Braune Kader - Jens Kuhlemann

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Braune Kader - Jens Kuhlemann
Jens Kuhlemann
Braune Kader
Ehemalige Nationalsozialisten
in
der Deutschen Wirtschaftskommission
und
der DDR-Regierung
(1948-1957)
Internetausgabe
Stand: 20.07.2012
Quellenangabe – Der folgende Text wurde entnommen aus:
Kuhlemann, Jens: Braune Kader. Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen
Wirtschaftskommission und der DDR-Regierung (1948-1957). Gekürzte, sich aktualisierende
Internetausgabe der gleichnamigen Dissertation (Universität Jena, 2005). Berlin. Ab 2012 in:
http://jenskuhlemann.wordpress.com
Der Autor
Jens Kuhlemann, geboren 1970 in Verden (Aller). Studium der Geschichte, Germanistik,
Politikwissenschaft und Völkerkunde in Göttingen und Johannesburg (Südafrika), privater
Studienaufenthalt in Cambridge (England). Im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes
1999-2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte
an der Universität Jena, 2004 ebenda Lehrbeauftragter. 2005 Promotion zum Dr. phil. mit
„magna cum laude“ bei Prof. Lutz Niethammer. 2006/07 Mitarbeiter von Prof. Norbert Frei
bei der Historikerkommission des Auswärtigen Amtes zur Erstellung der Studie „Das Amt
und die Vergangenheit“. 2007 Lehrbeauftragter an der Universität Lüneburg. Seit 2008
Studienrat an der Staatlichen Internationalen Schule Berlin.
Themenrelevante Veröffentlichungen
Moralisch bedenklich. Theodor Heuss: ein Journalist im Nationalsozialismus.
In: Süddeutsche Zeitung (24.10.2003, S. 11).
Kiesingers Propagandakrieg. Zur NS-Vergangenheit von Kurt Georg Kiesinger.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (07.05.2004, S. 9).
Mit dem Teufel im Bunde? Die KPD/SED und die bürgerlichen Fachkräfte in den Deutschen
Zentralverwaltungen (1945-1948). In: Hitzler, Ronald / Hornbostel, Stefan / Mohr, Cornelia
(Hrsg.): Elitenmacht. (Soziologie der Politik, Band 5). Wiesbaden 2004, S. 149-176.
Braune Kader. Ehemalige Nationalsozialisten in der Deutschen Wirtschaftskommission und
der DDR-Regierung (1948-1957). (Band 1: Soziales, Bildung und Beruf; Band 2: Politische
Orientierungen; Band 3: NS-belastete hohe Staatsfunktionäre.) Dissertation, Universität Jena,
2005.
Differenzierte Biografien, differenzierte Integration. Ehemalige Nationalsozialisten in der
Deutschen Wirtschaftskommission und den DDR-Regierungsdienststellen (1948-1957). In:
Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Vol. 35 (2010) 3, S. 95-116.
„Das Amt“ blendet die Rolle der Stasi aus. Zum Buch „Das Amt und die Vergangenheit.
Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ der Unabhängigen
Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Auswärtigen Amts in der Zeit des
Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung
(05.11.2010, S. 9). Erscheint voraussichtlich 2013 erneut in: Sabrow, Martin / Mentel,
Christian (Hrsg.): Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche
Debatte. Frankfurt am Main 2013.
Jens Kuhlemann
Braune Kader
Ehemalige Nationalsozialisten
in
der Deutschen Wirtschaftskommission
und der DDR-Regierung
(1948 – 1957)
Gekürzte und sich aktualisierende Internetausgabe.
Vorwort zur Erstausgabe (Dissertation) 2005
Nationalsozialisten und Kommunisten, die Hand in Hand den Sozialismus aufbauen – das
mutet an wie die leibhaftige Verschmelzung von Feuer und Wasser. Ein rot-braunes
Paradoxon, das irritiert. Impuls genug, um Erklärungen dafür zu finden und Licht ins Dunkel
zu bringen. Doch muss sich jeder Mensch, der sich in einer Zeit voller Gewalt und Not,
Unterdrückung und Naturzerstörung in akademische Elfenbeintürme hineinträumt, die Frage
gefallen lassen, welchen Nutzen die Welt von seinen selbstverliebten Gedankenspielchen hat.
Denn es ist unsere Aufgabe, Lebendbedingungen zu verbessern. Jeder sollte seine 7000
Eichen pflanzen und seine Handvoll Salz vom Meeresstrand auflesen. An diesen Vorsatz habe
ich jedenfalls im Laufe der etwa sechsjährigen Arbeit an diesem Forschungsprojekt viele
Male denken müssen. Zu oft hatte ich dabei das Gefühl, ihm einsam hinter Papierbergen
verborgen nicht nachgehen zu können. Doch irgendwann entwickelte sich aus der
anfänglichen bloßen Neugier auf die Geschichte ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR
die Erkenntnis einer tieferen Sinngebung. Denn es ist die Geschichte einer Wandlung der
Gesellschaft und ihrer Individuen, wie wir sie immer wieder aufs Neue erleben. Die Verläufe
und Ergebnisse solcher Transformationen können uns heute helfen zu verstehen, wie wir zu
dem geworden sind, was wir sind. Darüber hinaus zeigen sie, wie sich durch Umbrüche die
Strukturen des Zusammenlebens in der Gegenwart und Zukunft erneuern. Wenngleich dieses
Buch nur eine kleine Facette ist, brauchen Menschen das Wissen über solche Vorgänge, um
selbst schöpferisch und verantwortlich an ihnen mitzuwirken.
Zu freundschaftlichem Dank verbunden bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Lutz
Niethammer, der mir überhaupt erst ermöglichte, dieses Unternehmen zu beginnen und mich
ein ums andere Mal durch seine Fähigkeit in Erstaunen versetzte, schon aus wenigen
Unterhaltungen stichhaltige Analysen über den Stand der Dinge ziehen zu können. Mein
Dank geht weiterhin an das Historische Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, das
Bundesarchiv / Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR und die
Bundesbeauftragte für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Außerdem an die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Förderung im Rahmen einer vergleichenden
Studie zur „Wiedereingliederung von NS-Staatsbediensteten und NS-Belasteten in die
Verwaltungsapparate der frühen Bundesrepublik und der SBZ/DDR“. Für Tipps und
Anregungen danke ich darüber hinaus Christoph Boyer, Jürgen Danyel, Jens Gieseke, Stefan
Hornbostel, Helga A. Welsh sowie den Doktoranden am Lehrstuhl für Neuere und Neueste
Geschichte in Jena, für die Hilfe bei der Redaktion Peter Eckermann.
Mein besonderer Dank gilt schließlich noch meiner Mutter, die mich nicht nur in der
Schlussphase dieser Arbeit vertrauensvoll unterstützt hat und mir Mut machte, als es an mir
lag, ihr welchen zu bereiten.
Berlin und Dörverden, im Dezember 2003
Jens Kuhlemann
Vorwort zur Internetausgabe ab 2012
Nach mehreren Jahren, in denen sich mir viele andere Aufgaben gestellt haben, möchte ich
die Dissertation „Braune Kader“ in der nun vorgelegten gekürzten Form einem breiteren
Publikum zugänglich machen. Den Anstoß hierfür gab eine Tagung zum Thema „Integration
und Ausgrenzung? Der Umgang der SED mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern“ im Dezember
2009 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Eingeladen hatte der von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche
Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung.“ Die
Veranstaltung unterstrich, dass die Frage, wie sich die kommunistischen Machthaber in der
SBZ/DDR und nationalsozialistisch belastete Kader miteinander arrangierten, nach wie vor
im Fokus der Forschung steht. Auch außerhalb der Wissenschaft steht der Umgang mit
politisch belasteten Personen immer wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Dieses Buch
kann dabei helfen, die Diskussion darüber auf ein stabiles Fundament zu stellen und die
Bandbreite der Urteile zu erweitern.
Bewusst möchte ich durch die Veröffentlichung der gekürzten Fassung von „Braune Kader“
im Internet möglichst vielen Rückmeldungen den Weg bereiten. Das Fachpublikum ist dabei
ebenso wie der interessierte Laie aufgerufen, Kommentare beizusteuern. Im Idealfall nehmen
diese Reflexionen nicht nur auf den Ausgangstext Bezug, sondern reagieren auch auf die
verschiedenen Sichtweisen anderer Betrachter. Die Essenz dieser Auseinandersetzungen
könnte so zu einer fortlaufenden Bereicherung meiner Studie beitragen. Dabei sind
optimierende Textmodifikationen, die auf Anregungen von außen zurückgehen, erklärtes Ziel
der hier gewählten Art und Weise der Publizierung. Im Sinne dieser Netzinteraktion ist das im
Untertitel ungewohnte Partizip Präsens der „sich aktualisierenden“ Internetausgabe zu
verstehen. Dazu zählt natürlich auch die sukzessive Berücksichtigung anderweitiger neuester
Forschungsergebnisse. Geschichtsschreibung ist so im besten Sinne multiperspektivisch und
imperfekt.
Von ganzem Herzen möchte ich zu guter Letzt meiner Ehefrau danke sagen, nicht nur für
viele Stunden, in denen ich die Freiheit bekam, mich um weit weniger wichtige Dinge als
meine Familie zu kümmern.
Berlin, im Juli 2012
Jens Kuhlemann
Für Irmgard
Inhaltsverzeichnis
0
Einleitung
0.1
0.2
1
Fragestellung
Forschungsstand
Vorgeschichte sowie gesellschaftliche und institutionelle
Rahmenbedingungen
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
2
9
Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien
Von Fragebögen und dem Wunsch zu schweigen
Diskriminierung und Ächtung
Anzeigen und Denunziationen
Personalbestand und Fachkräftemangel
Quantitative Ausmaße der Beschäftigung ehemaliger Mitglieder
der NSDAP, SA, SS und sonstiger NS-Organisationen
16
18
24
24
37
47
62
71
77
Das soziale und politische Profil der ehemaligen NSDAP-,
SA- und SS-Mitglieder im zentralen Staatsapparat der
SBZ/DDR
87
2.1
90
Soziales, Bildung und Beruf
2.1.1
2.1.2
2.1.3
2.1.4
2.1.5
2.1.6
2.1.7
2.1.8
2.1.9
2.1.10
Frauen
Alter
Soziale Herkunft
Bildung und Weiterbildung
Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945
überwiegend ausgeübten Berufes
Berufliche Karriereverläufe
Wendepunkte im beruflichen Werdegang
Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz
Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige
Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen
93
98
104
117
132
139
149
164
181
193
2.2
Politische Eigenschaften und Entwicklungen unter den
Bedingungen kommunistischer Kaderpolitik
2.2.1
203
NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern:
Biografiemanipulation
205
2.2.2
NS-belastete Verwandte und Freunde
226
2.2.3
Kriegsgefangenschaft, Antifa-Schulung und Emigration
231
2.2.4
Erkenntnis, Abkehr und Neuorientierung
251
2.2.5
Politischer Werdegang nach 1945
263
2.2.5.1
Eintritt in die Nachkriegsparteien
263
2.2.5.2
Parteizugehörigkeit nach 1945: statistische Auswertung
269
2.2.5.3
Politische Ämter und Funktionen nach 1945
277
2.2.5.4
Politische Fortbildung
281
2.2.5.5
„Fortschrittliche“ Kader
285
2.2.5.6
Politisch Zurückhaltende und ideologisch „Schwache“
296
2.2.5.7
„Reaktionäre“ Kader
305
2.2.6
Agenten und Saboteure
318
2.2.7
Westkontakte
334
3
Ergebnis und Ausblick
347
4
Abkürzungsverzeichnis
358
5
Quellen- und Archivverzeichnis
362
6
Literaturverzeichnis
364
Jens Kuhlemann – Braune Kader
0
9
Einleitung
Ehemalige Nationalsozialisten in der DDR-Regierung – ein Reizthema, keine Frage. Wenn
ich jemandem im Laufe der vergangenen Jahre von meinen Forschungen erzählte, reichten die
Reaktionen von verschmitzter Genugtuung über ungläubiges Staunen bis hin zur Aufgabe der
letzten mit der DDR verbundenen positiven Illusionen. Niemanden ließ diese widersprüchlich
anmutende Vorstellung gleichgültig. Ein Umstand, der in der Anziehungskraft der –
vermeintlichen – Zerstörung eines Mythos liegen muss. Denn er rührt am antifaschistischen
Selbstverständnis des einzigen sozialistischen deutschen Staates in der Geschichte und damit
am vielleicht wichtigsten Grund für die Existenzberechtigung der DDR.
Die Geschichte der NS-Belasteten in der Nachkriegszeit ist vom gesellschaftlichen und
persönlichen Wandel geprägt, vom Spannungsverhältnis zwischen der Wiedereingliederung
der Täter, der Rücksichtnahme auf die Opfer und den Ansprüchen der Sieger.1 Allerorten
stand die Frage im Raum, wer wie viel Verantwortung an der Katastrophe des
Nationalsozialismus trug, wer mit Vergebung und wer mit Bestrafung rechnen konnte. »Es
gibt entdeckte und verborgen gebliebene Schuld von Menschen. Es gibt Schuld, die sich
Menschen eingestanden oder abgeleugnet haben. Jeder, der die Zeit mit vollem Bewußtsein
erlebt hat, frage sich heute im stillen selbst nach seiner Verstrickung«.2 Mit diesen Worten
sprach Richard von Weizsäcker in seiner berühmt gewordenen Rede zum 8. Mai 1985 das
schwierige Thema Schuld und Sühne der Deutschen an – oder tat er es vielleicht doch nicht?
Wir suchen vergeblich nach abgestuften Schuldzuweisungen und Sanktionen, nach
Resozialisierungsbedingungen, wie sie im Rahmen der Entnazifizierung und, wie wir sehen
werden, in veränderter Form auch danach vorkamen. Dieser Umstand ist ein Indiz dafür, dass
die Rede unter anderem deshalb so begeistert aufgenommen wurde, weil sie möglichst vielen
möglichst wenig weh tat. Das war gut so, denn es bewahrte Stabilität und inneren Frieden.
Aus demselben Grund war es aber auch unzureichend, denn die Wahrheit beim Namen zu
nennen klingt anders.
Der Umgang mit Trägern des „ancien régime“ nach einem Systemwechsel läuft letztlich
immer auf die Frage hinaus, welchen Beurteilungsmaßstab die neuen Machthaber und die
Menschen im Allgemeinen an die Vergangenheit anlegen. Wie verdammenswert ist sie? Wie
radikal soll die Abwendung von ihren Idealen und ihren Protagonisten sein? Bei all dem ist
entscheidend, welchen Spielraum die Erfordernisse der Gegenwart und Zukunft lassen, um
das Vergangenheitsbild in der Gesellschaft durchzusetzen. Gerade Moralvorstellungen sind
hierbei in einer pluralistischen Welt unterschiedlich ausgeprägt. Um so schwieriger ist es für
einen Historiker, eine konsensfähige Bewertung der damaligen Geschehnisse vorzunehmen.
Meine ethischen Einschätzungen können am Ende auch nichts anderes als subjektiv gefärbte
Äußerungen darstellen, die eine weitere Auseinandersetzung anstoßen sollen. Viel wichtiger
als eine Diskussion auf moralischer Ebene ist für die Wissenschaft jedoch der Versuch, die
historischen Akteure in ihrem Handeln zu verstehen. Dabei geht es um das Wechselspiel von
Macht und Opposition, im Staat wie auch individuell.
Dieses Spannungsfeld wird im Folgenden am Beispiel des zentralen Staatsapparates der
SBZ/DDR untersucht. Die reformierte Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) stellte dabei
nicht nur eine Art „Zentralregierung“ der SBZ dar, die freilich völlig abhängig von der
sowjetischen Besatzungsmacht war. Die DWK bildete auch das wesentliche Vorläuferorgan
der DDR-Regierungsdienststellen. Zusammen mit den drei bis dahin verbliebenen Deutschen
Zentralverwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung ging die DWK im Oktober 1949
1
2
Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 21 f.
Weizsäcker, Mai, S. 19; zur Analyse und Wirkung der Rede siehe: Fischer, Lexikon, S. 232-235.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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relativ nahtlos in die DDR-Regierung über.3 Es handelte sich vor wie nach der
Staatsgründung um die höchste zentrale Schaltstelle der staatlichen Verwaltung mit
erheblichem Einfluss auf das öffentliche Leben in Ostdeutschland. Zwar waren die
Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) bzw. die Sowjetische
Kontrollkommission (SKK) und die SED-Führung in der Entscheidungshoheit rechtlich
beziehungsweise faktisch übergeordnet. Doch die Deutsche Wirtschaftskommission, der
Ministerrat und die Ministerien leiteten ihre Bedeutung aus der Rolle als funktionaler
Dienstklasse ab, die die Anordnungen der Machthaber ausführen sollte. Sie standen darüber
hinaus einer Vielzahl nachgeordneter Wirtschaftsbetriebe und staatlicher Einrichtungen vor.
Der Untersuchungszeitraum ersten Grades umfasst mit quellenbedingt unterschiedlicher
Intensität die Jahre 1948-1957. In dieser Zeitspanne waren die untersuchten NS-Belasteten in
der zentralen Staatsverwaltung beschäftigt. Die Analyse weicht jedoch von diesem Zeitfenster
ab, wenn die Beschreibung bestimmter Wandlungen und Kontinuitätslinien es erfordert.4 Ein
solches Vorgehen läuft auf die Betrachtung aller für die jeweiligen Biografien relevanten
Phasen hinaus. Der chronologische Rahmen zweiten Grades bewegt sich damit vom
Kaiserreich über die Weimarer Republik zum Nationalsozialismus und zur SBZ/DDR bzw.
Bundesrepublik, im Einzelfall bis zur Berliner Republik. Um die Reintegration ehemaliger
Nationalsozialisten in die staatliche Verwaltung zu analysieren, ist die formative Phase der
SBZ/DDR, die vom Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis zum Mauerbau 1961 reichte, von
besonderer Bedeutung. Dabei spielt das Jahr 1948 eine entscheidende Rolle. Zu diesem
Zeitpunkt erfuhren die Zentralisierung staatlicher Gewalt innerhalb der SBZ sowie die
Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes samt Zementierung der innerdeutschen Teilung eine
radikale Zuspitzung. Die SED trat dabei während der Stalinisierung immer deutlicher als
dominanter Statthalter der UdSSR hervor. Sie wollte die kommunistische Weltanschauung
und Gesellschaftsordnung diktatorisch gegen davon abweichende durchsetzen, auch
innerparteilich im Zuge der Entwicklung zur „Partei neuen Typus“.5
Die Sowjetische Militäradministration ordnete in diesem Zusammenhang mit dem
Befehl Nr. 32 vom 12. Februar 1948 an, fast alle Zentralverwaltungen in der Deutschen
Wirtschaftskommission zusammenzufassen. Sie verlieh der DWK außerdem das Recht,
verbindliche Instruktionen für die gesamte Besatzungszone zu erlassen. Das war eine wichtige
Voraussetzung für den im selben Jahr verabschiedeten Zweijahrplan.6 Weitere Anzeichen für
den offenen Ausbruch des Kalten Krieges waren der Rückzug der UdSSR aus dem Alliierten
Kontrollrat, die Währungsreform und der Beginn der Berliner Blockade.7 Schließlich
3
4
5
6
7
Die Zentralverwaltung für Gesundheitswesen war bis November 1948, dem Zeitpunkt ihrer Eingliederung
in die DWK, ebenfalls eigenständig. Das Ressort wurde im Rahmen dieser Untersuchung erst als DWKHauptverwaltung berücksichtigt.
Bauerkämper, Eliten, S. 52.
Dahinter verbarg sich die Umwandlung in eine Kaderpartei bolschewistischen Musters, die Aufhebung der
Parität von ehemaligen SPD- und KPD-Mitgliedern sowie die Schaffung eines Politbüros zur operativen
Parteiführung. Die Mitglieder waren durch Kritik und Selbstkritik verstärkt ideologisch-politisch zu
erziehen, von der Parteilinie divergierende Meinungen wurden nicht toleriert. Unter den Mitgliedern fanden
Säuberungen statt, eine Kandidatenzeit wurde eingeführt, die führende Rolle der KPdSU anerkannt. Im
Sinne des „Demokratischen Zentralismus“ sollten Funktionäre zwar „gewählt“ werden, unterstanden aber
einer strengen Parteidisziplin und mussten bemüht sein, die Parteibeschlüsse am Arbeitsplatz oder in
sonstigen Funktionen umzusetzen. Erhöhte Klassenwachsamkeit sollte zum verstärkten Kampf gegen
Spione, Agenten und Saboteure, „Schumacherleute“ und negative bürgerliche Einflüsse führen, siehe:
Rössler, Aspekte, S. 132; Staritz, Gründung, S. 212-216; Staritz, Sozialismus, S. 156 ff.; Glaeßner,
Herrschaft, S. 94.
Die zweite Parteikonferenz der SED erklärte „den Staatsapparat“ zum Hauptinstrument für den Aufbau des
Sozialismus und zur Förderung des neuen Staatsbewusstseins, siehe: Boyer, Bürohelden, S. 270. Zum
Zusammenhang zwischen Zentralisierung des Staatsapparates und Durchsetzung der Parteibeschlüsse bis in
die untersten Verwaltungseinheiten siehe: Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 349 f.
Die UdSSR verließ am 20. März 1948 den Alliierten Kontrollrat, der damit handlungsunfähig wurde. Am
16.6.1948 folgte der Rückzug aus der Alliierten Kommandantur in Berlin. Die Währungsreform vollzog
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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verkündete die SMAD mit ihrem Befehl Nr. 35 vom 26. Februar 1948 den offiziellen
Abschluss der Entnazifizierung in der SBZ.8 Wenige Monate später geschah das Gleiche in
Berlin. Die Sowjets erklärten die Maßnahmen zur personellen Säuberung der öffentlichen
Verwaltung und anderer Bereiche von ehemaligen Nationalsozialisten für beendet. Die
Wiedereingliederung NS-Belasteter in das gesellschaftliche Leben und hier speziell in den
Staatsapparat erfolgte ab diesem Zeitpunkt also unter dem Eindruck eines unerbittlichen
innen- und außenpolitischen Machtkampfes.
Das Ende des Untersuchungszeitraumes ersten Grades bestimmt zum einen ein
erheblicher Rückgang der Quellendichte im Laufe der fünfziger Jahre. Zum anderen
ereigneten sich 1958/1959 für die DDR-Regierung und ihre Personalpolitik wichtige Zäsuren.
Dazu zählten maßgeblich der Abbruch des zweiten Fünfjahrplanes und die umfassende
Restrukturierung des Wirtschafts- und Staatsapparates. Ein großer Teil der
Industrieministerien wurde dabei in die Staatliche Plankommission überführt.9 Neben
inhaltlichen Gründen rechtfertigen schließlich pragmatische Überlegungen einen zeitlichen
Schnitt. Denn über ein Jahrzehnt hinweg lassen sich politische Entwicklungen bereits gut
darstellen.
Ganz entscheidend für das Verständnis der Triebfeder der Wiedereingliederungspolitik
ist der Marxismus-Leninismus, der bis zu den fünfziger Jahren durch Thesen Lenins und
Stalins ergänzt wurde. Die Kaderpolitik wie das gesamte Menschenbild der Kommunisten
fußten auf dieser Weltanschauung. Sie war nach ihrer Auffassung eine Wissenschaft mit
Wahrheitsmonopol und Zwangsläufigkeitscharakter, die keinen Platz für Pluralismus ließ.10
Grob vereinfacht erwirtschafteten danach relativ wenige Kapitalisten als Besitzer von
Produktionsmitteln Profite, die sie akkumulierten, während die von ihnen ausgebeutete Masse
der Lohnarbeiter verelendete. Aus diesem Spannungsverhältnis resultierte ein an Schärfe
zunehmender Kampf verschiedener gesellschaftlicher Klassen – dem Kapital bzw. der
Bourgeoisie auf der einen Seite gegen das Proletariat auf der anderen. Der Faschismus war so
gesehen eine Radikalisierung der Interessen imperialistischer Wirtschaftskreise und das
Bürgertum Ausdruck sozialer Schichtzugehörigkeit wie auch politischer Gesinnung.11 Eine
wahrhaftige Demokratie entstand angeblich dann, wenn das werktätige Volk in einem Staat
die Oberhand gewann. Dies war nach Auffassung der SED in der DDR der Fall. In den
westlichen Staaten, in der Bundesrepublik zusätzlich verkörpert durch den Faschismus
tragende „Alt-Nazis“, sei der Klassenfeind hingegen weiterhin an der Macht gewesen und
knechtete das Volk.
Lenin ging insofern über Marx hinaus, als er voraussetzte, dass das revolutionäre
Bewusstsein gerade in der Masse der Unterdrückten zunächst nicht vorhanden sei.12 Daher
8
9
10
11
12
sich im Juni 1948, die Berlin-Blockade begann am 23./24.6.1948, siehe: Weber, Geschichte, S. 159 f.;
Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 22.
Zur Periodisierung siehe auch: Foitzik, Inventar, S. 45 f.
Weber, Geschichte, S. 297 ff.
Zur Durchsetzung parteistaatlicher Interessen und zu ideologischen Grundlagen des Freund-Feind-Schemas
des MfS und im Rechtsleben der SBZ/DDR siehe: Dilcher, Ideologie; Eschebach, Elemente, S. 205 f.;
Vollhals, Nomenklatur, S. 222; Gieseke, Genossen, S. 208; Kowalczuk, Stalin, S. 173 f.
Bekannt ist die Formel Georgi Dimitroffs, wonach der Faschismus eine offen terroristische Diktatur der
reaktionärsten, am meisten chauvinistischen und am meisten imperialistischen Gruppen des Finanzkapitals
in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus sei. Der Faschismus habe sich als eine politische
Bewegung und ideologische Strömung entwickelt, die die Klasseninteressen der Monopolbourgeoisie zum
Ausdruck brachte und von dieser entscheidend gefördert wurde. Ihr Ziel sei es gewesen, die Politik der
Ausplünderung des eigenen Volkes und der imperialistischen Expansion gegen wachsende Widerstände des
Volkes und vor allem der revolutionären Arbeiterbewegung mit Mitteln der Aggression und Unterdrückung
fortzusetzen. In diesem Zusammenhang habe die Monopolbourgeoisie auch den Zweiten Weltkrieg
entfesselt. Einen „Masseneinfluss“ habe der Faschismus hauptsächlich im Kleinbürgertum gehabt, siehe:
Schütz, Wörterbuch, S. 171; Kleßmann, Relikte, S. 255.
Richert, Macht, S. 261.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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lässt sich meines Erachtens der „aufgeklärtere“ Teil als kommunistische „Bewusstseinselite“
oder „Wertelite“ bezeichnen. Auf dieser Trennung gründete sich die Beherrschung der
„zurückgebliebenen“ proletarischen Massen durch eine Avantgarde aus Berufsrevolutionären
bzw. die Partei der Arbeiterklasse, die über dem Staat stand und sich subjektiv im
Bewusstsein einer besonderen Mission zur Führung geeignet und berechtigt ansah.13 Die
„Diktatur des Proletariats“ sollte die Bourgeoisie in der Übergangszeit vom Kapitalismus zum
Sozialismus unterdrücken und die Entwicklung einer klassenlosen Gesellschaft, dem
Kommunismus, beschleunigen.14 Voraussetzung dafür war parteikonformes und –gelenktes
Handeln. Das galt umso mehr für die Kader, die die Gesellschaft durchdringen und an ihren
Arbeitsplätzen politische Beschlüsse der Partei und Regierung gehorsam und treu umsetzen
sollten. Sie sollten damit den Sozialismus konkret aufbauen und Herrschaft ausbauen und
sichern.15 Lenin forderte daher die restlose Zerschlagung des alten Staatsapparates im Zuge
der Revolution, billigte aber Übergangsphasen.16 Sozialistische (Kader-) Politik war also
hochgradig ideologisiert und sehr eng mit sozialen Prozessen verbunden.17
Kennzeichnend für ein solches totalitäres Herrschaftssystem ist nach Clemens Vollnhals
der rigoros durchgesetzte Primat der Politik, monopolisiert im politischen und ideologischen
Führungsanspruch der herrschenden Staatspartei. Die Abschaffung der Gewaltenteilung,
rechtsstaatlicher Grundsätze und individueller Freiheitsrechte, wie sie bürgerlichen
Demokratien zu eigen sind, geht damit einher.18 Gesetze waren in der DDR zwar nicht
irrelevant. Viel bedeutender als ihr Wortlaut war jedoch der politische Nutzen für die
Machtelite.19 Dabei bedürfen totalitäre Regime zwecks Stabilisierung und Erhalt sowohl der
permanenten Massenbeeinflussung, Kontrolle, Repression und Ausgrenzung als auch der
Integration, die auf vielfältigen ideologischen wie sozialpolitischen Komponenten beruht.20
Im Ergebnis ließ sich die angestrebte Totalität des Marxismus-Leninismus bzw. der Vorgaben
der Machtelite in der SBZ/DDR real nie erreichen. Vor allem private Lebensräume boten
Nischen.21 Im Folgenden wird beispielhaft näher auf die Gründe dafür einzugehen sein.
Die Kader-, Entnazifizierungs- und Wiedereingliederungspolitik nach 1945 lag – von
den Sowjets abgesehen – maßgeblich in der Hand deutscher Altkommunisten. Sie waren von
der Stalinisierung des Kommunismus, der Verfolgung im Nationalsozialismus oder der
Emigration geprägt. Ihr psychotisch anmutendes Misstrauen und ihre Kontrollobsessionen
sind mit Sicherheit zum großen Teil hierauf zurückzuführen.22 Letztlich ist aber nicht genau
bestimmbar, ob und in welchem Maße persönliche Leiden in der NS-Ära zu einer
außergewöhnlich feindlichen Haltung von Personalleitern gegenüber ehemaligen NSDAPMitgliedern führten. Eine Kaderpolitik mit perfektionistischem Anspruch sollte jedenfalls
eine Wiederholung von Vernichtungserfahrungen oder -gefahren unmöglich machen und eine
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
In diesem Zusammenhang siehe die Debatte „Sozialisationshypothese versus Statushypothese“ in: Lenk,
Elite, S. 27 f.; Richert, Macht, S. 26, 260; Zimmermann, Überlegungen, S. 351; vgl. Machatzke,
Einstellungen, S. 350; Kaina, Wertorientierungen, S. 353.
Richert, Macht, S. XXXVII f.; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 72.
Nach Stalin hatte der Staat drei Hauptfunktionen: die Abwehr der äußeren und innerstaatlichen
Klassenfeinde und Gewährleistung der politischen Sicherheit der Klasse, dann die Koordinierung der
Massen und schließlich die Verwendung als Hauptinstrument des wirtschaftlichen Aufbaus, siehe: Richert,
Macht, S. XXXVIII f.; Zimmermann, Überlegungen, S. 322, 353; Ross, Karrieren, S. 111; Kowalczuk,
Stalin, S. 192 f., 194; Stern, Porträt, S. 244 ff.
Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. XIII, 97, 104 f.
Kocka, Sonderweg, S. 37.
Vollhals, Nomenklatur, S. 238; Pollack, Widersprüchlichkeit, S. 131.
Vgl. Scholten, Offiziere, S. 132.
Vollnhals, Ministerium, S. 498.
Welsh, Eliten, S. 145; Boyer, Kaderpolitik, S. 30; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 85;
Kocka, Gesellschaft, S. 547, 551 f.
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 57; Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 71; Glaeßner,
Herrschaft, S. 291.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
13
allgemeine Kontrollierbarkeit garantieren. Deshalb wurde auch nach einem strengen FreundFeind-Schema jede Abweichung von einer einheitlichen Parteilinie als Schwächung der
eigenen Reihen und Stärkung des Gegners radikal bekämpft.23 Quantitativ waren
Traditionskommunisten für den Staatsapparat, aber auch für die SED unrepräsentativ. Sie
stützten ihren Einfluss auf die Macht der Siegernation Sowjetunion sowie auf die
antifaschistische Reputation als Gegner und Opfer des NS-Regimes.24 Aufgrund der
diktatorischen Herrschaftsordnung und der Abhängigkeit der Kader von der Staatspartei
ließen sich die Personalvorstellungen der kommunistischen Machtelite ohne konsensuales
Vorgehen oder Rücksicht auf Wähler wie in der bundesrepublikanischen Demokratie
verfolgen.25 Das betraf insbesondere die Zusammensetzung der Funktionseliten.26 Das
Kadersystem funktionierte trotzdem, weil es Raum für den persönlichen Aufstieg ließ. Es
baute außerdem auf Ängsten vor Willkürakten und Zwängen auf, sich mit den realen
Lebensbedingungen zu arrangieren, sofern man nicht in den Westen floh.27
Frühzeitig verzichtete die SED-Spitze dabei in erheblichem Maße auf fachliche
Effizienz zu Gunsten politisch vorteilhaft erscheinender Mitarbeiter.28 Deren Lebensläufe
sollten in erster Linie eine ideologisch „richtige“ Ausrichtung sowie ehrliche Verbundenheit
zur Arbeiterklasse und ihrer Partei erkennen lassen.29 Durch die sukzessive Platzierung
loyaler Kräfte an wichtige Schaltstellen war unmittelbar ab 1945 zunächst die Macht zu
erobern und zu sichern.30 Über die Parteidisziplin erteilte die SED-Führung dann ihre Order
zwecks Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft.31 Kader bildeten also einen enorm
wichtigen Teil des Herrschaftssystems. Denn zumindest vor Ort und im Alltag waren sie es,
die nach Stalins bekanntem Diktum „alles entscheiden“.32 Die Kader hatten dabei als
„Rädchen“ im „Apparat“, einer nicht zufällig mechanischen Metapher, steuerbar zu sein und
wie geplant zu funktionieren.33 Ihre Aufgabe war, als Transmissionsriemen den Willen der
Machthaber in alle Bereiche der Gesellschaft hineinzutragen. Aus ideeller Überzeugung
sollten sie kämpferisch und mit Hingabe Arbeitsabläufe optimieren, ihre marxistischleninistischen Kenntnisse ständig verbessern und andere Menschen in diesem Sinne anleiten.
