dem ReichspostZentralamt, hätten ergeben, dass er »ein begeisteter [sic] SA-Mann und eifriger Propagandist« der nationalsozialistischen Ideen war. Aufgrund seiner aktiven Tätigkeit sei er auch mit Vorrang befördert worden. Der Ermittlungsstab nannte einen vom Betriebsrat ausfindig gemachten Belastungszeugen, der diese belastenden Aussagen vorgebracht hatte. Als dieser Zeuge vorgeladen wurde, erschien er jedoch nicht. Daraufhin setzte man einen zusätzlichen Verhandlungstermin an, bei dem der Zeuge einen Rückzieher machte. Zumindest relativierte er seine Angaben, wie zu lesen ist: »[Der] Zeuge [...] hat dem Betriebsrat gegenüber erklärt, dass er den Appellanten als einen Idealisten ansieht, der seinerzeit aus Idealismus Mitglied der NSDAP geworden ist. Er bestreitet jedoch, jemals dem Betriebsrat gegenüber geäussert zu haben, dass der App[ellant] ein begeisteter SA-Mann und eifriger Propagandist der nationalsozialistischen Ideen war. Nach seiner Meinung ist der App[ellant] vielmehr der SA beigetreten, um seine Sportinteressen in dieser Organisation wahrzunehmen. 1064 Arthur G. war 1931-1943 im Symphonie-Orchester-Verein, siehe: ZA VI 3952, Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, Verhandlungsprotokoll, vom 18.9.1947. A. 9, Jens Kuhlemann – Braune Kader 225 Im übrigen kann er dem App[ellanten] nichts politisch Nachteiliges nachsagen. Er hat ihn stets als einen äusserst gewissenhaften und anständigen Arbeitskollegen kennengelernt.«1065 Ob sich der Belastungszeuge vor einer mündlichen Vernehmung zunächst drücken wollte, ob es eine Druckausübung auf ihn gab oder er als „Verräter“ plötzlich Angst vor sozialer Ausgrenzung oder Schlimmerem hatte, ist unbekannt. Jedenfalls ist auch hier ein gewisser Widerspruch ersichtlich, weil es sich zwar bei dem späteren DWK-Mitarbeiter um einen Idealisten gehandelt habe, aber zugleich keineswegs um einen aktiven und enthusiastischen NS-Anhänger. Es schwingt die damals verbreitete Unterscheidung in einerseits Verbrecher mit, die das Vertrauen, die Hoffnung und die edlen Vorsätze der Menschen missbrauchten, und andererseits „anständige Nazis“, die nichts taten, was dem gesunden Rechtsempfinden zuwiderlief. Harmlos und sogar unpolitisch sei das Motiv des Appellanten gewesen, in die SA einzutreten. Die ursprünglich erwähnten belastenden Hinweise hatten keine erkennbaren Auswirkungen auf die Meinungsfindung der Entnazifizierungskommission. Sie befürwortete den Entlastungsantrag im Oktober 1947 einstimmig. In ihrer Urteilsbegründung heißt es: »Im Jahre 1937 wurde er von der SA für die Mitgliedschaft in der NSDAP vorgeschlagen und hat es nicht gewagt, sich dagegen zu wehren.« Dem ehemaligen Pg. und SA-Rottenführer hätten »aktive Handlungen für den Nazismus in der Verhandlung nicht nachgewiesen« werden können.1066 Und die Gesinnung allein wurde nicht belangt, sondern als Recht auf den politischen Irrtum angesehen, solange keine Hinweise auf Versuche vorlagen, auf andere aktiv propagandistisch Einfluss zu nehmen, oder solange eine Distanzierung von damaligen Sichtweisen erkennbar war. Zahlreiche Ex-Nationalsozialisten stellten ihre politische Vergangenheit nach 1945 in verschiedenen Einzelheiten also günstiger dar, als sie es tatsächlich war, um Bestrafung, Ächtung und berufliche Nachteile zu vermeiden. Dabei halfen entlastende – aber häufig unglaubwürdige – Zeugenaussagen oder der fehlende Zugriff der Ermittler auf belastende Zeugen und Materialien. In einem an anderer Stelle dokumentierten Fall hat sich sogar die amerikanische Besatzungsmacht bzw. das Berlin Document Center an einer Vergangenheitsverfälschung beteiligt, wahrscheinlich um als Gegenleistung Informationen aus der ostdeutschen Staatsverwaltung zu erhalten.1067 Nur zum Teil deckten die Behörden in der SBZ/DDR und die SED Manipulationen im Laufe der Zeit auf, ließen dann aber meistens empfindliche Sanktionen wie Entlassungen, Versetzungen und Parteistrafen folgen. Sie vertraten mit Nachdruck das Prinzip des transparenten Kaders, nicht zuletzt um sich vor schwerer belasteten Faschisten und möglicherweise verdeckt agierenden Agenten und Saboteuren unter ihnen zu schützen. 1065 1066 1067 ZA VI 3952, A. 9, [Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow,] Verhandlungsprotokoll vom 20.10.1947; ebd., Ermittlungsstab, Voruntersuchung, vom 28.08.1947. ZA VI 3952, A. 9, Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, Berufungsregistrierungsformular, vom 20.10.1947. Das BDC unterließ es 1948, belastende Unterlagen über den ehemaligen Pg. und DWKHauptsachbearbeiter Helmuth T. an die zuständige Entnazifizierungskommission weiterzuleiten. Dabei handelte es sich nach teilweise selbst verfassten Dokumenten um einen erklärten Antisemiten, der eine Auseinandersetzung mit dem Mitgliedschaftsamt der NSDAP über einen möglichst frühen Parteieintritt führte. Im Ergebnis entlastete ihn die Entnazifizierungskommission und gab seiner Berufung statt. Ausführliche Einzelheiten zu diesem aufschlussreichen Beispiel siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 408420. Jens Kuhlemann – Braune Kader 2.2.2 226 NS-belastete Verwandte und Freunde Staatliche Stellen und die SED nahmen ein Sicherheitsrisiko nicht nur bei persönlichen, unmittelbaren NS-Belastungen ihrer Kader wahr, sondern darüber hinaus bei mittelbaren. Darunter sind Familienangehörige, Freunde und sonstige enge Kontaktpersonen der Regierungsangestellten zu verstehen, die der NSDAP etc. beigetreten waren oder sich aktiv im Nationalsozialismus betätigt hatten. Die Personalverantwortlichen fürchteten ein faschistisch „verseuchtes“ Milieu, aus dem die Verwaltungsangestellten stammten und mit dem sie Verbindungen unterhielten. Sie hegten den Verdacht einer nationalsozialistisch geprägten Sozialisation, die sich anhaltend auf die Geisteshaltung auswirkte. Somit brauchte ein Kader nicht unbedingt formal einer NS-Organisation angehört zu haben, um in den Augen der kommunistischen Wertelite dennoch den dunklen Schatten der Vergangenheit zu tragen. Die befürchtete politische Gesinnung musste nicht einmal durch reale Handlungen belegt werden. Schon der bloße Verdacht, Sympathien für Faschisten und ihre Ideologie zu empfinden, entwickelte eine personalpolitische Relevanz. Eine Art Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils gab es grundsätzlich nicht. Es galt vielmehr, das Potential auszulöschen, das eine unzumutbare Gefahr für die Sicherheit der Dienststelle und im Weiteren für die staatliche Ordnung zu bergen schien. Im Rahmen einer kaderpolitischen Gesamtbewertung ließen sich dem Makel, Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten geübt zu haben oder weiterhin zu pflegen, allerdings die üblichen positiven Merkmale wie ein überdurchschnittliches Fachwissen oder politisches Engagement im Sinne der SED entgegenhalten. Die mittelbare NS-Belastung erscheint heutigen Betrachtern ungerecht oder sogar unmenschlich. Von den Handlungen politischer Repräsentanten abgesehen, die auf die Staatsbürger zurückfallen,1068 kann nach rechtsstaatlichem Verständnis kein Individuum für die Taten anderer Personen zur Verantwortung gezogen werden, egal in welchem Verwandtschafts- oder Freundschaftsverhältnis er zu ihnen steht. Ein Vergleich mit der „Sippenhaftung“ vor 1945, wonach der NS-Terrorapparat jeden in einer Familie für ihrer Ansicht nach strafwürdige Handlungen eines anderen Familienmitglieds haftbar machte, erscheint wegen der unterschiedlichen Zielsetzung, Härte und öffentlichen Handhabung allerdings zu weit hergeholt.1069 Dennoch erinnert das Prinzip daran. Der Schlüssel zum Verständnis eines solchen Menschenbildes liegt wie in der gesamten Kaderpolitik in der Idee des Klassenkampfes, wobei sich die Gegner des Sozialismus vernetzen, politisch unbewusste Menschen beeinflussen und Helfershelfer mit subversiven Aufträgen ausstatten. Verwandte, die „gute“ Kadereigenschaften besaßen, konnten auf der anderen Seite natürlich auch ein positives Licht auf einen Kader werfen. Neben der NS-Belastung waren vor allem deren antifaschistischen Biografieanteile, der soziale Stand sowie die politische Orientierung vor und nach der Ära Hitler relevant.1070 Die von der US-Militärregierung im Rahmen der Entnazifizierung ausgegebenen und auch im sowjetischen Sektor von Berlin benutzten Fragebögen erkundigten sich danach, ob die Appellanten ihre Kinder Napola, Adolf-Hitler-, NS-Führerschulen oder Militärakademien besuchen ließen. Darüber hinaus waren von Interesse „irgendwelche Verwandte, die jemals Amt, Rang oder einflußreiche Stellungen“ in der NSDAP, ihren Gliederungen, angeschlossenen Verbänden oder in einer anderen Institution des NS-Staates bekleidet hatten. Nach einfachen Mitgliedschaften ebenda wurde also nicht gefragt. Schließlich war anzugeben, ob ein „unmittelbarer Angehöriger“ Besitz erworben hatte, der anderen Personen 1068 1069 1070 Ein Beispiel ist die Gefangennahme von Soldaten kriegführender Nationen, siehe: Jaspers, Schuldfrage, S. 90-93, 102. Kammer / Bartsch, Nationalsozialismus, S. 194 f. Zu kaderpolitisch negativ und positiv in Wertung kommenden Familienangehörigen siehe insbesondere auch die Kapitel „Westkontakte“ und „Soziale Herkunft“. Jens Kuhlemann – Braune Kader 227 aus politischen Gründen oder während der deutschen Besatzungsherrschaft entzogen worden war.1071 Etwas anders verhielt es sich bei Fragebögen, die zur Entnazifizierung in den Ländern der SBZ verwendet wurden. Sie fragten nach jeglichen Mitgliedschaften der Familienangehörigen in der NSDAP, den Gliederungen und angeschlossenen Verbänden sowie nach einer Tätigkeit für sie. Gleiches geschah synchron anhand der Personalbögen in den Deutschen Zentralverwaltungen.1072 Die unter Ägide der SED erstellten Fragebögen in der DWK verlangten fast kongruent dazu ebenfalls Auskunft über die Zugehörigkeit von Familienmitgliedern zur NSDAP und ihren Gliederungen. Darüber hinaus waren weiterhin in ihnen ausgeübte Funktionen von Belang. Die Personalbögen der DDRRegierungsdienststellen führten derartige Fragen nach NS-Belastungen der Verwandten dann nicht mehr, während sie innerhalb des SED-Apparates noch vereinzelt auftauchten.1073 Daraus lässt sich ein Bedeutungsrückgang schließen. Erwiesen ist allerdings, dass Eltern und Ehepartner von Kadern Ende der achtziger Jahre hinsichtlich sozialer und politischer Merkmale wieder erfasst wurden.1074 Weitgehend unklar ist, wie Verwaltungsangestellte und insbesondere die NS-Belasteten unter ihnen diesen Kaderaspekt wahrnahmen. War den Betreffenden zu irgendeinem Zeitpunkt wirklich bewusst, dass die NSDAP-Mitgliedschaft eines Elternteils, des Ehepartners, der Geschwister oder des eigenen Kindes Folgen für das persönliche Arbeitsverhältnis im zentralen Staatsapparat nach sich ziehen konnte? Und wenn ja, trugen sie diese Linie inhaltlich mit oder nicht? In der Bevölkerung kam es schon mal vor, dass sich Ehepartner über eine Mithaftung empörten. Tatsächlich muss man in bestimmten Fällen zugestehen, dass andernfalls Sanktionen im Zuge der Entnazifizierung ins Leere gelaufen wären.1075 Auf der anderen Seite traf der Vermögensverlust eines Pgs., der seiner Arbeit durch politische Säuberung verlustig gegangen war, zwangsläufig auch unschuldige Familienmitglieder, die ökonomisch von ihm abhingen. Und andersherum beschlich manche Kommunisten offenbar ein ungutes Gefühl, ehemalige Faschisten indirekt zu unterstützen, indem man deren soziales Umfeld mit Arbeitsplätzen etc. versorgte. Ich vermute, dass die mittelbare NS-Belastung den meisten Mitarbeitern durchaus ein Begriff war. Schließlich war die Betonung einer kaderpolitisch wertvollen Mitarbeit von Verwandten in einer Arbeiterpartei keine Seltenheit. Also wird andererseits auch eingeleuchtet haben, daß mit einem Pg. als Vater nicht zu punkten war. Dieser hätte durch seine bloße Existenz die zahlreichen Bemühungen, die eigene Fremdheit gegenüber dem Nationalsozialismus zu untermauern, durchkreuzen können. Er gab nämlich Anlass zum 1071 1072 1073 1074 1075 Siehe einen entsprechenden Fragebogen beispielsweise in: FB 1246, A. 3, dort insbesondere die FrageNummern 27, 101 f., 120-122. So jedenfalls verhielt es sich bei einem Fragebogen des Landes