Hierzu war eine sorgfältige Auswahl und Veredelung des „Menschenmaterials“ notwendig.34
Gleichzeitig galt es, Personen, die in der Verwaltung etc. das System des Klassenfeindes
unterstützt
hatten
und
sich
der
neuen Linie auch nach wiederholten
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
Insofern wirkten in der SED Geheimbundtraditionen fort, ohne die das Selbstverständnis als Kaderpartei
nicht zu verstehen ist, siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 351; Eschebach, Elemente, S. 205 f.
Niethammer, Erfahrungen, S. 107 f.
Welsh, Eliten, S. 139 f.; vgl. Cammack, Assessment.
Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 201.
Zimmermann, Überlegungen, S. 350.
Erich Mielke äußerte etwa 1946 auf einer Konferenz der DVdI-Leitung mit den Polizeichefs der Länder mit
Blick auf Polizisten, es sei besser, »eine Zeitlang mit weniger guten Fachkräften zu arbeiten, aber dafür die
Sicherheit zu haben, daß die demokratische Entwicklung konsequent weitergeführt wird«, zitiert nach:
Wenzke, Wege, S. 211.
Alf Lüdtke kritisiert, dass bei der Untersuchung von Herrschaft die Wahrnehmungen, das Verhalten und die
Lebensläufe der Menschen bislang zu wenig Beachtung finden, siehe: Lüdtke, DDR, S. 8; Glaeßner,
Herrschaft, S. 220.
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 38; Wenzke, Wege, S. 207; Erler, Sicherheitspolitik, S. 75; Boyer, Kader,
S. 12; Glaeßner, Herrschaft, S. 300; vgl. die Einschränkungen bei: Rössler, Justizpolitik, S. 182; zur
Modifizierung des SED-Führungsanspruchs seit Mitte der fünfziger Jahre siehe: Glaeßner, Herrschaft, S.
80.
Merker, Zentralverwaltungen, S. 18; Richert, Macht, S. 50.
Stalin formulierte es 1935 so: »Man muß endlich begreifen, daß von allen wertvollen Kapitalien, die es in
der Welt gibt, das wertvollste und entscheidendste Kapital die Menschen, die Kader sind. Man muß
begreifen, daß unter unseren heutigen Verhältnissen „die Kader alles entscheiden“.«, zitiert nach:
Zimmermann, Überlegungen, S. 351.
Boyer, Kader, S. 7.
Schütz, Wörterbuch, S. 318, 599 f.; Zimmermann, Überlegungen, S. 322, 348; Bauerkämper / Danyel /
Hübner, Funktionäre, S. 52 ff.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
14
Umerziehungsbemühungen zu verschließen schienen, zu entfernen, damit die alte
kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaftsordnung nie wieder entstehen konnte.35
Der Begriff „Kader“ bezog sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich
auf Führungskräfte und Spezialisten, wurde und wird aber auch auf alle anderen Mitarbeiter
im Politik-, Staats- und Wirtschaftsbereich ausgeweitet.36 Als Angehörige der Funktionseliten
bzw. der Dienstklasse war ihr entscheidendes Merkmal, dass sie in unterschiedlichem
Umfang im Auftrag der Machtelite Herrschaft ausübten. Deren Vertrauen genossen sie je
nach feststellbarer Gesinnung sowie den fachlichen und organisatorischen Qualitäten.37
Insofern handelte es sich bei den Kadern vor allem in der SBZ und frühen DDR um eine
relativ heterogene Gruppe, die aufgrund ihrer eingenommenen oder potenziellen Positionen
den gleichen personalpolitischen Richtlinien unterzogen wurden.38 Dabei hielten sich die
alten Eliten je nach Branche unterschiedlich lang neben den manchmal so benannten „neuen
Menschen“.39
Die Kaderpolitik strebte nach dem gläsernen Menschen, dem auf seine biografische
Anatomie hin völlig durchleuchteten Mitarbeiter, über den man alles weiß und der einen
daher nicht (in feindlicher Absicht) überraschen kann. Undurchsichtige Elemente waren
möglichst zu meiden, um kein Risiko einzugehen. Lebensläufe wurden geradezu nach
positiven und negativen Anteilen seziert und einander gegenübergestellt.40 Detaillierte
Statistiken zu einzelnen Merkmalen sollten helfen, die politische Zuverlässigkeit berechenbar
zu machen.41 In der Kaderpolitik waren biografische Merkmale so wichtig, weil sie der SED
vor dem Hintergrund des Klassendenkens Aufschluss über soziale und politische
Orientierungen zu geben schienen. Ein intensives Kennenlernen war dazu Voraussetzung.
Dabei waren den Betroffenen die jeweiligen Kriterien für die Auswahl und die
Karriereverläufe in der DDR nicht in allen Einzelheiten bekannt.42 Sie sollen im Verlauf
dieser Arbeit einzeln vorgestellt werden.43 Nach Art einer „Kaderwaage“ wurden die
kaderpolitischen Plus- und Minuspunkte einer Biografie gemäß dem Maßstab der anvisierten
Arbeitsgebiete und Verwendungsdauer gegeneinander abgewogen. Bestimmte Belastungen
durften für sich genommen nicht zu groß ausfallen. Das Gleiche galt für mehrere
Negativmerkmale, die in ihrer Kombination zumindest für bestimmte Tätigkeitsbereiche
35
36
37
38
39
40
41
42
43
Merker, Zentralverwaltungen, S. 42; Zimmermann, Überlegungen, S. 332, 351; Boyer, Kader, S. 8.
Ursprünglich bezeichnete das Wort „Cadre“ im Zuge der französischen Revolution einen „Rahmen“ von
Berufssoldaten, die ihre Kenntnisse und Erfahrungen an ungeübte Rekruten weitergaben. Es umspannte
eine Gesamtheit von Offizieren und Unteroffizieren, die in ihrem Kompetenzbereich Soldaten führen und
zu einem Ganzen formen sollten. Eine außermilitärische Bedeutung begann der Begriff mit Lenin zu
erlangen, indem er für die Partei eine „starke Kerntruppe“ verlangte, um sich besser zu organisieren. Stalin
schließlich erstreckte die Kader auf Leitungs- und Verwaltungskräfte aus der Arbeiterklasse, die von der
Partei des Proletariats heranzubilden waren. Zu variierenden Definitionen und Begrifflichkeiten der
Kaderpolitik und ihrer Instrumente inklusive Kadernomenklatur siehe: Müller / Hodnett, Kader, Sp. 453 f.,
461 f.; Glaeßner, Herrschaft, S. 94, 222; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 379; Zimmermann,
Überlegungen, S. 322-325, 327, 329 f.; Gieseke, Genossen, S. 207; Roß, Eliten, S. 186 f.; Richert, Macht,
S. 266 ff.; vgl. Boyer, Kader, S. 7; vgl. den militärischen Bereich Ostdeutschlands, in dem vor allem
Generäle und Offiziere, mitunter aber auch Unterführer und Mannschaften unter den Kaderbegriff fielen,
in: Wenzke, Wege, S. 206 f.
Herz, Dienstklasse, S. 232; Bourdieu, Kapital, S. 52.
Zimmermann, Überlegungen, S. 324.
Roß, Eliten, S. 184.
Siehe beispielhaft die Auflistungen in Form von Kaderspiegeln mehrerer Pgs. im Regierungsapparat, in:
DO 1 / 26.0, 6565, Ministerium für Industrie, HA Steine und Erden, Personalleitung, Aktenspiegel, vom
02.10.1950; ebd., Ministerium für Industrie, HA Chemie, Personalleitung, Kaderspiegel Hans S[...], vom
02.10.1950; ebd., Ministerium für Industrie, HA Chemie, Personalabteilung, Kaderspiegel Oswald G[...],
vom 02.10.1950; DO 1 / 26.0, 17173, Ministerium der Finanzen, Georgino, Bericht über die Kaderarbeit
des Ministeriums der Finanzen für das Jahr 1954, vom [07].01.1955, S. 19 f.
Wenzke, Wege, S. 206, 240.
Bericht, S. 23; vgl. Lorenz, Elitenwandel, S. 87.
Zu Kriterien der Kaderpolitik siehe: Müller / Hodnett, Kader, Sp. 456; Boyer, Kader, S. 8 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
15
unakzeptabel erschienen. Trotz immer wieder auftauchender Pauschalisierungen sollte
diesbezüglich bei ehemaligen Nationalsozialisten eigentlich individuell verfahren und von
Fall zu Fall entschieden werden, inwiefern eine Wiedereingliederung möglich war.44 Für ihre
Resozialisation in die sich wandelnde Gesellschaft – begrifflich im Grunde ein seltsamer
Widerspruch, da der ursprüngliche soziale Rahmen nicht mehr existierte – gewann dabei eine
„positive“ Entwicklung nach 1945 gegenüber einer „negativen“ vor Kriegsende im Laufe der
Zeit an Bedeutung.45
Marxismus-Leninismus und Kaderpolitik wurden grundsätzlich in allen Positionshöhen
und gesellschaftlichen Bereichen wie Staat, Partei, Wirtschaft, Militär etc. angewandt, je nach
Bedeutung für die Machtfrage nur in unterschiedlicher Intensität. Dies schloss die
Funktionseliten oder die Dienstklasse mit ein. Eine einheitliche, allgemein anerkannte
Definition dieser Begriffe fehlt. Der Elitebegriff bereitet bei der Anwendung auf
kommunistische Diktaturen Probleme.46 Denn ihrem Selbstverständnis nach waren die
Kommunisten als Angehörige der sozial bislang untersten und am meisten benachteiligten
proletarischen Schicht, wie in ihren Augen auch die gesamte DDR-Gesellschaft, egalitär.47
„Eliten“ galten dort als überhebliche Oberschicht in einem bürgerlich-kapitalistischen
Ausbeutersystem und ein Volk mit Eliten nur als bedingt selbst handlungsfähig.48 Zu
antielitären Vorbehalten kam die Ausschaltung bzw. der Exodus zahlreicher Eliten hinzu. Das
führt in der Forschung sogar zu der Frage, ob die DDR ein Land ohne Eliten war. Gleichwohl
gab es eindeutig elitäre Elemente wie eine verschieden stark ausgeprägte Nähe zur Macht und
ein entwickeltes ideologisches Bewusstsein, was die Masse von „antielitären Eliten“
unterschied.49
Unter der sozialistischen Dienstklasse lassen sich im vorliegenden Fall diejenigen
Angehörigen des Staatsapparates zusammenfassen, die mehr als rein technische Arbeiten
verrichteten und über einen – wenn auch noch so kleinen – inhaltlichen Gestaltungsspielraum
verfügten. Innerhalb dieser Gruppe ragten die Funktionseliten als operative Spitze mit einem
größeren Maß an Kontroll- und Entscheidungsbefugnissen heraus. Sie bestanden aus
Mitarbeitern in strategischen Positionen. Systemstabilisierend setzten die Funktionseliten die
politischen Leitlinien, Gesetze und Verordnungen der Machtelite um, die wiederum aus der
SED-Spitze und der sowjetischen Besatzungsmacht bestand.50 Wegen der in Grundsatzfragen
praktisch fehlenden, aber bei ihrer Realisierung vorhandenen dauerhaften Einflussnahme auf
gesellschaftlich bedeutsame Entscheidungen war die Macht der DDR-Funktionseliten
ambivalent.51 Dennoch ist die Erforschung ihrer Rolle im Herrschaftssystem eminent wichtig,
44
45
46
47
48
49
50
51
DC 1 / 2570, XVIII/1/2, Ulbricht, an ZKK, Lange, vom 17.01.1949.
DO 1/8/01, Bl. 5; DO 1 / 26.0, 17163, [MdI,] HA Kader, Abteilung Finanzen und Volksbildung, Analyse
der Kaderarbeit des Ministeriums für Arbeit im 2. Quartal 1954, vom 29.07.1954, S. 2; DO 1 / 26.0, 17602,
Ministerium des Innern, Personalabteilung, Vierteljährliche Berichterstattung, an MdI, Abteilung
Personalstatistik, vom 04.07.1950, S. 5.
Zur Definition verschiedener Elitebegriffe siehe: Bauerkämper, Elite, S. 19 f.; Noack, Eliten, S. 785 f.;
Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre; Stammer, Elitenproblem; Schluchter, Elitebegriff; Schelsky,
Arbeit; Scheuch, Continuity; Geißler, Umbruch; Herz, Dienstklasse, S. 231.
Welsh, Eliten S. 138.
Hübner, Einleitung, S. 12.
Arnd Bauerkämper in dem Workshop „Wertorientierungen und Lebensstile des Führungspersonals in
Politik, Kultur und Wirtschaft der SBZ/DDR“ am 13.06.1997 im Zentrum für Zeithistorische Forschung
Potsdam; vgl. Gieseke, Mitarbeiter, S. 129; zur vertikalen und horizontalen Integration bzw. dem
Verhältnis von Führungsgruppen und Bevölkerung einerseits und dem Verhältnis von verschiedenen
Teileliten untereinander andererseits siehe: Kaina, Wertorientierungen, S. 352; Bauerkämper, Elite, S. 27 f.
Rubin, Reinhold: Unerläßliche Transmissionsriemen der SED. In: Das Parlament 53 (26.12.1997), S. 13; zu
Studien über (politische) DDR-Eliten siehe: Schneider, Funktionselite, dort insbesondere S. 33.
Nach einer relativ engen Definition weisen sich Eliten durch ihre gesellschaftliche Macht aus, die zudem
über die notwendigen Mittel zur Durchsetzung von Entscheidungen verfügen. Ein anderes Kriterium ist die
gesellschaftliche Reputation. All dies war bei funktionalen Eliten in der DDR nur begrenzt vorhanden.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
16
zumal Untersuchungen der politischen Elite Gefahr laufen, nicht nur das gesellschaftliche
Umfeld, in dem die Elite agiert und aus dem sie kommt, sondern auch die organisatorische
Umsetzung des Führungswillens in der Gesellschaft zu vernachlässigen.52 Als Resümee lässt
sich ziehen: Klassenkampf war gleich Machtkampf, und Machtpolitik war gleich
Kaderpolitik.
0.1
Fragestellung
Mit Blick auf die Quellenlage und die angewandte Methodik sei an dieser Stelle auf
umfangreiche Darstellungen in der Dissertationsschrift verwiesen.53 Die Ziele dieser
wissenschaftlichen Untersuchung sind jedoch vorab unbedingt zu erläutern. Im Weiteren
skizziere ich daher zunächst die Fragestellung, die ihr zugrunde liegt. Nach der
bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 stand nicht nur die
Bundesrepublik, sondern auch die SBZ/DDR vor der Aufgabe, die ehemaligen NS„Volksgenossen“ in eine systemtreue Bevölkerung zu verwandeln. Hinsichtlich des
Staatsapparates kam das Erbe des Berufsbeamtentums hinzu. Nach Beendigung der
Entnazifizierung mussten in diesem Zusammenhang Millionen von ehemaligen Mitgliedern
der NSDAP und ihrer Gliederungen in die postfaschistische Gesellschaft wiedereingegliedert
werden. Wie und mit welchem Ergebnis ging dies unter den Bedingungen einer sich rasch
herauskristallisierenden stalinistischen Diktatur vonstatten? Erfolgte tatsächlich eine
Reintegration der „passiven“, d.h. der so genannten nominellen NSDAP-Mitglieder in Beruf
und Gesellschaft, wie es die Rechtslage und die Verlautbarungen von Spitzenpolitikern
offerierten? Blieben demgegenüber „aktive“ Nationalsozialisten weiterhin von wichtigen
Funktionen ausgeschlossen? Von vordringlichem Interesse ist, in welchem Ausmaß und unter
welchen Konditionen die SED-Führung ihre alten „Erzfeinde“ in Kernbereiche des
Herrschaftssystems vorrücken ließ.54
Aus der Beantwortung dieser Fragen für die höchsten Staatsorgane erhoffe ich mir auch
verallgemeinerbare Rückschlüsse für andere Sektoren als die Verwaltung sowie für die
ostdeutsche Gesamtbevölkerung.55 Die Analyse dieser Vorgänge geschieht schließlich vor
dem Hintergrund der Formierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der gesamten
SBZ/DDR, nur eben mit Fokus auf die Eliten. Wie sah dabei das Mischungsverhältnis der
„alten“ und der „neuen“ Eliten in der Regierung aus? Inwiefern zirkulierten sie oder
reproduzierten sich?56 Welche Reibungspunkte offenbarte der Synchronismus von Kontinuität
und Wandel in der Transformationsphase vom NS-Regime zur DDR? Gemeint sind unter
anderem Konflikte mit den Opfern des Nationalsozialismus und der SED-Basis, die eine
Politik der Reintegration NS-Belasteter auslöste.57 Gab es unbeabsichtigte Entwicklungen und
Widerstände? Inwiefern besaß die Heranziehung nationalsozialistisch belasteter
Funktionseliten lediglich einen Übergangscharakter? In welchem Maße gehörten frühere
Mitglieder der NSDAP und anderer kompromittierter Organisationen dauerhaft zur „neuen“
52
53
54
55
56
57
Nicht immer bzw. gar nicht gegeben waren diese Merkmale zum Beispiel bei politisch oppositionellen
Gegeneliten, kulturellen und Bildungseliten, siehe: Hübner, Einleitung, S. 9 f.; Welsh, Eliten S. 138.
Zimmermann, Überlegungen, S. 346-348.
In der genannten Reihenfolge in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 23-38, 39-44.
Gieseke, Frage, S. 131 f.
Zumal der staatliche Sektor ja andere Bereiche wie die Wirtschaft dominierte, siehe: Zank,
Zentralverwaltungen, S. 255.
Welsh, Kaderpolitik, S. 107.
Danyel, SED, S. 182.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
17
Intelligenz, deren Herausbildung in der DDR-Staatsverwaltung bislang kaum erforscht
wurde?58
Grundlegend für die Beantwortung dieser Fragen ist das Spannungsverhältnis zwischen
politischen Säuberungswünschen einerseits sowie ökonomischen und verwaltungstechnischen
Sachzwängen andererseits, also die Differenz zwischen Prinzipien und Pragmatismus. Über
die Verteilung der Personalressourcen verfügte im Wesentlichen die SED, auch gegen den
Willen breiter Bevölkerungsschichten. In diesem Zusammenhang spreche ich von
„Kaderverantwortlichen“. Dahinter verbergen sich verschiedene Personalleiter und
Kontrollgremien im Partei- und Staatsapparat sowie bei der sowjetischen Besatzungsmacht,
die die Kaderpolitik in teilweise hierarchischer Ordnung beaufsichtigten. Die Pgs. hingegen
hatten nur wenig in der Hand. Sie besaßen nicht die Macht des freien Urnengangs oder der
juristischen Prozessführung, wie es in einem Rechtsstaat üblich ist. Außerdem verloren sie
einen Großteil ihrer alten Förderer in der Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Justiz. Wo lag
nun angesichts dessen die Schnittstelle: Welche Personen galten als integrationsfähig und
welche nicht? Über welche Handlungsspielräume verfügten Staat und Partei im Rahmen ihrer
Machtausweitung? Letzteres ist aus Sicht der früheren Nationalsozialisten ebenfalls unter die
Lupe zu nehmen. Welche Motive bewegten sie, sich den Kommunisten anzudienen und sich
unter dem Banner von Hammer und Zirkel für den Aufbau der neuen „antifaschistischdemokratischen Ordnung“ einzusetzen?59 Inwiefern gab es Biografiefälscher, die ihre wahre
NS-Vergangenheit verheimlichten, und welche Konsequenzen drohten ihnen? Unzureichend
erforscht ist außerdem die Verwendung realer oder vermeintlicher NS-Belastungen gegen
politische Gegner der SED.60
Von entscheidender Bedeutung für die Wiedereingliederung NS-belasteter Personen in
den zentralen Staatsapparat war die Kaderpolitik. Das Menschen- und Weltbild, das hinter ihr
stand, ist der Schlüssel zum Verständnis der immer wieder auftauchenden Phänomene, dass
Stützen des NS-Regimes in der DDR die Chance zu einer zweiten Karriere erhielten. Aus
diesem Grund widme ich der Systematik der Kaderpolitik in all ihren Einzelheiten größte
Aufmerksamkeit. Wie war dieser Schaltplan geordnet und was war die antreibende Kraft, die
ihn mit Leben füllte? Hierzu gehört eine möglichst genaue Rekonstruktion kaderpolitischer
Merkmale sozialer und politischer Art. Gab es zum Beispiel Karrieremuster unter den
ehemaligen Parteigenossen der NSDAP, die zeitgenössisch auch einfach „Pgs.“ hießen?
Welche Eigenschaften brachten sie mit sich, die für eine Arbeit in den
Regierungsdienststellen qualifizierten? Welche politisch-ideologischen Einstellungen und
Wandlungen kamen vor? Was geschah mit den nicht Anpassungsfähigen und –willigen?61
Spielte ein Hang zum Totalitären, wie er für Nationalsozialismus und Kommunismus
gleichermaßen markant war, eine Rolle oder gab es mit der kommunistischen Machtelite
mehr Trennendes als Verbindendes?62 Zurecht weisen Historiker darauf hin, dass eine
Erforschung früher DDR-Eliten nicht ohne Berücksichtigung der Zeit vor dem Ende des NSRegimes zu bewerkstelligen ist.63 Daher sind sämtliche Aspekte nach Möglichkeit über die
Zäsuren 1918, 1933 und 1945 hinweg zu verfolgen. Aus Kapazitätsgründen werden die im
engeren Sinne politischen Erfahrungen und Verhaltensweisen ehemaliger Nationalsozialisten
aus der Zeit vor 1945 in der hier vorliegenden gekürzten Ausgabe jedoch nicht dargestellt, das
Gleiche gilt für zahlreiche grafische Abbildungen der im Text erläuterten statistischen
Erhebungen, darüber hinaus für vier umfangreichere individuelle Beispiele zu hohen
Staatsfunktionären und zusammenfassende Kurzbiographien zu weiteren in der Untersuchung
58
59
60
61
62
63
Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 67.
Niethammer, Entnazifizierung.
Danyel, SED, S. 182.
Vgl. Welsh, Eliten, S. 143.
Gieseke, Frage, S. 131 f., 147.
Bauerkämper / Danyel / Hübner, Funktionäre, S. 67.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
18
erwähnten NS-belasteten Kadern; es sei hier auf die entsprechenden Ausführungen in der
Dissertation verwiesen.64
Alle kaderpolitischen Detailbeschreibungen sollen zum Versuch einer Merkmal- und
Typenbildung führen. Wie homogen oder heterogen war die Gruppe der im Staatsapparat
tätigen NS-Belasteten im Vergleich zur übrigen Dienstklasse? Der Umgang mit der
Vergangenheit durch die ehemaligen Nationalsozialisten, die SED und andere ist in diesem
Zusammenhang zu umreißen, natürlich unter Berücksichtigung des jeweiligen
Erkenntnishorizontes. Darüber hinaus ist zu ergründen, ob und wie sich die Ansprüche an die
Biografie der Mitarbeiter des zentralen ostdeutschen Verwaltungsapparates veränderten. Zu
beachten ist hierbei der Einfluss außen- und innenpolitischer Rahmenbedingungen auf die
Personalpolitik. Andererseits steht die Frage im Raum, ob die Kader- und
Reintegrationspolitik, so wie sie sich ereignete, die DDR festigte oder eher destabilisierte. So
gut es geht, sollen dabei neben den Eliten die Erfahrungen des Volkes und die Kontinuität der
Gesellschaft Beachtung finden, um so die Voraussetzungen, auf die das SED-Regime stieß,
zu erhellen.65 All diese Facetten führen schließlich zur Neubewertung des antifaschistischen
Gründungskonsens´ der DDR, eines Staates, der die restlose Überwindung des
nationalsozialistischen Erbes propagierte. In welchem Maße sind Korrekturen an diesem Bild
vorzunehmen?66 Welche Lehren lassen sich schließlich mit Blick auf andere
Transformationsprozesse ziehen? Egal ob dies vergangene, gegenwärtige oder kommende
betrifft – wie wandeln sich Menschen und wie erneuern sich Gesellschaften?
0.2
Forschungsstand
Seit Dezember 2003, dem Redaktionsschluss der Dissertationsauflage dieses Buches, hat es
einige Forschungsarbeiten gegeben, die den Themenkomplex der Integration von NSBelasteten nach 1945 in Deutschland bzw. speziell in der DDR aufgreifen.67 Von diesen hat
die Studie der Unabhängigen Historikerkommission des Bundesaußenministeriums „Das Amt
und die Vergangenheit“, an der ich in bescheidenem Maße mitarbeiten durfte, das größte
Medienecho hervorgerufen. Sie beschreibt die Geschichte des Auswärtigen Dienstes im
Nationalsozialismus, den Umgang mit dieser Vergangenheit nach Wiedergründung des
Auswärtigen Amtes 1951 und die Frage personeller Kontinuität bzw. Diskontinuität nach
1945. Leider hat die Kommission in ihrem Buch bei der Personalpolitik auf einen Vergleich
mit dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR verzichtet. Ein solcher
Vergleich mag für die Beantwortung der vorgegebenen Fragestellungen nicht unbedingt
erforderlich gewesen sein. Als echtes Defizit erscheint jedoch, dass die Rolle des
Ministeriums für Staatssicherheit bis auf den Aspekt der Veröffentlichung diverser
„Braunbücher“ über westdeutsche Funktionsträger in Staat und Gesellschaft komplett
ausblendet wird. Heikle Fragen nach dem Wissen des MfS über die NS-Belastung
bundesdeutscher Diplomaten und nach dem Gebrauch dieses Wissens bei der Verfolgung
ostdeutscher Interessen bleiben deshalb offen.68
64
65
66
67
68
Kuhlemann, Kader (2005), insb. S. 345 ff., 842 ff., 1014 ff., Statistik-Diagramme zu bestimmten Themen
finden sich in der Dissertation in den gleichnamigen Kapiteln.
Niethammer, Erfahrungen, S. 95 f.
Gieseke, Frage, S. 131 f.
Zur Übersicht auf den damaligen Forschungsstand siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 14-22.
Conze, Amt, S. 12; zur Kritik an der Studie und ihrer fast völligen Ignorierung von BStU-Unterlagen siehe:
Kuhlemann, Jens: „Das Amt“ blendet die Rolle der Stasi aus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom
05.11.2010, S. 9. Mit Blick auf bundesrepublikanische „zweite Karrieren“ siehe auch: Gassert, Kurt Georg
Jens Kuhlemann – Braune Kader
19
Mit Blick auf das ostdeutsche Gegenstück zum Auswärtigen Amt haben eigene
Recherchen ergeben, dass der Anteil der den Kaderabteilungen bekannten ehemaligen
NSDAP-Mitglieder am Verwaltungspersonal des DDR-Außenministeriums (ohne technische
Kräfte) im Dezember 1949 bei Null lag. Im Februar 1950 erreichte ihr Wert kurzzeitig 5,1%,
sank dann wieder und schwankte ab Juni 1951 bis Dezember 1957 zwischen Null und knapp
über 1% (absolut: höchstens acht Personen pro Erhebungszeitpunkt).69 Darüber hinaus ist das
Bekanntwerden einer verheimlichten NSDAP-Mitgliedschaft im Fall einer jungen
Angestellten belegt, die umgehend aus dem Ministerium ausschied.70 Bei den
Auslandsvertretungen lag der NSDAP-Anteil an den Verwaltungsangestellten 1956-1958 bei
höchstens 2,8% (entspricht maximal acht Pgs. absolut) und war also ähnlich niedrig.71 Der
Anteil ehemaliger Wehrmachtsoffiziere im DDR-Außenministerium sank in den Jahren 1951
bis 1956 von 2,6% auf 0,7% (ohne technisches Personal). Eine durchgängige Bezifferung des
Anteils früherer Beamten bis Ende der fünfziger Jahre ist wegen häufig wechselnder
Erhebungskategorien schwierig. Er lag jedoch – egal, ob mit oder ohne technische Kräfte –
bezüglich der Verwaltungsangestellten meist bei weniger als 1%, selbst die „Spitzenwerte“
rangierten bei unter 2%.72 Auf die Erläuterung weiterer kaderpolitischer Merkmale der NSBelasteten bzw. derer im MfAA, die die SED wie frühere Offiziere und Beamte zu den
Ausführenden der NS-Politik zählte, wird an dieser Stelle aus Kapazitätsgründen verzichtet.
Die vorstehenden Angaben unterstreichen aber bereits den radikalen Bruch der DDR mit
Angehörigen der NS-Dienstklasse, insbesondere dem diplomatischen Corps des
Reichsaußenministeriums, deren Mitglieder in zahlreichen Fällen im neuen Auswärtigen Amt
in Bonn weiterwirkten. Passend hierzu fanden sich im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten vom Anfang des Jahres 1950 abgesehen (Hauptabteilungsleiter Bernhard
Mutius, persönlicher Referent von Minister Dertinger) bis 1954 die ohnehin selten vertretenen
ehemaligen NSDAP-Mitglieder nur in den unteren und mittleren Segmenten der
Verwaltungsangestellten, d.h. bis hinauf zum Referent und Oberreferent, darüber hinaus bei
den technischen Kräften. Erst ab 1955 drangen die ersten 1-2 Pgs. wieder in die Gruppe der
69
70
71
72
Kiesinger; zur Kritik an der Vergangenheitsbeurteilung des Biografen siehe: Kuhlemann, Jens: Kiesingers
Propagandakrieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 07.05.2004, S. 9; in diesem Zusammenhang
ferner: ders.: Moralisch bedenklich. [Theodor Heuss: ein Journalist im Nationalsozialismus.] In:
Süddeutsche Zeitung, vom 24.10.2003, S. 11.
DO 1 / 26.0, 17099, LXXXI/49/7/1 [1.12.1949]; DO 1 / 26.0, 17101, XCVIII/50/4/3 [10.2.1950], CIX/50/6
[1.3.1950], CIII/50/6 [31.3.1950], CVIII/50/4 [30.4.1950], CX/50 [31.5.1950], CXI/50 [30.6.1950]; DO 1 /
26.0, 17107, CXXXIV/50/2/1 [31.7.1950], CXXXIX/50/2/1 [31.8.1950]; DO 1 / 26.0, 17104,
CXLVIII/[...]/4/3 [30.9.1950], CXLIX/50/2/1 [31.10.1950]; DO 1 / 26.0, 17107, CLXX/50/1/1
[30.11.1950]; DO 1 / 26.0, 17341, 39/51/4/1 [31.12.1950]; DO 1 / 26.0, 17346, 88/51/7/2, Bl. 21
[31.3.1951]; DO 1 / 26.0, 17348, 114/51/3/2, Bl. 20 [30.6.1951]; DO 1 / 26.0, 17359, 291/51/7/1, Bl. 19
[30.9.1951]; DO 1 / 26.0, 17321, 1/52/8/1, Bl. 18 [31.12.1951]; DO 1 / 26.0, 17330, 39/52/8/1, Bl. 19
[31.3.1952]; DO 1 / 26.0, 17331, 53/52/8/1, Bl. 20 [30.6.1952]; DO 1 / 26.0, 17334, 83/52/8/1, Bl. 27
[15.9.1952]; DO 1 / 26.0, 17304, 1/53/8/1, Bl. 29 [15.12.1952]; DO 1 / 26.0, 17307, 28/53/8/1, Bl. 29
[15.3.1953]; DO 1 / 26.0, 17308, 37/53/7/1, Bl. 31 [15.6.1953]; DO 1 / 26.0, 17312, 52/53/7/1, Bl. 31
[15.9.1953]; DO 1 / 26.0, 17470, IV/53, 1/54/7/6, Bl. 27 [15.12.1953]; DO 1 / 26.0, 17476, 29/54/5/4, Bl.
25 [15.6.1954]; DO 1 / 26.0, 17476, IV/54, 2/55/5/1, Bl. 24 [15.12.1954]; DO 1 / 26.0, 17453, IV/55,
1/56/4/4, Bl. 18 [15.12.1955]; DO 1 / 26.0, 17447, 1/57/4/4, Bl. 17 (Angaben ohne Staatssekretär und
Stellvertreter des Ministers) [15.12.1956]; DO 1 / 26.0, 17445, IV/57, 1/58/1/1, Bl. 18 f. [15.12.1957].
DO 1 / 26.0, 17305, 12/53/2/1, S. 7, Ministerium des Innern, HA Personal, Namentliche Aufstellung der
aus politischen und kriminellen Gründen aus den Regierungsdienststellen ausgeschiedenen Personen im
Verlaufe des Jahres 1952, vom 27.01.1953; DO 1 / 26.0, 17304, vermutlich zu 4/53/2/1 gehörig, Bl. 12
(nach anderer Nummerierung Bl. 15), Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Leiter der
Personalabteilung, Rathmann, Erläuterungen zum Berichtsbogen B, Spalte 22/23, Berichtsperiode v.