Brandenburg zum Befehl 201 und einem der ZV Land- und Forstwirtschaft, siehe: ZA I 11040, A. 14, Bl. 2 ff., 66 ff., 75. Über Mitgliedschaften in den der NSDAP angeschlossenen Verbände mussten die DWKVerwaltungsangestellten hingegen nur für sich selbst Angaben machen. Zu Personalfragebögen in der DWK, DDR-Regierung und SED siehe beispielhaft: DC 20 / 8478, Bl. 14, 27, 37 f.; DY 30 / 2/11/V 463, Bl. 47 f., 78 ff., 109, 112 ff. Es ist unklar, ob es zur Erfassung reichte, wenn bereits ein Elternteil in der NSDAP war oder ob Vater und Mutter Pgs. gewesen sein mussten (wahrscheinlich Ersteres). Bei über 15% der 2039 leitenden Mitarbeiter der Ministerien und zentralen Staatsorgane, die 1945 oder danach geboren wurden, gehörten die Eltern der NSDAP an. Es fällt auf, dass dieser Anteil in den der Macht am nächsten stehenden Verwaltungsinstitution am höchsten lag. Bei den Räten der Bezirke und dem Außenhandel war er ähnlich hoch. In den Betrieben, den Kombinaten und dem Binnen- bzw. Einzelhandel hingegen lag er teilweise mehr als halb so niedrig, siehe: Roß, Eliten, S. 187 f.; Hornbostel, Vertreter, S. 204 f. Im konkreten Fall durfte die Ehefrau eines SA-Mannes nicht dessen Betrieb weiterführen, weil dies ein Unterlaufen von Strafmaßnahmen dargestellt hätte, die im Rahmen der Entnazifizierung verhängt wurden, siehe: National-Zeitung, „Gewerbeentzug und Haftung der Ehefrau“, vom 10.02.1949. Jens Kuhlemann – Braune Kader 228 unausgesprochenen Vorwurf, im Geiste des NS-Regimes erzogen worden zu sein.1076 Noch verhängnisvoller konnte es werden, wenn die Kinder eines Verwaltungskaders der NSDAP angehörten. Denn dann bestand der Verdacht, dass der Mitarbeiter nicht nur in einem voll verantwortungsfähigen Alter einst von der NS-Ideologie durchdrungen war, sondern ihre Verbreitung in der eigenen Nachkommenschaft auch noch aktiv förderte oder zumindest billigte. Die Personalverantwortlichen glaubten ja generell im Zusammenhang mit der „sozialen Herkunft“, dass die Familie, insbesondere der Vater als Familienoberhaupt, prägend auf Angehörige wirkt. Ein SS-Mitglied, ja selbst ein nomineller Pg. als Verlobter, Ehepartner oder Freund ließ die Möglichkeit offen, dass der betreffende Kader freiwillig Umgang mit Faschisten pflegte und sich zu wenig gegenüber „Stützen des Regimes“ abgrenzte, sie möglicherweise sogar indoktrinierte. Zwischenmenschliche Gefühle oder den Umstand, dass man in eine Familie „unfreiwillig“ hineingeboren wird, ließen Kaderverantwortliche kaum gelten. Sie betrachteten die Meidung ehemaliger Nationalsozialisten statt dessen als Bestandteil einer politisch einwandfreien Haltung während des NS-Regimes. Eine reflektierende Äußerung eines Verwaltungskaders zur Frage der NSVergangenheit eines Familienangehörigen liegt von einer nationalsozialistisch wahrscheinlich selbst unbelasteten Frau vor. Sie hatte fünf Jahre lang beim Flick-Konzern gearbeitet und belegte 1949 einen Einjahreslehrgang bei der Deutschen Verwaltungsakademie in Forst Zinna. Von dort schrieb sie an ihren Verwandten, einen ehemaligen Major im Generalstab der Deutschen Wehrmacht. Derselbe kam beim Oberkommando des Heeres nach eigenen Angaben mit der Widerstandsgruppe um Claus Graf Schenk von Stauffenberg zusammen, der sein unmittelbarer Vorgesetzter war. In der DWK fungierte er als persönlicher Referent des Sekretariatsmitglieds und späteren Industrieministers Fritz Selbmann. In dem erwähnten Privatbrief der Kursteilnehmerin klagte sie ihm ihr Leid und Unverständnis über „Holzhammermethoden“ linientreuer SED-Funktionäre, über die aggressive, hysterische „Inquisition“ der verbohrten „Hardliner“ zur eigenen Person, zu Lebenswandel, Parteiverbundenheit etc. Unter anderem hatte sie das „Kapitalverbrechen“ begangen nicht anzugeben, welchen Rang ihr Vater in der SA eingenommen hatte. Trotz allem zeigte sie grundsätzlich Verständnis für diese Frage: »Ich sah es damals noch nicht ein, was das in meiner Kritik zu suchen hat, sehe aber heute, dass diese Erläuterungen nötig gewesen wären, um den Genossen ein besseres Bild zu geben, um die Ursachen meiner Veranlagung usw. zu erklären. Nun, Heinz, ich hoffe, dass auch Du über manches den Kopf schütteln wirst, ich verstehe das alles nicht so richtig, ob das die Linie unserer Partei sein soll. Und bekannt ist auch, wenn man einmal ein Haar in der Suppe gefunden hat, dann steht man unter besonderer Kontrolle und Kritik.«1077 Diese Sicht der Dinge muss natürlich nicht unbedingt verallgemeinerbar sein. Dennoch deutet sie an, dass ein großer Teil der Kader die Denk- und Vorgehensweise der ideologisch am meisten politisierten Zirkel überzogen fand. Leider ist eine repräsentative Darstellung, wie viele ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission NS-belastete Familienangehörige hatten und wie viele nicht, wegen der lückenhaften Überlieferung in diesem Punkt nicht möglich. Es fehlt vor allem an Personalfragebögen, die ausdrücklich nach einfachen Mitgliedschaften der Verwandten in der NSDAP und sonstigen NS-Gruppierungen fragten. Die ehrliche 1076 1077 Siehe das Beispiel eines Referenten und SED-Mitglieds im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft, dessen Vater Träger des sogenannten Blutordens und des goldenen Parteiabzeichens der NSDAP gewesen sein soll, in: Kuhlemann, Kader (2005), 616 f. Der für die Wahrnehmung der gesamten Kaderpolitik überaus interessante Brief, der als privates Schreiben eines Kaders an einen anderen zudem quellentechnisch äußerst selten ist, war an Heinz Meinicke-Kleint gerichtet. Die Vergangenheit des ehemaligen Generalstabsoffiziers zur Zeit des NS-Regimes findet darin keine Erwähnung. Meinicke-Kleint leitete den Brief an die DVA weiter, offenbar um eine Änderung der kritisierten Zustände anzuregen, siehe: DO 1 / 26.0, 17183, Gerda B[...], an Meinicke-Kleint, vom 17.12.1949; ebd., Ministerium für Industrie, Meinicke-Kleint, an die Deutsche Verwaltungsakademie Forst Zinna, Kropp, vom 12.01.1950; DC 1 / 2562, XIII / 1/6. Jens Kuhlemann – Braune Kader 229 Beantwortung und die Überprüfbarkeit durch unabhängige Quellen steht natürlich auf einem anderen Blatt. Bei der Berliner Entnazifizierung, die die meisten der untersuchten ExNationalsozialisten durchliefen, spielte der Familienaspekt wie erwähnt keine oder scheinbar doch eine geringere Rolle als in den fünf ostdeutschen Ländern. In Lebensläufen und anderen Schriftstücken, die keine gezielt nachhakenden Vorgaben einzuhalten hatten, trafen die Verfasser von sich aus normalerweise keine Aussage über den politischen Werdegang ihrer Verwandten, es sei denn, er gereichte ihnen zum Vorteil. So finden sich denn nur vereinzelte, meist stichwortartige Fragmente in den Quellen zum NS-Sample.1078 Mal war der Ehepartner in der NSDAP, mal ein Bruder zusätzlich SAScharführer. Manche Kinder gehörten der Hitlerjugend an, einige Mütter und Ehefrauen der NS-Frauenschaft oder dem Frauenwerk. Es kam vor, dass Kader betonten, keinen Kontakt mehr zu NS-belasteten Verwandten zu haben. Oder sie entlasteten dieselben und führten mildernde Umstände an, etwa ein trotz formaler Zugehörigkeit zu einer NS-Gruppierung durch die NSDAP verhängtes Redeverbot. Mitunter ergaben Ermittlungen aber auch, dass Familienmitglieder bestimmte Ämter ausgeübt hatten. Hinweise auf ranghöhere Positionen in der Hierarchie der NSDAP, SA etc. liegen jedoch nicht vor. Davon unbenommen hätten sich einige Verwandte aktiv für das NS-Regime eingesetzt oder unter seinem Schutz bestimmte Vergehen begangen. In diesem Zusammenhang fiel unangenehm auf, wenn Familienmitglieder sorgsam auf eine Hakenkreuzbeflaggung des Wohnhauses achteten. Darüber hinaus war beispielsweise für die ZKSK erwähnenswert, dass die Ehefrau eines ehemaligen Pgs. gegenüber einer polnischen Zwangsarbeiterin eine „lose Hand“ hatte. Wie im Falle der untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder fanden sich aber auch für deren Familienangehörige Zeugen, die bestimmte Belastungsmerkmale ansprachen, während andere sie negierten. Im Visier der Kaderwächter standen darüber hinaus solche Verwandte, die vor 1945 beruflich in preußischen oder Reichsdienststellen tätig waren. Einflussreichere Staatsdiener waren allerdings nicht nachweisbar. Der Staatssicherheitsdienst registrierte daneben mutmaßliche Freundschaften zwischen Regierungskadern und eindeutig diskreditierten NS-Funktionsträgern.1079 So ging aus einem recht jovial, fast kumpelhaft verfassten Brief eines SS-Sturmbannführers an den späteren DWK-Hauptabteilungsleiter Ferdinand Beer hervor, dass Letzterer mehreren SS-Offizieren bei der Organisierung von Jagdgesellschaften half. Ob dieser Kontakt rein freundschaftlichprivater Natur war oder eher dienstlichen Ursprungs und auf eine Anweisung von höherer Stelle zurückging, ist unklar. Beer wurde für die Zuteilung von Hirschen etc. aber vermutlich mit gewissen Aufmerksamkeiten durch Angehörige der SS bedacht.1080 Ohne Kenntnis von dem erwähnten Schreiben zu haben, vertrat ein Kommentator im Rahmen der Entnazifizierung über Beers Formalbelastungen und Berufstätigkeit eine, was die Begründung betrifft, etwas weit hergeholte Einzelmeinung: »Aus dem Prüf[ungs-] Ber[icht] kann man entnehmen, dass der App[ellant] [...] in guten Beziehungen zur Partei stand, zumal H[ermann] Göring Schutzherr der d[eu]tsch[en] Jägerschaft und oberster Reichsforstmeister 1078 1079 1080 Aus Gründen des Datenschutzes von Familienangehörigen werden diese grundsätzlich anonymisiert. Allgemein werden in dieser Arbeit Ausnahmen nur dann gemacht, sofern dies von wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse ist und es sich zugleich um Personen handelt, die gemäß dem Archivgesetz offenkundig vor über 110 Jahren geboren wurden, oder um Personen, bei denen keine schützenswerten Belange vorliegen. Siehe insbesondere die Quellen zu Harald Schaumburg, Ferdinand Beer, Ernst Kaemmel, Heinz König, Heinz Fr., Kurt V., Franz H., Otto Schl., Friedrich L., Rudolf Ha., Olaf S., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 618. Simon Wiesenthal soll Karl-Heinz Gerstner als „Freund hoher SS-Führer“ beschrieben haben, siehe: Kappelt, Braunbuch, S. 117. In dem Brief ist von einer „kleinen Sendung“ die Rede, die Beer überbracht wurde. Der SSSturmbannführer lud den Pg. am Ende zu einer Jagd in der Gegend von Wien ein: »Für Unterkunft, Fraß und Suff wird von hier gesorgt!«. An anderer Stelle heißt es in MfS-Unterlagen, dass Beer 1951 von jemandem, der „aktiver Nazi“ gewesen sei, eine Einladung zu einer Privatfeier erhielt, siehe: BStU, AU 5 / 52, Band 1, Bl. 77-79; ebd., Band 6, Bl. 3, Hans O[...], an Beer, vom 19.06.1944. Jens Kuhlemann – Braune Kader 230 war.«1081 Obwohl die Kontakte im konkreten Fall vielleicht wirklich gedeihlich waren, neigten Personalverantwortliche in der SBZ/DDR manchmal einfach zu Überinterpretationen ihrer nicht immer sehr reichhaltigen Informationsgrundlage. Um so schwerer konnte es für NS-Belastete werden, sich gegen irrationale Vorwürfe zu verteidigen, wenn sie sich mit allgemeinen Ressentiments vermischten.1082 Da verwundert es nicht, wenn ehemalige Pgs. in der Wirtschaftskommission besonders herausstrichen, dass in der Familie niemand sonst Mitglied der NSDAP gewesen sei. Verfolgte und verhaftete Opfer des NS-Regimes in ihr fanden demgegenüber besondere Erwähnung. Absolute Ausnahmeerscheinungen sind Vorkommnisse, bei denen Bewerber oder Kader mit angeblich guten Beziehungen zu einst hochgestellten NS-Funktionären prahlten. Sie beschwichtigten die Vermutung, dem Nationalsozialismus nahegestanden zu haben, also nicht, sondern nährten sie im Gegenteil geradezu. Die allgemeine Seltenheit solcher Fälle ist nicht überraschend. Auch mit Blick auf ehemalige NSDAP-Mitglieder im zentralen Staatsapparat ist dergleichen nur bei einer Fragebogenfälscherin bekannt, die ihre wahre NSVergangenheit verheimlicht hatte.1083 Bekanntschaften zu Nazi-Größen brachten nach dem Krieg objektiv keine Vorteile mehr bei der Vergabe von Ressourcen, weil die nationalsozialistischen Machteliten nicht mehr über ihre Verteilung bestimmten und die SEDKaderpolitik solche Kontakte als nachteilig ansah. Wenn entsprechendes Renommiergehabe trotzdem in kleinerem Kreis stattfand, so standen diese von Beobachtern als Aufschneiderei empfundenen Äußerungen offenbar in Zusammenhang mit einem überdurchschnittlichen Geltungsbedürfnis.1084 Was Sanktionen betraf, so gab es Ministerialkader, die in Verbindung mit dem Vorwurf, die NS-Vergangenheit von Familienangehörigen verheimlicht zu haben, aus der SED gestrichen oder ausgeschlossen wurden. Die NS-Belastung der Verwandten diente dabei auch als Stützargument, um andere Vorhaltungen einer politisch zwielichtigen Natur zu untermauern.1085 In Folge einer Parteistrafe konnte der Arbeitsplatz in den zentralen Regierungsdienststellen verloren gehen. In politisch besonders sensible Arbeitsbereiche hatten Personen mit NS-belasteten Familienangehörigen ohnehin geringere oder überhaupt keine Chancen hineinzugelangen.1086 Eine genaue Bestimmung, welche Posten dies betraf und welcher Belastungsgrad der Verwandten akzeptabel war, ist nicht möglich, weil sie individuell vom Ergebnis der kaderpolitischen Gesamtbetrachtung abhing. Eine mittelbare NS-Belastung stellte also einen kaderpolitischen Negativaspekt unter mehreren anderen dar. Zu einigen Ex-Nationalsozialisten in der DWK ist belegt, daß sie tatsächlich oder vermeintlich Verwandte und Freunde hatten, die NS-Organisationen angehört oder sich für sie eingesetzt hatten. In den Augen der Kaderverantwortlichen war das ein personalpolitischer Nachteil, denn es bestand die Gefahr einer besonderen Nähe zu Trägern des NS-Regimes und zu faschistischem Gedankengut. 1081 1082 1083 1084 1085 1086 ZB II 3056, A. 12, Bl. 23, [Entnazifizierungskommission beim Magistrat von Groß-Berlin ?,] Kurzcharakteristik, vom 22.09.1947. Weitere Fälle siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 620. ZB II 1052. Zur angeblichen Bekanntschaft eines Leitungskaders der Landesregierung Mecklenburg mit Hermann Göring siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 620. Beispiele siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 621. Siehe Beispiele (ZK der SED, Ehefrau eines Richters, Amt zum Schutze des Volkseigentums und Kriminalpolizei Abt. K5 in Sachsen-Anhalt) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 621. Jens Kuhlemann – Braune Kader 2.2.3 231 Kriegsgefangenschaft, Antifa-Schulung und Emigration Die Personalverantwortlichen lenkten ihren Blick bei der Suche nach Beeinflussungen durch den Klassenfeind auch auf solche Lebensphasen, die die Kader außerhalb Deutschlands oder in der Gewalt ausländischer Mächte verbracht hatten. Zeiten der Kriegsgefangenschaft trafen auf einen nicht unerheblichen Teil der männlichen Verwaltungsangestellten zu. Mit Ausbruch des Kalten Krieges stand für die SED die Frage im Raum, ob die kapitalistischen Staaten USA, Großbritannien und Frankreich hierbei die Gelegenheit ergriffen hatten, die Klassenauseinandersetzung nach Ende des Zweiten Weltkriegs weiterzuführen, indem sie deutsche Kriegsgefangene instruierten und mit subversiven Aufträgen in das kommunistische Lager schickten. In diesem Zusammenhang wirkte eine sowjetische Kriegsgefangenschaft nach dem Ausschlussprinzip vertrauensbildend. Mehr noch: Die Teilnahme an einer marxistisch-leninistisch geprägten Antifa-Schulung durch spezielle Polit-Instrukteure während der Gefangenschaft stellte eine herausragende kaderpolitische Qualifikation dar. Ähnlich wie beim Thema Kriegsgefangenschaft verhielt es sich mit politisch motivierten Emigrationen während der NS-Diktatur. Sie zeichneten sich allerdings durch weniger Willkür aus. Denn ein politischer Flüchtling konnte sich bis mindestens 1939 das Land, in dem er um Asyl bat, relativ frei wählen (ob es ihm gewährt wurde, ist eine andere Frage). Ein Soldat hingegen war durch Einsatzbefehle in seinem geografischen Aktionsradius weitaus eingeschränkter, so dass er in die Gefangenschaft derjenigen Armee geriet, gegen die zu kämpfen ihm aufgetragen wurde. Einem Emigranten ließ sich also eine bestimmte politische Haltung unterstellen, weil er beispielsweise nach England auswanderte und nicht in die UdSSR. Ein Wehrmachtsangehöriger konnte sich auf der anderen Seite nicht aussuchen, ob er in ein amerikanisches Lager ging oder in ein sowjetisches. Darüber hinaus ergriffen nach Meinung der SED in den Lagern der Westalliierten die Vertreter des Kapitals die Initiative und kamen auf die deutschen Soldaten zu und nicht umgekehrt. Allerdings war auch bei westlichen Kriegsgefangenen nach bestimmten Neigungen und Empfänglichkeiten für Anwerbeversuche oder westliche Ideen zu recherchieren. Insgesamt gerieten elf Millionen deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft, davon 3,3 Millionen in östliche und 7,7 Millionen in westliche.1087 Ungenügende Verpflegung, rudimentäre ärztliche Betreuung und schlechte Unterbringung bei harter Arbeit und ungewohnten klimatischen Verhältnissen trugen entscheidend dazu bei, dass von gut drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen über eine Million ums Leben kam. In der Zeit kurz vor und nach der Kapitulation der Wehrmacht gab es auch bei den Westalliierten Fälle von mangelhafter Versorgung und Unterbringung.1088 Die westlichen Alliierten begannen schon kurz nach der Kapitulation mit der Entlassung ihrer Gefangenen (mit Ausnahme verurteilter Kriegsverbrecher), die bis Ende 1948 / Anfang 1949 in Ausführung eines Beschlusses der Moskauer Außenministerkonferenz von 1947 ihren Abschluss fand. Die UdSSR hielt sich nicht an diesen Beschluss und ließ sich mit der Rückführung Zeit. Sie nutzte die Kriegsgefangenen als billige Arbeitskräfte für den Wiederaufbau. Gleichwohl entließ die Sowjetunion den größten Teil ihrer Gefangenen am Vorabend der DDR-Gründung. Im ersten Quartal 1948 befanden sich noch 760.000 ehemalige Wehrmachtssoldaten in russischer 1087 1088 Die Aufteilung der Kriegsgefangenen im Einzelnen: Sowjetunion 3,1 Millionen, Jugoslawien 194.000, USA 3,8 Millionen, Großbritannien 3,7 Millionen, Frankreich 245.000. In kleinerem Umfang wurden Kriegsgefangene im Laufe der Zeit an andere Staaten überantwortet, siehe: Overmans, Soldaten, S. 324. Siehe die Schilderungen von Harald Schaumburg, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 648; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 331 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 232 Kriegsgefangenschaft. Im vierten Quartal 1949 zählte man nur noch 85.000. Erst 1955/56 kehrten die letzten von ihnen heim nach Deutschland.1089 Bezeichnend für die genannten Kadermerkmale ist, dass sie in den vorgefundenen Quellen, die die SBZ-Behörden erstellt hatten, vor 1949 keinen direkten Niederschlag fanden. Das gilt auch für die statistischen Erhebungen der HA Personalfragen und Schulung zu den DWK-Mitarbeitern. Erst ab 1950, angeheizt beispielsweise durch den Rajk-Prozess in Ungarn, dokumentierte das Ministerium des Innern die Kriegsgefangenschaft und Emigration der Regierungsangestellten.1090 Bei diesbezüglich lückenhafter Überlieferung förderte ein Rückgriff auf Primärdaten immerhin bei zehn der insgesamt 154 untersuchten NSDAP-, SAund SS-Mitglieder in der Wirtschaftskommission eine sowjetische Kriegsgefangenschaft zutage. Neunzehn verbrachten demnach eine Zeit lang in westlicher, d.h. britischer und vor allem amerikanischer Gefangenschaft.1091 Ein NS-Belasteter, der sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft aufhielt, befand sich zusätzlich ein halbes Jahr in amerikanischer Internierung.1092 Ein weiterer brachte ein halbes Jahr in sowjetischer Internierung zu, ein anderer Pg. zwei Jahre in tschechoslowakischer. Das Verhältnis der sowjetischen zu den westlichen Kriegsgefangenen betrug damit bei den früheren Nationalsozialisten knapp 2:4. Diese Ost-West-Relation entsprach durchaus der Proportion im öffentlichen Dienst der SBZ. Auch für sich genommen entsprachen der Anteil der ehemals sowjetischen Kriegsgefangenen im Kreis der NS-Belasteten in der DWK mit 7% und derjenige der ehemals westlichen Lagerinsassen mit 12% ungefähr den Größen im öffentlichen Dienst.1093 Sie spiegeln außerdem in etwa die erwähnte Verteilung sämtlicher Kriegsgefangener in Ost und West wider. Das zahlenmäßige Niveau der westlichen Kriegsgefangenen unter den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der Deutschen Wirtschaftskommission blieb in den DDR-Ministerien bis mindestens Ende 1951 konstant.1094 Was sagen uns diese Zahlen? Vorbehaltlich genauerer Untersuchungen deuten sie zunächst einmal an, dass es in diesem Kadermerkmal bis 1949 keine markanten Unterschiede zwischen den politisch wichtigeren und den unwichtigeren Dienststellen gab. Das untermauert die Aussage, dass sich die Bedeutung der Kriegsgefangenschaft (und Emigration) für die Kaderpolitik erst im Laufe der kurzen Existenzzeit der reformierten DWK 1948/1949 herausbildete. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass dem NS-Sample nur sehr wenige 1089 1090 1091 1092 1093 1094 Die USA entließen bis 1947 alle ihre Kriegsgefangenen. Großbritannien folgte bis Ende 1948 und Frankreich bis Anfang 1949, siehe: Overmans, Soldaten, S. 322; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 331 f.; Fischer, Lexikon, S. 77 f. So verfügte das SED-Politbüro erst im Oktober 1949 in Zusammenhang mit dem angeblichen US-Agenten Noel H. Field, der im Zweiten Weltkrieg Kontakt zu kommunistischen Emigranten unterhielt, und der Hinrichtung des früheren Innenministers Laszlo Rajk die systematische Überprüfung aller früheren Westemigranten oder ehemals in westalliierte bzw. jugoslawische Kriegsgefangenschaft geratenen führenden SED-Funktionäre, siehe: Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 101 f.; Weber, Geschichte, S. 200. Laut Quellenlage befanden sich von insgesamt 154 Angehörigen des NS-Samples siebzehn Männer nachweislich nicht in Kriegsgefangenschaft, darunter die DDR-Regierungsfunktionäre Helmut Wikary, Wilhelm Salzer und Franz Woytt. Zu dieser Zahl sind die zehn weiblichen NS-Belasteten hinzuzurechnen. Von denjenigen NSDAP-, SA- und SS-Angehörigen, über die die Quellen keine Aussage in puncto Kriegsgefangenschaft treffen, hat der ganz überwiegende Teil allem Anschein nach ebenfalls nie in einem Gefangenenlager eingesessen. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649. Gemischte Kriegsgefangenschaften bzw. Internierungen waren selten. Beispiele (Heinz Fr., ferner das des Abteilungsleiters im Ministerium für Verkehr Hans Baberg) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649. Es ist unklar, ob in den Quellen unter ehemalige Kriegsgefangene auch frühere Internierte subsumiert wurden. Ein solches Vorgehen erscheint eigentlich logisch. Bei den Prozentangaben zu den Ex-Nationalsozialisten in der DWK ist natürlich in Betracht zu ziehen, dass die absoluten Zahlen recht gering ausfallen. Details über ehemalige Kriegsgefangene im öffentlichen Dienst der SBZ siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649. Zum 31.12.1951 weisen die Personalstatistiken zum Gesamtpersonal der Regierungsdienststellen das einzige Mal eine gesonderte Erfassung ehemaliger Westgefangener innerhalb der Gruppe der NSDAPAngehörigen auf. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 233 Frauen angehören. Sie hatten soweit ersichtlich zwar nicht als Wehrmachtshelferinnen gedient. Dennoch bleiben aufgrund der hohen Männerquote im Kreis der hier unter die Lupe genommenen früheren Nationalsozialisten viele Personen übrig, die während des Zweiten Weltkriegs zum Militärdienst verpflichtet werden und somit auch in Gefangenschaft geraten konnten – viel mehr als vergleichsweise im DWK-Gesamtpersonal oder im öffentlichen Dienst der SBZ. Da jedoch gleichermaßen jeder fünfte beschäftigte NS-Belastete in der Wirtschaftskommission als auch jeder fünfte Angestellte im gesamten öffentlichen Dienst der SBZ irgendwann einmal Kriegsgefangener war, bedeutet das, dass die männlichen ExNationalsozialisten weniger von einer Gefangennahme betroffen waren als ihre gleichgeschlechtlichen Kollegen. Unter Berücksichtigung einiger Überlieferungslücken führe ich diesen Umstand zumindest zum Teil darauf zurück, dass sich unter den ehemaligen Pgs. überdurchschnittlich viele für die Kriegswirtschaft wichtige Fachleute befanden. Diese wurden deshalb verhältnismäßig oft „uk“-gestellt und als „unabkömmliche“ Zivilisten in der Heimat eingesetzt. Im Ergebnis hatten manche der Ex-Nationalsozialisten nur zeitweilig oder überhaupt keinen Dienst in der Wehrmacht geleistet und gelangten bei Kriegsende auch seltener in Gefangenschaft.1095 Vergleichen wir die bereits genannten Zahlen zum NS-Sample und dem öffentlichen Dienst der SBZ mit der weiteren Entwicklung im Gesamtpersonal des DDRRegierungsapparates, so fällt vor allem der ungefähr doppelt so hohe Anteil der sowjetischen Kriegsgefangenen auf. Er lag in den Ministerien 1950-1956 relativ gleichbleibend bei etwa 11%. Dieser Umstand ist vor allem auf die sich nun niederschlagende verspätete Rückkehr sowjetischer Kriegsgefangener zurückzuführen. Ihr quantitativer Wert bewegte sich aber immer noch unter dem Niveau der ehemaligen Gefangenen der westalliierten Streitkräfte. Der Anteil der in französischer, vermehrt in britischer und insbesondere amerikanischer Kriegsgefangenschaft gehaltenen Regierungskader stieg im selben Zeitraum nämlich leicht von 14 auf 18%. Eine Kriegsgefangenschaft im Territorium oder unter der Aufsicht anderer Länder als der erwähnten spielte zahlenmäßig keine Rolle.1096 Bei der Betrachtung dieser Prozentangaben ist zu bedenken, dass im gleichen Zeitraum die Beschäftigtenzahlen des Apparates stark zunahmen. Da es bei den Westgefangenen überdies eine prozentuale Steigerung gab, kam es also zu besonders umfangreichen Mehreinstellungen dieser Personengruppe. Dass der Grund dafür an einer sich rasch wieder gewandelten Haltung der Kaderverantwortlichen gelegen hat, die das Problem der westlichen Kriegsgefangenschaft nach seinem recht plötzlichen Bedeutungsgewinn bis Mitte der fünfziger Jahre zunehmend entspannter betrachteten, erscheint zu spekulativ und aufgrund noch zu erläuternder Richtlinien auch widerlegt. Doch könnte das Rekrutierungspotenzial der sowjetischen Gefangenen schnell erschöpft gewesen sein, so dass die Vergrößerung des Personalstabes nur durch den Rückgriff auf die bislang relativ ausgegrenzten Westgefangenen möglich war und die Personalabteilungen dadurch eine faktisch tolerantere Linie verfolgten. Ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Diagrammen zum Anteil der sowjetischen Kriegsgefangenen und der westlichen auf den jeweiligen Positionshöhen scheint mir nur in Bezug auf die leitenden Mitarbeiter gegeben zu sein.1097 Denn während die Leitungskader, die einst in den Lagern der Roten Armee zubrachten, bald bei 20% stagnierten, konnten diejenigen, die sich den westalliierten Truppen ergeben hatten, 19501956 als einzige eine prozentuale Steigerung vorweisen, und zwar von 15 auf 28%. Dies lag 1095 1096 1097 Siehe Kapitel „Militärdienst“. Eine grafische Darstellung samt Erläuterungen sowie Quellenangaben zu Statistiken und Namenlisten (teils mit NSDAP-Nennung) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 f. (Abb. 61). Entsprechende Diagramme und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 f. (Abb. 62 und 63), 652. Zu leitenden Posten (E-Stellen) und Kriegsgefangenschaft siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17344, 76/51/3/2. Jens Kuhlemann – Braune Kader 234 neben dem „Fraueneffekt“1098 vermutlich daran, dass die SED die Westgefangenen anfangs aus Sicherheitsgründen nur zögerlich auf einflussreichere Posten vorließ. Die Unterrepräsentanz wurde dann Stück für Stück aufgehoben. Das ist ein weiterer Beleg für die zunehmend weniger verkrampfte, wenngleich im Ergebnis noch lange nicht entspannt zu nennende Haltung der kommunistischen Wertelite zur Frage der westlichen Kriegsgefangenschaft. Grundsätzlich erblickte die SED in allen Angestellten, die eine Zeit lang in westlicher Kriegsgefangenschaft verbracht hatten, ein Sicherheitsrisiko. Die kommunistische Machtelite glaubte, dass die westlichen Nationen, vor allem das Vereinigte Königreich und die USA, in den Kriegsgefangenenlagern für den Besuch von bestimmten Schulen geworben hätten. Es seien geeignete Personen unter den festgehaltenen deutschen Soldaten für eine Agententätigkeit ausgesucht, entsprechend indoktriniert oder gleich zu Agenten und Saboteuren ausgebildet und mit entsprechenden Aufträgen in die SBZ/DDR entlassen worden.1099 In welchem Maße diese Umstände tatsächlich zutrafen, muss an dieser Stelle offen bleiben. Doch eine Übertreibung, bedingt durch die Phobie und Panik, mit der die Kommunisten diese Frage betrachteten, ist offenkundig. Das Risiko, das von westlichen Kriegsgefangenen auszugehen schien, galt analog für jugoslawische. Sie hätten nach Ansicht der SED ebenfalls mit „gefährlichem“ Gedankengut infiziert sein können. Den Ausgangspunkt hierfür stellte das Zerwürfnis zwischen der UdSSR und Jugoslawien bzw. Stalin und Tito dar. Es wurde hervorgerufen durch die Weigerung der Führung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, der Sowjetunion weitgehende Mitsprache- und Kontrollbefugnisse einzuräumen. Konsequenzen hieraus waren unter anderem eine Wirtschaftsblockade und der Ausschluss des Balkanlandes aus dem sowjetisch kontrollierten „Kominform“ im Juni 1948.1100 Abweichler innerhalb des kommunistischen Lagers galten also als nicht minder zersetzungsfähig wie der eigentliche Klassengegner. Einen kurzen Einblick in die Sichtweise der Kaderverantwortlichen bietet das Beispiel eines ehemaligen NSDAP-Angehörigen und DWK-Sachbearbeiters. Die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle urteilte 1951 über seine britische Kriegsgefangenschaft: »Er verkauft sich sofort als Söldner an die Engländer und tritt in die sogenannten „Arbeitskompanien“ ein. Er behauptet, daß er im August 1945 entlassen wurde und dann bis zum Dezember 1945 bei einem Bauern als landwirtschaftlicher Helfer arbeitete. Diese Behauptung muß stark angezweifelt werden, da sich die deutschen Söldner mindestens auf 6 Monate verpflichten mußten. Allerdings wurden sie im August 1945 durch ein Entlassungslager geschleust, erhielten aber nicht ihre Papiere. Diese verblieben in den Händen der englischen Befehlshaber. Damit wollte man den Angeworbenen die Möglichkeit geben, später ihre eigentliche Tätigkeit zu verschleiern. Im Jahre 1945 und noch 1946 entließen die Engländer niemanden in die sowjetisch besetzte Zone und Groß-Berlin. Aber F[...] schrieb in seinem Lebenslauf: „....... ... bis zu meiner R ü c k f ü h r u n g in die SBZ, 1098 1099 1100 Der Anteil ehemaliger Kriegsgefangener an den Verwaltungsangestellten war auf denjenigen Positionshöhen am stärksten, die am wenigsten Frauen verzeichneten, und umgekehrt; Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 651. Sg Y 30 / 1310, Bl. 295 (nach anderer Zählung S. 288), Riemer, Erinnerungen; DO 1 / 26.0, 17602, [Ministerium für Industrie, HA Chemie, Personalabteilung,] Vierteljährliche Berichterstattung an die Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern der DDR, an MdI, HA Personal, vom 05.07.1950, S. 3. Das „Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien“ wurde im September 1947 auf Initiative Stalins gegründet und propagierte nach außen die formelle Gleichheit aller ihm angehörenden kommunistischen Parteien. Da die jugoslawischen Kriegsgefangenen in der DWK und den DDRMinisterien quantitativ weder in Bezug auf das Gesamtpersonal noch unter den NS-Belasteten ins Gewicht fielen, wurde auf eine gesonderte Untersuchung verzichtet, siehe: Staritz, Sozialismus, S. 156 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 235 Mitte Dezember 1945 ........ Es ist demnach anzunehmen, daß F. von seiten der Engländer ganz offiziell in die SBZ transportiert wurde.«1101 Der spätere DWK-Mitarbeiter habe sich also mit den Briten angeblich arrangiert. Der Bezugszeitraum begann bereits 1945, obwohl einer westlichen Kriegsgefangenschaft erst ab etwa 1949 als Kaderkriterium Relevanz zukam. Ohne nähere Erläuterung bleibt, aus welcher Motivation heraus der Pg. in die „Arbeitskompanien“ eintrat und welcher konkreten Beschäftigung er dort nachging. Mehrfach verwendete die ZKSK die Bezeichnung „Söldner“, dem es bekanntlich egal ist, wofür und für wen er kämpft, solange man ihn bezahlt. Dadurch verlieh die Kontrollkommission dem Ganzen auch sprachlich den Charakter eines Krieges und Kampfes, der im Auftrag höherer, finanzstarker Mächte stattfand. Voller Misstrauen suchte der Verfasser nach Sachhinweisen für ein feindliches Treiben. Er glaubte, Unstimmigkeiten bei den Zeitangaben auszumachen. Demnach schien das Verweilen bei einem Landwirt in Niedersachsen der Verbergung eines längeren Aufenthaltes in der Obhut des englischen Militärs dienen zu können. Die Sezierung des Wortes „Rückführung“ kommt dabei in meinen Augen einer Überinterpretation ohne Beweiskraft gleich. Die ZKSK jedoch machte darin einen weiteren Beleg für eine geplante Einschleusung des ehemaligen Wehrmachtssoldaten im Auftrag Großbritanniens aus. Täuschung und Tarnung sollte ihrer Meinung nach auch die zuvor angeblich erfolgte Vorenthaltung amtlicher Dokumente bezwecken, die eine genaue Datierung der Kriegsgefangenschaft erlaubt hätten. Da sich die vermeintlichen Agenten nicht von den „normalen“ Westgefangenen unterscheiden ließen, ging die SED gegen sämtliche ehemaligen Insassen westalliierter Lager vor. Auf diese Weise beugte sie jeder Eventualität vor. Die Vermeidung, Bewerber mit diesem Merkmal einzustellen, avancierte zum Gebot klassenkämpferischer Wachsamkeit.1102 Die Entlassung oder Versetzung in nachgeordnete Dienststellen von solchen Angestellten, die bereits im sensiblen Bereich der zentralen Staatsverwaltung arbeiteten, stellte eine weitere vordringliche Aufgabe der Personalverantwortlichen dar.1103 Ganz besonders galt dies für Beschäftigte, die aus Sicht der SED eine Kombination negativer Kadermerkmale aufwiesen. Das Problem war nur, dass sich sehr viele Regierungsangestellte in westlicher Kriegsgefangenschaft befunden hatten. Ihre sofortige und umfassende Entlassung kam nicht in Frage.1104 Anderenfalls hätte dies den Zusammenbruch der staatlichen Verwaltung bewirkt. Ihre Leitung hatte schon vorher extreme Mühe, alle politischen Wunschvorstellungen der Machtelite über die Zusammensetzung der Dienstklasse zu erfüllen und gleichzeitig einen funktionierenden Betrieb zu etablieren. Deshalb unternahmen die Personalverantwortlichen Versuche einer Grenzziehung. Sie legten bestimmte Zeiträume einer Kriegsgefangenschaft fest, die eine Beschäftigung noch akzeptabel erscheinen ließen. Dies sollte die Gefahr einer Tätigkeit im Auftrag des Klassengegners minimieren. Denn je länger der Kontakt mit den Westmächten bestand, umso wahrscheinlicher und nachhaltiger schien eine Instruktion zur Spionage und Sabotage 1101 1102 1103 1104 Details zu Heinz Fengler sowie weitere Beispiele zu westlicher Gefangenschaft (Heinz König, Konstantin Pritzel, Hans Lutz, Rudolf Lang) und Quellenangaben (u.a. zu Erich K., Bruno R., Kurt D., Alfred Kr., Otto Ka., Friedrich L.