15.9.1952 bis 15.12.1952, vom 30.12.1952.
DO 1 / 26.0, 17447, 1/57/4/4, Bl. 18 [15.12.1956]; DO 1 / 26.0, 17445, IV/57, 1/58/1/1, Bl. 19/1
[15.12.1957]; DO 1 / 26.0, 17446, 9/58/1/1 [15.12.1958].
Quellen siehe Anmerkung 3.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
20
leitenden Angestellten vor.73 Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten gehörte also
zu denjenigen Ressorts, in denen besonders hohe kaderpolitische Ansprüche galten. Die
Repräsentanten der DDR im Ausland sollten selbst im Vergleich zu anderen DDRMinisterien auf überdurchschnittliche Weise einen Schnitt mit der faschistischen
Vergangenheit Deutschlands verkörpern. Ein weiterer Beleg hierfür ist, dass das MfAA zum
1.12.1949 das einzige Ministerium war, das nicht nur keine ehemaligen NSDAP-, SA- und
SS-Mitglieder beschäftigte, sondern auch keine Angehörigen irgendwelcher anderen NSOrganisationen, ja nicht einmal Mitglieder der HJ.74
Die DDR-Forschung hat in jüngster Zeit die Frage personeller Kontinuitäten von NSBelasteten vor allem mit Blick auf lokale und regionale SED-Parteifunktionäre sowie am
Beispiel des Führungspersonals diverser Wirtschaftsbetriebe untersucht. So haben sich
Heinrich Best, Axel Salheiser und Sandra Meenzen mit SED-Funktionären in Thüringen
befasst, die vor 1945 der NSDAP angehört hatten.75 Bemerkenswert ist dabei hinsichtlich der
untersuchten 263 Ersten und Zweiten Bezirks- und Kreissekretäre der SED, dass 36 der
NSDAP angehört hatten und dass – mit einer einzigen Ausnahme – deren Mitgliedschaft zur
Nazi-Partei in internen SED-Unterlagen nicht auftaucht. Es handelte sich also im großen Stil
um Biografiemanipulationen. Im Unterschied zur DDR-Staatsverwaltung fällt in diesem rein
politischen Sektor der Anteil an Pgs. auf, die besonders jung waren (der ganz überwiegende
Teil wurde in den Zwanziger Jahren geboren und kam offenkundig aus der HJ zur NSDAP).76
Dies passt zu der Beobachtung, dass die SED als mutmaßlich ideologisch leichter erziehbares
Rekrutierungsreservoir vor allem junge Menschen im Blick hatte. Demgegenüber wiesen alte
Fachkräfte in der Staatsverwaltung wegen ihrer Berufskompetenz, die sie sich durch
langjährige Praxis erworben hatten, ein überdurchschnittlich hohes Alter auf.77 Diese
Merkmale wiederum hatten Auswirkungen auf den Grad der Verantwortlichkeit für das
eigene politische Handeln und die Umstände der NSDAP-Mitgliedschaft, die die
Kaderverantwortlichen mit anderen Kaderkriterien abwogen.
Axel Salheiser, Armin Müller, Dietmar Remy und weitere Historiker haben sich
außerdem mit (Dis-)Kontinuitäten ehemaliger Nationalsozialisten in den Leitungen von DDRWirtschaftsbetrieben befasst. Müller stellt bei neun großen Unternehmen eine Häufung von
Entlassungen solcher Geschäftsführer, Vorstände und Eigentümer, die NSDAP-Mitglied
waren, relativ rasch in der SBZ-Phase fest. Die „Brückenfunktion“ hin zum Typ des
sozialistischen Managers aus der neuen Intelligenz wurde entweder zunächst von Managern
ausgefüllt, die bei Kriegsende betriebsintern in ähnlichen Funktionen wie die Vorgenannten
standen, aber keine Pgs. waren, bzw. spätestens ab 1948 durch andere Leiter aus der Gruppe
der alten Intelligenz, die ebenfalls nicht der NSDAP angehörten. Letztere schieden dann in
der Regel erst Ende der 1950er Jahre aus. Es handelte sich also in diesen Wirtschaftsbetrieben
mit Blick auf alte Fachkräfte in Führungspositionen nicht um einen schnellen und radikalen,
sondern um einen länger andauernden Elitenwechsel. Das Austauschtempo in den obersten
Hierarchien war damit deutlich langsamer als in den DDR-Regierungsdienststellen.78 Dies
unterstreicht die Feststellung, dass die Machtelite auf umso strengere „Personalsauberkeit“
73
74
75
76
77
78
Quellen siehe Anmerkung 3.
DO 1 / 26.0, 17099, LXXXI/49/7/1 [1.12.1949].
Best, Ersten; ders., Formation; ders., Parteiherrschaft; ders. / Salheiser, Shadows; Best / Meenzen, SEDFunktionäre; Meenzen, Klassenbewusstsein.
Meenzen, Klassenbewusstsein, S. 52 f..
Siehe Kapitel „Alter“.
Salheiser und Müller lassen leider beide die zahlreichen Kaderstatistiken zu DDR-Wirtschaftsbetrieben aus
den 1950er Jahren, die das Ministerium des Innern verwahrte, unberücksichtigt. Quellenangaben zu den
genannten Statistiken in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 35; Müller, Brüche; ders., Netzwerke, S. 141-145,
157 f.; Salheiser, Inequality; ders., Elite; ders., Rekrutierungsmuster; Remy, Funktionselite; ders.,
Kaderauswahl; Stutz, Swastika; Wagner-Kyora, Selbst.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
21
achtete, je wichtiger Institutionen macht- und sicherheitspolitisch waren. Wirtschaftsbetriebe
gehörten hier zu den als sekundär eingestuften Einrichtungen.
Unterschiedliche Einschätzungen innerhalb der Forschung bestehen vor allem bei zwei
Gesichtspunkten: zum einen bei der Frage der Aussagekraft und Zuverlässigkeit DDR-intern
erstellter Personalstatistiken; zum anderen in Hinblick auf die These vom „gemeinsamen
Beschweigen“ einer NS-Vergangenheit durch den Betroffenen selbst sowie durch den oder
die zuständigen SED-Verantwortlichen. So vertritt Sandra Meenzen die These, dass die SED
eine NSDAP-Zugehörigkeit bei vielen Thüringer SED-Parteisekretären zwar gewusst, aber
nicht in den Kaderakten vermerkt habe. Sie führt an, dass die hohe Zahl der
Fragebogenfälscher, die ihre NSDAP-Mitgliedschaft verborgen hatten, in dieser
Funktionärsgruppe anders nicht erklärbar sei. In diesem Sinne schreibt auch Axel Salheiser
mit Blick auf den laut ZKDS bei Null liegenden Anteil ehemaliger Pgs. bei
Kombinatsdirektoren, dass es verbreiteter Praxis entsprochen habe, dass die Kaderabteilungen
eine NSDAP-Zugehörigkeit von Funktionsträgern trotz besseren Wissens nicht in den
Zentralen Kaderdatenspeicher eingegeben hätten. Zur Begründung nennt Salheiser, es habe
eine Gefahr bestanden, dass sonst bei Bekanntwerden der genauen Integrationsausmaße ein
Rückschlag für die antifaschistische Propaganda der DDR zu erwarten gewesen sei.
Außerdem hätte in einem solchen Fall die Autorität der Kader gegenüber unterstellten
Mitarbeitern in den Betrieben Schaden nehmen können.79 Unklar bleibt hierbei die Frage, wie
realistisch es war, dass die Öffentlichkeit oder einfache Betriebskollegen die entsprechenden
Dokumente hätten in die Hände bekommen können.
Die von Sandra Meenzen genannten Quellenfunde, die angeblich ein gemeinsames
Beschweigen belegen, scheinen mir zum einen zahlenmäßig wenige zu sein. Zum anderen
beziehen sie sich nur auf extrem kurze Aussagen Beteiligter, die sich im jeweiligen Fall auch
anders interpretieren lassen. Bemerkenswert bleibt gleichwohl der hohe Prozentsatz an
Fragebogenfälschern unter den Thüringer SED-Sekretären, die zuvor Pg. waren. Mein
Erklärungsansatz für dieses Phänomen ist, dass bei den hauptamtlichen Parteifunktionären
eine besonders strenge Kaderpolitik Anwendung fand – und ehemalige Pgs. daher von
vornherein nur geringe Chancen hatten, in diese Gruppe aufzusteigen. Wer trotzdem eine
solche Parteikarriere anstrebte, hat eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft besser verheimlicht.
Mit Blick auf die Kombinatsdirektoren führt auch Axel Salheiser nichts an, was über eine
Vermutung bzw. Interpretation hinausgeht. Die Abwesenheit ehemaliger Pgs. in dieser einen
von mehreren im ZKDS erfassten Kadergruppen scheint mir eher Ausdruck des Bestrebens
der SED zu sein, die Führungsposten besonders wichtiger Einrichtungen mit
überdurchschnittlich vertrauenswürdigen Kadern zu besetzen. Um die Fähigkeiten von
Fachleuten mit politisch zwiespältigem Hintergrund zu nutzen, wurden diese meist in der
unteren Führungsebene oder in mittleren Positionen eingesetzt, wie das bei den
Fachdirektoren der Kombinate zutraf. In unteren Hierarchie-Stufen finden sich laut Salheiser
demgegenüber vergleichsweise wenige frühere Pgs. Das ist meines Erachtens nicht mit
unterschiedlicher Kodierungspraxis zu erklären, sondern damit, dass auf unteren Posten
belastete Kräfte leichter durch unbelastete zu ersetzen waren als in darüber rangierenden
Personalsegmenten.80 Um die skizzierten Thesen zu überprüfen, sind letztlich weitere Studien
zu den Wirtschaftskadern (in den Kombinaten) und zu SED-Funktionären in anderen DDRBezirken unter stärkerer Heranziehung von BStU-Unterlagen erforderlich.
Aufgrund dieser Ausführungen überzeugen mich die Thesen vom gemeinsamen
Beschweigen einer NSDAP-Mitgliedschaft durch Kader und Kaderleiter sowie von der
internen Manipulation der Kaderstatistiken nicht. Ich halte in beiden Punkten andere
Erklärungen für wahrscheinlicher. Während meiner mehrjährigen Recherchen zum zentralen
Staatsapparat ist mir kein einziger Fall bekannt geworden, bei dem ein Kaderleiter eine ihm
79
80
Meenzen, Klassenbewusstsein, S. 51, 54, 60-64, 66-76; Salheiser, Inequality, 125 f.
Siehe Kapitel „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
22
bekannte NSDAP-Zugehörigkeit eines Mitarbeiters nicht auch aktenkundig gemacht hätte.
Jedenfalls habe ich keine Quelle gefunden, die das Szenario eines gemeinsamen
Beschweigens durch Personalverantwortliche und dem betroffenen Kader wörtlich beschreibt
– und andere Forscher meines Wissens nach auch nicht. Nach meinen Erfahrungen haben die
Kaderabteilungen in der DDR und ganz besonders das MfS bei ehemaligen
Nationalsozialisten vielmehr alles dafür getan, jede kaderrelevante Information schriftlich
niederzulegen. Wenn man einem Pg. wohlgesonnen war, hat man ihm eine positive
Beurteilung gegeben, aber seinen biografischen Makel nicht unterschlagen. Die Gefahr für
Kaderleiter oder andere SED-Funktionäre, von der Parteiführung oder der DDRStaatssicherheit im Falle einer gemeinschaftlichen Verheimlichung von NS-Belastungen
verfolgt zu werden und Strafen zu erhalten, war dann doch zu groß.81
Außerdem waren zu viele verschiedene Personen und Einrichtungen mit ein und
derselben Personalie befasst, als dass sich eine NSDAP-Mitgliedschaft mit guter Aussicht auf
Erfolg gegenüber höheren Personalstellen hätte verbergen lassen können. Sehr oft wusste der
eine Personalverantwortliche nichts von den Erkenntnissen des anderen und am Ende liefen
alle Fäden beim MfS zusammen. Hätte ein Kaderleiter versucht zu verheimlichen, was andere
Personalstellen und der Staatssicherheitsdienst längst wussten, wäre er in erhebliche
Erklärungsnot geraten. Die SED forderte Ehrlichkeit gegenüber der Partei. Sie wollte den
gläsernen Kader und lenkbare Apparate, schon allein um Pg.-Konzentrationen zu vermeiden
sowie westaffine Sabotage- und Spionagetätigkeiten faschistoider Elemente auszuschließen.
Deshalb war es für sie wichtig, dass die Kaderleiter, die in der Regel aus den Reihen
besonders zuverlässiger Kommunisten stammten, intern nur solche Kaderunterlagen
anfertigten, die den tatsächlichen Kenntnisstand der Personalverantwortlichen wiedergaben.
Das ändert nichts daran, dass das MfS oft mehr über eine NS-Vergangenheit wusste als die
Kaderabteilung vor Ort. Die „normalen“ Kollegen wurden sowieso nicht über Biografien ihrer
Mitarbeiter eingeweiht. Darüber hinaus war das Überprüfungsnetz der Stasi und SED oft
lückenhaft und viele Fragebogenfälscher wurden erst spät oder gar nicht erkannt.82
Im Rahmen der Forschungen zum Komplex der Strafverfolgung von NS-Verbrechern
in der DDR ist vor allem die Arbeit von Henry Leide zu nennen. Er resümiert, dass viele NSVerbrechen ungesühnt blieben, wenn es dem SED-Regime im Systemkampf mit dem Westen
opportun erschien. Diese Maßgabe bestimmte den Umgang mit Rechtshilfeersuchen aus dem
Westen sowie aus Ostblockstaaten, die (Nicht-)Eröffnung offizieller Ermittlungsverfahren,
die Amnestierung von NS-Tätern im Zuge der Entstalinisierung, die Anwerbung von NSBelasteten als Informanten und Agenten in Ost und West oder die Propagandakampagnen
gegen westdeutsche Funktionsträger. Hinsichtlich geheimdienstlicher Tätigkeiten waren die
Ergebnisse allerdings „eher durchwachsen“, wie Leide feststellt. So sei die Kooperation der
Angeworbenen von Selbstschutz bestimmt gewesen, zu den einstigen Eliten des „Dritten
Reiches“ seien sie in der Regel nicht vorgedrungen oder hätten über sie nur spärliche
Informationen geliefert. Gerichtsprozesse gegen DDR-Bürger seien nur eingeleitet wurden,
wenn die Tatschwere eine lebenslängliche oder Todesstrafe praktisch garantierte. Im Ergebnis
ließ sich so die Anzahl der Verurteilungen auf einige wenige, schnell abgeurteilte Fälle
reduzieren, um das Bild vom konsequenten Antifaschismus in der DDR zu stützen. Leide wie
auch Jens Gieseke konstatieren, dass dieser Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe
eine systematische Aufarbeitung der Vergangenheit in der DDR blockiert habe. Die
unmittelbare Verantwortung für die NS-Verbrechen sei in die Bundesrepublik abgeschoben
worden. Die verdeckte Integrationspolitik, die Loyalität gegenüber der SED voraussetzte,
habe den eigenen Anspruch auf antifaschistische Konsequenz und damit eine wesentliche
81
82
Siehe Kapitel „NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“.
Siehe Kapitel „Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien“ sowie „Agenten und Saboteure“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
23
Machtlegitimation der SED konterkariert.83 In diesem Sinne drehen sich noch eine Reihe
weiterer Beiträge um die Kompatibilität des zunehmend besser beschreibbaren Ausmaßes der
Integration von ehemaligen Nationalsozialisten mit dem antifaschistischen Selbstverständnis
der DDR.84
Nicht nur für den Bereich der personellen Kontinuitäten ehemaliger Nationalsozialisten
in der DDR, sondern auch für diejenigen in der Bundesrepublik sind jüngere Forschungen
zum Mitgliedschaftswesen der NSDAP zu nennen. Eine Reihe von Wolfgang Benz
herausgegebenen Beiträgen bestätigt ältere Forschungsergebnisse, wonach grundsätzlich
niemand ohne persönliche Mitwirkung und Wissen der NSDAP beitreten konnte. Auch die
Gültigkeit der Parteizugehörigkeit der 1944 von der Hitlerjugend kommenden Neumitglieder
wird bejaht. Gleichwohl mögen manche Autoren in einzelnen Fällen Abweichungen vom
Standardprozedere des Aufnahmeverfahrens nicht ganz ausschließen. Sie stützen sich hierbei
z.B. auf die häufig überlastete Mitgliederverwaltung, auf Fehler durch örtliche Hoheitsträger,
die Auswirkungen der Aufnahmesperren oder auf die Wirren der letzten Kriegsmonate.85
Im Weiteren sind die Neuauflagen des „Braunbuch DDR“ von Olaf Kappelt und die
erweiterte Ausgabe des Buches „Nazis in der DDR“ von Detlef Joseph mit dem Titel
„Hammer, Zirkel, Hakenkreuz“ zu nennen. Beide Arbeiten haben sich jedoch sowohl in der
Methodik als auch in der einseitigen Beurteilungsweise im Geiste der Diskreditierungs- bzw.
Rechtfertigungspraktiken mit Blick auf den politischen Gegner im Kalten Krieg praktisch
nicht verändert, so dass ich meine bereits früher geäußerte Kritik an ihnen aufrecht erhalte.86
Leider beinhalten auch gängige Personenlexika nach wie vor eine Reihe von falschen oder
irreführenden Inhalten zu den Biografien NS-belasteter DDR-Kader. So berücksichtigt etwa
die Neuauflage von „Wer war wer in der DDR?“ in keiner Weise die Ergebnisse meiner
Dissertation über leitende Staatsfunktionäre.87 Als eigene jüngere Publikation ist abschließend
auf einen Artikel in einer Ausgabe der Zeitschrift „Historical Social Research / Historische
Sozialforschung“ mit dem Schwerpunkt „Integration oder Ausgrenzung: ehemalige
Nationalsozialisten in der DDR“ hinzuweisen. Er stellt die Ergebnisse der diesem Buch
zugrunde liegenden Doktorarbeit in leicht überarbeiteter Form dar.88
Resümierend ist festzuhalten, dass die Geschichte nationalsozialistisch belasteter
Personen in der DDR weiterhin das Interesse der Forschung auf sich zieht. Nachdem immer
mehr Fallstudien vorliegen, die meines Erachtens noch stärker auf die Systematik der
Kaderpolitik eingehen sollten, gewinnt dabei zunehmend die Frage nach den Auswirkungen
auf das antifaschistische Selbstverständnis der DDR an Bedeutung und Beachtung. Auch hier
sind aber noch erhebliche Potenziale zu verzeichnen.
83
84
85
86
87
88
Gieseke, Staat, S. 91 f.; Leide, NS-Verbrecher, S. 413-418; vgl. Joseph, Henry Leide. Siehe außerdem:
Meyer-Seitz, Verfolgung; Rüter, Strafverfolgung; Weinke, Verfolgung.
Ahbe, DDR-Antifaschismus; Leo, Schweigen.
Benz, Parteigenosse; Wenzel, NSDAP; Wegehaupt, Funktionäre; Haar, Sozialstruktur; Wetzel, NSDAP;
Weigel, »Märzgefallene«; Widmann, Willkür; Nolzen, »Jugendgenossen«; Königseder, Ende; Kellerhoff,
Erfindung.
Kappelt, Braunbuch (2009); Joseph, Hammer; zur Kritik siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 16 f.
Müller-Enbergs, DDR (2010); vgl. insb. die Angaben in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 17 und Anhang 1:
Kurzbiographien, S. 1014 ff.
Kuhlemann, Biografien.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
24
1 Vorgeschichte sowie gesellschaftliche
und institutionelle Rahmenbedingungen
Die folgenden Kapitel behandeln Voraussetzungen, die für den Untersuchungsgegenstand
grundlegend sind. Sie beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung wie auch auf die Institution
der Deutschen Wirtschaftskommission bzw. der DDR-Regierung. Dazu gehört die Theorie
der Gesetze und Richtlinien, die dann mit der realen Umsetzung kontrastiert wird. Von
besonderem Interesse ist hierbei die Phase der Entnazifizierung, nach deren Abschluss weitere
Säuberungen folgten. Dies schließt einen genaueren Blick auf die sozialen Konflikte ein, die
sich aus der Ausgrenzung ehemaliger Nationalsozialisten ergaben.
1.1
Entnazifizierung und Säuberung,
Gesetze und Richtlinien
Die Grundlagen der Bestrafung und personellen Bereinigung Deutschlands von
Nationalsozialisten und ihren Zuträgern gingen auf die Außenministerkonferenz in Moskau
1943, das Treffen von Roosevelt, Stalin und Churchill im selben Jahr in Teheran sowie die
Beschlüsse von Jalta und Potsdam 1945 zurück.89 Erklärtermaßen galt es, den deutschen
Militarismus und Nazismus zu zerstören und sicherzustellen, dass Deutschland nie wieder in
der Lage sein werde, den Weltfrieden zu stören. In der deutschen Nachkriegsverwaltung
waren demnach alle nazistischen Staatsbediensteten zu entfernen und durch demokratische
Kräfte zu ersetzen. Es sollte sich bald herausstellen, dass die Westmächte und die
Sowjetunion verschiedene Faschismus- und Demokratiebegriffe propagierten.90 Die Alliierten
unterschieden davon unbenommen frühzeitig zwischen Kriegsverbrechern und aktivistischen
Nationalsozialisten einerseits sowie den Mitläufern und der schweigenden Mehrheit des
deutschen Volkes andererseits. Nach der deutschen Kapitulation übernahmen die
Siegermächte offiziell die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. Für die Entnazifizierung
von Bedeutung waren die Aufteilung des Landes in vier Besatzungszonen und die
Bestimmung, dass die einzelnen Befehlshaber in ihren Zonen die Entscheidungshoheit
ausübten. Berlin erhielt einen Sonderstatus und wurde analog in vier Sektoren aufgeteilt.91
Dieses Prinzip begünstigte eine uneinheitliche Durchführung der politischen Säuberung.
89
90
91
Zur maßgeblichen, zwischen September 1944 und Mai 1945 entstandenen amerikanischen
Besatzungsdirektive JCS 1067 siehe: Kleßmann, Staatsgründung, S. 352 f.; Niethammer, Entnazifizierung,
S. 62, 66 f., 149 f., 508 f.; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 10, 98-100; zur vorausgegangenen, im Frühjahr
1944 angefertigten Direktive CCS 551 und zu den Säuberungsforderungen des Morgenthau-Planes vom
September 1944 siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 9; Niethammer, Entnazifizierung, S. 56 f.; vgl. ferner die
Anweisung Nr. 3 der Finanzabteilung der britischen Militärregierung vom März 1945, in: Vollnhals,
Entnazifizierung, S. 101-105; zur Konferenz von Teheran (November / Dezember 1943) siehe: Wille,
Entnazifizierung, S. 7 f.; vgl. Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 968 f.; zur Potsdamer Konferenz siehe:
Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 61.
Kurt Rabl führt an, dass die Sowjetunion an einen Demokratiebegriff westlicher Prägung gebunden
gewesen und die Entwicklung in der SBZ anfangs auch in diese Richtung verlaufen sei, siehe: Rabl,
Durchführung, S. 252-254.
Bedeutsam war hierbei die Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, siehe: Herbst / Ranke / Winkler, Bd. 2, S.
872; Wille, Entnazifizierung, S. 11; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 14.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
25
Auch die KPD/SED und der Block der Parteien in der sowjetischen Besatzungszone
sprachen sich ab 1945 bei verschiedenen Gelegenheiten dafür aus, zwischen der Masse der
ehemaligen NSDAP-Mitglieder, die nach einer Umerziehung wiedereingegliedert werden
sollten, und den für Faschismus und Krieg verantwortlichen Naziverbrechern zu trennen. Als
aktivistisch galt, wer in der NSDAP oder einer anderen NS-Organisation ein Amt mit
politischer Verantwortung bekleidet oder sich anderweitig als Träger der NS-Politik betätigt
hatte. Die übrigen „nominellen“ NSDAP-Mitglieder sollten nach Meinung der deutschen
Parteien von einer Bestrafung ausgenommen und als Staatsbürger anerkannt werden. Dabei
sprachen sie die Erwartung aus, dass die Pgs. mit ihrer politischen Vergangenheit
vollkommen brechen und sich tatkräftig am Wiederaufbau beteiligen. Sie sollten jedoch in
öffentlichen Verwaltungen und Betrieben nur dann eine Beschäftigung finden, wenn andere
Bewerber gleicher Eignung nicht vorhanden waren.92
Die Entnazifizierung auf dem Gebiet der SBZ verlief in den ersten Wochen nach
Einmarsch der Besatzungstruppen zunächst spontan und improvisiert. Örtliche
Militärkommandeure bedienten sich dabei neu entstandener deutscher Antifa-Ausschüsse. In
Zusammenarbeit mit ihnen wurden von April 1945 bis zur Einsetzung der Landes- und
Provinzialverwaltungen im Juli 1945 erste Säuberungsmaßnahmen vorgenommen, besonders
bei Schlüsselpositionen.93 Dieser Phase folgte eine Reihe von Ländergesetzen und –
verordnungen. Die Bedeutung der bestehenden Säuberungsausschüsse ging zugunsten der
Landesinnenministerien zurück. Auch die Länder standen aber natürlich weiterhin unter der
Aufsicht der sowjetischen Militärregierung, die das letzte Wort hatte.94 Allerdings besaß die
SMAD keine eigenen, über die eingangs erklärten Grundsätze hinausgehenden elaborierten
Entnazifizierungsrichtlinien. Daher sollten die Länder entsprechende Bestimmungen
erarbeiten.95 Nicht alle unterschieden anschließend gleichermaßen zwischen aktiven und
nominellen NSDAP-Mitgliedern. Am strengsten verfuhren Mecklenburg und Brandenburg.
Am tolerantesten gebar sich Thüringen. Dort wie auch in Sachsen und Sachsen-Anhalt fanden
Belastungskataloge Anwendung, die sich weitgehend auf Eintrittsdaten, Ämter und
Funktionen stützten. Sie ermöglichten mal mehr, mal weniger eine Weiterbeschäftigung und
eine Abstufung von Bestrafungen.96 Trotz aller Schwierigkeiten, zwischen aktiv und nominell
zu trennen, erhielt der Großteil der ehemaligen Pgs. im öffentlichen Dienst bis zu dieser Zeit
die Entlassung, vor allem diejenigen in leitenden Funktionen.97 Der größte Teil des
Verwaltungspersonals wurde dennoch übernommen.98 Gleichzeitig führten Fachkräftemangel
92
93
94
95
96
97
98
Zu den Richtlinien der KPD-Führung vom 5. April 1945, den Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945, zur
Entschließung der Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien vom 30.10.1945 und zum
Beschluss der SED zur Frage der nominellen Pgs. vom 20. Juni 1946 siehe: NY 4036 / 717, Bl. 22, Artikel
„Strengste Bestrafung der Naziverbrecher“, undatiert [November 1945]; Wille, Entnazifizierung, S. 17, 4550; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 172, 174, 186 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 12-15;
Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 970, 972; Welsh, Wandel, S. 59-61; Stern, Porträt, S. 61, 100 f.;
Kowalczuk, Stalin, S. 183.
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43; Wille, Entnazifizierung, S. 15 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S.
1 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 969 f.; Welsh, Wandel, S. 21 ff.; vgl. Niethammer,
Entnazifizierung, S. 141 ff.; vgl. anglo-amerikanische Säuberungsbeispiele bei: Wille, Entnazifizierung, S.
28 ff.
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43 ff.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. XXIII; Wille,
Entnazifizierung, S. 54 f.
Zank, Wirtschaft, S. 47 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 50.
Wille, Entnazifizierung, S. 51 f.; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 11 f.; zu Thüringen siehe: Welsh,
Wandel, S. 43 ff., 48, 181 ff.; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43 f., 180 ff.; Meinicke, Entnazifizierung
(1983), S. 9 f., 11 f.; zu Sachsen siehe: Welsh, Wandel, S. 50 f., 53, 177 ff.; Vollnhals, Entnazifizierung, S.
175-177; vgl. Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 10-12.
Zank, Wirtschaft, S. 54; Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 15, 18; Meinicke, Entnazifizierung (1984),
S. 975; Welsh, Wandel, S 56; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 44-48, 164, 191-193, 224 ff.; Wille,
Entnazifizierung, S. 55 ff., 63-65.
Zank, Wirtschaft, S. 52 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
26
und Versorgungsnöte zu Umgehungen der Entlassungsbestimmungen und zumindest zu
temporären Weiterbeschäftigungen.99 Die Länder verabschiedeten darüber hinaus per Gesetz
eine Jugendamnestie. Sie gestand all denen, die nach dem 1. Januar 1919 geboren waren und
der NSDAP oder ihren Gliederungen nur nominell angehört hatten, die vollen
staatsbürgerlichen Rechte zu. Entnazifizierungsverfahren waren bei diesem Personenkreis
nicht mehr anzuwenden. Bestimmte Berufe blieben ihnen jedoch trotzdem vorenthalten. Die
Jugendamnestie begründete keine Ausnahmen von den späteren SMAD-Befehlen 201, 204
und 35 sowie den Gleichstellungsgesetzen.100
Neben der Verfolgung der hauptverantwortlichen NS-Täter mit Hilfe des
Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und der Kontrollratsdirektive 38 erlangte schließlich die Direktive
24 besondere Bedeutung.101 Sie trug das Datum vom 12. Januar 1946, wurde aber in der SBZ
erst Monate später bekannt und kam dort etwa ab Dezember 1946 zoneneinheitlich voll zum
Tragen.102 Mit der Direktive 24 beschlossen die Siegermächte erstmalig eine für ganz
Deutschland geltende, sehr detail- und definitionsreiche Entnazifizierungsrichtlinie. Sie bezog
sich neben den aktivistischen auch auf die Masse derjenigen NS-Belasteten, die gemeinhin als
Nominelle angesehen wurden. Betroffen waren Unterstützer, Angehörige und Funktionsträger
der NSDAP, von NS-Organisationen, der Justiz und Wirtschaft sowie des Staatsapparates.
Die zwangsläufig oder nach Ermessen zu verhängenden Entlassungen und Ausschlüsse waren
nach Organen, Positionshöhen, Zugehörigkeitszeiten und Aktivengrad in der NS-Ära
gestaffelt. Im Vergleich zu den bis dato maßgeblichen Länderregelungen in der SBZ ging mit
der Direktive 24 eine Verschärfung der Säuberungsbestimmungen einher.103 Ihre Anwendung
in der SBZ wurde wahrscheinlich aus innenpolitischen Gründen verzögert, weil die
Ausweitung des Betroffenenkreises zu vermehrten Spannungen führte. Sie kam dann aber aus
außenpolitischen Beweggründen doch noch zur Ausführung. So konnten die Sowjets im März
1947 gestärkt in die Moskauer Außenministerkonferenz gehen und boten den Westalliierten
weniger Angriffsfläche wegen einer vermeintlich zu nachlässigen Säuberung.104 Tatsächlich
wollte die SMAD der sich abzeichnenden Tendenz zur Wiedereinstellung von Pgs.
entgegentreten. In der Praxis kam es allerdings erneut zu Unklarheiten und unterschiedlichen
Auslegungen der Direktive 24.105
Die Entnazifizierung in (Ost-)Berlin vollzog sich aufgrund des besonderen Status der
Stadt etwas anders als in der SBZ. Eine Verfügung Marschall Shukows vom 30. Juni 1945
verschärfte dort die begonnene Entnazifizierung. Sie beinhaltete, alle NSDAP-Mitglieder
ausnahmslos und umgehend aus den Diensten des Berliner Magistrats zu entlassen. Für
Personalfragen waren beim Magistrat, wie fast überall in wichtigen Organen der SBZ/DDR,
politisch zuverlässige KPD/SED-Mitglieder zuständig. Für ehemalige Pgs. bestand eine
Pflicht zur Registrierung und zu Sonderarbeitseinsätzen. Zur Umsetzung der Direktive 24
erließ die Alliierte Kommandantur die Anordnung Nr. 101a vom 26. Februar 1946. Sie sah
ein System aus diversen Entnazifizierungs- und Berufungskommissionen vor, die sich aus
Deutschen mit antifaschistischer Reputation zusammensetzten. Das letzte Wort lag in den
99
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105
Welsh, Wandel, S. 48 f., 51 f., 87 ff.; Wille, Entnazifizierung, S. 51, 66 f., 136; Meinicke, Entnazifizierung
(1983), S. 16 f.; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 974; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 44, 175-177;
vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 245 f., 255.
Amos, Justizverwaltung, S. 147, 183 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 129 f., 137, 148-150; vgl. Welsh,
Wandel, S. 49.
Zum Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20.12.1945 siehe: DP 1 / VA 462; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S.
20 f., 62 f.; Broszat, Siegerjustiz, S. 484, 486; zur Kontrollratsdirektive 38 vom 12.10.1946 siehe: NY 4036
/ 749, Bl. 22; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 22 f., 97-124.
Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 975; Wille, Entnazifizierung, S. 144.
Benser, Prozeß, S. 706; Rabl, Durchführung, S. 263; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 21 f., 64-81;
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 107-118.