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 653. DO 1 / 26.0, 13391, [MdI, HA Personal,] Bericht, betr.: Ergebnis der Kontrolle der Arbeitsorganisation und Arbeitsweise im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung und Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit, vom 05.09.1955, S. 6. DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Industrie, Sekretariat, Personalleitung, Vierteljährliche Berichterstattung an die Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern der DDR, vom 17.04.1950, S. 2. Selbst in der ZKK war eine größere Zahl von ehemaligen westlichen Kriegsgefangenen beschäftigt, was nach Ansicht des stellvertretenden Vorsitzenden der Kontrollkommission, Ernst Lange, wegen fehlender Ersatzkader nicht zu vermeiden war, siehe: DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 14 (220). Jens Kuhlemann – Braune Kader 236 stattgefunden zu haben.1105 Die Frage der Gefangenschaftsdauer führte zu gewissen Überspitzungen. Manche Personalverantwortlichen wollten keine Neueinstellungen von Personen dulden, die auch nur einen einzigen Tag in westlicher Kriegsgefangenschaft verbracht hatten.1106 Ihre Vorgesetzten korrigierten solche Erscheinungen jedoch frühzeitig.1107 Im Jahr 1950 waren schließlich vier Sechstel aller Regierungskader, die sich einmal in westlicher Kriegsgefangenschaft aufgehalten hatten, weniger als sechs Monate festgehalten worden. Darunter befanden sich viele, die dort nur wenige Tage und Wochen zugebracht hatten. Eine Gefahr schien von solchen Kurzzeitgefangenen kaum oder überhaupt nicht auszugehen. Lediglich knapp ein Sechstel war ein bis zwei Jahre und länger in den Lagern der westalliierten Streitkräfte eingesperrt.1108 Auch die Befunde zum NS-Sample der Deutschen Wirtschaftskommission belegen, dass in die zentrale Staatsverwaltung vor allem solche Kader und ehemalige Nationalsozialisten gelangten, die sich nur relativ kurze Zeit im Einflussbereich der Briten und Amerikaner befanden. Überwiegend betrug die westliche Kriegsgefangenschaft der untersuchten NS-Belasteten zwischen sechs Wochen und acht Monaten. Lediglich fünf von ihnen befanden sich dort noch nach Ablauf des Jahres 1945. Nur einer der ehemaligen Nationalsozialisten verbrachte mit eineinhalb Jahren nachweislich relativ lange Zeit in westlichem Arrest.1109 Entlassungen aufgrund einer westlichen Kriegsgefangenschaft betrafen grundsätzlich alle Angestellten, ob Pg. oder nicht. Selbst aktive SED-Mitglieder fielen ihnen zum Opfer. Allerdings scheint fast keiner der Betroffenen in der westlichen Gefangenschaft die von der SED gefürchteten Schulungen durchlaufen zu haben. Oder die Beeinflussung durch bürgerlich-demokratisches Gedankengut bzw. die Übereinkünfte mit den westalliierten Behörden gelangten einfach nicht zur Kenntnis. Jedenfalls kam es aufgrund einer Überprüfung der Westgefangenschaft und Emigration wegen der Teilnahme an Lagerkursen, Lagerfunktionen, Tätigkeiten in ausländischen Dienststellen etc. nur in ganz wenigen Fällen zu einer Entfernung aus den Regierungsorganen.1110 In diesem Zusammenhang bestand der Anspruch, vorher eine individuelle Abwägung der einzelnen kaderpolitischen Merkmale vorzunehmen. Eine Weiterbeschäftigung, selbst in leitenden Funktionen oder bei einer westlichen Gefangenschaft von mehreren Jahren, war deshalb durchaus möglich.1111 Viele Dienststellen betrieben jedoch eine schematische und damit relativ rigorose Säuberung. Sie taten das offenbar, weil ihre Personalleiter nur ungern die Verantwortung für das Fortbestehen eines entsprechenden Angestelltenverhältnisses übernehmen wollten.1112 Denn dann wären sie – genau wie bei anderen Negativmerkmalen auch – das Risiko eingegangen, dass ihre 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111 1112 Der Leiter der HA Personal im MdI, Riemer, schlug dem Staatssekretär im Ministerium des Innern, Warnke, vor, keine Einstellung vorzunehmen, wenn die westliche bzw. jugoslawische Gefangenschaft mehr als sechs Monate betragen hatte, siehe: DO 1 / 26.0, 17289, Riemer, an Warnke, vom 07.05.1951. DO 1 / 26.0, 17550, MdI, HA Personal, Funk, an SKK, Abteilung für Administrative Angelegenheiten, Pusanow, vom 12.10.1951. Neben der Auswechselung von Angestellten, die sich längere Zeit in westlicher oder jugoslawischer Kriegsgefangenschaft befunden hatten, galt es darüber hinaus – wie bei anderen „Negativaspekten“ auch –, eine quantitative Konzentration von Angestellten mit diesem Merkmal in einzelnen Regierungsdienststellen oder Abteilungen zu verhindern, siehe: DO 1 / 26.0, 17488, HA Lebensmittelindustrie, Personalabteilung, Analyse der vierteljährlichen Berichterstattung zur Personalentwicklung der HA Lebensmittelindustrie u. Fischwirtschaft, an MdI, HA Personal, vom 04.10.1950, S. 2 f. Einzelheiten zu absoluten Zahlen und der jeweiligen Dauer der Gefangenschaft siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 655. Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 655. Im ganzen Jahr 1950 betraf dies in den DDR-Ministerien nur 25 Fälle. Darunter befanden sich teilweise auch Versetzungen in nachgeordnete Dienststellen, siehe: DC 1 / 2554, IX, MdI, HA Personal, Bericht über die Personalarbeit in der staatlichen Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1950, vom 15.01.1951, S. 8, 14. DO 1 / 26.0, 17567, vom 29.11.1951. DO 1 / 26.0, 17270, [MdI, HA Kader,] Arbeitsbesprechung der Abteilung I am 7.2.1952, vom 09.02.1952, S. 1. Jens Kuhlemann – Braune Kader 237 Vorgesetzten die betroffenen Fälle bei einer Überprüfung anders eingeschätzt und ihnen daraus einen Strick gedreht hätten. Etlichen Entlassenen oder auf bestimmte Funktionen und Arbeitsgebiete beschränkten Kadern blieb der Grund für ihre beruflichen Schwierigkeiten nicht verborgen. Auch in der Provinz kursierten Gerüchte über einen Zusammenhang zwischen Westgefangenschaft und Personalauswechselungen.1113 Manche Betroffenen haben sich infolgedessen bei hohen Staatsrepräsentanten beschwert und um Hilfe gebeten.1114 Ehemalige NSDAP-Mitglieder ersuchten in diesem Zusammenhang auch den Beistand der NDP. Dabei hatte die SED sich Mühe gegeben, ihre Politik gegenüber westlichen Kriegsgefangenen zu verheimlichen, weil sie eine Unruhe in der Bevölkerung vermeiden wollte.1115 Eine zentrale Bedeutung für Personalveränderungen aufgrund westlicher Kriegsgefangenschaft und auch westlicher Emigration nahm in der gesamten SBZ/DDR der sogenannte Befehl 2 ein. Der Präsident der Zentralverwaltung für Inneres, Kurt Fischer, erließ ihn am 14. Januar 1949. Er leitete eine mehrjährige Säuberungsaktion ein, die dem Plan nach möglichst unbemerkt von der Öffentlichkeit und schnell abgeschlossen werden sollte.1116 Ziel war die Schaffung eines politisch und ideologisch zuverlässigen Personalkörpers. Dennoch sorgte die Anordnung für Unwohlsein bei den Personalverantwortlichen, weil sie auch aktive und altgediente Kommunisten traf. Ihre oftmals undifferenzierte und rigorose Anwendung rief bei zahlreichen Betroffenen Unverständnis und starke Verunsicherung hervor. Für viele Kader bedeutete der Befehl 2/49 das abrupte Ende ihres sozialen Aufstiegs.1117 Den Erhalt des Arbeitsplatzes in Relation zu „Vergehen“ zu setzen, für die man wie beim Ort der Kriegsgefangenschaft objektiv nichts konnte, verursachte vielfach Kopfschütteln. In Konsequenz hieraus ergingen Mitte 1949 konkretisierende Richtlinien, die auf eine Abmilderung und beispielsweise auf die bereits erwähnten zeitlichen Begrenzungen hinausliefen. Der Befehl Nr. 2 traf demnach nicht mehr auf Personen zu, die sich höchstens bis zum Jahresende 1945 in westlicher Kriegsgefangenschaft befanden. Personen mit längeren Aufenthalten konnten ausgenommen werden, wenn sie an keiner politischen Schulung teilgenommen beziehungsweise im Lager keine Funktion gehabt hatten.1118 Trotz dieser 1113 1114 1115 1116 1117 1118 Namentlich liegen Beispiele aus der Kreisverwaltung Bitterfeld vor, siehe: DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 08.09.1950, S. 2 und Anlage I; ebd., MdI, Riemer, Hausmitteilung, an Warnke, vom 10.10.1950; ebd., MdI, Warnke, an NDPD, Müller, vom 30.10.1950. DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „K“, Klein, an Grotewohl, vom 09.07.1951; ebd., [MdI,] an Klein, vom 23.08.1951. Westliche Kriegsgefangenschaft galt zwar schon bei Bewerbungen als Ablehnungsgrund, durfte aber nicht offen mitgeteilt werden, siehe: Hoefs, Kaderpolitik, S. 160. Ernst Richert nahm Anfang der sechziger Jahre noch als sicher an, dass der Befehl Nr. 2 von der SKK um die Jahreswende 1949/50 erging. Ursprünglich beschränkte er sich auf die Grenzpolizei. Dort sollten alle Mitarbeiter entlassen oder versetzt werden, die 1.) Westverwandte in gerader Linie hatten, 2.) in westlicher Kriegsgefangenschaft waren, 3.) mehrere Disziplinarstrafen erhalten hatten, 4.) moralisch oder charakterlich unzuverlässig waren oder 5.) als Umsiedler politisch unzuverlässig erschienen, siehe: Wenzke, Wege, S. 231 ff., dort weitere Einzelheiten zur Durchführung des Befehls Nr. 2 bei der Grenzpolizei; vgl. Richert, Macht, S. 269. Vgl. Wenzke, Wege, S. 236, 254. Ebenfalls ausgenommen blieben Angehörige des Strafbataillons 999, die in Westgefangenschaft geraten waren, sowie ehemalige Widerstandskämpfer und „bewährte Antifaschisten“, die sich in westlicher Internierung befunden, jedoch an keiner politischen Schulung teilgenommen hatten. Die von Rüdiger Wenzke beschriebenen Durchführungsbestimmungen entsprechen einem aufgefundenen Richtlinienentwurf zum Befehl 2/49 für die Volkspolizei. Gemäß seinem wesentlichen Inhalt fielen Personen, die nach dem 8.5.1945 „nur kurzfristig und nicht länger als bis Jahresschluss 1945“ in westlicher Kriegsgefangenschaft waren, nicht unter Befehl 2. Wer sich länger in Gefangenschaft aufgehalten hatte, durfte an keiner politischen Schulung teilgenommen, nicht der Lagerleitung oder Lagerpolizei angehört sowie keine Vertrauensfunktion (Dolmetscher, Vorarbeiter etc.) eingenommen haben. Unter Befehl 2 fielen demnach ebenfalls keine früheren politischen Häftlinge, die als Angehörige eines Strafbataillons in Gefangenschaft gerieten, gleichgültig wie lange sie andauerte. Ausgenommen blieben außerdem anerkannte Opfer des Faschismus, es sei denn, die Genannten hätten den erwähnten Schulungen beigewohnt. Besonders überprüft werden sollten Dienstgrade vom Feldwebel an aufwärts, die bevorzugt aus der Kriegsgefangenschaft Jens Kuhlemann – Braune Kader 238 Korrekturen wurden viele Entscheidungen, die aufgrund des Befehls Nr. 2 ergangen waren, erst nach einigen Jahren wieder revidiert. Zur Anwendung des Befehls auf die Deutsche Wirtschaftskommission und die DDRMinisterien liegen etwas widersprüchlich erscheinende Angaben vor. Denn zum einen teilte der Leiter der HA Personal im Ministerium des Innern, Kurt Riemer, seinem Staatssekretär Hans Warnke mit, eine Entlassung nach „Befehl 2“ sei zu keiner Zeit durchgeführt und auch nicht als Grund angegeben worden. Ein Schreiben des MdI an die Sowjetische Kontrollkommission spricht darüber hinaus davon, dass von deutscher Seite „niemals ein solcher Befehl für die Verwaltung gegeben wurde, weil ja bekanntlich in der Verwaltung nicht mit Befehlen gearbeitet wird“.1119 Demgegenüber ging Riemer in seinen Erinnerungen rückblickend auf Schwierigkeiten ein, die explizit im Zuge des Befehls 2 auftauchten, und führte ein Beispiel aus einem Ministerium an.1120 Mit Sicherheit können wir sagen, dass das Kadermerkmal westliche Kriegsgefangenschaft sämtlichen Personalabteilungen in den Regierungsdienststellen bewusst war. Es besteht daher die Möglichkeit, dass der operativ maßgebliche Hauptabteilungsleiter Riemer zwar genauestens über den Befehl 2 im Bilde war und de facto entsprechend handelte. Zumindest einige seiner Vorgesetzten im Innenressort und wahrscheinlich auch die seiner Aufsicht unterstehenden Personalleiter in den Ministerien könnten jedoch Informationsdefizite aufgewiesen haben und waren wohl nur allgemein für das Problem der Gefangennahme durch die Westmächte sensibilisiert.1121 Anscheinend war das Konfliktpotenzial des Befehls Nr. 2 so groß, dass nur äußerst wenige Personalverantwortliche von ihm in Kenntnis gesetzt wurden. Vielleicht sollte der Anschein einer größeren Flexibilität gewahrt werden.1122 Wie die Untersuchung der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission zeigt, entsprachen diese Kader im Wesentlichen der Maßgabe des Befehls Nr. 2. Dabei stieß der Großteil von ihnen bereits 1948 zur DWK. Das Problem der westlichen Kriegsgefangenschaft kam den Kommunisten also offenbar schon vor dem Erlass des Befehls zu Bewusstsein und hielt bereits in seinem Vorfeld Einzug in die Kaderpolitik. Es ist daher von eher zweitrangiger Bedeutung, ob der Befehl 2 auch offiziell im zentralen Staatsapparat galt oder ob er nur seinem Geiste nach Beachtung fand. Inwiefern eine Westgefangenschaft ausschlaggebend für das Ausscheiden von Angehörigen des NS-Samples aus der staatlichen Verwaltung war, ließ sich nicht nachweisen.1123 Im Jahr 1956 wurde eine westliche Kriegsgefangenschaft schließlich für Parteifunktionäre der SED als Kriterium bei Auswahl, Einsatz und Förderung von Kadern aufgehoben.1124 Ein paralleler Bedeutungsrückgang für Funktionseliten ist 1119 1120 1121 1122 1123 1124 entlassen wurden. Darüber hinaus solche Personen, die sich nach der Entlassung längere Zeit in den Westzonen Deutschlands aufhielten und in Privatbetrieben oder bei der Besatzungsmacht arbeiteten. Die jugoslawische Kriegsgefangenschaft war der westlichen gleichzustellen, wenn eine Schulung erfolgt war, die zu einem anhaltenden Kontakt mit jugoslawischen Stellen führte, siehe: DO 1/7/136, Bl. 17 f., Richtlinien über die Behandlung von ehemaligen Kriegsgefangenen der Westmächte, undatiert (Entwurf, Abschrift); vgl. Wenzke, Wege, S. 233 f. DO 1 / 26.0, 17550, [MdI, HA Personal,] Funk, an SKK, Abteilung für Administrative Angelegenheiten, Pusanow, vom 22.11.1951. Sg Y 30 / 1310, Bl. 295 f. (nach anderer Zählung S. 288 f.), Riemer, Erinnerungen. Dazu passt, dass Riemer Warnke noch 1951 lediglich den Vorschlag machte, bei Fällen von mehr als sechs Monaten Westgefangenschaft auf Einstellungen zu verzichten, ohne auf eine bereits existierende verbindliche Vorgabe zu verweisen, siehe: DO 1 / 26.0, 17289, Riemer, an Warnke, vom 07.05.1951. Vgl. die Grenzpolizei, bei der die Bestimmungen, auch nachdem sich im September 1949 ein Ende der Säuberungen gemäß Befehl 2 abzeichnete, nicht außer Kraft traten – nicht zuletzt wegen Schwierigkeiten bei der Umsetzung, aber auch zur anhaltenden „Reinhaltung“ des Personals bei Neueinstellungen. In der HVA erfolgte im Herbst 1950 eine erneute Überprüfung aller VP-Angehörigen mit mehr als sechs Monaten westlicher Kriegsgefangenschaft. Betroffen waren fast 2000 Mann. Über 900 wurden entlassen und 500 zur HVDVP versetzt, siehe: Wenzke, Wege, S. 235 f., 253 f. Zur Überprüfung der westlichen Kriegsgefangenschaft bei Friedrich L. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 658. Gleiches galt für eine westliche Emigration, siehe: Welsh, Kaderpolitik, S. 117. Jens Kuhlemann – Braune Kader 239 anzunehmen. Doch auch in der Folgezeit spielte eine Westgefangenschaft definitiv noch eine gewisse Rolle. Auf der anderen Seite blieb das Merkmal der sowjetischen Kriegsgefangenschaft ein kaderpolitischer Positivfaktor. Ein Blick auf den Anteil der sowjetischen Kriegsgefangenen an den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in den DDR-Regierungsdienststellen verdeutlicht das.1125 Denn Anfang der fünfziger Jahre wiesen rund zwanzig Prozent der beschäftigten Pgs. dieses Merkmal auf. Das waren doppelt so viele wie im gesamten Mitarbeiterstab. Im Vergleich zum NS-Sample der Wirtschaftskommission hat es also kurzfristig eine erhebliche Steigerung gegeben. Sie war wohl zum einen auf die allgemein verzögerte Rückkehr ehemaliger Wehrmachtsangehöriger aus der UdSSR zurückzuführen. Zum anderen galt eine sowjetische Kriegsgefangenschaft für NS-Belastete offenkundig als ganz besonderer kaderpolitischer Vorteil. Es wurden jedenfalls bevorzugt ehemalige NSDAP-Mitglieder mit diesem Merkmal eingestellt. Denn diese Personen waren nie in die Hände der westalliierten Klassenfeinde geraten und konnten laut SED weniger wahrscheinlich mit Sabotage- und Spionageaufträgen ausgestattet worden sein. Das war insbesondere für ehemalige NSDAPAngehörige, bei denen die Gefahr einer besonderen Affinität zum Klassenfeind akuter erschien als bei anderen, von Wichtigkeit. Noch eine andere Beobachtung ist hierbei relevant, nämlich in Bezug auf die leitenden Funktionäre: In den Jahren 1951-1953 stieg der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in leitenden Positionen des DDR-Regierungsapparates von vier auf zehn Prozent. Die Pg.-Quote auf den anderen Hierarchie-Ebenen blieb hingegen relativ konstant.1126 Da zeitgleich innerhalb der NSDAP-Angehörigen der Anteil derjenigen Pgs., die Leitungskader und in sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, von 36 auf 19% fiel,1127 folgt daraus, dass eine vermehrte Einstellung von ehemaligen Pgs. in Führungspositionen stattfand, die sich nie in russischen Lagern befunden hatten. Ein vergleichbar starker Rückgang dieses Merkmals ist für die im Osten gefangenen NSDAP-Mitglieder auf den anderen Hierarchie-Ebenen nicht zu verzeichnen. Man könnte deshalb die These wagen, dass eine sowjetische Kriegsgefangenschaft für ehemalige Nationalsozialisten im Laufe weniger Jahre immer weniger wichtig wurde, um im zentralen Staatsapparat leitende Funktionen ausüben zu dürfen. Eine solche Annahme würde mit der bereits geäußerten Vermutung harmonieren, dass der Makel einer westlichen Kriegsgefangenschaft parallel dazu ebenfalls unerheblicher wurde. Beides geschah nicht, weil die Personalleiter keine Gefahr mehr in einer westlichen Gefangenschaft und keine Vorteile mehr in einer sowjetischen gesehen hätten, sondern weil der massive Kadermangel sie dazu zwang. Dennoch bleibt festzuhalten, dass unter den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern genauso wie bei den restlichen Regierungsangestellten grundsätzlich umso mehr sowjetische Kriegsgefangene zu finden waren, je höher die eingenommene Position im Verwaltungsapparat rangierte. Gleiches ist für die politisch besonders bedeutsamen Dienststellen zu vermuten.1128 Die HA Personal führte genau Buch darüber, welche früheren NSDAP-Mitglieder im Regierungsapparat sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befunden und dort Schulungen abgelegt hatten.1129 Das Gleiche galt für ehemalige Offiziere der Wehrmacht.1130 1125 1126 1127 1128 1129 Eine grafische Darstellung und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 64), 659. Siehe Kapitel „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“, ferner: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 ff. (Abb. 47). Quellenangaben und ein entsprechendes Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 65), 659. Vgl. die SPK, in der 1958 50% der ehemaligen Offiziere und Feldwebel in sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, in: DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 344, Bericht über die kaderpolitische Zusammensetzung der Staatlichen Plankommission, undatiert (Eingangsstempel: Mai 1958). Das MdI, HA Personal schickte 1951 eine Aufstellung aller ehemaligen NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsoffiziere in den Ministerien, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, auch an das ZK, Jens Kuhlemann – Braune Kader 240 Grundsätzlich bemühten sich alle Dienststellen, Angestellte mit diesem Merkmal zu bekommen. Denn weil sie nicht in Berührung mit dem westalliierten Klassenfeind gekommen waren, galten sie als politisch mehr oder weniger unverdächtig. Mehr noch, es sahen sich viele ehemalige Soldaten in der sowjetischen Gefangenschaft mit der Propaganda und der Ideologie der Kommunisten konfrontiert. Zeitlich begünstigend oder in Wechselwirkung hierzu hielt der Verbleib in den Lagern bei den im Osten arretierten Gefangenen wie anfangs erwähnt vielfach länger an als bei denjenigen Soldaten, die den Westalliierten in die Hände fielen. Die Untersuchung der NS-Belasteten in der DWK bestätigt dies. Nur wenige von ihnen ließ die Rote Armee bereits nach ein paar Monaten wieder frei, die meisten blieben zwei bis vier Jahre. Allgemein lehnte die Masse der deutschen Kriegsgefangenen eine Zusammenarbeit mit der Roten Armee ab. Sowjetische Offiziere und KPD-Funktionäre schufen jedoch nicht selten durch politischen und moralischen Druck ein gewisses Potenzial willfähriger Wehrmachtsoffiziere. Einige von ihnen versuchten, sich nach der Rückkehr nach Deutschland ihren „Verpflichtungen“, bestimmte Funktionen auszufüllen, zu entziehen, zumeist durch Westflucht.1131 Andere hingegen zeigten sich wahrhaftig aufgeschlossen und nahmen in den Lagern eine relativ aktive politische Rolle ein. Diese führten sie in den DDRRegierungsdienststellen fort und zählten dort zu den wertvollsten und entwicklungsfähigsten Kadern.1132 Die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesenen DWK-Mitarbeiter waren überdurchschnittlich oft Mitglied der SED.1133 Die Personalabteilungen trauten ihnen zu, indifferente Kollegen zu beeinflussen und für die sozialistische Idee zu gewinnen.1134 Die Gruppe der früheren sowjetischen Kriegsgefangenen diente dabei auch als „Ausgleich“ zur Gruppe der westlichen Gefangenen. Ihr zahlenmäßiges Verhältnis zueinander war somit ein kaderpolitisches Unterkriterium. Denn eine politisch mit zuverlässigen Mitarbeitern durchsetzte Verwaltung schien eine Sabotagetätigkeit frühzeitig melden und bekämpfen zu können. Das Mitteilungsbedürfnis der NS-Belasteten über die Zeiten ihrer Kriegsgefangenschaft beschränkte sich in ihren offiziellen Lebensläufen meist auf Formalia wie Ort und Zeit. Wahrscheinlich waren die psychologischen Hindernisse, gerade im Falle der Russen die Feinde von einst und offiziellen Freunde von jetzt auch innerlich als Befreier und Partner anzuerkennen, zu groß. Vor allem bei den sowjetischen Kriegsgefangenen unter den ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern im zentralen Staatsapparat kam es jedoch vor, dass sie erwähnten, im Anschluss an ihre Gefangennahme zum erstenmal über die „wahren“ Hintergründe des Krieges und des Nationalsozialismus aufgeklärt worden zu sein. Die Begegnung mit der Ideologie der früheren Kriegsgegner habe ihnen die Augen geöffnet. Sie schilderten eine Entwicklung ihres Bewusstseins, wie sie die Kommunisten anstrebten und wie es kaderpolitisch von Nutzen war – sei es, dass dies aus wirklicher Überzeugung geschah, sei es, dass die Betreffenden nur so taten, weil sie wussten, was ihnen Vorteile verschaffte.1135 Eine besondere Rolle hinsichtlich einer politischen Neupositionierung spielte das spätere Mitglied des DWK-Sekretariats und des Ministerrates Luitpold Steidle. Als 1130 1131 1132 1133 1134 1135 Abt. Kader, siehe: DO 1 / 26.0, 17567, Aufstellung, vom 09.08.1951; ebd., [MdI, HA Personal,] an ZK der SED, Abteilung Kader, vom 14.08.1951. Siehe Kapitel „Militärdienst“, außerdem: Kuhlemann, Kader (2005), S. 623 ff. (Abb. 58). Wenzke, Wege, S. 224 f. DO 1 / 26.0, 17566, Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Personalabteilung, Bericht über die Arbeit der Personalabteilung IV. Quartal 1951, vom 03.01.1952, S. 4. Es gab aber auch viele Parteilose, hingegen fast keinen, der einer anderen Partei als der SED angehörte, siehe: DO 1 / 26.0, LV / 49/3/1, DWK, [HA Personalfragen und Schulung,] Parteizugehörigkeit der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesenen Mitarbeiter, vom 16.07.1949. DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Industrie, HA Chemie, Vierteljährliche Berichterstattung an die Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern der DDR, vom 20.04.1950, S. 3. Beispiele (Hans Naake, Kurt D.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 661. Jens Kuhlemann – Braune Kader 241 Regimentskommandeur im Range eines Oberst geriet er im Januar 1943 in Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft.1136 Steidle gehörte kurzzeitig der NSDAP an, die Parteizugehörigkeit endete mit einem Ausschluss.1137 In der SBZ/DDR und offenkundig auch schon gegenüber der Roten Armee verschwieg er diese Umstände. Laut interner Ermittlungen des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD war der Ritterkreuzträger bis zu seiner Gefangennahme als „politisch nachteilig nicht bekannt“ geworden.1138 Der spätere CDUSpitzenfunktionär wurde 1943 Mitbegründer des Bundes Deutscher Offiziere und dessen Vizepräsident1139 bzw. Mitbegründer des Nationalkomitees „Freies Deutschland“.1140 Bis 1945 agierte Steidle als Frontbeauftragter des BdO1141 bzw. des NKFD, wurde Sprecher beim Rundfunksender „Freies Deutschland“ in Moskau und Mitarbeiter der gleichnamigen Wochenzeitung. Er versuchte darüber hinaus wie andere NKFD-Mitglieder auch über Flugblätter und Lautsprecher auf deutsche Soldaten an der Ostfront einzuwirken.1142 Steidle bewegte sich also aktiv auf der höchsten Ebene der von der UdSSR aus den Kriegsgefangenen formierten deutschen Gegenelite. Ein deutsches Gericht verurteilte ihn dafür in Abwesenheit zum Tode.1143 Eine Mithilfe bei der psychologischen Kriegführung oder als Überläufer im Rahmen der Kampfhandlungen begrüßte die Rote Armee natürlich ganz besonders. Jedoch war nur eine verschwindend geringe Zahl der gefangenen Deutschen dazu bereit, die Stimme oder gar eine Waffe gegen ihre eigenen Landsleute zu erheben. Nicht zuletzt drohte die persönliche Ächtung als „Verräter“ und die Bestrafung der Familie im Zuge der sogenannten Sippenhaft. 