Welsh, Wandel, S. 67-68; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 436 f.
Wille, Entnazifizierung, S. 135, 150-152; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 342.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
27
einzelnen Stadtsektoren bei der jeweiligen Besatzungsmacht.106 Bis zum 30. September 1947
lag die Quote der Antragsbefürwortung, d.h. einer Entscheidung zugunsten der Pgs., bei zwei
Dritteln aller behandelten Fälle. Über die Hälfte aller gestellten Anträge war zu diesem
Zeitpunkt aber noch unbearbeitet.107 Das Berliner Verfahren galt als schwerfällig. Die SED
war mit den Säuberungserfolgen dennoch relativ zufrieden.108 Im Nachgang zur Entwicklung
in der SBZ lösten sich die berufsspezifischen Entnazifizierungskommissionen dann zum 1.
Januar 1949 auf bzw. unterhielten nur noch Abwicklungsstellen.109 Am 23. Februar 1949
beschloss der Magistrat schließlich einstimmig den allgemeinen und sofortigen Abschluss der
Entnazifizierung im Ostsektor Berlins. Die verbliebenen Entnazifizierungskommissionen
stellten ihre Arbeit endgültig zum 28. Februar 1949 ein. Die Berufungskommission beendete
ihre Tätigkeit zum 31. März 1949. Bis zu diesen Terminen sollten sämtliche Anträge
dahingehend überprüft werden, ob Anhaltspunkte vorliegen, wonach die Appellanten sich
eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, den Frieden, die Sicherheit anderer Völker oder
das deutsche Volk schuldig gemacht hatten. Diese Fälle waren dem Generalstaatsanwalt beim
Kammergericht zu übergeben. Alle anderen laufenden Verfahren – also die weitaus meisten –
wurden eingestellt.110 Auch in West-Berlin erließen die alliierten Kommandanten im Februar
1949 den Befehl zur Beendigung der Entnazifizierung.111
In der SBZ fand die Entnazifizierung bereits ein Jahr früher ihr Ende. Es wurde
eingeleitet durch den Befehl Nr. 201 der SMAD vom 16. August 1947.112 Die Gründe für den
Erlass des Befehls waren außenpolitischer und mehr noch innenpolitischer Natur. Der OstWest-Gegensatz verschärfte sich. Eine einheitliche Linie im Alliierten Kontrollrat in der
Frage der Entnazifizierung war nicht zu erreichen und die schlechte Versorgungslage in der
SBZ hatte sich durch Demontagen, Enteignungen und Entlassungen weiter zugespitzt. Die
Machthaber mussten daher gesellschaftliche Spannungen abbauen, um die Lage zu
konsolidieren. Die Entnazifizierung war hierbei ein wesentlicher Ansatzpunkt. Die Pgs.
erhofften sich erneut eine Rehabilitierung und die Rückkehr in die alten beruflichen
Positionen. Außer den Nazi- und Kriegsverbrechern gewährte der Befehl 201 allen
ehemaligen NSDAP-Mitgliedern neben dem aktiven das passive Wahlrecht. Sein Erlass sollte
die bis dahin auf Grundlage der Direktiven 24 und 38 unzureichend beachtete Differenzierung
der praktizierten Säuberung überwinden und die Nominellen, Minderbelasteten und NS-
106
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112
Schon der sowjetische Stadtkommandant Bersarin hatte per Erlass vom 28. April 1945 eine Registrierung
bestimmter NS-belasteter Personen und am 25. Mai 1945 die Reorganisation von Polizei und Justiz
angeordnet. Relevant war ferner die Anordnung 209 der Alliierten Kommandantur. Eine umfassende
Untersuchung der Entnazifizierung in der Hauptstadt fehlt bislang, siehe: DY 30 / IV, 2/13/4, Bl. 127, 129,
133, 165-168, 176-180; DR 2 / 643, Bl. 68 f.; DR 2 / 825; Wille, Entnazifizierung, S. 19 f., 51, 75.
Es gingen bis dato 62.989 Anträge bei den Entnazifizierungskommissionen ein. Davon waren 27.894
behandelt worden, wobei 18.653 befürwortet und 9241 abgelehnt wurden. In der Literatur wird nicht
angegeben, in welchem Maße die oberen Instanzen Entscheidungen korrigierten und ob die genannten
Zahlen den Stand nach den entsprechenden Korrekturen wiedergeben, siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 75
f., 121 f.; siehe auch: Statistik des Alliierten Kontrollrats über die Entnazifizierung in den vier
Besatzungszonen und in Berlin gemäß der Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 1. Januar bis zum 30. Juni
1946, in: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 164 f.; DY 30 / IV, 2/13/4, [SED,] Abt. Landespolitik, an DJV,
Benjamin, vom 09.02.1948 (darin: Anhang, betr. Entnazifizierung in Gross-Berlin, vom 27.01.1948,
Abschrift).
Besprechung über den Befehl 201 und die damit verbundenen Aufgaben der Partei vom 30. Oktober 1947,
in: Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 191.
National-Zeitung, Artikel „Keine Sonder-Arbeitsvermittlung für Pgs?“, vom 05.01.1949.
National-Zeitung, Leitartikel „Berlin macht Schluß mit der Entnazifizierung“, vom 24.02.1949; NationalZeitung, Leitartikel „Wie Berlin die ehemaligen Pgs behandelt“ und Bericht „Die Gesamtpersönlichkeit
entscheidet“, vom 11.03.1949.
National-Zeitung, Artikel „SPD und Entnazifizierung“, vom 21.01.1949; National-Zeitung, Beitrag „Die
Komödie der Entnazifizierung in Westberlin“, vom 22.02.1949.
Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 26 f., 147-158; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 206 ff.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
28
Verbrecher stärker voneinander trennen.113 Eine allgemeine gerichtliche Belangung der
Nominellen wurde für unzulässig erklärt. Die übrigen Entnazifizierungsverfahren sollten
beschleunigt werden. Innerhalb von drei Monaten waren alle NS-Aktivisten aus öffentlichen
und halböffentlichen Posten sowie den entsprechenden Stellen in der Wirtschaft zu entfernen.
Wegen der Vielzahl der zu behandelnden Fälle ließ sich diese Frist jedoch nicht einhalten.114
Parallel zu SMAD-Befehl 201 ermöglichte der Befehl 204 vom 23. August 1947 ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern, wieder im unteren und mittleren Justizdienst tätig zu werden. Die
Posten der Richter und Staatsanwälte blieben weiterhin ausgenommen.115
Mit dem SMAD-Befehl Nr. 35 vom 26. Februar 1948 fand die Entnazifizierung in der
SBZ schließlich endgültig ihren offiziellen Abschluss. Die erfolgte Entmachtung der
„Inspiratoren des deutschen Faschismus und Militarismus“ durch Entzug aller politischen und
wirtschaftlichen Positionen und Vorrechte habe angeblich eine umfassendere Heranziehung
derjenigen Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen erlaubt, die sich keines
Verbrechens schuldig gemacht hatten und imstande und gewillt waren, am demokratischen
und wirtschaftlichen Wiederaufbau mitzuwirken. Die Entnazifizierungskommissionen in der
SBZ waren demnach vom 10. März 1948 an aufzulösen. Beschwerden und Berufungen waren
in den Berufungskommissionen (Landesentnazifizierungskommissionen) bis zum 10. April
1948 abzuschließen und diese dann ebenfalls aufzulösen. Zahlreiche Verfahren, die sich bis
zu dieser Frist nicht abwickeln ließen und bei denen keine ausreichenden Gründe zur
Einleitung eines Gerichtsprozesses vorlagen, wurden eingestellt. Verfahren gegen „Kriegsund faschistische Verbrecher“ waren gemäß Befehl 201 durch die deutsche Kriminalpolizei
und deutsche Gerichte durchzuführen. Alle sonstigen dem Befehl 35 entgegenstehenden
Entnazifizierungsbestimmungen wurden außer Kraft gesetzt. Ehemalige Mitglieder der
NSDAP und ihrer Gliederungen, die ihre Posten in öffentlichen Ämtern und Betrieben
verloren, aber ihre Wahlrechte laut Gesetz nicht eingebüßt hatten, konnten sich demnach im
Laufe der Zeit „durch ehrliche und loyale Arbeit“ als Zeichen der Sühne die Rückkehr zu
ihrer Tätigkeit im Verwaltungsapparat verdienen. Die Justiz- und Polizeiorgane sowie
leitende Posten im Verwaltungsapparat waren hiervon zunächst ausgenommen. Unterm Strich
stellte der Befehl 35 auch aktiveren NS-Anhängern eine Neueinstellung in Aussicht. Ein
Anspruch auf Beschäftigung erwuchs hieraus jedoch nicht. Bei der Bevölkerung, den Parteien
und Massenorganisationen fand das Ende der Entnazifizierung breite Zustimmung.116 Im
Ergebnis kommt Wolfgang Meinicke auf eine Zahl von 520.734 Personen, die von Beginn bis
Ende der Entnazifizierung am 10. März 1948 entlassen oder nicht wieder eingestellt
113
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116
Wille, Entnazifizierung, S. 163-166, 200.
Zank, Wirtschaft, S. 50; Wille, Entnazifizierung, S. 171 f., 178 f., 185, 191, 193-195.
Befehl 204 hob den entgegenstehenden Befehl 49 vom 4.9.1945 auf. Nach einer internen Anweisung
sollten Personen, die nach Befehl 49 vom Justizdienst ausgeschlossen wurden, nicht dorthin zurückkehren.
Bei Richtern und Staatsanwälten brachte auch Befehl 35 (Beendigung der Entnazifizierung in der SBZ)
keine Änderung mit sich, obwohl die SMAD Ausnahmegenehmigungen erteilen konnte. Hierzu und zum
vorangegangenen Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30.10.1945 siehe: Broszat, Siegerjustiz, S. 488; Rößler,
Entnazifizierungspolitik, S. 21, 166 f.; Rössler, Aspekte, S. 133 f.; Welsh, Justiz, S. 224; Amos,
Justizverwaltung, S. 146, 183; DP 1 / VA 980, Bl. 5 f. (7 f.), DJV, Schiffer, betr.: Auswirkung des Befehls
35 des Obersten Chefs der SMAD vom 26. Februar 1948 auf die politische Überprüfung der
Justizangehörigen, an die Landesregierungen bzw. deren Justizministerien, vom 05.04.1948.
DP 1 / VA 980, Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration und Oberbefehlshabers
der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Nr. 35 über die Auflösung der
Entnazifizierungskommissionen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, vom 26.02.1948;
Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 257 f.; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 212-214. Kurz nach Erlass des
Befehls 35 erging eine Amnestie auf Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 43 aus Anlass des 100. Jahrestages
der Märzrevolution von 1848, durch die alle Gerichtsverfahren, bei denen eine Freiheitsstrafe von weniger
als einem Jahr zu erwarten war, nicht mehr zur Durchführung kommen sollten bzw. von der Personen
profitierten, die zu einer Strafe von bis zu einem Jahr Gefängnis oder Internierungslager verurteilt waren,
in: Wille, Entnazifizierung, S. 198 f., 204 f.; Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 260; Zank, Wirtschaft, S.
51, 56; Welsh, Wandel, S. 189 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
29
wurden.117 Dabei hat es offenbar Mehrfachzählungen gegeben. Neuere Schätzungen gehen
von insgesamt 200.000 Entlassungen aus.118
Die meisten Angehörigen des untersuchten NS-Samples durchliefen ein Verfahren zur
Entnazifizierung in Berlin, relativ wenige in der SBZ und nur einzelne in Westdeutschland.119
Der Begriff „Entnazifizierung“ bedeutete dabei einerseits die Säuberung der Apparate,
andererseits die Befreiung der Pgs. vom Makel der besonderen Mitverantwortung an der
Existenz des NS-Regimes. Vor 1948/49 befürworteten die Arbeitgeber, darunter die
Deutschen Zentralverwaltungen unter Billigung der SMAD, eine Einstellung oder
Weiterbeschäftigung ehemaliger NSDAP-Mitglieder nur vorbehaltlich ihrer erfolgreichen
Entnazifizierung. Sie und die Pgs., die in Berlin wegen ihres Widerspruchs gegen eine
Entlassung auch „Appellanten“ hießen, baten angesichts des allgemeinen Bearbeitungsstaus
oft um eine Beschleunigung ihrer Verfahren. Vertreter der Zentralverwaltungen120 und
anderer Behörden121 setzten sich unter Hinweis auf „bemerkenswerte Kenntnisse und
Erfahrungen“ und ihre Bedeutung für den Betrieb oft für bestimmte ehemalige NSDAPMitglieder ein. Das gleiche taten viele Entlastungszeugen, Antifa-Ausschüsse und
Parteigremien in Form von Unbedenklichkeitsbescheinigungen.122 Dabei stellten sie den Pgs.
einen guten politischen Leumund aus. Idealerweise beinhaltete er Passivität und Opposition
während des Nationalsozialismus und eine pro-demokratische Haltung und aktive Mitarbeit
nach 1945. „Amtlichen“ Bewerbungsbefürwortungen und Einstellungen in die zentrale
Staatsverwaltung ging eine Überprüfung der schriftlichen Überlieferung zum politischen
Vorleben voraus. Darüber hinaus holten die Behörden mündliche Auskünfte ein.123 In einer
Reihe von Fällen waren die Prüfungen jedoch mangelhaft. Das lag nicht nur daran, dass
Unmengen an Materialien durch Kriegseinwirkungen vernichtet und Zeugen verschwunden
waren.124 Oft fehlte es einfach an Sorgfalt und Zeit, Erkundungen einzuholen, so dass
angesichts des wachsenden Personalbedarfs die Kontrollen nicht so lückenlos ausfielen wie
geplant und häufig nachgeholt werden mussten. Manchmal eilte die Verwaltung bei
117
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123
124
Meinicke erwähnt, die Gesamtzahl der Entlassungen trotz intensiver Bemühungen nicht ermittelt zu haben,
siehe: Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 978; ders., Entnazifizierung (1983), S. 54 f.; vgl.: Vollnhals,
Entnazifizierung, S. 220 f.
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 53; vgl. Welsh, Wandel, S. 14, 81 f.; Zank, Wirtschaft, S. 51 ff.; vgl. Wille,
der noch die Zahl von ca. 450.000 aus dem Beruf ausgeschiedenen oder nicht wieder eingestellten Personen
ins Spiel bringt, in: Wille, Entnazifizierung, S. 208-210.
Ein Beispiel für Westdeutschland (Hans Lutz) und für (scheinbar) nicht durchgeführte Verfahren (Martin
Bierbass, Erwin Melms) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 52.
Beispiele (Ernst Kaemmel, Otto Schl., Erich T., Friedrich Z.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 52.
So der Berliner Bürgermeister Friedensburg und der public safety branch der OMGUS Berlin bei Herbert
So. sowie die Universität Berlin bei Ernst Kaemmel. Hierzu und zu weiteren Beispielen (Johannes A.,
Helmut Wikary) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 52 f.
Der Berliner Magistrat hatte es den Kommunalbeamten verboten, weiterhin derartige Zeugnisse
auszustellen. Zuständig hierfür wurde etwa im Juli 1945 der Aktionsausschuss des antifaschistischen
Blocks im jeweiligen Verwaltungsbezirk der Stadt Berlin. Beispiele (Ernst Kaemmel, Herbert Seifert, Hans
Forsbach, Walter E., Helmut A.), auch aus der SBZ, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 53.
Neben den jeweiligen Personalabteilungen nahmen in der SBZ/DDR vor allem das Kommissariat K 5,
DVdI / MdI, ZKK / ZKSK und MfS Überprüfungen vor. Beispiele (Kurt V., Werner P., Otto Kl., Heinz Fr.,
Ferdinand Beer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 53 f.; Vollnhals, Nomenklatur, S. 226. Eine
gesonderte Aktenführung zu Pgs. war nicht nachzuweisen. Vgl. den Umstand, dass im Bestand der
Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle ausgerechnet die Unterlagen zweier ehemaliger NSDAPMitglieder – darunter Josef Schaefers – aus der HV Chemie fehlen, obwohl sie die Bestandskartei aufführt.
Das ist entweder nur ein Zufall und kein Indiz für eine Zusammenführung von Personaldokumenten NSBelasteter innerhalb des Staatsapparates. Oder es handelte sich um Material, das nachträglich auf das
Ministerium für Staatssicherheit überging, in: DC 1 / 2565. Zur Nutzung westdeutscher Publikationen siehe
beispielhaft die Überprüfung der Angaben über Ernst Kaemmel in Olaf Kappelts „Braunbuch DDR“ im
Rahmen eines großen Suchvorgangs durch das Ministerium für Staatssicherheit im Jahr 1982, in: BStU,
MfS, HA IX/11, SV 3/82, Band 17, Bl. 3, 4, 7.
So bei Gerhard F., Walter Pi. und Erich T., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
30
Einstellungen mit solchem Tempo voraus, dass die Führung der KPD/SED erst im
Nachhinein informiert wurde, was eigentlich nicht sein sollte.125
Auch für die Entnazifizierungskommissionen zählten außer formalen Mitgliedschaften
das Verhalten und die Gesinnung. Den Pgs. ging es vor allem um die Sicherung der
Arbeitsstelle, aber auch um die Wiederherstellung ihrer Ehre.126 Die Prüfungen im
Entnazifizierungsverfahren umfassten Ermittlungen in der Nachbarschaft, im Freundes- und
Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz, bei politischen Vereinigungen und auf Ämtern. Neben
schriftlichen Erklärungen gab es mündliche Verhandlungen. Fast alle früheren NSDAP-, SAund SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission erhielten einen positiven
Entnazifizierungsbescheid.127 Nur in wenigen Fällen kam es zunächst zu einer Ablehnung, die
dann jedoch in der Berufung revidiert wurde oder aufgrund einer Verfahrenseinstellung keine
nachteiligen Auswirkungen entfaltete.128 Bei denjenigen DWK-Angestellten, deren
Entnazifizierungsverfahren in der SBZ stattfanden, verhielt es sich ganz ähnlich wie bei jenen
in Berlin. Sie konnten fast alle nach erfolgreicher Beurteilung ohne Abstriche ihrer
gewohnten Berufstätigkeit nachgehen.129 Nur in wenigen Fällen wurden beruflich
einschränkende Auflagen verhängt. Dazu gehörte das Verbot, leitende Funktionen auszuüben
oder eine Stellung im Personalwesen zu bekleiden.130 Insgesamt war das Ausmaß der
Beschäftigung ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den Deutschen Zentralverwaltungen vor
1948 aber minimal und lag zusammengerechnet bei unter einem Prozent des
Gesamtpersonals.131
Die Entnazifizierung stellte für die Kommunisten ein Mittel der politischen und sozialen
Umwälzung dar, in der Gesellschaft wie im Staatsapparat. Der Personalaustausch war hierbei
ein Aspekt neben der Bodenreform, Justizreform, Schulreform oder der Enteignung und
Verstaatlichung von Wirtschaftsunternehmen.132 Die Erlangung und Festigung der Macht
unter der Prämisse des Klassenkampfes war das entscheidende Kriterium. Die personelle
Entnazifizierung befand sich dabei stets im Zwiespalt, einerseits die Nominellen in die
Gesellschaft zu integrieren, andererseits ihre massenhafte Neu- und Wiedereinstellung im
Staatsdienst zu verwehren.133 Es gab jedoch zumindest in bestimmten Bereichen den Zwang
zur nachsichtigen Säuberung, weil ohne die Hilfe NS-belasteter Fachkräfte die allgemeine
Versorgung völlig zusammengebrochen wäre.134 Die Entnazifizierung wurde deshalb in
verschiedenen Bereichen unterschiedlich gehandhabt, in der Verwaltung zum Beispiel
weniger streng als in der Justiz. Allgemein bewirkten die Überdehnung des
Betroffenenkreises und die Verkomplizierung der Verfahren durch eine aufwendige
gerichtsähnliche Ausrichtung, dass die Entnazifizierung nur langsam vorankam. Ein teilweise
willkürlicher Verlauf war nicht zu verhindern. Viele Deutschen lehnten die Entnazifizierung
daher samt Bestrafungen und Einsatz minderqualifizierter Ersatzkräfte ab und leisteten
passiven Widerstand. Unter ihnen bestand überwiegend Einigkeit über eine großzügige
125
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Beispiele (Günther Kromrey, Wilhelm Salzer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54. Zu Kromrey siehe
auch Kapitel „Aktiver Widerstand“.
Siehe Entsprechendes bei Walter R., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54.
Siehe die Fälle Günther Kromrey, Ernst Kaemmel, Karl-Heinz Gerstner, Franz Woytt, Ferdinand Beer,
Helmut Wikary, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 54 f.
Siehe insbesondere den Fall Rudolf Lang, zu abgelehnten Entnazifizierungsanträgen ferner die von
Friedrich S., Gerhard B., Franz H., Walter R., Erich T., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 55.
Beispiele (Egon Wagenknecht, Ernst Hennig) und Quellenangaben zu weiteren Fällen (Olaf S., Otto Kr.,
Otto Ka., Alfred Kr.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 55.
Beispiele (Ernst Schinn, Walter E., Kurt V.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 55.
DY 30 / IV, 2/13/2, Bl. 158-167, [ZS? Abteilung Personalpolitik?,] Bericht über die parteipolitische
Zusammensetzung der Verwaltungskader in den 13 Zentralverwaltungen und der zentralen Kommission für
Sequester, vom 07.08.1946 (Abschrift); Kuhlemann, Teufel.
Vgl. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 49; Welsh, Wandel, S. 8 f.
Niethammer, Entnazifizierung, S. 18; Welsh, Wandel, S. 82.
Zank, Wirtschaft, S. 55 f.
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Rehabilitierung der Masse der „kleinen Pgs.“ Die Entnazifizierungskommissionen kamen
dem in der Praxis entgegen und beurteilten zum Beispiel auch kleinere Amtsträger der
NSDAP mit Milde.135
Trotz aller Defizite hatte die Entnazifizierung weitreichende Auswirkungen.136 Der
größte Teil der Schlüsselfunktionen in der SBZ war umbesetzt worden. Zahlreiche
Zwangmaßnahmen wie Freiheits- und Vermögensentzug, Entlassungen und Versetzungen
sowie weitere berufliche und politische Einschränkungen waren ergangen.137 Mit dem
offiziellen Ende der Entnazifizierung in der SBZ war jedoch noch keineswegs ein Ende der
kommunistischen Machtausweitung verbunden. Der Staats- und Wirtschaftsapparat war noch
nicht gänzlich „auf SED-Linie“ und von Personen durchdrungen, die sich die Politik der
Einheitspartei auf die Fahnen schrieben. Die Säuberung setzte sich daher mit den Mitteln der
Kaderpolitik fort. Bereits die Entnazifizierung besaß einen Doppelcharakter.138 Die
Entfernung ehemaliger Nationalsozialisten verband sich mit der möglichst umfangreichen
Besetzung freiwerdender Stellen durch Kommunisten im Rahmen der „antifaschistischdemokratischen Umwälzung“.139 Ab 1948/49 galt es zwar weiterhin, zuverlässige SEDAnhänger in die Apparate einzubauen. Doch waren im Zeichen der Stalinisierung fortan
vermehrt bürgerliche Mitarbeiter bzw. Angestellte, die sich dem Führungsanspruch und den
gesellschaftlichen Vorstellungen der SED widersetzten, auszuschalten.140 Frühere NSDAPMitglieder bekamen dadurch die Chance, bei entsprechenden Loyalitätsbekundungen
dauerhaft integriert zu werden. Andererseits hielt damit die Phase ihrer Resozialisierung
weiter an.141
Die internen Richtlinien der DWK zur Personalpolitik und diejenigen der ab 1948
verbliebenen Zentralverwaltungen orientierten sich an den genannten Vorgaben. Sie richteten
sich auch gegen nicht NS-belastete sowie westlich denkende Kräfte. Stattdessen waren
Arbeiter und politisch „fortschrittliche“, d.h. SED-treue Personen einzustellen.142 In der
Deutschen Wirtschaftskommission konstatierte die HA Personalfragen und Schulung betreffs
Beschäftigung und Einstellung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, dass Grundlage hierfür der
Befehl 201 war. Unabhängig davon sollten in der Verwaltung nur Mitarbeiter mit
„demokratischer Überzeugung“ tätig sein. Bewerbungen ehemaliger Pgs. konnten demnach
bei vorliegendem Bedarf für nicht leitende Stellungen Berücksichtigung finden, wenn 1.) ein
geeigneter antifaschistischer Kandidat für den zu besetzenden Posten nicht zu finden war, 2.)
der Bewerber nachweisen konnte, im Sinne der Befehle 201 und 35 nur nominelles Mitglied
der NSDAP gewesen zu sein, 3.) der Bewerber „den Nachweis einer ehrlichen Mitarbeit am
135
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138
139
140
141
142
DO 1 / 26.0, 17344, 60/51/2; Welsh, Wandel, S. 172 f.; Welsh, Entnazifizierung, S. 74; Wille,
Entnazifizierung, S. 17; vgl. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 56.
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 55.
Wille, Entnazifizierung, S. 176.
Welsh, Wandel, S. 11; zum Anwachsen des Anteils der SED-Mitglieder im Staats- und Verwaltungsapparat
siehe: ebd., S. 83 f.
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 43.
Der Begriff „Stalinismus“ ist ebenso wie „Entstalinisierung“ unscharf und umstritten, siehe: Schütrumpf,
Stalinismus, S. 82.
Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 5 f.; Meinicke, Entnazifizierung (1984), S. 969; Materialien, Bd.
III/1, S. 104.
Zur DWK-Richtlinie S 7 / 48 siehe: DO 1 / 26.0, 2461, DWK, HA Personalfragen und Schulung,
Personalrundschreiben Nr. 1, vom 14.04.1948 (darin enthalten: DWK, Sekretariat, Beschluß S 7 / 48, vom
24.03.1948; DWK, HA Personalfragen und Schulung, Erläuterungen zum Beschluß S 7 / 48, vom
15.04.1948); DC 15 / 773, DWK, Sekretariat, Kontrollabteilung, Kontrolle der Sekretariatsbeschlüsse,
Bericht Nr. 2, vom 10.05.1948, S. 7; DC 15 / 315, Bl. 9-19, Beschluß S 7 / 48 (Entwurf) und
Erläuterungen; zur DVV siehe: DR 2 / 935, Bl. 13-15, Richtlinien für die Personalpolitik in der
Verwaltung, undatiert (Abschrift, vom 30.08.1948); zur DVdI und zum MfS siehe: DO 1/7/143, Bl. 44.,
DVdI, Mickinn, an Mielke, darin enthalten: Entwurf „Richtlinien der Personalpolitik“, vom 17.09.1946;
Gieseke, Frage, S. 133 f., 136.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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antifaschistischen demokratischen Aufbau seit Mai 1945“ erbrachte und 4.) der Bewerber „ein
unbestrittener tüchtiger Berufsarbeiter“ war.143
Auf der 1. Staatspolitischen Konferenz von Werder (Havel) am 23./24. Juli 1948
verkündete die SED den Anspruch auf die „führende Rolle“ in Staat und Gesellschaft.144
Dazu erarbeitete die Konferenz mit Blick auf die Durchführung des Zweijahrplanes
Richtlinien für die Personalpolitik in der Verwaltung, über die Kontrolle der
Personalabteilungen und den Ausbau der Schulung. Die SED verfolgte in Wirtschaft und
Verwaltung eine Effizienzsteigerung, die spätestens mit dem Zweijahrplan begann und beim
Fünfjahrplan 1950 sowie ab der 2. Parteikonferenz 1952 im Vordergrund stand.145 Die Ziele
der Konferenz von Werder wurden zwar nach Meinung der SED anschließend nur
ungenügend erreicht, weil sie zu wenig bekannt gemacht, diskutiert, mithin popularisiert
worden seien.146 Gleichwohl blieben die Beschlüsse von Werder für die fünfziger Jahre
verbindlich.147 Der Apparat sollte demnach angesichts der Verschärfung des Klassenkampfes
zuverlässiger werden. Der politisch bewusste Verwaltungsfunktionär war erwünscht, der nicht
nur verwaltet, sondern dem Fortschritt dient. Neben fachlicher Sachkenntnis rückte das
Wissen über die Staatslehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin in den Vordergrund. Die
Arbeiterklasse, der SED-Anteil und sonstige „positiv“ eingestellte Kräfte waren in der
Verwaltung zu stärken. Jüngere Kräfte, möglichst Parteiaktivisten, sollten eine neue
Intelligenz bilden. Nicht belastete ehemalige Angehörige der NSDAP oder ihrer Gliederungen
sollten in Betrieben und Massenorganisationen mitwirken können. Entscheidend war die
politische Zuverlässigkeit und fachliche Qualifikation. Gleichzeitig waren Gegner der neuen
Ordnung, fernzuhalten oder herauszusäubern. „Agenten, Spione, Schumacherleute“, aber auch
unfähige Verwaltungskader waren zu ermitteln und zu entfernen. Gefürchtet waren heimlich
oder offen reaktionäre Fachleute. Gerade solche, die besonders gute Arbeit leisteten, hielt man
für besonders gefährlich, weil sie am besten wussten, wie man Sabotage betreiben konnte.148
Nachfolgende Richtlinien der SED entsprachen diesen Vorgaben.149
Mit Gründung der DDR setzte sich die stufenweise Wiedereingliederung NS-Belasteter
fort. Als eine ihrer ersten Handlungen überhaupt verabschiedete die Volkskammer das
„Gesetz über den Erlaß von Sühnemaßnahmen und die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte
für ehemalige Mitglieder und Anhänger der Nazipartei und Offiziere der faschistischen
Wehrmacht“ vom 11. November 1949.150 Zur Zielgruppe gehörten auch solche Personen, die
143
144
145
146
147
148
149
150
DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49,
vom 25.03.1949; Boyer, Kader, S. 25 f.; zur entsprechenden Handhabung in nachgeordneten Dienststellen
siehe: DM 3 / 284, DWK, HV Post und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung betr. Abschluß der
Entnazifizerung, (veröffentlicht im Amtsblatt Nr. 17), vom 17.04.1948; DP 1 / VA 980, DWK, HV Post
und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung Nr. 64/1948 betr. Abschluß der Entnazifizerung, vom
01.05.1948; DO 1 / 26.0, 2472, s.v. „Allg. Richtlinien“, [DWK, HA Personalfragen und Schulung,] betr.:
Rivisions- [sic] und Treuhandverwaltung Dresden, vom 10.09.1948.
Foitzik, Inventar, S. 51; Boyer, Kader, S. 18-28; Amos, Justizverwaltung, S. 66.
Schulz, Elitenwechsel, S. 217.
DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 32 ff., [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert;
vgl. Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 244 f., 381 f., 383.
Boyer, Kaderpolitik, S. 21.
Boyer, Kader, S. 20-22; ders., Kaderpolitik, S. 19 f.
DO 1/7/47, Bl. 12 ff., Richtlinien für die Durchführung der Personalarbeit der staatlichen Verwaltung in der
gesamten SBZ (Entwurf), undatiert; ebd., Bl. 49-52, SED, Zentralsekretariat, an DVdI, Fischer, vom
09.08.1949 (Abschrift); ebd., Bl. 66, [DVdI,] HA Verwaltung, Begründung zu den Richtlinien für die
Durchführung der Personalarbeit der staatlichen Verwaltung in der gesamten SBZ, vom 01.09.1949; DO 1 /
26.0, 17591, SED, Zentralsekretariat, Abteilung für staatliche Verwaltung, Hentschel, an Deutsche
Verwaltung des Innern, Gloth, vom 30.07.1949; DO 1 / 26.0, 2472, s.v. „Berichte“, [DWK, HA
Personalfragen und Schulung,] vom 14.10.1948; vgl. Richert, Macht, S. 36 ff., 269 ff.
Im Oktober 1949 stimmte das SED-Politbüro zunächst einem Entwurf für eine „Verordnung über
Gewährung der staatsbürgerlichen Rechte an ehemalige Nazis“ zu. Dieser wurde dann vom Politbüro
Anfang des folgenden Novembers in leicht überarbeiteter Fassung als Gesetzentwurf im Rahmen einer
Jens Kuhlemann – Braune Kader
33
aufgrund des Befehls 201 zur Durchführung einfacher Arbeiten oder zu Gefängnisstrafen von
bis zu einem Jahr verurteilt worden waren. Ausgenommen blieben „Naziaktivisten und
Kriegsverbrecher, die sich durch falsche Angaben über ihre Person, durch Flucht oder andere
Mittel“ einer Verfolgung entzogen hatten. Das Gesetz galt ferner nicht für Personen, die
wegen ihrer Taten im Nationalsozialismus zu mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe, aufgrund
der Direktive 38 oder unter Berufung auf Artikel 6 der DDR-Verfassung („Boykotthetze“)
verurteilt wurden. Der begünstigte Personenkreis sollte wieder entsprechend seiner
beruflichen Qualifikation eingesetzt werden können, um dem Mangel an Fachkräften
entgegenzuwirken. Auch der öffentliche Dienst und die gesellschaftlichen Organisationen
standen gemäß der fachlichen Eignung offen. Das schloss leitende Funktionen ein. Es
entstand jedoch auch diesmal keinerlei Anspruch auf eine Wiederbeschäftigung, geschweige
denn auf Einsetzung in früher eingenommene Positionen. Die DDR verfolgte also keine
Politik der Wiedergutmachung und leistete auch keinen Schadenersatz. Die Betroffenen
erhielten vielmehr die Chance, wieder von vorne anfangen zu dürfen. Dabei mussten sie sich
den üblichen Bewerbungsprozeduren unterwerfen und den neuen kaderpolitischen
Ansprüchen genügen.