1943 gegründet riefen BdO und NKFD als Zusammenschlüsse kriegsgefangener deutscher Soldaten Volk und Wehrmacht zum Widerstand gegen Hitler auf. Die versammelten Offiziere hofften, in Kooperation mit der Sowjetunion für die Erhaltung eines freien, unabhängigen Deutschen Reiches wirken zu können. Das Nationalkomitee verwendete in Anknüpfung an alte Traditionen die preußischen bzw. kaiserlichen Farben Schwarz-WeißRot. Ziel war der Sturz Hitlers, anfangs auch eine Zusammenarbeit mit der deutschen Armeeführung, ein Friedensabschluss und ein geordneter Rückzug der Wehrmacht ins deutsche Kerngebiet. Nach der Konferenz von Teheran änderte sich ab 1944 die Propaganda. Es kamen Aufrufe an das deutsche Volk gegen den Faschismus und seine Helfer sowie Forderungen nach einer Volkserhebung hinzu, außerdem nach bedingungsloser Einstellung der Kämpfe und Fahnenflucht. Die Agitation blieb fast wirkungslos, die politischen Ziele wurden nicht erreicht.1144 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 Zum genauen Tag der Gefangennahme liegen unterschiedliche Angaben vor, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 661; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 3, 10, 31. Kuhlemann, Kader (2005), S. 661. Ab März 1943 hielt sich Steidle im Lager 27 auf. Ein als geheim eingestufter Brief des Chefs der Sipo und des SD nannte ihn 1943 als Gast der Gründungskonferenz des Nationalkomitees „Freies Deutschland“. Das Schreiben bezweifelte die Echtheit des NKFD. Es hieß, das Nationalkomitee stelle »nichts anderes als ein von Emigranten erdachtes, inszeniertes und propagandistisch geschickt aufgezogenes Theaterstück dar. Seine Statisten sind meist hungernde, willensberaubte deutsche Kriegsgefangene, die unter der Wucht der genügend bekannt gewordenen bolschewistischen Propaganda- und Behandlungsmethoden, in der Hoffnung, ihr Los zu verbessern, nach streng vorgeschriebenen Formen oder Bedingungen marionettenhaft ihre Rolle spielen.« Siehe: SAPMO / BA Berlin, Film 5414, Bl. 52410 ff., Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, betr.: „Nationalkomitee Freies Deutschland“, an das Auswärtige Amt, Abteilung Inland II, Geiger, vom 03.08.19[43]. Černý, DDR, S. 436. Laut Herbert Weißhuhn habe Steidle bei der Gründung des NKFD noch „unentschieden beiseite“ gestanden, siehe: Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 10 f. Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1036. Nationalsozialisten (1958), S. 37; Nationalsozialisten (1965), S. 89. Joseph, Nazis, S. 171. Einzelheiten zur Geschichte des NKFD bzw. BdO, die sich vor allem aus deutschen Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zusammensetzten und zum Widerstand gegen Hitler aufriefen, siehe: Jens Kuhlemann – Braune Kader 242 Die Lebensumstände in den Lagern, der zwischenmenschliche Umgang, die ganz unpolitischen, alltäglichen Dinge, Leiden und Sehnsüchte tauchen in den Quellen nicht auf. Das galt auch für die westlichen Kriegsgefangenen unter den früheren NSDAP-Mitgliedern. Der Grund dafür lag sicher nicht darin, dass sich solche Erfahrungen weniger intensiv in das Gedächtnis eingebrannt hätten. Vielmehr waren sie in der SBZ/DDR politisch nicht von Vorteil oder irrelevant, solange sich aus ihnen keine positive Annäherung an die Sowjetunion und den Marxismus-Leninismus ableiten ließ. Es gab auch keine Klagen, etwa über schlechte Versorgung oder die manchmal lange Zeit fern von daheim. Denn Beschwerden hätten ja so gedeutet werden können, dass man die Ursache der Kriegsgefangenschaft, nämlich die Teilnahme an Hitlers Vernichtungskrieg, nicht als gerechten Grund ansah, die Sicherheitsforderungen und Aufbaubemühungen der vom Deutschen Reich angegriffenen Länder teilweise in Form einer massenhaften Gefangennahme und somit Bestrafung deutscher Soldaten zu befriedigen. Eine derartige politisch unkorrekte Aussage hätte das Ende einer Karriere bedeuten können. In diesem Zusammenhang bleibt nur noch zu erwähnen, dass die untersuchten Ex-Nationalsozialisten, die sich in westlicher Gefangenschaft befunden hatten, auf der anderen Seite so gut wie keine Hasstiraden auf die Amerikaner, Briten etc. zu Papier brachten. Es hätte ihnen ja theoretisch Vorteile verschaffen können, wenn sie die Begegnung mit dem Klassenfeind negativ geschildert hätten. Das war aber nicht der Fall. Also gab es diesbezüglich entweder keine Abscheu und keinen Konflikt, so dass es angebrachter erschien, diesen unvorteilhaften Westkontakt mit Schweigen zu bedecken. Oder es sollte auch im Falle einer Westgefangenschaft der Eindruck vermieden werden, dass man sich nach dem, was man zuvor militärisch angerichtet hatte, noch in der Position glaubte, Ansprüche zu stellen. Doch zurück zu den sowjetischen Kriegsgefangenen. Die UdSSR, flankiert von emigrierten deutschen KPD-Funktionären, versuchte mit einigem Erfolg, aus diesem Personenkreis Eliten zu sichten und zu formen, die in einem Nachkriegsdeutschland im Sinne der Kommunisten handelten oder ihnen zumindest aufgeschlossen gegenüberstanden. Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ stellte diesbezüglich einen wichtigen Sammelplatz dar. Zusammen mit Teilnehmern politischer Schulungen im Rahmen der Kriegsgefangenschaft, den sogenannten Antifa-Schülern, wurden solche Kräfte gezielt zur Wahrnehmung wichtiger Funktionen in die SBZ/DDR vermittelt, auch in die Deutsche Wirtschaftskommission.1145 Gerade Offiziere der Wehrmacht verfügten über eine höhere Bildung und brachten hochwertige Berufserfahrungen aus dem Zivilleben mit. Für die untersuchten Angestellten der Deutschen Wirtschaftskommission, die den Behörden als ehemalige Nationalsozialisten bekannt waren, ließ sich eine NKFDZugehörigkeit allerdings nur ganz selten nachweisen. Darüber hinaus absolvierten, soweit ersichtlich ist, nur vier NS-Belastete eine Antifa-Schulung.1146 Diese eher geringfügige Präsenz von Antifa-Schülern war offenbar im Wesentlichen der bis Ende der vierziger Jahre spärlichen Rückführung deutscher Kriegsgefangener geschuldet und sollte sich innerhalb kürzester Zeit ändern. Bereits 1951 hatte nämlich fast die Hälfte aller in den Ministerien beschäftigten Pgs., die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befanden, eine AntifaSchule besucht. Das numerische Niveau der Kursabsolventen lag damit bei den ehemaligen 1145 1146 Kuhlemann, Kader (2005), S. 662 f.; Schütz, Wörterbuch, S. 443 f.; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 96, 401; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 10 f. Danyel, Macht, S. 81; ders., SED, S. 184. Es waren dies Werner Stübner, Erwin Melms, Rudolf Lang und Otto V., Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 664. Es ist eine Frage wert, warum die Westalliierten nicht ähnlich zielstrebig vorgingen und noch zu Kriegszeiten freiheitlich-demokratisch gesinnte Kräfte in ihren Gefangenenlagern zwecks Übernahme von verantwortlichen Positionen in Deutschland in vergleichbarer Größenordnung und Organisation zusammenführten. Möglicherweise lag der Grund eventuell darin, dass die Westalliierten erst relativ spät, ab 1944, in größerer Zahl Gefangene machten, aus denen man hätte schöpfen können. Jens Kuhlemann – Braune Kader 243 NSDAP-Mitgliedern deutlich höher als im gesamten Regierungspersonal.1147 Innerhalb von drei Jahren ging der Anteil der Antifa-Schüler unter sämtlichen NSDAP-Mitgliedern in den Ministerien zwar prozentual von neun auf fünf Punkte zurück. Nur noch ein Viertel all derjenigen Pgs., die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, hatten somit in der UdSSR eine ideologische Schulung durchlaufen. Diese Entwicklung liegt jedoch meines Erachtens im rasanten Anwachsen der gesamten Mitarbeiterzahl der Regierungsdienststellen begründet. In absoluten Zahlen blieb der Block der „Antifa-Pgs.“ nämlich konstant.1148 Dieser Verlauf lässt den Schluss zu, daß die Antifa-Schüler generell ein relativ kleines Kaderreservoir darstellten und früher als ihre Kameraden nach Deutschland zurückkehrten. Darüber hinaus waren die im zentralen Staatsapparat beschäftigten Antifa-Schüler offenbar relativ direkt in diesen überführt worden. Geschulter Nachwuchs aus der Sowjetunion kam anschließend kaum noch nach. Außerdem zeigten sie sich gegen die grassierende Personalfluktuation gefeiter als ihre Kollegen. Dieser Verlauf ist auch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass das Sekretariat des Zentralkomitees der SED Anfang der fünfziger Jahre anordnete, frühere NSDAP-Mitglieder, die keine marxistischen Schulen besucht hatten und in keiner der DDR-Parteien aktiv mitarbeiteten, aus dem Staatsapparat zu entfernen.1149 Bis dahin sollten sie beispielsweise nicht mit vertraulichen Verschlusssachen betraut sein.1150 Doch wie die überlieferten MdI-Statistiken zu Antifa-Schülern beweisen, ließ sich diese puristische Kaderpolitik nicht durchhalten.1151 Mangels Personalalternativen kam es im Gegenteil sogar zu einem Anstieg der Beschäftigung solcher ehemaliger NSDAPAngehöriger, die laut Verfügung zu entlassen waren. 1945 gab es in der UdSSR etwa 110 Antifa-Schulen mit vierwöchigen Lehrgängen, circa 50 sogenannte Gebietsschulen mit dreimonatigen Lehrgängen und drei zentrale AntifaSchulen mit einer Lehrgangsdauer von einem halben Jahr. 1949 wiesen diese Einrichtungen rund 16.000 Absolventen auf.1152 Viele Antifa-Schüler bekannten sich offen und aus ehrlicher Überzeugung zum neuen System in Ostdeutschland, das für sie überzeugend den Kampf um Frieden und gegen Militarismus propagierte.1153 Bei ihnen schien das Sicherheitsbedürfnis der SED und die Unterstützung ihrer politischen Linie in besonderem Maße gewahrt zu sein. Eine Antifa-Schulung entfaltete für die Personalabteilungen die Wirkung einer mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gegebenen politischen Zuverlässigkeit. Die Vorstellung, dass Menschen erziehbar und lenkbar seien und sie sich auf diese Weise zur Verinnerlichung der angeblichen Gesetzmäßigkeit des Sozialismus dirigieren lassen, schlug hier vollends durch. Antifa-Schüler wurden deshalb besonders gerne und frühzeitig in den Sicherheitsbereichen wie der 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 Es ist daneben natürlich auch denkbar, dass außer der ZV Inneres auch die ZV Volksbildung besonders viele Antifa-Schüler beschäftigte, was den Prozentsatz 1951 nach der gemeinsamen Erfassung mit den ehemaligen DWK-Ressorts dann insgesamt anhob. Details zur statistischen Erfassung sowie eine grafische Auswertung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 64), 664; zu Antifa-Schülern siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17097, XVIII/49/3/1. Einzelheiten zu absoluten Zahlen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 664 f. Diese ehemaligen NSDAP-Mitglieder waren in den Statistiken zum Regierungspersonal gesondert auszuweisen. Daraufhin umfasste die statistische Erfassung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder und Wehrmachtsoffiziere im Regierungspersonal von Dezember 1951 bis 1953 gesonderte Erhebungen zur Kriegsgefangenschaft und zu Schulungen während des Aufenthaltes in sowjetischem Gewahrsam, ferner zu Parteilosen, siehe: NY 4182 / 1091, Bl. 79, Stellungnahme des Sekretariats des ZK zu dem von der Kaderabteilung gegebenen Bericht über die kaderpolitische Situation im Apparat der Regierung der DDR, [1951]. DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „V“, [MdI,] Richtlinien für die Tätigkeit im Referat Personalfragen, Schulung und Entwicklung, undatiert, 2. Seite; vgl. DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „IJ“, Ihlau, an Pieck, vom 09.10.1951; ebd., [MdI,] an Ihlau, vom 01.11.1951. Entsprechende Diagramme und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 64 und 66), 665. Welsh, Wandel, S. 42. Wenzek, General, S. 178 f.; Simsch, Grenzen, S. 250. Jens Kuhlemann – Braune Kader 244 Deutschen Verwaltung des Innern eingesetzt.1154 In Bezug auf die früheren NSDAPMitglieder unter ihnen schien in den Augen der SED-Wertelite das Risiko minimal zu sein, sich Kader mit wahrhaft faschistoidem Gedankengut ins Boot zu holen. Der ausgiebige Kontakt mit sozialistischen Ideen in den