Laut Gleichstellungsgesetz weiterhin ausgenommene Berufsbereiche waren die innere
Verwaltung und die Justiz, soweit Ausführungsbestimmungen nicht Ausnahmen zuließen.151
Das Gesetz gab darüber hinaus denjenigen, die auch nach Abschluss der Entnazifizierung
kein aktives oder passives Wahlrecht hatten, eben dieses zurück. Das Risiko hierbei war
gering. Denn seitdem die SED die Macht in den Händen hielt, konnten ihr die früheren Pgs.
über Wahlen keinen Schaden mehr zufügen. Zur Begründung des Gesetzes sagte Walter
Ulbricht SED-intern, seit Kriegsende sei genügend Zeit vergangen. Viele frühere Mitglieder
der NSDAP hätten ihre politischen Auffassungen geändert und als einfache Arbeiter oder als
Fachleute Aufbauarbeit geleistet. Außerdem habe sich die neue Ordnung soweit stabilisiert,
dass ein derartiger Schritt möglich sei.152 Des Weiteren hoffte man, die Loyalität der Pgs.
durch deren Dankbarkeit zu erhöhen. Das Gleichstellungsgesetz sollte die DDR
innenpolitisch weiter stabilisieren. Dabei nutzte die SED die Modalitäten der NSReintegration zum eigenen Machtausbau und konnte gleichzeitig mit Erstarken der eigenen
Vorherrschaft eine Pg.-Wiedereingliederung in zunehmendem Maße riskieren.
Im Oktober 1952 hob das „Gesetz über die staatsbürgerlichen Rechte der ehemaligen
Offiziere der Wehrmacht und der ehemaligen Mitglieder und Anhänger der Nazi-Partei“ die
letzten Beschränkungen, wie sie das Gesetz von 1949 vorsah, auf.153 Spätestens von nun an
wurden den ehemaligen Mitgliedern der NSDAP oder ihrer Gliederungen sowie
151
152
153
Regierungsvorlage zur Behandlung auf der 5. Tagung der Provisorischen Volkskammer gebilligt, siehe:
DY 30 / IV, 2/2/51, Protokoll Nr. 51 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 18.10.1949, Bl. 79,
116 f.; DY 30 / IV, 2/2/54, Protokoll Nr. 54 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 1.11.1949, Bl.
28, 36; DA 1 / 1041/10; siehe ferner: NY 4036 / 656, Bl. 107-109; DO 1 / 26.0, 2462, Ministerium des
Innern, Allenstein, an Zentralvereinigung der Gegenseitigen Bauernhilfe, Abteilung Personal, vom
03.01.1950; DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950, S. 5; DO 1 / 26.0, 2476,
Ministerium für Maschinenbau, Rechtsabteilung, Spitzner, an MdI, vom 06.08.1951, s.v. „X-Z“; DO 1 /
26.0, 8580, Ministerium des Innern, HA Staatliche Verwaltung, an HA Personal, vom 12.09.1950; DO 1 /
26.0, 8580, Ministerium des Innern, HA Staatliche Verwaltung, betr.: 2. Durchführungsbestimmung zum
Gesetz über den Erlass von Sühnemaßnahmen usw. vom 11.11.1949, vom 14.09.1950; Frei, Karrieren, S.
311; Wille, Entnazifizierung, S. 213; Boyer, Kader, S. 26; Amos, Justizverwaltung, S. 147.
NY 4036 / 735, Bl. 341; vgl.: DO 1 / 26.0, 8580, s.v. „S“, Ministerium des Innern, HA Staatliche
Verwaltung, betr.: 2. Durchführungsbestimmung zum Gesetz über den Erlass von Sühnemaßnahmen usw.
vom 11.11.1949, vom 14.09.1950; DY 30/IV, 2/5/201, Bl. 59 f.; DO 1 / 26.0, 2462, Ministerium des
Innern, Allenstein, an Zentralvereinigung der Gegenseitigen Bauernhilfe, Abteilung Personal, vom
03.01.1950; DA 1 / 1041/10, S. 2, 4; Zank, Wirtschaft, S. 52.
NY 4036 / 656, Bl. 119, Ulbricht an die Vorsitzenden der SED-Landesvorstände, vom 12.08.1949.
DY 30 / IV, 2/2/229, Protokoll Nr. 129/52 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 2.9.1952, Bl. 10,
14; DY 30 / IV, 2/2/232, Protokoll Nr. 132/52 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED am 16.9.1952,
Bl. 3, 10 f.; DA 1 / 1123; 1365/64.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
34
Wehrmachtsoffizieren die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte gewährt wie allen
anderen deutschen Staatsbürgern. Alle entgegenstehenden Bestimmungen wurden
aufgehoben. Von diesem letzten juristischen Integrationsakt ausgenommen blieben erneut
solche Personen, die wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Freiheitsstrafen verbüßten.154
Resümierend lässt sich feststellen, dass innerhalb kurzer Zeit, nämlich zwischen
1947/48 bis 1952, der ganz überwiegende Teil der NS-Belasteten Stück für Stück offiziell
mehr politische und berufliche Beteiligungsrechte erhielten. Nur wenige Jahre nach der
Niederlage Hitler-Deutschlands und dem Beginn der Entnazifizierung waren ehemalige Pgs.
rein rechtlich den übrigen Bürgern wieder gleichgestellt.155 Der Zwang, neue
Rekrutierungspotenziale zu erschließen, führte dazu, dass die Partei- und Staatsführung
immer denjenigen bislang ausgeschlossenen Ex-Nationalsozialisten ein Integrationsangebot
machte, die vergleichsweise am geringsten belastet waren. Zugleich ließ sie sie in diejenigen
Bereiche vordringen, die macht- und sicherheitspolitisch weniger bedeutend waren als andere.
Dabei besaßen solche Pgs. die besten Chancen für eine dauerhafte Wiedereingliederung, die
sich der ideologischen Weltanschauung und der Politik der kommunistischen Machthaber
gegenüber am aufgeschlossensten zeigten.
Eine NS-Vergangenheit stellte aber auch in den fünfziger Jahren einen Prüfstein dar.
Immer wieder glitten SED-Funktionäre in pauschale „Schwarz-Weiß-Malerei“ ab und
wünschten sich möglichst Pg.-freie Apparate.156 Manchmal zeigten sich Dienststellen auch
einfach unsicher in der Frage, welche Biografien integrierbar waren.157 Dabei betonten die
Kaderverantwortlichen, nicht schematisch alle Personen mit NS-Merkmalen über einen
Kamm scheren zu wollen, sondern individuell ein Bild aller kaderpolitischen Gesichtspunkte
zu erstellen und dann die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Wenn am Ende dieser
Bewertung sämtliche Belastungen oder Verdachtsmomente zu schwerwiegend erschienen und
die Betreffenden ein Sicherheitsrisiko darstellten, waren sie abzuweisen oder auszuwechseln.
In politisch besonders sensiblen Bereichen geschah das notfalls selbst dann, wenn kein
geeigneter Ersatz zur Verfügung stand.158 Unter dieser Maßgabe folgte der Entnazifizierung
im zentralen Staatsapparat eine ständige Säuberung, die punktuelle Höhepunkte erfuhr. Dies
geschah nach Meinung der SED im Angesicht einer Verschärfung des Klassenkampfes. Die
Angst vor feindlichen Spionen und Saboteuren wie überhaupt die an Dynamik gewinnende
154
155
156
157
158
Weber, DDR, S. 213; Danyel, SED, S. 188-190, 195.
Im Entwicklungszusammenhang der Wiedereingliederung NS-Belasteter ist auch die Freilassung von
mehreren tausend Strafgefangenen Mitte der fünfziger Jahre zu betrachten, die sowjetische Militärtribunale
und deutsche Gerichte als Kriegsverbrecher verurteilt hatten, siehe: SAPMO-BA, DY 30 / 3376, Bl. 82,
Bericht über die Ergebnisse der Tätigkeit der Kommission des Zentralkomitees zur Überprüfung von
Angelegenheiten von Parteimitgliedern, vom 06.06.1956.
Zum Beispiel wertete das MdI 1958/59 die Entfernung ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Bezirk
Neubrandenburg als positiv. Die Neueinstellung von Pgs. im Bezirk Cottbus galt jedoch als Verstoß gegen
die Beschlüsse des V. Parteitages. Ulbricht hatte auf dem Parteitag zwar gesagt, dass die SED nicht gegen
die Tätigkeit ehemaliger Offiziere sei (NSDAP-Mitglieder wurden anscheinend nicht explizit erwähnt).
Aber es wurde eine strenge Prüfung angemahnt, ob sich die Betreffenden nach 1945 positiv entwickelt
haben und für den Staatsapparat geeignet sind, siehe: DO 1 / 26.0, 17446, 10/58/1/1, Analyse der
Operativstatistik vom 15.10.1958 (Bericht vom 06.01.1959).
Als in der DWK die HV Post und Fernmeldewesen den ehemaligen SS-Angehörigen Walter M.
einzustellen beabsichtigte, fragte sie bei der HA Personalfragen und Schulung nach, ob dagegen Bedenken
bestehen. Die Hauptabteilung verweigerte eine solche Auskunft und antwortete stereotyp, dass jede
Dienststelle die Verantwortung für ihr Personal selbst trägt, siehe: DO 1 / 26.0, 2472, DWK, HV Post und
Fernmeldewesen, an DWK, HA Personalfragen und Schulung, vom 31.08.1949; siehe auch Kapitel
„Zugehörigkeit zur SS und sonstigen NS-Organisationen“.
DO 1 / 26.0, 17566, Ministerium der Justiz, Abteilung Kader, Arbeitsbericht für das II. Quartal 1953 laut
personalpolitischen Richtlinien des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik vom 28. August
1952, vom 30.06.1953, S. 10.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
35
Stalinisierung führte Ende der vierziger Jahre bis in die fünfziger Jahre hinein zu intensiven
Säuberungsmaßnahmen.159
Die permanente personelle Bereinigung war ein konstitutives Herrschaftsinstrument
kommunistischer Systeme.160 Insofern überrascht es nicht, dass der Säuberungsprozess, der
mit der Entnazifizierung begann, nach deren offizieller Beendigung in modifizierter Form
weiterging. Die fortgesetzte „Kaderhygiene“, d.h. die ständige Optimierung des Apparates
durch Personalwechsel und Kaderpflege zur Steigerung der Leistungsfähigkeit, der
ideologischen Festigkeit und des Gehorsams gegenüber der Machtelite, betraf die
Staatsorgane ebenso wie die Wirtschaft und die politischen Zusammenschlüsse.161 Wenn auch
unter den jeweiligen Kaderleitern in variierender Intensität, wurde jede Normabweichung als
Ausgangspunkt für eine Gefährdung der Herrschaftsgrundlagen angesehen. Sie war zu
kontrollieren oder auszuschalten.162 Dabei wurden Fehlentwicklungen konkreten Personen
angelastet, da übergeordnete Grundsatzentscheidungen der Partei praktisch als unantastbar
galten.163 Säuberungen verbesserten die Kontrollierbarkeit und Lenkbarkeit der Kader. Denn
neben der Ausmerzung von Gegnern disziplinierten und aktivierten sie die verbleibenden
Mitarbeiter.164 Die politischen Idealvorstellungen zur Zusammensetzung der Verwaltung
fanden ihre Grenzen natürlich in den fachlichen Ansprüchen und im Fachkräftemangel.
Dadurch konnten sich viele alte, bürgerlich geprägte Spezialisten teilweise noch jahrelang in
ihren Positionen halten.165 Dennoch wurden sie, sofern sie sich weltanschaulich als nicht
ausreichend anpassungsfähig erwiesen, nach Möglichkeit durch jüngere, politisch geschulte
Kräfte ersetzt.166 Diejenigen Kader, die die Überprüfungen bei der Einstellung und die
nachfolgenden Säuberungen überstanden, konnten sich im Vergleich zu den Gestrauchelten
als „höherwertig“ ansehen.167
Oft versuchten Kaderverantwortliche, die Säuberungsprozesse so gut es ging verdeckt
durchzuführen und mit scheinbar unpolitischen Ereignissen zu verbinden. Beispielsweise
wurde die Reorganisation der Deutschen Wirtschaftskommission im Frühjahr 1948 zur
Personalsäuberung genutzt.168 Ein weiterer Anlass waren Sparzwänge im Zuge der
Währungsreform, die ab Ende 1948 eine Personalreduzierung nach sich zogen.169 Das
Durchleuchten der Mitarbeiter betraf die ehemaligen NSDAP-Mitglieder ebenso wie alle
anderen Kader im Personal der Deutschen Wirtschaftskommission.170 In der DWK hieß es in
159
160
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168
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170
Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 94 ff.; Wenzke, Wege, S. 231.
Welsh, Kaderpolitik, S. 127.
Boyer, Kader, S. 17 f.; Welsh, Wandel, S. 85, 167; Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 101.
Säuberungen sollten im leninistischen Sinne die ideelle Reinheit und Geschlossenheit der „Kampfreihen
der Partei“ herstellen. Ziel war die Eliminierung von (potenziellen) Gefahrenherden. Abweichungen von
der Parteilinie galten als Schwächung des eigenen Lagers, siehe: Kleßmann, Resistenz, S. 460; Foitzik,
Säuberungen, S. 401 ff., 421.
Zimmermann, Überlegungen, S. 344.
Staritz, Sozialismus, S. 158, 164 f., 167.
Hübner, Manager, S. 57, 67, 70.
Richert, Macht, S. 273.
Lenk, Elite, S. 29 f.; vgl. Gieseke, Genossen, S. 211.
Hierzu wurde eine Kommission der Abteilung Personalpolitik beim Zentralsekretariat der SED eingesetzt.
Ihr Ziel war die »Qualifizierung des Bestandes der Kader der zentralen Wirtschaftsverwaltungen durch
Entfernung unzuverlässiger Elemente und unzulänglicher Kräfte und deren Ersetzung durch neue aktive
Kräfte aus den Ländern«. Darüber hinaus wurde die Umsetzung falsch eingesetzter Mitarbeiter innerhalb
der DWK angestrebt sowie die Einplanung für Weiterbildungen mittels Lehrgängen an Parteischulen,
Fachschulen, der Verwaltungsakademie etc., siehe: NY 4182 / 976, Bl. 38; DC 15 / 713, Bl. 28 RS,
Ansprache des Herrn Rau am 30.3.1948 an alle Mitarbeiter des Hauses, vom 30.03.1948.
DC 15 / 754, Bl. 10, 13; DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 32 ff., [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und
Verwaltung, undatiert; Boyer, Kader, S. 27; Amos, Justizverwaltung, S. 96 f.; Niedbalski,
Wirtschaftskommission, S. 385 f.; zur Währungsreform in der SBZ siehe: Schneider, Kriegswirtschaft, S.
47.
Ein Beispiel (Herbert So.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 62.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
36
diesem Zusammenhang zu einigen NS-Belasteten, sie seien nicht entbehrlich, solange keine
geeignete Ersatzkraft vorhanden ist. Sie waren daher vorerst an ihren Plätzen zu belassen,
sollten aber ausgewechselt werden, sobald geeigneter Ersatz vorlag.171 Zu anderen bestanden
gegen
eine
Weiterbeschäftigung
keine
Bedenken.172
Weitere
pointierte
Säuberungsgelegenheiten boten die Staatsgründung samt Transformation der DWK in die
DDR-Regierungsdienststellen oder die Folgezeit des Aufstandes am 17. Juni 1953. Erneut
wurden auch die ehemaligen Nationalsozialisten unter die Lupe genommen.173 Häufig
gestaltete sich eine Auswechselung mangels Alternativen schwierig, obwohl sie eigentlich
vorgesehen war.174 Der Kampf um eine Verzögerung oder gar Aufhebung von
Personalveränderungen ging soweit, dass sich im Falle einiger NS-Belasteter hohe
Funktionäre zu ihren Gunsten einschalteten. Meist waren dies die Vorgesetzten in der
Behörde oder Dienststellenleiter gegenüber dem MdI und der SED-Führung. Aber auch
innerhalb der SED bestanden unterschiedliche Auffassungen zu Art und Umfang der
Bereinigungen.175 Tendenziell legte der SED-Parteiapparat strengere Maßstäbe bei der
Beurteilung ehemaliger Nationalsozialisten an als die Staatsverwaltung. Dabei kam es
durchaus zu gewissen Auseinandersetzungen. Denn die Behörden legten den Schwerpunkt ein
wenig mehr auf eine reibungslose Funktionalität und die in der SED-Hierarchie
tonangebenden Altkommunisten eher auf einen ideologisch sauberen Personalkörper.176 Offen
zutage traten diese nicht grundsätzlich voneinander abweichenden, aber unterschiedlich
flexibel gehandhabten Personalvorstellungen bei den SED-Säuberungen, insbesondere bei der
Mitgliederüberprüfung 1951.177 In den DDR-Regierungsdienststellen waren ehemalige
Nationalsozialisten dabei deutlich häufiger von Sanktionsmaßnahmen betroffen als „normale“
SED-Angehörige. Mehr als doppelt so oft wurde die Zurückversetzung in den
Kandidatenstand oder die Streichung der Mitgliedschaft ausgesprochen. Rund viermal mehr
als im Durchschnitt wurde der Parteiausschluss verhängt.178 Im Zusammenhang mit anderen
Negativmerkmalen wurde eine NS-Vergangenheit aus diesem Anlass in etlichen Fällen neu
bewertet und führte zu Sanktionen.179 Bei den Angehörigen des NS-Samples ging ein
171
172
173
174
175
176
177
178
179
So die zuständigen DWK-Hauptverwaltungen über Ferdinand Beer, Ernst Hennig und Franz H.; auch
Bernd Veen wurde von der SED, Abteilung Personalpolitik, in die Gruppe „bei Ersatz auszuwechseln“
eingestuft. Gleiches widerfuhr Egon Wagenknecht im Zuge der Stellenplaneinsparung 1948/49, siehe: DO
1 / 26.0, 17601, DWK, HV Wirtschaftsplanung, Beurteilung über Ferdinand Beer, vom 28.06.1949; DO 1 /
26.0, 17601, DWK, HV Wirtschaftsplanung, Beurteilung über Ernst Hennig, vom 28.06.1949; DY 30 / IV,
2/2.027/6, SED, Abteilung Personalpolitik, an Merker, betr.: HV Land- und Forstwirtschaft, vom
06.01.1949; Kuhlemann, Kader (2005), S. 63.
So die HV Chemie im Juni 1949 über Josef Schaefers, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, DWK, HV Chemie,
Beurteilung über Josef Schaefers, vom 20.06.1949.
Ein Beispiel (Werner P.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 63. Vor der Amnestierung 1956 warf die
Partei dem infolge des 17. Juni 1953 festgenommenen Justizminister Max Fechner vor, er habe „NSDAPBelastete in das Ministerium einzuschleusen“ versucht. Das war offenbar eine Anspielung auf seinen
persönlichen Referenten Günter Scheele, siehe: Hoefs, Kaderpolitik, S. 164; Amos, Justizverwaltung, S.
136; zu Scheele siehe Kapitel »Die „doppelten Parteigenossen“ und ihre illegale Untergrundarbeit: Eintritt
im Auftrag der KPD und SPD«.
Siehe den Fall Helmut Wikary, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 63.
Ein Beispiel (Günther Kromrey) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 63.
Entsprechende Auseinandersetzungen zu Franz Woytt und Kurt V. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 64.
Das ZK ordnete im Oktober 1950 eine Überprüfung der Parteimitglieder und Kandidaten an, die bis zum
Juli 1951 erfolgte. Details zur quantitativen Mitgliederentwicklung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 64;
Herbst / Ranke / Winkler, DDR, S. 897; Wenzke, Wege, S. 259; Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 102;
Foitzik, Säuberungen, S. 412-414.
Von allen SED-Mitgliedern in den Ministerien verweigerten 0,12% die Überprüfung und 0,1% traten vor
der Überprüfung aus. Einzelheiten zur Häufigkeit der jeweiligen Beschlüsse siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 64.
Insofern widerspreche ich Jürgen Danyel, der meint, eine NS-Belastung habe bei Säuberungen in der SED
nur dann eine Rolle gespielt, wenn die betreffenden Mitglieder keine oder falsche Angaben darüber
gemacht hatten, wofür die Richtlinien den Ausschluss vorsahen, siehe: Danyel, SED, S. 183 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
37
Ausscheiden aus der SED fast immer auf eine Säuberung zurück. Nur in zwei Fällen war ein
freiwilliger bzw. aus eigener Initiative erfolgender Parteiaustritt nachweisbar.180 Die schweren
Parteistrafen zogen unweigerlich auch berufliche Konsequenzen nach sich. Gestrichene oder
ausgeschlossene Regierungsangestellte, ehemalige Pgs. inbegriffen, mussten ihren
Arbeitsplatz in der Regel unverzüglich räumen.181 Teilweise wurden sie in nachgeordnete
Dienststellen oder in die Wirtschaft versetzt, wo sie erneut Gelegenheit erhielten, sich zu
bewähren.182 Die meisten früheren Nationalsozialisten in der SED bekamen ihr
Parteidokument jedoch ohne jegliche Sanktionen zurück.183
Resümierend lässt sich sagen, dass sich bereits während der Entnazifizierung die
offiziellen Wiedereingliederungsmöglichkeiten an ehemalige NSDAP-Mitglieder allmählich
mehrten und 1952 in die völlige rechtliche Gleichstellung mündeten. Dem stand jedoch eine
interne Säuberung entgegen. Die Notwendigkeit der fachlichen Effizienz setzte den
Säuberungsbemühungen dabei Grenzen. Der Doppelcharakter der Entnazifizierung setzte sich
nach ihrem Abschluss im Rahmen der Kaderpolitik fort, indem Gegner der SED entlassen und
Unterstützer protegiert wurden. Die Pgs. waren hiervon ebenso betroffen wie andere Kader.
1.2 Von Fragebögen und dem Wunsch zu schweigen
Spätestens ab 1949 war die gezielte Frage nach der früheren Partei- und
Organisationszugehörigkeit in Personalfragebögen bei den Betroffenen besonders umstritten.
Sie verkörperte das Verlangen der Personalabteilungen nach gläsernen Kadern. Zur Zeit der
Entnazifizierung diente die Beantwortung der Frage der Einstufung in eine
Belastungskategorie samt der damit verbundenen Strafen und Beschränkungen.184 Nach dem
offiziellen Ende der Entnazifizierung entfiel dieser Grund. Dennoch wurde die
Mitteilungspflicht in der DDR beibehalten, um das Personal kaderpolitisch möglichst gut
einschätzen zu können. Wer sich um eine Arbeitsstelle bewarb oder bestimmte Leistungen
beantragte, musste auch weiterhin Auskunft über eine eventuelle NSDAP-Mitgliedschaft
erteilen. Das sorgte für beträchtliche Unruhe in der Bevölkerung. Die ganz überwiegende
Mehrheit der ehemaligen Nationalsozialisten empfand die Frage danach nämlich als
unvereinbar mit dem Befehl Nr. 35 und erst recht mit dem Gleichstellungsgesetz vom
November 1949. Vor allem in Letzterem sah sie unter Berücksichtigung eng umgrenzter
Ausnahmen das Ende jeglicher Benachteiligung und Diskriminierung aufgrund einer
persönlichen NS-Vergangenheit. Die ehemaligen Pgs. verstanden es als Handreichung für den
so sehnlich erwünschten beruflichen und gesellschaftlichen Neuanfang, so wie es führende
ostdeutsche Politiker auch immer wieder propagierten. Ein „new deal“ schien möglich. Er
versprach, Hunderttausende von der Last der überdurchschnittlichen Mitverantwortung am
Nationalsozialismus zu befreien. Das neue Gesetz verhieß das Untertauchen in der großen
Masse, die Erlaubnis zum Verbergen der eigenen Verstrickung mit dem NS-Regime und
damit die „Egalisierung“ der Schuldfrage. Das Bedürfnis der Pgs. nach einer Geste der
180
181
182
183
184
Details zu Helmut Wikary und Egon Wagenknecht siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 65.
Siehe den Fall Konstantin Pritzel, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 65; zu Regierungsangestellten, die auf
Grund der SED-Mitgliederüberprüfung entlassen wurden, siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17349, 124/51/3/1,
125/51/3/1.
Ein Beispiel (Herbert Seifert) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 65.
Beispiele (Harald Schaumburg, Hans Forsbach, Ferdinand Beer, Helmut Wikary, Erwin Melms) siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 65.
Die SMAD hatte frühzeitig damit begonnen, detaillierte Fragebögen auszugeben, siehe: Rössler, Aspekte,
S. 137.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
38
Versöhnung, nach einer Reinwaschung der braunen Flecken im eigenen Lebenslauf, nach
Vergebung und Beendigung der Sanktionen war groß.
Doch die DDR-Behörden hielten daran fest, dass sich ehemalige NSDAP-Mitglieder als
solche zu erkennen geben mussten. Sie verlangten im Rahmen der Kaderpolitik über den
gesamten
politischen
Lebenslauf
jedes
Individuums
genaue
Informationen.
Entwicklungsmöglichkeiten waren auszuloten, Gefahren mussten eingeschätzt werden.
Weiterhin als Personen identifiziert zu werden, die zumindest moralisch mehr als andere für
die Verbrechen des NS-Regimes verantwortlich gemacht wurden, war für die Pgs. natürlich
äußerst unangenehm. Die NS-Belasteten fürchteten, dass kaum ein Arbeitgeber sie aus
politischen Ressentiments einstellen würde. Wirtschaftliche Nachteile durch eine
ausbleibende Karrierefortsetzung wären die Folge gewesen. Auch die psychischen
Belastungen aufgrund eines nicht enden wollenden Rechtfertigungszwanges und der Furcht
vor anhaltenden sozialen Ausgrenzungen spielten eine Rolle.185 Die offizielle
Gleichberechtigung durch das Gesetz drohte also eine theoretische Angelegenheit zu bleiben,
da die Basis weit weniger zur Versöhnung bereit war als die politischen Spitzen.186
Manche Fragebögen wiesen zwar im Laufe der Zeit keine spezielle Rubrik zur NSDAP
und den NS-Gliederungen mehr auf. Die Frage nach sämtlichen Parteien und Organisationen,
denen die Bewerber irgendwann einmal angehört hatten, lief jedoch auf das Gleiche hinaus.
Die Pgs. stellten insofern praktisch keinen Unterschied im Vergleich zu ihrer Entnazifizierung
fest. Sie sahen sich genötigt, auch künftig faktisch benachteiligende Angaben zu machen.
Dabei hatten sich hochrangige DDR-Politiker mehrfach in der Öffentlichkeit dazu bekannt,
den Nominellen die Chance zur Teilnahme am Aufbau des Landes bei fast völliger rechtlicher
und politischer Gleichberechtigung zu gewähren. Die Pgs. verstanden darunter ganz eindeutig
den Verzicht auf einen politischen Offenbarungseid.
Dieses Problem beschäftigte auch frühzeitig die Parteien. Auf der 36. Sitzung des
Gemeinsamen Ausschusses der „zentralen Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen
Parteien“ am 26. Oktober 1948 wurde auf Antrag der LDP über Fragebögen debattiert. Die
Liberaldemokraten vertraten die Ansicht, ins Einzelne gehende Fragen nach einer
Mitgliedschaft in der NSDAP und ihren Organisationen seien durch den Abschluss der
Entnazifizierung in der SBZ überflüssig geworden. Es würde ausreichen, nur noch danach zu
fragen, ob der Befragte das aktive und passive Wahlrecht hat. Das traf auf die nominellen Pgs.
zu. Außerdem sollte man erfahren dürfen, ob und wenn ja welche Beschränkungen durch den
Spruch einer Entnazifizierungskommission auferlegt wurden. Darüber hinaus schien der LDP
die Frage nach der Zugehörigkeit der Verwandten zur NSDAP oder ihren Gliederungen „doch
sehr nach der früheren Sippenhaftung, die die NSDAP sich zu Eigen gemacht hatte, zu
riechen“. Sie empfahl den völligen Verzicht darauf. Es wurde ergänzend darauf hingewiesen,
dass es für den Aufbau eines neuen demokratischen Staates nötig sei, auch die NS-Belasteten
zur Mitarbeit heranzuziehen. Die fortdauernde Frage nach der NSDAP-Zugehörigkeit würde
die Pgs. jedoch diffamieren und aus ihnen Menschen zweiter Klasse machen. Man brächte sie
185
186
DC 15 / 754, Bl. 18 RS.
Ein ehemaliges NSDAP-Mitglied fasste die Hoffnungen, die mit dem Gleichstellungsgesetz verbunden
wurden, in einem Brief an Ministerpräsident Otto Grotewohl wie folgt zusammen: »Voller Dankbarkeit
gegenüber Ihrer Person nahmen alle ehemaligen Pg´s davon Kenntnis, denn es war eine Erleichterung für
jeden, den das Gesetz betraf«. Schon in den folgenden Sätzen offenbart sich aber die Enttäuschung über die
vielfach erfahrene Diskrepanz zwischen dem offiziell verlautbarten Anspruch, dem ganz persönlichen und
der Realität: »Aber wie sieht nun die Angelegenheit in Wirklichkeit aus? Von Ihnen in großzügiger Weise
endlich über Vergangenheit ein Schlußstrich gezogen, ist man an vielen Stellen noch nicht soweit, was die
Personalfragebogen bezeugen. Bewirbt man sich um irgendeine Stellung, so bekommt man einen
Fragebogen mit 27 Fragen vorgelegt, worunter sich auf Seite 3 des Bogens folgende Frage befindet:
„Welcher Partei gehörten resp[ektive] gehören Sie an?“ Entgegen Ihrem Gesetz ist man hier trotz Ihrer
festgelegten Durchführungsbestimmungen wieder gezwungen, das was von Ihnen abgeschafft wurde,
wieder anzugeben, wenn auch die Fragestellung jetzt eine andere ist«, siehe: DO 1/ 26.0, 2476, s.v. „B“,
Rudolph B[...], an Grotewohl, vom 22.01.1951; ebd., MdI, Wieland, an Rudolph B[...], vom 09.03.1951.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
39
damit in eine Kontrastellung zu den demokratischen Kräften. Viele hätten schon vor
Kriegsende die Wahrheit erkannt und begonnen, sich durch körperliche Arbeit seit 1945 „ein
Recht in diesem neuen Staat zu erwerben“.187
Während die Repräsentanten der übrigen Parteien die Frage nach der politischen
Organisationszugehörigkeit von Verwandten ebenfalls kritisierten oder als verzichtbar
bezeichneten, widersprachen sie einem Verzicht auf die Auskunftspflicht zur früheren
Parteizugehörigkeit des den Fragebogen Ausfüllenden. Es kamen Sicherheitsbedenken und
die Frage zum Ausdruck, ob man den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern schon so sehr
vertrauen konnte, dass eine Kontrolle ihrerseits unnötig war. Mit einer Reduzierung auf die
Frage nach dem aktiven und passiven Wahlrecht und eventuellen Entnazifizierungsauflagen
hätte man automatisch die Nominellen, die ja auch nach den Verlautbarungen der SED zu
reintegrieren waren, anonymisiert und damit unbehelligt gelassen. Das war, was die SEDVertreter im Ausschuss nicht wollten. Sie strebten ein kaderpolitisches Gesamtbild ohne
Lücken an und vertraten im Ausschuss deshalb die Ansicht, die Frage nach dem Wahlrecht
sei nicht ausreichend und man könne auf die Frage nach der gesamten politischen
Entwicklung nicht verzichten. Auch der Vorschlag, gezielt nur bei sensiblen Arbeitsfeldern
und leitenden Positionen nach früheren Parteimitgliedschaften zu fragen, sollte sich nicht
durchsetzen. Namentlich Wilhelm Pieck (SED) und – im Gegensatz zu weiten Teilen seiner
Partei – Otto Nuschke (CDU) setzten dabei einen neuen Bewährungsmaßstab an und erklärten
im Grunde, dass auch die bereits Entnazifizierten sich noch nicht hinreichend bewährt
hätten.188 Am Ende kam es schließlich zu keiner Beschlussfassung des Gemeinsamen
Ausschusses der zentralen Einheitsfront. Die Auskunftspflicht zur politischen Vergangenheit
blieb bestehen.
Das hielt Vertreter der LDP, CDU und seit ihrer Gründung der NDP nicht davon ab, in
den Folgejahren weiter auf dieses Problem hinzuweisen.189 Sie stellten sich auf die Seite der
Ex-Nationalsozialisten, die beklagten, dass sie den in Aussicht genommenen Arbeitsplatz
nicht mehr erhielten, sobald sie ihre ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft bekannt geben
mussten. Vor allem die Nationaldemokratische Partei entwickelte sich diesbezüglich zum
Sprachrohr der enttäuschten Pgs. Das Parteiblatt „National-Zeitung“ prangerte zum Beispiel
Anfang 1949 an, dass sich ehemalige NSDAP-Mitglieder auch nach Ende der
Entnazifizierung in Berlin genötigt sahen, bei der Arbeitssuche ihre NS-Vergangenheit zu
verharmlosen, sie zu unterschlagen oder sich sogar zum Widerständler zu stilisieren. Denn die
Rechtfertigungs- und Inszenierungspraxis aus der Entnazifizierung habe sich anlässlich der
behördlichen Personalfragebögen, die Erklärungen zur politischen Betätigung verlangten, und
durch geforderte politische Referenzen fortgesetzt. Dabei half es auch nicht, dass eine
besondere Kennzeichnung der Arbeitsbücher der früheren Pgs. seit Beendigung der
Entnazifizierung in Berlin untersagt war und die Polizei in neu ausgestellte Personalausweise
187
188
189
Die LDP kritisierte auch Fragen nach dem früheren Militärdienst. In der Einbeziehung der Verwandtschaft
lag zudem ein Unterschied zum amerikanischen Entnazifizierungsfragebogen, siehe: NY 4036 / 716, Bl.
182-191, Protokoll der 36. Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses der zentralen Einheitsfront der
antifaschistisch-demokratischen Parteien am 26.10.1948.
Siehe eine ausführliche Darstellung und Kommentierung der auf dieser Sitzung vertretenen Positionen zur
Fragebogenthematik in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 68-72.
Otto Kamps (LDP), Minister für Handel und Versorgung in Sachsen-Anhalt, soll 1950 die Ansicht
vertreten haben, bei Beurteilungen einzelner Personen anlässlich des Einbaus in führende Positionen der
Verwaltung, Wirtschaft etc. nicht nach einer NSDAP-Mitgliedschaft oder der Zugehörigkeit zum
Berufssoldatentum zu fragen, wenn es sich um LDP-Angehörige handelte, während er bei SED-Mitgliedern
vehement einen entgegengesetzten Standpunkt vertreten habe. Im CDU-Blatt „Neue Zeit“ gab es am
30.10.1949 eine Glosse gegen Fragen nach der früheren Parteizugehörigkeit, siehe: DO 1 / 26.0, 3716, MdI
Sachsen-Anhalt, Übersendung der Personalunterlagen von Otto Kamps, an MdI, Warnke, vom 11.08.1950
(darin: Charakteristik, vom 07.08.1950); NY 4090 / 508, Bl. 281, Analyse der Glossen auf der ersten Seite
der CDU-Zeitung „Neue Zeit“, undatiert [1949].
Jens Kuhlemann – Braune Kader
40
keine „Trockenstempel“ zwecks Registrierung ehemaliger NSDAP-Mitglieder mehr
anbrachte.190
Bei aller Parteinahme scheint sich die NDP-Spitze dennoch bald den Realitäten gestellt
zu haben. So agitierte zwar auch der Parteivorsitzende Lothar Bolz 1949 in der Öffentlichkeit
noch populistisch gegen das „Fragebogenunwesen“. Er verlangte, nur noch die Frage nach der
Wahlberechtigung zu stellen und Ausnahmen hiervon allein bei Stellen zu machen, die
früheren NSDAP-Mitgliedern offiziell verwehrt waren. Außerdem sollte jede gesonderte
Kennzeichnung von Fragebögen, Karteiblättern und Mitgliedsbüchern etc. für ehemalige Pgs.
grundsätzlich verboten sein.191 Intern fuhr man jedoch zumindest zeitweilig eine gemäßigtere
Linie. Vincenz Müller, stellvertretender Vorsitzender und politischer Geschäftsführer der
NDP, bezeichnete nämlich ein Jahr später in einer Eingabe an MdI-Staatssekretär Warnke die
umfangreichen Fragestellungen zur politischen und militärischen Vergangenheit des
Einzelnen und der Verwandtschaft in Fragebögen zwar als Mangel bei der Durchführung des
Gleichstellungsgesetzes. Er kritisierte, dass sogar Sozialämter vor Erteilung von
Schwerbeschädigtenausweisen oder Gewerbebehörden bei Zulassung zu einem privaten
Gewerbe die Ausfüllung solcher Fragebögen verlangten. Jedoch forderte Müller – vielleicht
auch mit Blick auf das politisch Erreichbare – vom Ministerium des Innern keinen generellen
Verzicht mehr auf diese Fragen. Er verlangte stattdessen nur noch, dass alle Stellen, die zur
Ausgabe von Fragebögen berechtigt waren, die vom MdI herausgegebenen Fragebögen
verwenden und keine anderen, die ihm anscheinend in ihrer Ausführlichkeit zu weit gingen.
Müller war also offenbar nur noch um Schadensbegrenzung bemüht und nicht mehr darauf
aus, einen Totalverzicht auf die Frage nach der politischen Vergangenheit zu erwirken.192
In den Deutschen Zentralverwaltungen, der DWK und im DDR-Regierungsapparat
mussten die Angestellten nach Beendigung der Entnazifizierung ebenfalls Personalfragebögen
ausfüllen, die nach der Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen NS-Organisationen fragten.
Sie bezogen sich auf die Betreffenden selbst sowie auf ihre Familienangehörigen.193 An dieser
Praxis wurde in den Ministerien bis zum Ende der DDR festgehalten. Noch in den achtziger
Jahren verlangten die Personalbögen Auskunft über die Zugehörigkeit zur ehemaligen
NSDAP und ihren Gliederungen, nach Mitgliedsdauer und Funktionen.194 Nach Abschluss der
Entnazifizierung hatten die Personalabteilungen der Arbeitgeber, in diesem Fall die der
staatlichen Verwaltung, die Aufgabe der politischen Säuberung und „Kaderhygiene“ von den
Entnazifizierungskommissionen übernommen. Der Umfang der Fragen zur politischen
190
191
192
193
194
National-Zeitung, Artikel „Behörden setzen ein altes Spiel fort“, vom 15.01.1949; National-Zeitung,
Bericht „Die Gesamtpersönlichkeit entscheidet“, vom 11.03.1949.
Bolz nannte als Beispiel den Fragebogen für die Personalstatistik der Landesregierung Sachsen-Anhalt. Er
enthielt nicht weniger als 144 Punkte, von denen sich rund die Hälfte mit der politischen Vergangenheit
und gegenwärtigen Orientierung, Betätigung und Parteizugehörigkeit befassten, siehe: National-Zeitung,
Beitrag „Erst Fragebogen –“, vom 04.03.1949; National-Zeitung, Beitrag „Fragebogen, gedruckt im
Februar 1949“, vom 15.03.1949.
Das MdI vermerkte, dass bei Einstellungen in der gesamten staatlichen Verwaltung und volkseigenen
Wirtschaft der vom MdI eingeführte Personalbogen galt, und wertete Abweichungen hiervon als
Übergangserscheinungen, siehe: DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950, S.
3.
Der in der DJV verwendete Personalfragebogen wurde ab 1948 mit 60 weiteren Fragen ergänzt, die die
Mitgliedschaft in NS-Organisationen betrafen. Dies betraf auch das familiäre Umfeld (Eltern, Geschwister,
Kinder, Ehepartner usw.). Weiterhin wurde nach Dienstdauer, Dienststellen, Art der Tätigkeit etc. gefragt.
Vgl. einen Fragebogen für Nomenklaturmitarbeiter beim Staatssekretariat für Berufsausbildung von ca.
1952, in dem nicht nach der NSDAP-Zugehörigkeit gefragt wurde. Wahrscheinlich handelte es sich nur um
einen zusätzlichen Fragebogen, der nicht mehr alle kaderpolitisch relevanten Punkte umfasste, in: DO 1 /
26.0, 17599, Einheit 39, Staatssekretariat für Berufsausbildung, Fragebogen; Amos, Justizverwaltung, S. 94
f., 245 ff.
Ebenso nach der Zugehörigkeit zur Wehrmacht oder anderen militärischen Formationen und den
Dienstgraden, Auszeichnungen, Einsatzorten, der Zugehörigkeitsdauer sowie einer eventuellen
Kriegsgefangenschaft im 2. Weltkrieg und Lagerschulungen, siehe: DP 1 / VA 8459.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
41
Vergangenheit fiel daher nicht geringer aus als vorher. Für das Personal der DWK und der
Zentralverwaltungen sind allerdings keine Beschwerden bekannt. Dies verwundert nicht, da
dort zum einen vergleichsweise wenige NSDAP-Mitglieder beschäftigt waren. Zum anderen
stand bis zum Ende der Entnazifizierung, während der ein Großteil von ihnen in den
Verwaltungsapparat gelangte, die Frage nach der früheren Parteizugehörigkeit unzweifelhaft
in Einklang mit den offiziellen Rahmenbedingungen. Diese beiden Faktoren galten spätestens
für die DDR-Regierung nicht mehr. Doch auch von früheren Nationalsozialisten, die sich ab
1949 für eine Stelle beim zentralen Staatsapparat bewarben oder dort bereits tätig waren, sind
keine kritischen Schreiben überliefert. Den Grund hierfür darin zu sehen, dass in den OstBerliner Ministerien ausschließlich solche ehemaligen NSDAP-Mitglieder vorstellig wurden,
die aus besonderer Einsicht heraus die Vergangenheitsnachfrage vorbehaltlos akzeptierten,
scheint zu gewagt. Gleichwohl hat die sorgfältige Auswahl ehemaliger Pgs., die in den
Regierungsdienststellen arbeiten durften, dazu beigetragen, dass diese – bei allen Ausnahmen
– tendenziell politisch loyaler eingestellt waren als andere NS-Belastete. Nicht auszuschließen
ist, dass entsprechende Schreiben einfach verloren gegangen sind. Oder aber die Pgs. wagten
im zentralen Regierungsapparat überhaupt keine Beschwerdebriefe abzufassen – wegen der
dort im Vergleich zu anderen Dienststellen besonders stark ausgeprägten Kontroll- und
Disziplinierungsmethoden und aus Angst vor Sanktionen.
Nichtsdestoweniger liegen etliche Eingaben früherer NSDAP-Angehöriger aus dem
gesamten Gebiet der DDR vor, die bei untergeordneten Dienststellen und Betrieben um
Arbeit nachsuchten oder dort bereits tätig waren. Diese Schreiben nebst den Reaktionen der
Arbeitgeber und Behörden geben einen guten Einblick in die unterschiedlichen Vorstellungen
zur Umsetzung der Wiedereingliederungspolitik – einerseits von Seiten der NS-Belasteten
selbst, andererseits von Seiten der Personalverantwortlichen. Da zu diesen Vorgängen darüber
hinaus Stellungnahmen des Ministeriums des Innern existieren, lassen sich für die ehemaligen
Nationalsozialisten im zentralen Regierungsapparat Rückschlüsse ziehen. Denn das stetige
Verlangen des MdI nach lückenloser Auskunftserteilung über die NS-Vergangenheit legt
nahe, dass in den Ost-Berliner Ministerien der gleiche Maßstab galt. Darüber hinaus dürfen
wir davon ausgehen, dass sich in den Köpfen so mancher Regierungs-Pgs. ähnliche Gedanken
abspielten, wie sie in den Petitionen früherer Nationalsozialisten aus politisch weniger
wichtigen Dienststellen zum Ausdruck kamen. Deren Schreiben waren, wie zu sehen sein
wird, in einem bittstellerischen oder unsicheren, manchmal aber auch erstaunlich
selbstbewussten und anklagenden Tonfall gehalten. Sie richteten sich meistens an Präsident
Wilhelm Pieck oder an Ministerpräsident Otto Grotewohl. Seltener erhielt das Ministerium
des Innern solche Eingaben direkt zugesandt. Am Ende bekam sie die HA Personal jedoch
alle zur weiteren Bearbeitung überwiesen. Die Petenten wünschten sich dabei im „Kampf“
gegen untere Behörden eine verbindliche Auskunft von höchster Stelle, ob die Frage nach den
eigenen NS-Belastungen im Personalfragebogen zu beantworten war oder nicht.195 Sie baten
unter Hinweis auf das Gesetz und die Wiedereingliederungsangebote der Spitzenpolitiker
darum, auf solche Bekenntnisforderungen zu verzichten. So sollte in Gleichberechtigung mit
allen anderen Mitbürgern nicht einmal die theoretische Möglichkeit der persönlichen
Benachteiligung im Berufsleben bestehen.
Einige NS-Belastete wandten sich zunächst an andere Ministerien, Landes- und
Lokalverwaltungen, Betriebe und Massenorganisationen. Bei diesen herrschte nach
Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes von 1949 vielerorts Unklarheit über die
Auswirkungen der neuen Rechtslage. Die Handhabung des Gesetzes erfolgte durch die
verschiedenen Behörden in der DDR völlig uneinheitlich. Einige beharrten im Sinne der
SED-Führung auf der Beantwortung der Frage nach den ehemaligen politischen
Organisationszugehörigkeiten und dem Militärdienst. Andere hielten dies wie die ehemaligen
195
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „NO“, Bernhard N[...], an Amt für Information, vom 08.11.1951; ebd., MdI,
Wieland, an Bernhard N[...], vom 11.12.1951.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
42
NSDAP-Mitglieder für unvereinbar mit dem neuen Gesetz.196 Um das Durcheinander zu
lichten, baten mehrere Dienststellen das Ministerium des Innern direkt um Auskunft, wie das
Gleichstellungsgesetz in der Praxis anzuwenden sei. Noch fast zwei Jahre nach seiner
Verabschiedung berichtete zum Beispiel das Ministerium für Maschinenbau davon, dass
immer wieder Zweifel auftauchten, ob aufgrund des Gesetzes über den Erlass von
Sühnemaßnahmen die Frage nach der Parteizugehörigkeit vor 1945 noch zulässig sei.197
Mehrere lokale Behörden und Betriebe hätten dies verneint und den entsprechenden Passus in
ihren Personalfragebögen gestrichen. Andere Betriebe, die weiterhin Auskunft darüber
verlangten, sahen sich mit Angestellten konfrontiert, die unter Berufung auf das Gesetz und
ihnen den Rücken stärkende Presseartikel eine Beantwortung auslassen oder ablehnen.
Bezeichnend war dabei nicht nur der hier angedeutete Widerstand an der Pg.-Basis. Darüber
hinaus war die Rückfrage beim MdI symptomatisch für die Scheu anderer Dienststellen in der
DDR, Verantwortung zu übernehmen, die Vorgaben möglicherweise „falsch“ anzuwenden
und dafür eine Strafe zu riskieren.198
Die Betriebsgewerkschaftsleitung des Berliner Akademie-Verlags bat das Ministerium
des Innern sogar um Entschuldigung, sich erst eineinhalb Jahre nach dem Inkrafttreten des
Gleichberechtigungsgesetzes zu erkundigen, ob denn die Frage nach der Zugehörigkeit zur
NSDAP und ihren Gliederungen noch erlaubt sei. Die BGL sei zuvor vom FDGB unterrichtet
worden, dass dies nicht geschehen soll. Es interessierte sie daraufhin „nicht mehr, was der
einzelne Kollege früher war, sondern wie er heute zu unserem demokratischen Staat steht“.
Deshalb forderten die Gewerkschafter von ihren Mitarbeitern lediglich die Beschreibung der
politischen Entwicklung nach 1945. In dieser Frage vertrat der dortige Personalchef jedoch
eine andere Auffassung. Es gab also auch innerhalb der Dienststellen Konflikte über die
korrekte Behandlung ehemaliger Nationalsozialisten, so dass die BGL im Wunsch nach
Schlichtung das Ministerium des Innern um Mitteilung bat, „ob unsere Meinung die richtige
ist“.199
Solche Vorgänge belegen auf der einen Seite, dass viele Personalleiter sich eine
tatsächliche Wiedereingliederung der Nominellen ohne Anonymisierung ihrer NS-Belastung
nicht vorstellen konnten. Die öffentlich abgegebenen Integrationsversprechen vor Augen,
zeigten sie sich etwas orientierungslos. Von den vielen Kaderabteilungen abgesehen, die nicht
hundertprozentig sicher waren, welchen Umfang die Informationspflicht einnahm, ist es nicht
verwunderlich, dass auch zahlreiche Pgs. nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. Es ist
daher nicht auszuschließen, dass manche Personen in dem guten Glauben waren, auf der
Grundlage des Gleichstellungsgesetzes ihre NSDAP-Mitgliedschaft nicht mehr angeben zu
müssen, obwohl danach gefragt wurde, und die Nichtnennung bis auf weiteres unerkannt
blieb. So gesehen hätte es sich also um eine nicht vorsätzlich begangene Fragebogenfälschung
gehandelt. Diejenigen wiederum, die um die Auskunftspflicht wussten und ihre politische
Vergangenheit dennoch verheimlichten, könnten sich beim Entdecktwerden hinter dieser
Ahnungslosigkeit versteckt haben. Wahrscheinlich klärten die Personalabteilungen, die
196
197
198
199
Zu Letzteren zählten neben direkt betroffenen Verwaltungen und Betrieben auch mehrere Arbeitsämter und
Dienststellen der Volkspolizei, siehe: DO 1/ 26.0, 2476, s.v. „B“, Rudolph B[...], an Grotewohl, vom
22.01.1951.
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „X-Z“, Ministerium für Maschinenbau, Rechtsabteilung, Spitzner, an MdI, vom
06.08.1951.
Derartige Rückfragen an maßgeblicher Stelle mögen zwar stets auch Teil behördenüblicher Vorgänge
gewesen sein. Im vorliegenden Fall wird das ausweichende Verhalten eigentlich fachkundiger Personen
jedoch noch dadurch unterstrichen, dass ausgerechnet die Rechtsabteilung des Ministeriums für
Maschinenbau das MdI um eine „grundsätzliche Stellungnahme“ ersuchte, um künftige Anfragen dieser
Art richtig zu beantworten, siehe: DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „X-Z“, Ministerium für Maschinenbau,
Rechtsabteilung, Spitzner, an MdI, vom 06.08.1951.
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „NO“, Akademie-Verlag GmbH, Betriebsgewerkschaftsleitung, an MdI, vom
24.04.1951.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
43
sowieso von Zeit zu Zeit neue Fragebögen zur Ausfüllung an ihre Mitarbeiter verteilten,
jedoch schon bald über die gewünschte Linie auf.
Auf der anderen Seite unterstreichen die genannten Beispiele die faktische Bedeutung
der HA Personal als übergeordnete rechtspolitische Entscheidungsstelle für Personalfragen.
Obwohl das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit stets betont wurde, waren unter ihrer
Aufsicht stehende Behörden oftmals viel zu unsicher und unselbständig, um in einem Land, in
dem die höchsten Führungszirkel entschieden, was „richtig“ und was „falsch“ war,
eigenständig zu handeln und für eigene abweichende Meinungen dann auch den Kopf
hinzuhalten.200 Neben den „Pg.-freundlichen“ Beispielen finden sich aber auch solche, bei
denen Funktionäre von Anfang an genau darüber im Bilde waren, dass das Merkmal „NSbelastet“ weiterhin eine wichtige kaderpolitische Rolle spielte und deshalb danach zu fragen
war. Sie gaben den Auskunftspflichtigen zumeist aber nur ausweichende Antworten auf ihre
Vorhaltungen, dass gemäß den öffentlichen Verlautbarungen und der neuen Gesetzeslage eine
Frage nach der früheren Parteizugehörigkeit nicht mehr am Platze sei. In diesen Fällen
scheuten sich die Personalverantwortlichen, die wirklichen personalpolitischen Maßstäbe
offenzulegen.201
Lehnten Personalbearbeiter Pg.-Bewerber wegen ihrer politischen Vergangenheit ab, so
versuchten sie also überwiegend, diesen Umstand zu verbergen und den abgelehnten
Kandidaten einen anderen Grund für ihre Zurückweisung als den der früheren
Parteizugehörigkeit zu nennen. Zu groß erschien die Kluft zwischen den offiziellen
Integrationsangeboten und ihrer intern verhaltenen Umsetzung, zu schlimm der
innenpolitische Schaden und Vertrauensverlust, der entstehen konnte. Nur selten scheinen
Behörden ehemaligen NSDAP-Angehörigen direkt ins Gesicht gesagt zu haben, dass sie
wegen ihrer ehemaligen Parteimitgliedschaft für wichtige Tätigkeitsfelder nicht in Frage
kamen. Ein Beispiel hierfür ist der Fall einer jungen Frau, die im Jahr 1951 ihre Erfahrungen
mit dem Gleichstellungsgesetz schilderte. Sie fiel eigentlich unter die Jugendamnestie und
gab an, vom BDM automatisch in die NSDAP überführt worden zu sein sowie bereits 1945
die Bescheinigung eines nicht näher benannten Jugendausschusses erhalten zu haben, nicht
mehr unter die Sonderbestimmungen für ehemalige Pgs. zu fallen: »Trotzdem wurde mir jetzt
bei einer Bewerbung um eine andere Arbeitsstelle wieder vorgehalten: als ehemaliges
Mitglied der NSDAP können wir sie nicht an der Stelle einsetzen, wo eine Verantwortung
zugrunde liegt. Ich erwiderte hierauf, daß dieses doch infolge Erlasses der Regierung
hinfällig geworden sei – doch es erfolgte die übliche Gegenrede: nach den Vorschriften usw.
Ich bitte nunmehr um eine ganz konkrete Auskunft: müssen Angaben, betreffend dieser
ehemaligen Zugehörigkeit nun noch gemacht werden oder kann diese Angabe
unterbleiben«.202 Am Ende bemerkte sie noch, Funktionsträgerin in mehreren
Massenorganisationen der DDR zu sein.
Leider verrät die Quelle nicht, um welche speziellen Posten sich die betreffende Frau
bewarb. Es muss sich jedoch um Funktionen gehandelt haben, die eine anleitende oder
kontrollierende Tätigkeit beinhalteten. Ihr war dabei durchaus bewusst, dass ein guter
politischer Gesamteindruck wichtig war. Sie wies auf ihr jugendliches Alter und politisches
Engagement hin und folgte damit absolut den Grundgedanken der Abwägung kaderpolitischer
200
201
202
Vgl. Jessen, Partei, S. 42.
Eine solche Geheimniskrämerei um einzelne kaderpolitische Merkmale galt allgemein, wenngleich die
Intensität bei den diversen Gesichtspunkten unterschiedlich stark ausgeprägt war, siehe: DO 1/ 26.0, 2476,
s.v. „H“, Max H[...], an Präsidialkanzlei, vom 09.03.1951; ebd., MdI, Wieland, an Max H[...], vom
23.08.1951.
Ich gehe in diesem Fall davon aus, dass sich die Besagte nicht zum wiederholten Mal für eine Stelle
bewarb, die unter die wenigen nach dem Gesetz über den Erlaß von Sühnemaßnahmen respektive seinen
Ausführungsbestimmungen verbleibenden Ausschlussbereiche fielen. Sonst hätte sie wohl auch eine andere
Ablehnungsbegründung zu hören bekommen, siehe: DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „S“, Hildegard S[...], an Pieck,
vom 22.06.1951; ebd., MdI, Wieland, an Hildegard S[...], vom 23.08.1951.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
44
Merkmale. Dennoch ergingen gleich mehrfach Ablehnungen, ob von verschiedenen Stellen
oder ein und derselben ist unklar. Jedenfalls scheint die wiederkehrende Zurückweisung mit
stets derselben Begründung der ehemaligen NSDAP-Angehörigen wie eine Infizierung
vorgekommen zu sein, gegen die sie sich nicht zur Wehr setzen konnte. Wie eine Aussätzige,
die die Mitmenschen aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen hatten, scheint sie sich gefühlt zu
haben. Die Verhältnisse in ihrer Lebenswirklichkeit ließen die erfolglos Arbeit Suchende
schnell zu dem Schluss kommen, dass eine Berufung auf das Gesetz sinnlos war. Die Illusion
der tatsächlichen Gleichstellung verflog, so dass sie am Ende nicht mehr die Frage stellte, ob
denn das Gesetz einen solchen Ausschluss überhaupt rechtfertigte. Alles, was in dieser
Situation noch helfen konnte, war nach Wegen zu suchen, der Offenbarung der Vergangenheit
zu entgehen. Durfte man sie verbergen, schien die Chance eines echten Neuanfangs gegeben.
Musste man sie offenlegen, half auch kein Gesetz mehr, Gleichberechtigung, wie sie die
Betroffenen verstanden, herzustellen.
Mit kaum verhohlenem Sarkasmus schilderte ein anderer Petent seine Erlebnisse mit der
versprochenen Gleichberechtigung: »In dem Betrieb, in dem ich zur Zeit beschäftigt bin,
bekam ich als nette Osterüberraschung einen Fragebogen zur Beantwortung in die Hand
gedrückt [...]. Hierzu nun meine Stellungnahme: Zu was will man heute, 6 Jahre nach
Beendigung des Krieges von mir wissen, was ich bei der Wehrmacht gewesen bin? Bei der
großen klaren innen- und außenpolitischen Linie, die wir heute eingeschlagen haben und die
nur den Friedensweg zeigt, dürfte diese Frage vollkommen fehl am Platze sein«. Zu seiner
politischen Vergangenheit schrieb er: »Ich bin ehemaliges Mitglied der N.S.D.A.P. Laut
amtlicher Verfügung sind alle nominellen Pg. den übrigen Staatsbürgern gleichgestellt. Wenn
nun diese Gleichstellung in die Tat umgesetzt sein soll, warum dann immer wieder diese
Fragestellung? Hieraus ersehe ich nur, daß ich laut Verfügung gleichgestellt bin, aber in der
Wirklichkeit immer wieder als das Mitglied der N.S.D.A.P. gebrandmarkt werde. Wenn wir
heute die große Friedenslinie verfolgen, um Deutschland den Frieden zu erhalten, dann muß
der Friede zuerst im Innern gesichert sein. Können wir ehemaligen Pg. aber an den Frieden
glauben, wenn nur immer diese Fragebogen wieder vorgelegt, gleich Knüppeln zwischen die
Beine geworfen werden«. Der Vortragende bat um einen vollständigen Verzicht auf
Erkundigungen nach der politischen Vergangenheit: »Geschieht dieses nicht, so fühlen wir
uns immer wieder nur als geduldete Staatsbürger II. Grades, welche ihre Pflichten gegenüber
dem Staat erfüllen dürfen, aber keine Rechte haben.«203
Sehr deutlich kommt in diesen Zeilen eine Verbitterung über das bereits vergangen
geglaubte Anprangern der Pgs. zum Ausdruck, das nun durch fortgesetzte Ermittlungen zur
eigenen Biografie kein Ende zu nehmen schien. Geradezu zynisch mutet der Vergleich einer
Neuauflage von Fragebögen mit einer Osterüberraschung an. Doch manchen ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern blieb nach den für sie schlimmen Erfahrungen der Schuldzuweisung und
der aus ihrer Sicht öffentlichen Herabwürdigung, der Entfernung vom Arbeitsplatz und der
dadurch um so größeren wirtschaftlichen Not wohl nur noch der Humor eines Lammes auf
der Schlachtbank, dem man am Ende auch noch den Glauben an die Wiederauferstehung
nimmt. Insbesondere die Opfer des Nationalsozialismus teilten dieses weit verbreitete
Selbstmitleid ehemaliger Nationalsozialisten natürlich ganz und gar nicht. Davon unbeschadet
bemühte der Petent mehrfach den Begriff des Friedens. Er zog dabei eine Verbindung von der
damals allgegenwärtigen Rhetorik vom Erhalt des Weltfriedens hin zum Bild des inneren
Friedens, nach dem es ihn sowohl für die Menschen im Land als auch für seine eigene Seele
verlangte. Es sollte endlich Ruhe herrschen, Schluss sein mit der Inquisition. Diese
ehemaligen Nationalsozialisten wollten ein normales Leben führen, frei von Existenzangst
und Ehrverlust, wie sie das von ihnen so empfundene Kainsmal des „einmal Nazi, immer
Nazi“ gnadenlos für den Rest des Lebens aufzubürden schien.
203
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „S“, Kurt S[...], an Pieck, vom 28.03.1951; ebd., MdI, Wieland, an Kurt S[...], vom
23.08.1951.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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Während sich die meisten Petitionen klar um den Streit drehten, ob eine Mitgliedschaft
in der NSDAP anzugeben war, hinterfragten andere, welche Art von Mitgliedschaft zu nennen
sei. Es entstand ein unwürdiges Gefeilsche um Definitionen, alles mit dem Ziel, die eigene
Rolle im Nationalsozialismus unbedeutender zu machen und sich aus der Offenbarungspflicht
herauszuwinden. So schrieb ein Petent an Präsident Wilhelm Pieck, bei Kriegsausbruch ein
Jahr lang einen monatlichen Beitrag von 1,50 RM an den NS-Opferring abgeführt sowie die
Aufnahme in die NSDAP beantragt zu haben. Auf der Suche nach einer Arbeitsstelle mochte
der Betreffende diese Begebenheiten Anfang der fünfziger Jahre nicht angeben und führte
dazu Folgendes aus: »Einesteils will ich nun selbstverständlich in den Fragebogen keine
falschen Angaben machen, andererseits möchte ich aber auch nicht mehr Angaben machen
als erforderlich sind, da dadurch mein Fortkommen bestimmt unnötig erschwert wäre. Die
nationalsozialistische Anschauung war nie die meinige, ich bezahlte nie einen Parteibeitrag,
hatte nie ein Amt in der NSDAP und war nie Uniformträger. Auch ein
Entnazifizierungsverfahren hat nicht stattgefunden. Kann man nun in meinem Falle trotzdem
sagen, dass ich „Angehöriger“ der NSDAP. war? Ich bin der Meinung, dass ich kein
Parteimitglied und auch nicht einmal ein Anwärter war, denn bei der Stellung des
Aufnahmeantrages und innerhalb des rd. ½ Jahres danach wurde man doch nicht gleich
Anwärter, sondern es bestand doch höchstens eine Aussicht; ausserdem ruhte doch während
der Militärzeit die politische Angelegenheit, was ja auch daran zu erkennen ist, dass ich nie
einen Parteibeitrag zahlte? Auch die Angelegenheit, was der Opferring eigentlich war, ist mir
nicht klar. Ich habe die Sache als Zahlung eines Spendenbeitrages angesehen, der der
NSDAP. zufloss, aber dadurch wurde ich doch niemals Mitglied der NSDAP. Kann man nun
die Opferring-Beitragszahlung als Angehöriger einer Organisation bezeichnen?«204
Die Fragezeichen in seinem Brief scheinen nahezulegen, dass sich der Vortragende
seiner Sache nicht ganz so sicher war, wie er es eigentlich sein wollte. Dennoch bemühte er
sich, sein damaliges Handeln zu relativieren und suchte nach Beweisen dafür, dass er
eigentlich gar kein Nationalsozialist war. Der Auskunft Suchende bestritt, jemals
Parteimitglied oder auch nur Anwärter gewesen zu sein. Dabei erscheint es ein wenig naiv,
dass der Betreffende glaubhaft machen wollte, es hätte eine Art Anwartschaft auf die
Anwartschaft gegeben. Das war natürlich nicht der Fall, sondern mit Stellung eines
Mitgliedsantrages ging die gleichzeitige Verleihung des Anwärterstatus einher. Dieser sollte
in der Regel nicht länger als ein Vierteljahr andauern. Gleichwohl ging der Petent wenige
Monate nach Stellen des NSDAP-Mitgliedsantrages zur Wehrmacht und verblieb dort bis
zum Kriegsende. Tatsächlich ist es üblich gewesen, dass das Parteiverhältnis während des
Kriegsdienstes ruhte. Allerdings wurde es nicht beendet. Eine Parteimitgliedschaft hat also
nach Lage der Dinge höchstwahrscheinlich bestanden und war mitteilungspflichtig.205
Der Besagte machte jedoch durch sein Verhalten deutlich, keine bloßstellenden Fragen
akzeptieren zu wollen. Mit dem Mut eines Mannes, der wenig oder gar nichts mehr zu
verlieren hat, versuchte er, sich durch jede noch so kleine Lücke hindurchzuzwängen, um aus
der Falle des Jägers zu entkommen. Er verliert sich dabei in Verharmlosung und
Anbiederung. Dies ist im Angesicht echter existenzieller Nöte bei sehr vielen Menschen ein
gängiges und nachvollziehbares Verhaltensmuster und deswegen zwar nichts
Bewundernswertes, aber auch nichts Bösartiges, sondern einzig ein je nach Standpunkt
bemitleidenswert oder erbärmlich wirkender Überlebensreflex des Unterlegenen. Etwas
seltsam ist dabei, dass er alles offenbarte, was er eigentlich für sich behalten möchte.
Vielleicht steckte dahinter die Vorstellung, dem Präsidenten vertrauen zu können. Vielleicht
204
205
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „CD“, Willi D[...], an Pieck, vom 28.03.1951; ebd., MdI, Riemer, an Willi D[...],
vom 12.06.1951.
Weitere Einzelheiten zu diesem Fall siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 81; zu Parteianwärtern und
ruhenden Mitgliedschaften siehe Kapitel „Parteianwärter, ruhende Mitglieder sowie zeitliche Anfänge und
Beendigungen der NS-Organisationszugehörigkeit“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
46
war es auch eine Variante der „Sucht nach Schuldbekenntnissen“ im Stalinismus, wie man sie
besonders deutlich von Gefangenen und Verhörten kannte, die sich aus Angst oder infolge
einer Gehirnwäsche bestimmter Vergehen bezichtigten, die sie nie begangen hatten. Vielleicht
war es auch einfach nur die Furcht, Fehler zu begehen und dafür schwer bestraft zu werden.