Gefangenlagern, die fruchtbare Konfrontation mit einer Beurteilung des Nationalsozialismus im Sinne der Kommunisten war ihnen Gewähr genug. Der Wert einer ideologischen Umerziehung spiegelt sich auch in der Frage wieder, in welchen Funktionen die Antifa-Schüler unter den früheren Pgs. eingesetzt wurden. Es zeigt sich, dass vor allem leitende Posten betroffen waren, weit weniger die mittleren Positionshöhen der Referenten und fast gar nicht die untere Verwaltungsebene. Der schon erwähnte Frauenfaktor schlug diesbezüglich kaum zu Buche.1155 Wer also in herausragender Weise marxistisch-leninistischer Überzeugung war, sollte erhöhten Einfluss auf Entscheidungen und deren Umsetzung erhalten. Dabei steckte die Machtelite viel Vertrauen in die politisch geschulten Kräfte. Die ehemaligen Nationalsozialisten stellten hierbei keine Ausnahme dar. Auch die vier Antifa-Absolventen innerhalb des NS-Samples füllten in der DWK oder DDR-Regierung bis auf einen sämtlich Leitungsfunktionen aus. Einer von ihnen, NSDAP-Mitglied und später DWK-Oberreferent, wurde als Spezialist in sowjetische Kriegsgefangenschaft überführt. Er habe sich nach eigener Aussage verpflichtet gefühlt, den deutschen Soldaten über den Faschismus die Augen zu öffnen. Der ehemalige Pg. habe marxistische Literatur studiert, mit einem Gefühl der „Ehrenpflicht“ am Wiederaufbau in der Sowjetunion mitgearbeitet und sei als Bestarbeiter ausgezeichnet worden. Er habe fast ein ganzes Jahr auf der Zentralschule verbracht und seine politischen und theoretischen Kenntnisse vertieft, wie er schrieb zur Erlangung innerer Festigung und Klarheit. Am Ende habe der frühere NSDAP-Angehörige den sogenannten antifaschistischen Eid geleistet, was er gegenüber der SED einen der größten Höhepunkte seines Lebens nannte.1156 Der zweite Pg. habe laut eigenen Angaben nach seiner Gefangennahme zunächst drei Monate ernster innerer Auseinandersetzungen benötigt, bis er dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ beitrat. Dann habe er begonnen, sich zu schulen. Der spätere DWKAngestellte habe 1947 einen 3-Monatslehrgang an der Antifa-Schule des Lagers 7150 belegt, den er mit „gut“ abgeschlossen habe. Er habe sich mit der KPdSU (B) und der Geschichte der Arbeiterbewegung befasst. Im Lager habe er als Organisationsleiter des Antifaschistischen Aktivs gearbeitet. Der ehemalige NSDAP-Angehörige sei nach eigenem Bekunden fortan konsequent für seine neu gewonnene Erkenntnis eingetreten.1157 Am Beispiel des dritten NS-belasteten Antifa-Schülers in der DWK lassen sich die Selektion geeigneter Kandidaten unter den gefangenen deutschen Soldaten und die eigentliche ideologische Remodulation besonders eindrücklich verdeutlichen. Rudolf Lang, bis zum Dienst in der Wehrmacht als promovierter Jurist Oberpostrat bei der Reichspost, gehörte der NSDAP und mehreren anderen NS-Organisationen an. Vorübergehend war er darüber hinaus Mitglied der SA. Im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens schilderte Lang seine Erfahrungen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft wie folgt: »Am 14.1.45 geriet ich in Gefangenschaft. Wir kamen nach 2 Tagen in ein besonderes Lager und wurden dort von höheren Offizieren besichtigt, die positive Fragen an uns richteten und über die Verhältnisse in der Sowjet-Union berichteten. Es wurden zunächst bestimmte Gruppen von den anderen etwas getrennt, z.B. die den Linksparteien angehörten, alle Abiturienten und Funker. Einsiedel führte mit jedem einzelnen politische Gespräche. Nachdem wir uns geraume Zeit 1154 1155 1156 1157 DO 1/7/38, Bl. 80, DVdI, an SMAD, Verwaltung des Innern, Gorochow, vom 15.11.1948 (Entwurf). Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 66), 666. Es war der spätere leitende Verwaltungskader Werner Stübner. Die Angaben ergingen anlässlich der SEDMitgliederüberprüfung 1951, siehe: DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 375-379. Details zu Erwin Melms, dessen Angaben ebenfalls aus Anlass der SED-Mitgliederüberprüfung 1951 ergingen, sowie ferner zum Antifa-Schüler Hans Reichelt siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 666 f. Jens Kuhlemann – Braune Kader 245 über die Beurteilung der Verhältnisse unterhalten hatten (das Gespräch währte 1 1/1 [sic] – 2 Stunden), fragte er mich, ob ich bereit wäre, das, was ich ihm als meine Überzeugung geschildert hatte, auch zu verwirklichen. Ich hatte die Möglichkeit, ein Leben zu führen, das kein Gefangenenleben ist. Er warnte mich und sagte, die in der Gefangenschaft bleiben, haben es leichter, aber Sie haben die Möglichkeit einer geistigen Beschäftigung. Wir wurden dann von russischen Offizieren über unseren Lebenslauf gefragt. Es schieden eine Menge Leute aus, die Einwendungen machten. Wir anderen wurden in derselben Nacht mit einem Kraftwagen 50 km weit in ein Dorf gefahren. Wir fanden in einem einfachen Bauernhaus 2 deutsche Antifaschisten vor. Nach einigen Tagen begann der Schulungskursus; die Geschichte des Krieges und alle damit zusammenhängenden Themen wurden behandelt. Die Zahl der Teilnehmer war erst 20, dann kamen 24 Mann dazu. Nach dem Lehrgang wurde der antifaschistische Eid geleistet. Wir wurden gefragt, ob wir einsatzbereit wären. Die Einsätze waren gegen die deutsche Wehrmacht gerichtet. Wir bekamen deutsche Uniformen angezogen und mussten hinter die Linien gehen und zersetzend wirken.« Der Vorsitzende der Entnazifizierungskommission meldete Zweifel an, ob Lang in einer so kurzen Zeit tatsächlich einen echten Gesinnungswandel durchlaufen habe. Dem entgegnete Lang: »Nur derjenige, der dasselbe mitgemacht hat, kann ermessen, welche Entwicklung ein Mensch durchmachen kann.«1158 Eine eher außergewöhnliche Zuspitzung durch physische Teilhabe an gewagten militärischen Aktionen. Bis es soweit kam, hätten sich deutsche Offiziere, die schon vorher die Seiten gewechselt hatten, mit Lang und den anderen gefangenen Soldaten unterhalten. Sie stellten vielleicht allein aufgrund ihres Ranges immer noch Respektspersonen dar und sollten herausfinden, wer sich gemäß seiner politischen Einstellung, Bildung und Einsatzbereitschaft als Antifa-Kandidat eignete. Es war sicherlich ein geschickter Schachzug der Roten Armee, frühzeitig Deutsche an der Rekrutierung und Ausbildung antifaschistischer oder gar im sozialistischen Sinne entwicklungsfähiger Landsleute zu beteiligen. Sie genossen bei jenen mehr Vertrauen und fanden einen leichteren Zugang. Lang nannte namentlich Leutnant Heinrich Graf von Einsiedel, einen führenden Funktionär des Nationalkomitees „Freies Deutschland“.1159 Wer Widerspruch oder Unentschlossenheit äußerte, sei ausgeschlossen oder je nach Neigung einer mehr oder weniger umfangreichen Schulung zugeführt worden. An deren Ende sollte der gewünschte Bewusstseinszustand gegeben sein. Darauf folgte meist ein ziviler Einsatz. Nur eine kleine Minderheit unter den Antifa-Schülern sei für fähig und vertrauenswürdig gehalten worden, unter Lebensgefahr direkt im Feindgebiet zu agieren. Der Obergefreite Lang habe zu ihr gezählt. Die skizzierte Gruppeneinteilung diente der Klassifizierung des individuellen Potenzials, das zur Gänze auszuschöpfen war. Bei einigen dauerte die „Umerziehung“ länger, bei anderen kürzer. „Talenten“ gab man die Möglichkeit, sich Zeit zu nehmen und immer weiter in den Marxismus-Leninismus zu vertiefen. Der Krieg wirkte dabei auch ohne politische Nachhilfe vielfach als „Gesinnungskatalysator“. Millionen Deutsche bewegte die persönliche Begegnung mit dem Horror des Krieges zur Abkehr vom Hitler-Regime, wenn auch meist bei weitem nicht so radikal wie im zitierten Fall. Eine ganze Reihe von Zeugen bestätigten Langs Angaben anläßlich seiner Entnazifizierung und schilderten weitere Einzelheiten seines politischen Engagements: So äußerte ein Wehrmachtskamerad über den ehemaligen NSDAP-Angehörigen: »Nach unserer Gefangennahme beschlossen wir gemeinsam, die erste Gelegenheit zum Kampf gegen die Hitler-Wehrmacht wahrzunehmen. Auf seine Initiative meldeten wir uns zu einer antifaschistischen Frontschule, die im Rahmen der Bewegung „Freies Deutschland“ bei einer 1158 1159 ZJ 53, A. 6, Entnazifizierungskommission beim Magistrat der Stadt Berlin, Allgemeine Kommission, Protokoll der [1.] Hauptverhandlung am 16. Januar 1947, vom 21.01.1947. SAPMO / BA Berlin, Film 5414, Bl. 52411, Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, betr.: „Nationalkomitee Freies Deutschland“, an das Auswärtige Amt, Abteilung Inland II, Geiger, vom 03.08.19[43]. Jens Kuhlemann – Braune Kader 246 höheren Dienststelle der Roten Armee eingerichtet war. Wir nahmen dort an einem etwa 6 Wochen dauernden politischen Kursus teil, nach dessen Abschluss die Frontschüler den antifaschistischen Eid leisteten und zu Einsätzen herangezogen wurden, bei denen viele Antifaschisten ihr Leben einbüssten. In der Zeit nach dem oben erwähnten Lehrgang unternahm es Dr. Lang, die Geschichte des bei der Frontschule befindlichen Konzentrationslagerhäftlings Walter Becker aufzuzeichnen. Die Aufzeichnung wurde in vielen Exemplaren abgeschrieben und diente als Unterlage für die politische Aufklärung der Bevölkerung und der Kriegsgefangenen durch die Antifaschisten. Dr. Lang entwarf Flugblätter, die gegen die Hitler-Wehrmacht gerichtet waren.« Der spätere DWKLeitungskader sei nach März / April 1945 vorerst bei der Frontschule verblieben.1160 Das Kommando hinter den deutschen Linien hatte also relativ bald geendet und er konnte lebend zurückkehren. Lang betätigte sich aktiv im Nationalkomitee „Freies Deutschland“, dem er zwischenzeitig beigetreten war.1161 Der Antifa-Schüler habe publizistische Arbeit geleistet, um Zivilisten und Wehrmachtsangehörige zu beeinflussen. Unter anderem habe ein Flugblatt besondere Anerkennung gefunden, in dem Lang die deutschen Soldaten an der Oderfront wenige Kilometer vor Berlin zur Aufgabe aufrief.1162 Weitere Zeugen bestätigten, dass Lang eine intensive politische Auseinandersetzung und ein reges Studium betrieben habe. Der ehemalige Pg. sei sogar vom Schüler zum AntifaLehrer aufgestiegen und habe vor deutschen Soldaten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren, mit großer Überzeugungskraft doziert.1163 Die Zugehörigkeit zu diesem erlesenen Kreis belegt nach den Aktivitäten im gegnerischen Territorium erneut ein herausragendes Zutrauen der Sowjets. Die NSDAP-Mitgliedschaft, zu der Lang sich offen gegenüber den Antifa-Schülern bekannt habe, war ihm dabei nicht hinderlich. Er konnte glaubhaft einen politischen Lernprozess samt innerer Neuausrichtung vertreten. Der erwähnte antifaschistische Eid beinhaltete dabei die Unterwerfung unter die Befehlshoheit der Roten Armee. Er appellierte an Ehre und Pflichtgefühl und sollte eine Bindungswirkung entfalten. In diesem Zusammenhang ist auch die Überantwortung einer journalistischen Funktion in der SBZ zu sehen, indem Lang Verwendung bei der Herausgabe der ersten deutschen Zeitung in Mecklenburg-Vorpommern fand.1164 Ein bereits im Entnazifizierungsverfahren durchaus relevanter Aspekt war, inwiefern mit der Abkehr vom Nationalsozialismus gleichzeitig eine mentale Hinwendung zum Sozialismus verbunden war. Der Einsatz zugunsten der Roten Armee scheint diesbezüglich nicht alle Fragen restlos beantwortet zu haben. Ein Frontschüler äußerte zu Langs Lehrtätigkeit: »Was mich interessierte an ihm, war die Art, wie er versuchte, den jungen Menschen dort, die nichts anderes als den Faschismus kannten, eine neue antifaschistische Grundeinstellung durch seine Tätigkeit zu vermitteln.« Eine Angehörige der Entnazifizierungskommission hakte nach: »Hat der Appellant Herr Lang eine richtige klare sozialistische oder marxistische Schule gegeben oder hat er nur die Leute als Antifaschisten überzeugen wollen? Zeuge: Die Frage ist nicht ganz so einfach zu beantworten, wie sie gestellt scheint. Selbstverständlich lag in dem ganzen Schulunterricht dort eine gewisse sozialistische Tendenz. Aber das, was übermittelt wurde, war nicht Sozialismus, sondern eine antifaschistische Einstellung im Sinne der späteren Blockpolitik. Ich bin nicht in der Lage, mit völliger Sicherheit zu sagen, ob das, was an sozialistischer Einstellung dort zum Ausdruck 1160 11