Am Ende wies das Ministerium des Innern den Betroffenen darauf hin, dass die Möglichkeit
bestehe, bei jeder Bewerbung Erläuterungen zu den Umständen der eigenen NS-Belastung zu
machen.206 Dazu äußerte dieser: »Wenn ich nun [...] stets grössere Darlegungen hinzufüge,
wird mir dies wohl nie helfen; ich stehe immerhin schlechter, als wenn ich in den Fragebogen
Opferring und NSDAP. nicht aufzuführen brauche, was um so wichtiger ist, als ich ein älterer
Angestellter bin«. Die HA Personal blieb jedoch auch in diesem Fall hart und machte
deutlich, dass sowohl an der Nennung des NSDAP-Aufnahmeantrags als auch der Zahlungen
an den Opferring im Fragebogen kein Weg vorbeiführte. Dies war konsequent und lag in der
Linie der individuellen Kaderbetrachtung. Danach waren eingegangene Mitgliedschaften
nicht alleine von Bedeutung. Auch Aktivitäten unterhalb der Schwelle einer
Organisationszugehörigkeit fanden Eingang in das persönliche Kaderkonto.
Das Ministerium des Innern ging in seinen Antwortschreiben nicht auf die
offensichtliche Diskrepanz zwischen Rechtslage und Wirklichkeit ein. Es versuchte
stattdessen, durch allgemeine Wendungen zu beschwichtigen. Die HA Personal antwortete
auf die beschriebenen Eingaben praktisch immer mit den gleichen Standardformulierungen,
die lediglich am Rande auf individuelle Gegebenheiten der Vorsprechenden eingingen. Darin
vertrat sie die Meinung, dass ausnahmslos alle Bürger, die in der staatlichen Verwaltung oder
volkseigenen Wirtschaft beschäftigt sein wollen, Aufschluss über ihre fachliche und
gesellschaftliche Entwicklung geben müssen. Es sei gerade ein Zeichen der rechtlichen
Gleichstellung gewesen, wenn ehemalige NSDAP-Mitglieder genau die gleiche Behandlung
wie alle anderen Bewerber erfahren. Darüber hinaus versicherte die Hauptabteilung Personal,
dass nach dem Gleichberechtigungsgesetz von 1949 aus der ehrlichen Beantwortung der
Fragen nach der früheren Partei- und Organisationszugehörigkeit, und zwar gleichgültig, ob
dies eine nationalsozialistische oder irgendeine andere betraf, „keine personalpolitischen
Nachteile erwachsen“.207 Lediglich bei einer späteren Aufhellung zunächst vertuschter
Umstände könnten auch aus nominellen Zugehörigkeiten Schwierigkeiten erwachsen. In der
Betonung, dass eine NS-Belastung keine Sonderkategorie mehr darstellte, sondern fortan in
einer Reihe mit anderen Parteien und Organisationen wie den bürgerlichen oder
Arbeiterparteien der Weimarer Republik stand, meinte das Ministerium des Innern einen
weiteren Gleichstellungsbeleg ausmachen zu können. Dies bezog die Hauptabteilung Personal
ausdrücklich sowohl auf eine ehemalige Mitgliedschaft als auch auf eine Anwartschaft oder
nur Anmeldung zur NSDAP.
In der Konsequenz waren ehemalige Zugehörigkeiten zur NSDAP und den NSGliederungen weiterhin zu nennen. Die einzige Änderung in Fragebögen, die die HA Personal
in Reaktion auf das Gleichstellungsgesetz vornahm, war die Streichung von Fragen, die den
Vorgang der Entnazifizierung nach 1945 betrafen.208 Dem Bekanntwerden einer NSDAPMitgliedschaft oder einer anderen Belastung aus der Zeit des NS-Regimes folgte
selbstverständlich ein Vermerk in der Kaderakte, und das auf Lebenszeit. Zwar mussten alle
Bewerber die gleichen Fragen beantworten. Doch die Pgs. hatten keine andere Antwort als
206
207
208
Der Vortragende hatte sich zuvor bereits an die HA Justiz, Abteilung Rechtsprechung beim
Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg gewandt und um wohlwollende Klärung gebeten. Diese
wiederum hatte sich zu einer Stellungnahme als „nicht berufen“ betrachtet, was ein erneutes Zeugnis für die
fehlende Selbständigkeit an sich kompetenter Dienststellen in den Ländern und den untergeordneten
Verwaltungsebenen darstellt, siehe: DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „CD“, Willi D[...], an Pieck, vom 28.03.1951;
ebd., MdI, Riemer, an Willi D[...], vom 12.06.1951.
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „K“, Günter K[...], an MdI, vom 14.08.1951; ebd., MdI, Wieland, an Günter K[...].,
betr.: Frage nach Parteizugehörigkeit auf Personalbogen, vom 16.08.1951.
DO 1 / 26.0, 8580, s.v. „M“, [MdI,] HA Personal, an [MdI,] HA Staatliche Verwaltung, vom 14.06.1950.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
47
eine benachteiligende parat – und das wussten alle Beteiligten sehr genau. Eine Begründung
für die politische Auskunftspflicht lieferte das MdI nicht, außer der, dass die staatliche
Verwaltung „ein berechtigtes Interesse“ an einer lückenlosen Kenntnis der gesellschaftlichen
Entwicklung ihrer Mitarbeiter habe.209 Diese Auskunft war für die Nominellen zu „mager“,
als dass sie die Zweifel aus dem Weg räumen konnte, die frühere Organisationszugehörigkeit
oder Weltanschauung solle von nun an zu keinen Behinderungen mehr führen. Denn warum
fragten die Personalabteilungen danach, wenn es nicht irgendeine Rolle spielte? Und wenn es
also weiterhin von Bedeutung war, so konnte ein bekannt gewordenes NS-Engagement nur
negative Folgen haben. Die staatlichen Stellen vermochten die Betroffenen nicht von ihrer –
gelogenen – Version zu überzeugen, dass sie das Wissen über politische Belastungen zwar
sammeln, dann aber nicht gebrauchen wollten. Somit hatten viele ehemalige Pgs. auch
mindestens zwei Jahre nach Gründung der DDR und der offiziellen Gleichstellung das
Gefühl, das andere gleicher waren als sie.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich auch nach dem Ende der
Entnazifizierung ehemalige Nationalsozialisten aus kaderpolitischen Gründen gezwungen
sahen, gegenüber Arbeitgebern Erklärungen zur persönlichen NS-Vergangenheit abzugeben.
Diese Mitteilungspflicht untergrub die gesetzlich versprochene Wiedereingliederung, da sie in
zahlreichen Fällen zu einer real anhaltenden Ausgrenzung führte. Die früheren NSDAPMitglieder waren darüber enttäuscht und nicht wenige suchten nach Möglichkeiten, diesem
Schicksal aus dem Weg zu gehen. Versuche, Spitzenpolitiker dahingehend beim Wort zu
nehmen, ein Beschweigen der eigenen politischen Biografie zu erlauben, scheiterten jedoch.
Die NS-Belasteten hatten also im übertragenen Sinne einer alten Redewendung allen Grund,
die Griechen weiterhin zu fürchten, auch wenn sie Geschenke brachten.
1.3
Diskriminierung und Ächtung
Der Zwang, Reparationsleistungen abzuliefern, Wirtschaftspläne zu erfüllen und die
allgemeine Versorgung wieder in Gang zu bringen, nötigte die Machtelite dazu, den
ehemaligen Nationalsozialisten in der SBZ/DDR ein Reintegrationsangebot zu machen.
Darüber hinaus suchten die Parteien nach neuen Mitgliedern. Stufenweise eröffneten die
rechtlichen Rahmenbedingungen mehr Beteiligungsoptionen im gesellschaftlichen und
beruflichen Leben. Doch viele Menschen, ob Kommunist, NS-Gegner, Opfer des Faschismus
oder Normalbürger, wollten diese Beschlüsse der Staats- und Parteiführung nicht mittragen.
Sie waren irritiert, opponierten und leisteten passiven Widerstand gegen ihre Umsetzung. In
den Behörden, Betrieben, Parteiorganen und sonstigen politischen Organisationen geschah
das durch Ignorierung, Verschleppung, Vortäuschung falscher Tatsachen oder brüske
Verweigerung.210 Bereits 1946 äußerte Otto Grotewohl auf einer Sitzung des SED209
210
Bereits im März 1949 schrieb die DWK, HA Personalfragen und Schulung, an die NDP, dass man den
vielfach von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP vorgetragenen Wunsch, die Frage nach der politischen
Vergangenheit und Zugehörigkeit zu politischen Organisationen nicht mehr zu stellen, dahingehend
beantworten könne, dass die Betriebs- und Verwaltungsleitungen zwecks Übertragung eines
Arbeitsgebietes genaue und umfassende Personalkenntnisse über den Betreffenden haben müssten. Die
ehrliche Beantwortung dieser Frage auch für ehemalige Pgs., soweit sie lediglich nominelle Mitglieder
waren, sei kein Hinderungsgrund für eine Einstellung gewesen, siehe: DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK,
HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49, vom 25.03.1949.
Die Diskussion zur Reintegrationspolitik war in der Bevölkerung und Presse lebhaft und kontrovers. An der
Basis der VVN regte sich ebenfalls Unmut über den Kurs der SED gegenüber den Pgs. Jürgen Danyel weist
darauf hin, dass die Spannungen innerhalb der SED, die die Wiedereingliederungspolitik begleiteten,
weiterer Erforschung bedürfen, siehe: Danyel, SED, S. 190, 192 f., 196.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
48
Parteivorstands Verständnis für die Ressentiments vieler SED-Mitglieder, die an die Pg.Frage »aus der durchaus psychologisch erklärlichen Situation des sozialistischen Kämpfers,
der in den Nationalsozialisten das politische Schwein sieht, mit dem er sich noch nicht
abfinden kann«, herangingen. Er forderte eine »geistige Auflockerung und ideologische
Klärung« sowie ein Vorgehen mit politischem Weitblick, das auf eine stärkere Einbeziehung
und Nutzbarmachung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder hinauslief.211
Solche Vernunftappelle konnten die Emotionen an der Basis jedoch noch lange Zeit
nicht besänftigen. Noch Jahre später gab es dort starke Vorbehalte.212 Durch das Parteivolk
der SED ging ein Riss. Zahlreichen altgedienten Sozialisten, Verfolgten des NS-Terrors,
ehemaligen KZ-Häftlingen und Widerstandskämpfern fiel es besonders schwer, den aktiveren
Trägern der Hitler-Diktatur die Hand zu reichen. Ihnen galten die Ex-Nationalsozialisten als
Fremdkörper, die in den neuen Organisationen eines antifaschistischen Staates nichts zu
suchen hatten. Zumindest nicht in einflussreicheren Positionen mit einiger Reputation und
solange es Personalalternativen gab. Entsprechend kam es gerade dann zu Beschwerden,
wenn sie dennoch wieder in bessere Arbeitsstellen vorrückten. Die „Kulturschranke“ („Mit
denen nicht!“) machte aus jedem Pg. einen Paria: einen Unberührbaren und faktisch
Entrechteten.213 Auch hohe Parteifunktionäre wie Wilhelm Pieck bekamen bei Kundgebungen
so manche Unmutsbekundung über die Linie gegenüber den Nominellen zu hören.
Mahnschreiben gegen eine zu milde Behandlung folgten.214 Die SED wiederum wertete
solchen Widerspruch mitunter als „Sektierertum“.215 Es ist völlig klar, dass diese
Konfliktsituation ein wichtiger Grund für die Kaderverantwortlichen war, über das
tatsächliche Ausmaß der beschäftigten NS-Belasteten Stillschweigen zu bewahren. Weder die
Personalabteilungen noch die ehemaligen NSDAP-Mitglieder selbst hatten ein Interesse
daran, ihre Biografie „an die große Glocke zu hängen“. Denn bei Bekanntwerden sämtlicher
Hintergründe hätte es einen nicht zu unterschätzenden Aufruhr in den Reihen der SED
gegeben. Eine Delegitimierung der Staatsdoktrin und eine gewisse Destabilisierung des
Machtgefüges konnten die Folge sein. Das wäre innenpolitisch und angesichts des Ost-WestKonfliktes von großem Nachteil gewesen. Da die Auseinandersetzungen um die
Wiedereingliederung von Pgs. jedoch nicht zu leugnen waren, behalf sich später zum Beispiel
die Geschichtsschreibung in der DDR mit einem Kunstgriff. Sie versuchte den Eindruck zu
erwecken, als habe es sich weitgehend um eine übergangsweise Eingliederung der
Nominellen in den Jahren bis 1948 und daher auch nur um vorübergehende Proteste
gehandelt. Die Frage einer späteren oder dauerhaften Reintegration ehemaliger NSDAPAngehöriger wurde einfach ausgespart.216
Die Machthaber in der SBZ/DDR befanden sich durchaus in einem Dilemma. Sie waren
zur Etablierung und Stabilisierung ihres Herrschaftssystems einerseits auf ein bestimmtes
Maß an Integration der Ex-Nationalsozialisten angewiesen. Andererseits griffen sie zur
211
212
213
214
215
216
Aus der Rede Otto Grotewohls auf der Sitzung des Parteivorstandes der SED vom 18. bis 20. Juni 1946, in:
Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 90 f.
Grotewohl sagte auf dem 1. NDP-Parteitag 1949, die Pg.-Integration stoße „auf Widerstand in meiner
Partei. Nicht in meiner Parteiführung.“ Siehe: DY 16 / 2786, 24 b; vgl. ebd., 85.
Vgl. Hebel, Stephan: Die frohe Botschaft des gesamtdeutschen Pfarrers Gauck. In: Frankfurter Rundschau,
vom 15.05.1997, S. 3.
Wille, Entnazifizierung, S. 126 f.
DY 30 / IV, 2/11/167, Bl. 4.
Wolfgang Meinicke schreibt mit Bezug auf die Periode der Entnazifizierung, die »zeitweilige Einbeziehung
der nominellen Mitglieder in den einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fand nicht immer die
Zustimmung der Bevölkerung. So forderte ein Teil von ihnen die generelle Bestrafung aller Mitglieder der
NSDAP. So falsch diese Forderung nach undifferenzierter Behandlung der Nazis auch war, kam darin
bereits ein Moment des emotionalen Eintretens für die Beseitigung des diskreditierten faschistischen
Systems zum Ausdruck.« Hieran hätten die Arbeiterparteien im Weiteren anknüpfen können, siehe:
Meinicke, Berücksichtigung, S. 24.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
49
Machtsicherung aber auch auf Repression und Ausgrenzung dieser Personengruppe zurück.217
Es kam darauf an, einen geeigneten Mittelweg zwischen beiden an sich entgegengesetzten
Politikrichtungen zu finden. Dabei forderte ein bedeutsamer Teil der kommunistischen
Wertelite unter den SED-Mitgliedern eine schärfere und anhaltende Ächtung. Weite Teile der
Bevölkerung, die unter der gesellschaftlichen und beruflichen Ausstoßung ehemaliger
Angehöriger von NS-Organisationen litten, drängten hingegen auf eine rasche Umsetzung der
Wiedereingliederungsvorgaben und weitere Versöhnungsgesten. Von Interesse ist das
Zusammenprallen dieser Interessenkonflikte im mikrosoziologischen Rahmen am
Arbeitsplatz, in den Parteien, Massenorganisationen etc. Denn es sind dies Orte der
Kommunikation, Kontrolle, Kooperation und Disziplinierung. Dabei bewirkten die
Rahmenbedingungen eines diktatorischen Systems, dass Entfaltung und Reflexion
individueller geistiger Einstellungen zur Pg.-Frage nach außen hin grundsätzlich nur in streng
vorgegebenen Bahnen stattfanden. Denn offen vorgebrachte grundsätzliche Kritik an der
Linie der Parteiführung konnte für den Einzelnen gefährlich werden. Daher suchten sich
Kritiker einer ihrer Meinung nach zu früh und zu umfassend einsetzenden Reintegration NSBelasteter inoffizielle Kanäle, um ihren eigenen Vorstellungen Geltung zu verschaffen und
diejenigen
des
SED-Politbüros
zu
unterlaufen.
Begünstigt
wurden
solche
Umgehungsstrategien durch das Geheimnis, das man aus der Kaderpolitik und ihrer
Umsetzung machte. Denn der Ausschluss der allermeisten Regierungsangestellten und SEDMitglieder von den Kommunikationsnetzen des „inner circle“ zog nach sich, dass das
Verständnis für „oben“ gefällte Beschlüsse und zugleich das Vertrauen in die
Entscheidungsträger Schaden nahm.218 Das Verschweigen des wahren Ausmaßes der Pg.Beschäftigung im Staatsapparat hatte also nicht nur einen „beruhigenden“ Effekt. Dem liegt
die Annahme zugrunde, dass die Kooperationsbereitschaft in dem Maße wächst, wie die
gleichen Informationen, die zu gewissen Bestimmungen führten, verfügbar sind und diese
nachvollziehbar machen.219 In diesem Zusammenhang haben viele SED-Mitglieder das
negative Pg.-Bild, das sie an den Pranger stellten, auch ganz bewusst immer wieder neu
produziert. So konnten sie nicht nur mit all ihrem Hass und Schmerz auf den Judas zeigen,
sondern sich außerdem über dessen fast ritualisierte Verfemung eine moralische
Überlegenheit verschaffen.220
Auf der anderen Seite klagten viele Nominelle darüber, dass die Realisierung der
Wiedereingliederungsrichtlinien weder ihrem Wortlaut noch ihrem Geist entsprach. Dabei
verwiesen sie immer wieder darauf, dass sich die überwiegende Mehrzahl der Pgs. seit 1945
am Wiederaufbau beteiligt hatten, oft in harter, körperlicher Arbeit. Sie hätten bewiesen, mit
der Vergangenheit gebrochen und aus ihren Fehlern gelernt zu haben. Selbstkritische
Stimmen ehemaliger NSDAP-Mitglieder, selbst nach Abschluss der Entnazifizierung wegen
ihrer moralischen Belastung noch keine gleichwertigen Bürger zu sein, waren 1949 in dieser
Deutlichkeit eher selten.221 Die meisten Pgs. litten sehr unter ihren Strafen,
Berufsbeschränkungen und ihrer allgemeinen Ächtung. Viele NS-Belastete brachten
führenden SED-Politikern gegenüber zum Ausdruck, glücklich zu sein, wenn sie von ihren
Mitbürgern nicht mehr mit Verachtung bestraft würden. Sie wünschten sich sehnlichst ein
Ende der Beschimpfungen wie „Nazilump“ und „Nazischwein“.222
Hierzu ein paar Beispiele aus der Bevölkerung: Im Jahr 1946 erreichten Wilhelm Pieck
mehrere Schreiben anlässlich seiner Rede zur Feier seines 70. Geburtstages, in der er die
kleinen Pgs. zur Mitarbeit am neuen Staat aufrief. Ein nach eigenen Angaben einfacher und
217
218
219
220
221
222
Vgl. Vollnhals, Ministerium, S. 498.
Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 315.
Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 315.
Vgl. Eschebach, Elemente, S. 208.
National-Zeitung, Beitrag „Man hat uns nicht vergessen“, vom 21.04.1949.
Aus der Rede Otto Grotewohls auf der Sitzung des Parteivorstandes der SED vom 18. bis 20. Juni 1946, in:
Rößler, Entnazifizierungspolitik, S. 90 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
50
nie aktiver NSDAP-Angehöriger, dessen Vermögen aber dennoch beschlagnahmt wurde,
beschuldigte „örtliche und persönliche Gegner“ der Denunziation um des eigenen Vorteils
willen. Er fühlte sich ungerecht behandelt, forderte mehr Vernunft im gegenseitigen
Miteinander der Pgs. und Nicht-Pgs. und schrieb: »Ich stehe im 69. Lebensjahr, meine Frau
im 65. Wir haben ein ganzes Menschenalter nichts anderes getan, als gearbeitet und damit
unsere Pflicht. Wir haben geholfen, wo wir nur konnten, Gutes getan, wo es notwendig war
und dafür sollen wir nun auf die Straße gesetzt werden, zu Bettlern gemacht, enterbt und
entrechtet. Und da wäre wohl nun der Hebel anzusetzen, wenn das deutsche Volk wieder
einmal zu Einigkeit und Ruhe kommen soll [...]. Der beabsichtigte Aufbau unseres so schwer
getroffenen Vaterlandes kann nur dann zur Wirklichkeit werden, wenn erst einmal der Hass,
dieser grenzenlose und abgrundtiefe Hass, den der Eine gegen den anderen in sich trägt,
beseitigt wird.«223 In einem anderen Brief beklagte eine Lehrerin: »Wieviele würden gerne
Ihrem Aufrufe folgen, aber es wird ihnen unmöglich gemacht; sie werden mit Hass verfolgt,
aus ihrem Beruf gerissen und wirtschaftlich vollständig ruiniert. [...] Es entspricht meines
Erachtens nicht einer brüderlich-demokratischen Gesinnung, wenn man Lehrerinnen fristlos
entlässt, alten Lehrerinnen ihre sauer verdiente Pension entzieht und ihnen, nachdem man
ihnen alles Vermögen und alle Ersparnisse genommen, nicht einmal „Wohlfahrt“ bewilligt,
sie also sozusagen dem Hungertode preisgibt, weil sie sich eines Verbrechens schuldig
gemacht haben, nämlich sie waren gänzlich unpolitisch und ahnten und durchschauten nicht,
was damals gespielt wurde; so sind sie damals in die NSDAP eingetreten [...]. War dies
Verbrechen – der Mangel an politischer Einsicht – so groß, daß man so unmenschlich
grausam gegen sie verfährt? Es soll doch nicht wieder Hass gesät werden jetzt, wo das
Menschheitsideal der Humanität auf die Fahne der politischen Parteien geschrieben ist! Wie
kann man wieder Glauben und Vertrauen haben, wenn die Taten nicht den Worten
entsprechen? Ach, könnte man doch hoffen, daß ein wirklich humaner Geist die politischen
Parteien beseelte, dann würden Ihrem Aufruf sicher Viele folgen!«224 Die Frau eines
Reichsbahnbeamten und Pgs. schrieb, zu ihrer Vertreibung aus Schlesien käme jetzt noch die
Entlassung ihres Mannes hinzu: »Sie sprachen so gut von Humanität in Ihrer Rede. Wir, die
wir alles verloren haben, sind wir nicht schon genug gestraft? Noch die Lebensmöglichkeit
einem zu nehmen, man muss ja verzweifeln und den Glauben an die Menschheit verlieren. Wo
bleibt die Gerechtigkeit, von der so viel gesprochen wird? [...] Es sieht ja fast so aus, als
wenn wir aus dem Osten nur die Schuld an dem Kriege hätten und nur die Lasten tragen
müssen. Heimische, die sich sogar aktiv betätigt haben und ihre Wohnung noch besitzen und
sich in Polen große Reichtümer wie teure Pelze, Möbel und kostbare Pianos erbeutet haben,
dürfen im Dienst bleiben. Es muss doch endlich mal diese große Gerechtigkeit walten, von
der dauernd die Rede ist. Die antifaschistischen Parteien wollen es doch besser machen und
nicht mehr Hass in die Welt säen. Aber nur mit Güte und Liebe, gerade das fehlte den Nazis
so sehr, kann man etwas erreichen und das haben wir von Euch erwartet.«225 Die eigene
Mitschuld der erwähnten Pgs. sei gering gewesen. Sie hätten sich nicht aktiv engagiert, in
gutem Glauben oder aus Zwängen heraus den NSDAP-Eintritt vollzogen und sich sogar
wegen oppositioneller Handlungen Ärger eingehandelt. Zusammenfassend baten alle Wilhelm
Pieck unter Berufung auf seine eigene Rede, zu seinem Wort zu stehen und für Milde oder ein
Ende der Vergeltung zu sorgen. Nur so sei eine „wirkliche“ Wiedereingliederung der
Nominellen möglich gewesen.
Jetzt war das Jammern groß. Es scheint, als ob der Verlust an Mitleid durch ein
Übermaß an Selbstmitleid kompensiert wurde.226 Doch war wirklich jede Strafe
223
224
225
226
NY 4036 / 749, Bl. 57 f., Wilhelm O[...], an Pieck, vom 12.01.1946 (Abschrift).
NY 4036 / 749, Bl. 59, Gertrud D[...], an Pieck, vom 12.01.1946 (Abschrift).
NY 4036 / 749, Bl. 60 f., Cläre H[...], an Pieck, vom 14.01.1946 (Abschrift).
Vgl. Hebel, Stephan: Die frohe Botschaft des gesamtdeutschen Pfarrers Gauck. In: Frankfurter Rundschau,
vom 15.05.1997, S. 3.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
51
unangemessen? Ohne hier die konkreten Fälle im Einzelnen nachprüfen zu können, müssen
wir das verneinen. Viele Mitläufer und Täter stilisierten sich nach dem Ende des NS-Regimes
zu Opfern. Andererseits existierte natürlich eine Art Willkür des Krieges und auch der
Nachkriegszeit, die nicht nur das jeweilige Strafmaß variierte, sondern auch den betroffenen
Personenkreis. Doch hätte es anders sein können? Die Antwort lautet „Nein“. Diese
Kommentierung mag ich nicht zurückhalten, wenngleich es hier natürlich darauf ankommt,
das Handeln der historischen Akteure nachvollziehbar zu machen.
Allen Briefen gemeinsam ist, dass sie eine große Ungerechtigkeit beklagten. Das eigene
Schicksal erschien zu hart und zu grausam – auch wenn die Verfasser manchmal unpersönlich
in der dritten Person von sich selbst erzählten, so als gehörten sie nicht wirklich zu den NSBelasteten dazu. Ihre Verfehlungen seien menschlich gewesen. Sie waren nach eigenen
Angaben nicht stark und weitsichtig genug gewesen oder einer Täuschung erlegen. Ansonsten
hätten die Autoren einen untadeligen und anständigen Lebenswandel geführt, wie es wertvolle
Gesellschaftsmitglieder tun und nicht wirkliche Verbrecher. Gleichwohl hätte man sie unter
Verlust der Ehre und materieller Werte wie solche behandelt. Die Lebensleistung und
Lebensgrundlage sei ihnen aberkannt worden, was eine völlig unangemessene Ahndung
gewesen sei. Zumal andere Personen viel schwerer belastet waren, aber geringere oder gar
keine Strafen erhalten hätten. Dahinter steckte die Forderung nach einer Korrektur der
vermeintlich in blinder Wut verhängten, undifferenzierten und rücksichtslosen Sanktionen.
Voraussetzung dafür war natürlich eine allgemeine Versöhnung der Bürger miteinander. Halb
als Wunsch, halb als Drohung erinnerten die mit dem NS-Regime Verstrickten daran, dass
nur so Einigkeit und Stabilität im gesamten Volk zu erreichen sei. Die Pgs. würden sich nur
dann mit dem neuen Staat identifizieren, wenn er ihnen Vorteile verschafft beziehungsweise
Nachteile verhindert. Doch hatten ehemalige Nationalsozialisten ein Recht, auf Solidarität,
Nachsicht und Vergebung zu pochen? Sie bestanden auf dem Gegenteil von dem, was sie
selbst – und sei es nur symbolisch – mit zu verantworten hatten, nämlich die Verfolgung
politischer Gegner. Sie beriefen sich auf humanistische und demokratische Ideale, die die
NSDAP einst mit Füßen trat. In einem Rechtsstaat besitzen Angeklagte juristisch gesehen
natürlich Bürgerrechte wie die auf einen fairen Prozess, Gleichheit vor dem Gesetz und
Verhältnismäßigkeit der Sanktionen. Doch moralisch und politisch stand es ihnen nicht zu,
Forderungen zu stellen. Auf diesen Ebenen waren sie darauf angewiesen, dass die Opfer der
Hitler-Diktatur Gnade gewährten oder die Machthaber ihnen im gesamtstaatlichen Interesse
unter die Arme griffen.
Im Kontext dieser Untersuchung ist im Weiteren von besonderem Interesse, welche
Vorbehalte und Ausgrenzungen gegenüber NS-Belasteten am Arbeitsplatz, insbesondere im
zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR, vorkamen. Es sei hier vorausgeschickt, dass ehemalige
Nationalsozialisten in der DWK und den Ministerien, sobald sie erst einmal in einem
Beschäftigungsverhältnis standen, in arbeitsrechtlicher Hinsicht keine feststellbaren Nachteile
im Vergleich zu den übrigen Angestellten erlitten.227 Es galt grundsätzlich die gleiche
Behandlung bei Gehaltsvergabe, Kündigungsfristen, Urlaub, Krankengeld etc.228 Nach
Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes von 1949 stufte das MdI darüber hinaus eine
gesonderte Behandlung von Personalunterlagen ehemaliger Pgs. als illegal ein.229 In der SBZ
227
228
229
Vgl. die Regelung des Berliner Magistrats hinsichtlich vor 1945 abgeleisteter Dienstzeiten, Details in:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 90.
Die Anrechenbarkeit früherer Dienstzeiten war bei früheren Beamten ein Dauerthema. Das MdI verneinte
Ansprüche aus der Zeit vor 1945, egal ob die Beamten in der NSDAP waren oder nicht. Insofern erfuhren
Pgs. und Nicht-Pgs. eine Gleichbehandlung, siehe das Beispiel eines Lehrers und Pgs. in: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 90 f.
Im April 1949 hieß es in der „National-Zeitung“, dass der FDGB Mitgliederkarten ehemaliger Nomineller
besonders kennzeichnete, siehe: National-Zeitung, Leitartikel „Unsere Forderung: Gleichberechtigung!“,
vom 14.04.1949; DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „R“, MdI, HA Personal, Bemerkungen zum vorliegenden Entwurf
„zur Praktischen Durchführung der Personalrichtlinien der DDR“, vom 06.11.1950.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
52
kam sie vereinzelt noch vor. Vor diesem Hintergrund stellt sich jedoch vielmehr die Frage,
inwiefern man frühere NSDAP-Mitglieder überhaupt in bestimmte Positionen vorrücken ließ.
Darüber hinaus ist von Bedeutung, wie der zwischenmenschliche Umgang im Berufsalltag
aussah und welche Bedeutung die NS-Vergangenheit beim Ausscheiden aus dem Apparat
besaß. Der negativ besetzte Begriff „Diskriminierung“ erscheint mir dann angebracht, wenn
Ex-Nationalsozialisten trotz Wiedereingliederungsangeboten beziehungsweise rechtlicher
Möglichkeiten in der Realität einzig wegen ihrer politischen Biografie weiterhin eine
Benachteiligung erfuhren. Und solche Fälle kamen sehr häufig vor.
Es gibt diverse Beispiele dafür, dass überall in der DDR selbst anpassungsbereiten Pgs.
die Beschäftigung in der Verwaltung oder in diesem Zusammenhang auch die Mitgliedschaft
in der SED zumindest zeitweilig verwehrt blieb. Ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, die sich
politisch betätigen oder ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen wollten, legte man vielerorts
Steine in den Weg.230 Es kam sogar vor, dass selbst Familienangehörige ehemaliger NSDAPMitglieder wegen ihrer verwandtschaftlichen Beziehung nicht einmal zu ehrenamtlichen
Tätigkeiten in den Massenorganisationen zugelassen wurden.231 Die persönliche NSVergangenheit diente darüber hinaus intern als Stützargument, um anderen kaderpolitischen
Negativaspekten dieser Person mehr Gewicht zu verleihen, ihre Karriere zu behindern und
ihnen Ressourcen vorzuenthalten.232 Ihre Vergegenwärtigung suggerierte eine Kontinuität
„reaktionären“ Denkens und Handelns, um ein schädliches Verhalten in der DDR zu
erklären.233 Die Diskriminierung früherer NSDAP-Angehöriger wurde dabei nicht nur
vielfach von diesen selbst und ihrer bald wichtigsten Fürsprecherin, der NDP, registriert.
Auch SED-intern war man sich der häufig anhaltenden inoffiziellen Ausgrenzung durchaus
bewusst. Wenngleich die Parteibasis tendenziell noch weiter ging, wollten auch die
Personalverantwortlichen vor allem sensible Bereiche möglichst rein von NS-Belasteten
halten. Nicht zuletzt beabsichtigte die kommunistische Wertelite, dadurch das
Gefahrenpotenzial einer Agenten- und Sabotagetätigkeit zu mindern. Dabei kümmerte es die
Leitungskader wenig, ob die offiziellen Verlautbarungen und Richtlinien eine
Wiedereinstellung von ehemaligen NSDAP-Angehörigen theoretisch erlaubten. Sie wandten
230
231
232
233
Lothar Bolz beklagte im April 1949 in einem Beitrag der National-Zeitung, dass trotz der Befehle 201 und
35 viele ehemalige Nominelle im Ungewissen darüber gehalten wurden, ob sie wahlberechtigt sind oder
nicht. In zahlreichen Fällen hätten örtliche Behörden deren Wahlberechtigung verneint, ohne sich auf einen
rechtskräftigen Entscheid einer Entnazifizierungskommission stützen zu können. Sie beriefen sich vielmehr
auf Entscheidungen, die am 10. April 1948 nicht abgeschlossen waren, aber auch nicht an die ordentlichen
Gerichte überwiesen wurden. Darüber hinaus »auf angebliche Beschlüsse, die niemandem zugestellt
wurden, ja deren Ausfertigung unauffindbar ist, und gelegentlich sogar auf mündliche Entscheidungen oft
nicht einmal genannter Behörden«. In anderen, eher noch häufigeren Fällen sei zwar das passive Wahlrecht
im Grundsatz unbestritten gewesen. Doch seien frühere NSDAP-Mitglieder trotzdem nicht zur Wahl von
„Ausschüssen öffentlicher Körperschaften“ zugelassen worden. Nominierungen zum Betriebsrat seien
ebenfalls abgelehnt worden. Bolz forderte deshalb eine präzisierende Ausführungsbestimmung zu den
Befehlen 201 und 35, um eindeutig festzustellen, wem das aktive und passive Wahlrecht zustand. Die DVdI
legte wenige Tage danach in der Wahlordnung zum Volkskongress fest, dass lediglich „Nazi- und
Kriegsverbrecher“, die in einem ordentlichen Strafverfahren per Gericht nach Befehl 201,
Kontrollratsgesetz 10 oder Direktive 38 verurteilt wurden, oder denen durch Gerichtsbeschluss das
Wahlrecht aberkannt wurde, nicht wahlberechtigt waren. Die NDP begrüßte diese Regelung, wonach viele
Menschen, die bislang nicht wählen durften, das Wahlrecht erhielten. Allerdings bedauerten die
Nationaldemokraten, dass entlassene Internierte nicht dazu gehörten, auch wenn sie eine innere Wandlung
vollzogen hätten, siehe: National-Zeitung, Leitartikel „Unsere Forderung: Gleichberechtigung!“, vom
14.04.1949; National-Zeitung, Artikel „Wahlordnung zum Volkskongreß“, vom 22.04.1949; vgl. NationalZeitung, vom 23.04.1949.
Dergleichen geschah der Frau eines Pgs. im Demokratischen Frauenbund, siehe: DY 30 / IV, 2/5/206, Bl.
37, Zobel, an Zentralsekretariat, vom 20.05.1949; National-Zeitung, Beitrag „Die Pg-Frau“, vom
29.01.1949.
Siehe die Ablehnung einer besseren Gehaltsstufe für Hans Forsbach durch eine Kommission der
Landesregierung Brandenburg, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 92.
Siehe Untersuchungsberichte zu Ferdinand Beer, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 92.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
53
die Vorschriften so an, wie es politisch opportun erschien. Sofern also unbelastete Bewerber
mit vergleichbarer Fachqualifikation und sonstiger guter kaderpolitischer Gesamtbewertung
zur Verfügung standen, gaben SED-nahe Funktionäre diesen den Vorzug gegenüber
ehemaligen Nationalsozialisten.234 Selbst bei Ermessensspielräumen hegte so mancher NSGegner in den Personalabteilungen und Dienststellenleitungen emotional einen Widerwillen,
ehemaligen Stützen des Hitler-Regimes beim beruflichen Neuanfang zu helfen. Vielen
Nominellen bereitete diese Personalpolitik große Enttäuschung und Frustration. Sie hatten mit
dem Abschluss der Entnazifizierung die Hoffnung auf ein baldiges Ende ihrer
Arbeitslosigkeit oder eine deutliche Verbesserung ihrer beruflichen Situation und damit des
persönlichen Lebensstandards verbunden. Ernüchtert schrieben einige an die Leitung der
Deutschen Wirtschaftskommission, dass sie trotz der verbreiteten Aufforderung, sich am
Wiederaufbau des Landes zu beteiligen, keine adäquate Stelle bekamen, die ihren
Kenntnissen entsprach.235
Ein sehr wechselhafter und zwiespältiger Umgang widerfuhr zum Beispiel dem DWKFunktionär Ferdinand Beer. Dieser hatte bereits 1945 kurzzeitig der ZV Land- und
Forstwirtschaft angehört, musste sie jedoch bald wegen seiner NSDAP-Zugehörigkeit
verlassen. Nachdem er eine Zeit lang als Waldarbeiter tätig war, arbeitete Beer ab 1946 erneut
für die Zentralverwaltung. Im Zuge der Reorganisation der Deutschen Wirtschaftskommission
stand schließlich die Entscheidung an, ob der Forstexperte in einer Leitungsposition
verbleiben durfte. Hierzu schrieb der Leiter der HA Personalfragen und Schulung, Allenstein,
an den DWK-Vorsitzenden Heinrich Rau: »Aus beruflichen Gründen war er Mitglied der
Nazipartei von 1938 bis 1945 und wurde im Oktober 1947 entnazifiziert. [...] B[eer] ist ein
hervorragender Fachmann, der vorbildliche Arbeiten im Zentralforstamt leistete. [...] Seine
Arbeiten sind von fortschrittlichem Geist erfüllt, was zu Kämpfen mit dem Leiter des
Zentralforstamtes führte. Er ist ausserdem schriftstellerisch begabt und ein guter Sprecher,
der seine Gedanken klar formulieren kann und seine Mitarbeiter überzeugt. B[eer] ist durch
gute Arbeit, unermüdlichen Fleiss dauernd bemüht, den dunklen Fleck in seiner
Vergangenheit auszulöschen. [...] Nach Befehl 35 dürfen ehemalige PG´s in leitenden
Stellungen nicht beschäftigt werden. In diesem Ausnahmefall müsste eine Entscheidung
herbeigeführt werden, ob Beer als stellvertr[etender] Hauptabteilungsleiter nach der
Bes[oldungs-] Gr[uppe] B 5 bestätigt werden kann.« Eine durch und durch positive
Charakterisierung. Sie wies alles andere als Anzeichen auf, Beer wegen seiner NSDAPMitgliedschaft in ein schlechtes Licht zu rücken. Rau verweigerte jedoch die nahegebrachte
Bestätigung und kommentierte: »Man sollte Beer zunächst in ein Forstamt senden und mit
Arbeit von unten beginnen lassen. Dort wird sich zeigen, wie weit das Bemühen geht, den
´dunklen Fleck auszulöschen´.«236 Rau äußerte schwere Bedenken, Beer in die DWK zu
übernehmen. Er warf ihm vor, ohne zwingende Veranlassung in die NSDAP eingetreten
beziehungsweise aus dem Privatdienst in den Reichsdienst übergewechselt zu sein. Sein
ebenso schneller Wechsel nach Kriegsende zu den Sozialisten habe kein günstiges Licht auf
den Charakter des Forstfachmannes geworfen. Auf Weisung des Zentralsekretariates der SED
wurde Beer dann aber doch übernommen.237 Er durfte in der DWK arbeiten, eine Bestätigung
wurde jedoch weiterhin mit dem Hinweis abgelehnt, dass ehemalige Pgs. keine leitenden
Posten bekleiden sollten. Ein Jahr später, nach einer weiteren sehr günstigen Beurteilung
234
235
236
237
National-Zeitung, Beitrag „Ein Wort an die Personalchefs“, vom 23.01.1949.
Siehe das Beispiel eines heimatvertriebenen behinderten Pgs. in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 93.
Es ging um die Bestätigung Beers als stellvertretender Leiter der HA Forstwirtschaft in der HV
Wirtschaftsplanung, siehe: DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 12 VS + RS, [DWK, HA Personalfragen und Schulung,]
Allenstein, an den Vorsitzenden der DWK, vom 21.06.1948.
DC 1 / 2548, V / 1/32, [ZKK,] Kurzcharakterisierung, undatiert; zur Zustimmung des Zentralsekretariats
siehe auch: DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 4, [Verfasser unklar,] Dienstleistungsbericht, undatiert.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
54
durch die HV Wirtschaftsplanung, erteilte sie das zuständige DWK-Sekretariatsmitglied
Bruno Leuschner schließlich doch noch – als „Ausnahmefall“.238
Die Tatsache, dass Beer entgegen den Befehlen der SMAD in einer leitenden Funktion
tätig war, ist für sich genommen natürlich ein besonders pragmatischer, „Pg.-freundlicher“
Akt gewesen. Er ging über das rechtlich Mögliche sogar hinaus, wenngleich die
Beschäftigung erst nach erheblichen Widerständen und einigem Zögern erfolgte. Die
eigentliche Diskriminierungsabsicht lag denn auch darin, dass Rau ganz eigene Maßstäbe bei
der Bewertung der persönlichen NS-Belastung und der Rehabilitierung nach 1945 anlegte, die
scheinbar kein anderer Kaderverantwortlicher teilte. Denn zum einen war Beer ja bereits
1945/46 mit einfachen Arbeiten in einem Forstamt befasst gewesen. Damit hatte er schon ein
Zeichen der Sühne gesetzt und sich im gleichen Maße „bewährt“ wie Tausende anderer
NSDAP-Mitglieder auch. Darüber hinaus hatte der Forstfachmann erfolgreich ein
Entnazifizierungsverfahren durchlaufen. Dieses hatte eine Prüfung seiner Aktivitäten und
Motivationen eingeschlossen, mit dem Ergebnis, dass er nur nominelles Parteimitglied und
kein überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus war. Doch für Heinrich Rau war
Bewährung nicht gleich Bewährung und ein Nomineller nicht gleich ein Nomineller. Der
Altkommunist sah in Beer ein schwankendes Element, das sich freiwillig bei den Faschisten
eingereiht hatte. So einen Menschen wollte er nicht so ohne weiteres in einer Institution wie
der DWK an exponierter Stelle wissen. Erst nach einem Machtwort des SEDZentralsekretariates konnte Beer in der für ihn vorgesehenen Position weiterarbeiten. Dieses
Beispiel zeigt auch, dass personalverantwortliche SED-Funktionäre Unstimmigkeiten bei der
Behandlung von Pgs. untereinander weitgehend hierarchisch beilegten: Am Ende entschieden
die Parteiführung oder, im Laufe der Zeit immer seltener, die sowjetische Besatzungsmacht.
In der Öffentlichkeit vertrat die DWK hingegen ein Bild, das zwar der Rechtslage mit
ihren vorübergehenden Berufsverboten für bestimmte Fachrichtungen und Leitungspositionen
sowie dem Tenor offizieller Verlautbarungen entsprach, aber dennoch sehr unpräzise und
allgemein blieb. So teilte sie der NDP-Nationalzeitung 1949 mit, dass die Beschäftigung
nomineller Pgs. „in Verwaltungsorganen“ der Beweis für die Beachtung des Befehls 201 sei.
Die Durchführung des Zweijahrplanes habe eine Mitarbeit ehemaliger NSDAP-Mitglieder in
der Wirtschaft geradezu erforderlich gemacht. Keine verantwortliche Betriebsleitung würde
auf die durch Befehl 201 ermöglichte Heranziehung von Arbeitskräften verzichten.239
Konkrete Angaben über das tatsächliche Ausmaß der beruflichen Wiedereingliederung, etwa
in der DWK, fehlten. Eine unabhängige Überprüfung der Umsetzung der
Reintegrationspolitik war also nicht zu leisten. Doch die Beschwerden früherer NSDAPAngehöriger über mangelnde Integrationsfortschritte, über eine Kluft zwischen verkündeter
und real erfahrener Politik hielten selbst nach Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes
von 1949 an. Zahlreiche Klagen erreichten die Nationaldemokratische Partei, welche sich
wiederum beim Ministerium des Innern für umfassendere Wiedereingliederungsmaßnahmen
einsetzte.240 Zum einen bezogen sich die Eingaben seit Beendigung der Entnazifizierung auf
Erkundigungen nach der persönlichen politischen Vergangenheit und entsprechende
Personalfragebögen, die bei der Bewerbung und während einer sich anschließenden
Beschäftigung auszufüllen waren.241 In Zusammenhang damit monierte die NDP, dass die
Personalabteilungen oft versuchten, die Nichteinstellung früherer Nationalsozialisten mit
238
239
240
241
Die Personalabteilung der HV Wirtschaftsplanung bat im Juli 1949 um Bestätigung der Stellenbesetzung.
Dazu gab sie eine günstige Beurteilung ab. Auch die HA Personalfragen und Schulung befürwortete die
Bestätigung zum wiederholten Male. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 94.
DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49,
vom 25.03.1949.
Dabei ging es unter anderem um die Frage, welche konkreten Arbeitsbereiche von den im
Gleichstellungsgesetz von 1949 genannten Berufsverboten betroffen waren, siehe: DO 1 / 26.0, 8580,
NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950; ebd., [MdI, an NDPD, Müller,] vom 01.07.1950.
Siehe Kapitel „Von Fragebögen und dem Wunsch zu schweigen“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
55
Sparzwängen und schlanken Stellenplänen zu begründen. Tatsächlich waren in Folge der
Währungsreform grundsätzlich alle Bewerber hiervon betroffen. Doch zogen die politisch
Belasteten bei der Frage, wer die wenigen Stellen einnehmen durfte oder bei Einsparungen als
erster die Kündigung erhielt, überdurchschnittlich oft den Kürzeren.242 Die Betonung der
wirtschaftlichen Aspekte sollte von den politischen Gründen, die zur Ablehnung führten,
ablenken, da Letztere den Protest der Nominellen provoziert hätten. Um ein
partnerschaftliches Wohlwollen zu demonstrieren, ermunterten die Personalabteilungen
deshalb dazu, sich an anderer Stelle erneut zu bewerben. Sie verbreiteten Zuversicht, damit
ehemalige Nationalsozialisten in der SBZ weiterhin eine Lebensperspektive sahen und sich
die neue politische Ordnung dadurch stabilisierte.
Viele Pgs. durchschauten dieses Spiel jedoch. Die NDP als ihre damals aktivste
Interessenvertreterin beklagte sich beim Ministerium des Innern, dass unter Hinweis auf
angebliche Stelleneinsparungen vor allem ehemalige NSDAP-Mitglieder gar nicht erst zur
Einstellung kamen oder eben entlassen wurden – wobei anschließend andere Personen ihre
Stelle einnahmen.243 Unter den Zurückgewiesenen sollen sich in besonderem Maße frühere
Angestellte, die bereits über 50 Jahre alt waren, Lehrer, gesundheitlich eingeschränkte
Personen, ehemalige Internierte und sogar Wirtschaftsfachleute befunden haben. Im Fall der
Lehrer erschien die Ablehnung einer Beschäftigung unter Hinweis auf einen Stellenmangel
einerseits besonders paradox, da der Wirtschaftsplan Anfang der fünfziger Jahre eine
Erhöhung der Lehrerzahl um sieben Prozent vorsah. Andererseits stand der Wille zum
nachhaltigen Austausch des Bildungspersonals im Raum, um das Volk umzuerziehen. Das
jedoch traute die SED vielen Pgs. nicht zu. Daneben war der Mangel an spezialisierten
Fachkräften in der Wirtschaft ebenfalls unübersehbar. Die Nationaldemokraten forderten eine
Beseitigung
dieser
ihrer
Ansicht
nach
unzulänglichen
Umsetzung
des
Gleichstellungsgesetzes. Sie wünschten unter anderem eine Verpflichtung der
Volkswirtschaft, ungenutzte Pg.-Fachkräfte einzustellen.
Tatsächlich lag ein großer Schatz an Fähigkeiten durch die anhaltende, gesetzlich nicht
mehr legitimierte Ausgrenzung vieler NS-Belasteter brach. In Berlin werteten die
Nationaldemokraten zwar bereits Anfang 1949 die Durchführungsbestimmungen zum
Abschluss der Entnazifizierung als wesentlichen Fortschritt. Auf dieser Basis sei ein
gleichberechtigter Wiedereinbau der ehemaligen Pgs. in das politische und wirtschaftliche
Leben machbar gewesen. Doch ermahnte das NDP-Parteiorgan „National-Zeitung“ die
unteren Verwaltungsinstanzen zugleich, sich auch an die neuen Anordnungen zu halten. Denn
in den Ländern der SBZ hätten gerade sie die Anweisungen „von oben“ immer wieder
verwässert. Trotz weitgehenden offiziellen Wegfalls der Arbeitsbeschränkungen seien der
Wirtschaft dadurch wertvolle Fachkräfte vorenthalten worden.244 Immer wieder beschwerten
sich frühere NSDAP-Mitglieder darüber, dass sie als gebildete Spezialisten vor allem in der
öffentlichen Verwaltung als Hilfsarbeiter, Boten etc. fehleingesetzt waren. Die NDP stimmte
in diesen Chor mit ein, machte sich fortlaufend für Pg.-Bewerber stark und kritisierte in aller
Offenheit, dass die Arbeitsvermittlung nicht den genannten SMAD-Befehlen entsprochen und
die Nominellen diskriminiert habe.245 Laut Lothar Bolz beriefen sich zum Beispiel diverse
Ämter für Arbeit und Sozialfürsorge 1949 immer noch auf den alten Befehl 153 vom 29.
November 1945, wonach ehemaligen NSDAP-Mitgliedern nur körperliche Arbeit vermittelt
werden durfte. Sie hätten hierbei sogar Rückendeckung von Vertretern der DWK bekommen.
Es sei insgesamt unstreitig gewesen, dass zahlreiche Behörden, öffentliche und auch private
242
243
244
245
National-Zeitung, Beitrag „Schluß mit der Ungewissheit!“, vom 20.04.1949.
DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950; ebd., [MdI, an NDPD, Müller,] vom
01.07.1950.
National-Zeitung, Leitartikel „Wie Berlin die ehemaligen Pgs behandelt“, vom 11.03.1949.
DY 16 / 2786, 17.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
56
Betriebe den Befehlen der sowjetischen Besatzungsmacht zuwiderhandelten.246 Im Zuge
einiger erfolgloser Bewerbungen wurde den Betroffenen sogar manchmal offen mitgeteilt,
dass sie wegen ihrer ehemaligen Parteizugehörigkeit keine Berücksichtigung fanden.247
Als Plattform der enttäuschten Nominellen spielte das NDP-Parteiblatt „NationalZeitung“ eine besondere Rolle. Besonders in der Kolumne „Nationales Forum“ verschafften
sie ihrem Unmut mittels Leserbrief Luft. Dies war eine der ganz wenigen
öffentlichkeitswirksamen Artikulationsmöglichkeiten für NS-Belastete in der SBZ und DDR
überhaupt. Die NDP-Führung nutzte diese Ventilfunktion, um sich besser als verständige
Patronin empfehlen zu können. Zumindest partiell teilte sie die Meinung der verprellten
NSDAP-Mitglieder auch. Auf der anderen Seite hatte die Parteispitze die Aufgabe, den
verbreiteten Ärger zu kanalisieren und für die Politik der SED zu werben. Ihre
Erfolgsmeldungen über NS-Belastete, die in ihren Beruf zurückgekehrt waren, konnten die
anvisierte Klientel jedoch nicht über die insgesamt defizitäre Reintegration
hinwegtäuschen.248
Das Ministerium des Innern wies die in sachlich-diplomatischem Ton vorgebrachten
Vorwürfe der NDP zurück. Es stellte sich auf den Standpunkt, dass eine Benachteiligung
aufgrund der früheren Parteizugehörigkeit angeblich nicht eindeutig nachweisbar war. Alle
ehemaligen NSDAP-Angehörigen hätten die rechtlich garantierte Chance, das Berufsleben
mitzugestalten. Daraus erwüchse jedoch kein Anspruch auf Wiedereinnahme einer einstmals
besetzten Position. Für die Pgs. hätten die gleichen personalpolitischen Grundsätze wie für
alle anderen DDR-Bürger Geltung gehabt. Darunter sei insbesondere die Bereitschaft zum
Aufbau einer antifaschistischen Ordnung zu verstehen gewesen. Ebenso träfen die
Sparzwänge
alle
Angestellten
gleichermaßen,
ungeachtet
ihrer
früheren
Organisationszugehörigkeit. Das Ministerium des Innern versteckte sich also hinter der
Theorie von Gesetz und Richtlinien, wohl wissend, dass ihre reale Anwendung den
Kommunisten genügend Spielraum ließ, die eigenen politischen Prioritäten durchzusetzen.
Wie erlebten nun die betroffenen Ex-Nationalsozialisten am Arbeitsplatz vor Ort die
Momente der Ablehnung? Eine beispielhafte Begebenheit liegt für das Stahl- und Walzwerk
Hennigsdorf vor. Es stand zum Zeitpunkt des Geschehens im Jahre 1950 unter der Aufsicht
des Ministeriums für Industrie. Ein politisch Belasteter arbeitete dort seit Anfang 1949, also
schon über ein Jahr lang, als Kraftfahrer. Er war 1932-1945 Mitglied der NSDAP und seit
1933 in der SS, wo er die Funktion eines Unterscharführers ausgefüllt hatte. Wegen seiner
politischen Belastung hatte der Betreffende nach dem Krieg eine Haftstrafe verbüßt. Seine
berufliche Wiedereingliederung schien vollzogen, bis sich eines Tages Folgendes abspielte,
wie der NS-Belastete selbst berichtete: »Ich schildere den Sachverhalt so, wie er gewesen ist.
Ich kam am 3. Pfingstfeiertage zur Arbeit und wurde zu meinem Abteilungsleiter [...] gerufen.
Er sagte zu mir: ´Kollege [...], Du sollst sofort zum Personalbüro kommen.´ Ich ging hin. Die
Angestellte [...] sagte zu mir: ´Sie sind ab sofort in die Sandputzerei versetzt.´ Darauf
antwortete ich: ´Ohne mir´. Dann frug ich nach Gründen. Die Antwort darauf war: ´Weiss ich
nicht´. – Ich ging zum Vertrauens- sowie zum AGL-Mann meiner Abteilung und erkundigte
mich nach Gründen. ´Der AGL-Mann [...] platzte auf einmal heraus: ´Der Werksleiter und
der Personalchef haben beschlossen, dass ein früherer SS-Mann keinen PKW fahren darf.
Das wäre für unser Werk nicht erträglich.´ Ich ging zum Personalchef. Dieser antwortete mir
durch Frau S[...]: ´Es bleibt so, wie es ist´. Da beantragte ich sofort meinen Urlaub. In dieser
Zeit habe ich mich überall erkundigt, wo ich die Beschwerde führen kann. Ich war auch in der
246
247
248
National-Zeitung, Leitartikel „Unsere Forderung: Gleichberechtigung!“, vom 14.04.1949; NationalZeitung, Beitrag „Schluß mit der Ungewissheit!“, vom 20.04.1949.
National-Zeitung, Beitrag „Ungezählte sind noch ausgeschlossen“, vom 20.02.1949; vgl. National-Zeitung,
vom 25.03.1949.
National-Zeitung, Artikel „Neulehrer oder alte Lehrer“, vom 22.03.1949; vgl. National-Zeitung, Artikel
„Werk des Aufbaues“, vom 31.03.1949.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
57
Zeit meines Urlaubs noch einmal im Werk. Da kam ich mit dem Personalchef in Berührung.
Bei dieser Aussprache sagte er mir: ´Es wäre ja gar nicht die politische Sache´. Denn jetzt
war es auf einmal die Arbeit. Dieses widerlegte ich ihnen auch. Ich sagte, dass ich es
politisch auffasse, wie es mir vom AGL-Mann gesagt wurde. Wem passt nun meine Nase
nicht? Ist das der Dank, dass man Tag und Nacht 16 Monate gefahren ist? Ich kann von
meiner Seite aus sagen, dass ich mich dieser Zeit angepasst habe, und v i e l l e i c h t mehr
meine Pflicht getan habe, wie manch anderer, auch Verantwortungsvollere, der heute das
Abzeichen trägt, und es sollte doch jeder gleich gestellt werden. Es sieht doch aber dadurch
so aus, dass diese Herren nach aussen richtig denken und innerlich doch einen Hass auf
solche Personen, wie ich es gewesen bin, tragen.«249
Was war geschehen? Zur Klärung bedarf es zunächst eines Blickes auf die Rolle der
Personalleitung des Betriebes. Sie wird in einem internen Aktenvermerk widersprüchlich
dargestellt. Denn einerseits soll sie die Einstellung ohne Kontrolle, sprich ohne Kenntnis der
vorliegenden Belastung oder Bestätigung durch höhere Stellen vorgenommen haben.
Andererseits lag offensichtlich keine Fragebogenfälschung vor.250 Die Personalabteilung hatte
die vom Bewerber geschilderte politische Vergangenheit deshalb ursprünglich wohl als
integrationsfähig eingestuft. Auf jeden Fall kam sie nach einer personellen Neubesetzung zu
dem Ergebnis, dass der ehemalige SS-Angehörige ein Sicherheitsrisiko darstellte. Als Fahrer
von Direktionsmitgliedern des Stahlwerkes hätte er nämlich Gelegenheit gehabt, vertrauliche
Betriebsinformationen zu erfahren. Somit lag nach Meinung von Angehörigen der
kommunistischen Wertelite die Möglichkeit zur Spionage vor. Bei einem aufgrund
faschistischer Vorbelastung wenig vertrauensvoll erscheinenden Angestellten erschien diese
Gefahr um so größer. Eine Veränderung war demnach umgehend und ohne Rücksicht auf
Befindlichkeiten durchzuführen.
Vom rein rechtlichen Standpunkt ist nicht mehr nachvollziehbar, ob die
Voraussetzungen für eine Beschäftigung im vorliegenden Fall gegeben waren. Die erwähnte
Haftstrafe weist darauf hin, dass das Engagement im „Dritten Reich“ nicht mehr als nominell,
sondern als aktivere Betätigung eingestuft wurde. Sofern der Freiheitsentzug über ein Jahr
betragen hatte, fiel der Betroffene nicht einmal mehr unter die Begünstigten des
Gleichstellungsgesetzes vom Oktober 1949. Möglicherweise hätte die Anstellung also nie
vollzogen werden dürfen. Doch wie dem auch gewesen sein mag: Die Arbeit des früheren
Nationalsozialisten hatte anscheinend über ein Jahr lang keinen Anlass zur Klage geboten.
Die Vorgesetzten beurteilten Leistung und Führung des Angestellten mit „gut“. Die völlig
unerwartet angeordnete Versetzung in eine Art Putzkolonne traf ihn daraufhin entsprechend
hart. Er musste plötzlich einsehen, dass seine bereits erlangte Wiedereingliederung keine
Garantie beinhaltete. Seine Gleichberechtigung hing gänzlich vom Wohlwollen der
Personalabteilung ab. Selbst eine Bewährung in Form eines überaus pflichtbewussten
Arbeitseinsatzes war von keinem Nutzen. Ihm half auch nicht die mit den Worten, er habe
sich „dieser Zeit angepasst“, dokumentierte leidenschaftslose, aber entschlossene
Unterwerfungsbereitschaft. Dabei war es den Vertretern der Personalabteilung und
Gewerkschaft sichtlich unangenehm, dem früheren SS-Angehörigen die wahren Gründe für
ihre kurzfristige Meinungsänderung zu nennen. Zunächst traf der Angestellte auf offenbar
gespielte Ahnungslosigkeit der Personalbearbeiterin. Darauf folgte das unlogische Urteil, dass
eine Beschäftigung als Fahrer nicht „erträglich“ sei, aber die in der Sandputzerei schon.
Schließlich versuchte der Personalleiter vom politischen auf den fachlichen Aspekt
abzulenken, womit er sich nur noch mehr in Widersprüche verstrickte.
Hilfe schien in einer solchen Situation nur noch bei den höchsten Stellen der Staats- und
Parteiführung über entsprechende Eingaben erlangbar zu sein. Die Spitzenpolitiker standen
249
250
DO 1 / 26.0, 17567, Karl W[...], an SED-Hauptbüro, undatiert (Abschrift); ebd., [Verfasser unklar,] an
Weise, vom 22.08.1950.
Die Ausgrenzung NS-Belasteter begünstigte Fragebogenfälschungen, siehe: Danyel, SED, S. 178.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
58
für die Pgs. durch ihre Verlautbarungen im Wort. Sie sollten die nach Meinung der früheren
Nationalsozialisten zuwiderlaufende Umsetzung der offiziellen Vorgaben korrigieren.251 Der
ehemalige SS-Unterscharführer wünschte sich sehnlichst einen Schlussstrich unter die
Ahndung seiner politischen Biografie. Er realisierte jedoch zu Recht, dass viele Mitglieder der
SED, die wichtige Schlüsselstellungen innehatten, insgeheim eine Antipathie oder sogar
regelrechte Feindschaft gegen frühere Nationalsozialisten hegten. Diesen Umstand machte der
Betreffende schließlich auch dafür verantwortlich, dass er nach seinem Weggang aus dem
Stahlwerk Hennigsdorf andernorts keine Arbeit mehr erhielt. Mit dieser Einschätzung lag er
nicht falsch. Allerdings konnte sich der betroffene NS-Belastete wohl kaum die ganze
Wahrheit, nämlich die befürchtete Spionage, als Ursache für seine Ausgrenzung vorstellen.
Der tatsächliche Grund scheint dem Betroffenen auch nie mitgeteilt worden zu sein. Dazu
fürchteten die Kommunisten viel zu sehr das Unverständnis und den Aufruhr der „politisch
unbewussten“ Normalbürger.
In den seltensten Fällen nannten die Personalabteilungen also ein Engagement in
nationalsozialistischen Organisationen als wirkliche Ursache für ihre Abwehrhaltung.
Teilweise stritten sie dieses Handlungsmotiv auch ausdrücklich ab. Dennoch vermuteten die
Betroffenen, ihre NS-Hypothek sei der Ablehnungsgrund gewesen, beziehungsweise es war
ihnen sonnenklar. Denn trotz vielversprechender Signale erhielten zahlreiche Pgs. permanent
eine Absage, sobald sie die Frage nach einer NSDAP-Zugehörigkeit zu beantworten hatten.
Immer wieder bekamen sie dann fadenscheinige Begründungen zu hören, wie die, dass die
Stellen schon anderweitig vergeben oder gar keine freien vorhanden waren.252 Die anhaltende
Benachteiligung im Berufsleben stürzte so manche ehemaligen Nationalsozialisten in
Arbeitslosigkeit und arge wirtschaftliche Probleme. Ein ehemaliger SS-Angehöriger sah sich
in seiner Not sogar veranlasst, persönlich beim Büro Ulbricht aufzutauchen, um sich auf
diesem Weg zu beschweren und die Vermittlung irgendeiner Arbeitsstelle zu erwirken.
Tatsächlich überprüften Partei- und Staatsapparat auch solche Einzelfälle und gaben den
Anstoß für eine Anstellung, wenn das kaderpolitische Gesamtbild günstig erschien und es
lediglich galt, den Widerwillen an der Basis zu überwinden.253 Wenn hingegen keine
Aufgeschlossenheit zum neuen politischen System zu registrieren war oder die NS-Belastung
zu groß erschien, verschlossen sich auch höhere Stellen der Befürwortung einer
Beschäftigung.254 Zumindest sollten kaderpolitisch minderwertige Personen aus sensibleren
Bereichen wie der öffentlichen Verwaltung herausgehalten werden. Die betroffenen NSBelasteten selbst zeigten Frust und Unverständnis über ihre bleibende Verstoßung. Sei es,
weil sie die Kaderkriterien nicht kannten, sei es, weil sie den Anspruch der Partei und
Regierung durch die Wirklichkeit vollständig konterkariert sahen. Sogar Familienangehörige
von ehemaligen Nationalsozialisten beklagten sich. Auch sie sahen es als „zweite Strafe“ nach
der Entnazifizierung an, wenn trotz des Gleichstellungsgesetzes von 1949 keine
Wiedereinstellung ihrer Verwandten in den alten Beruf erfolgte.255
Manche ehemaligen Nationalsozialisten waren sich dabei über die Bedeutung der
Erziehung und Bewusstseinsbildung im Sinne des Marxismus-Leninismus absolut im Klaren.
Jedenfalls versuchten sie, sich diese Zielsetzung der Machtelite argumentativ zu Nutze zu
251
252
253
254
255
Dabei mangelte es den Petenten nicht an Selbstbewusstsein und Überzeugung im Recht zu sein. Der
ehemalige SS-Angehörige schloss seine Eingabe an die SED-Führung mit den Worten „ich bitte doch,
diesen Fall einmal zu prüfen und mir von der Richtigstellung Nachricht zukommen zu lassen“, siehe: DO 1
/ 26.0, 17567, Karl W[...], an SED-Hauptbüro, undatiert (Abschrift).
Siehe das Beispiel eines Vermessungstechnikers in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 101.
Einzelheiten zum erwähnten SS-Angehörigen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 101.
Ein Beispiel mit Beteiligung der LPKK Sachsen-Anhalt siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 101.
Siehe den Fall eines Bürgers, der sich für seinen als Pg. aus dem Postdienst entlassenen und nicht erneut
eingestellten Schwiegersohn einsetzte, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 102.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
59
machen.256 Misstrauen und Missgunst vieler SED-Funktionäre führten andererseits sogar
dazu, dass schon der bloße Verdacht, sich während der Hitler-Diktatur besonders
regimekonform verhalten zu haben, für eine faktische Ausgrenzung reichte. Betroffen waren
zum Beispiel Personen, die bestimmte Positionen eingenommen hatten, aber trotzdem nicht
der NSDAP angehörten. Sie hatten es sehr schwer, staatliche Behörden und andere
(potenzielle) Arbeitgeber von ihrer einstigen Parteilosigkeit und politischen Zurückhaltung zu
überzeugen. Das betraf insbesondere ehemalige Angehörige von Reichsdienststellen und
Beamte. Ihre Bemühungen, sich als unbeschriebenes Blatt zu verkaufen, trieb manchmal
seltsame Blüten. So kam es vor, dass sich ein früherer Amtsgehilfe der Reichsstatthalterei
Posen im Jahr 1951 hilfesuchend an das Ministerium des Innern wandte. Er bat um eine
Bestätigung darüber, nicht in der NSDAP gewesen zu sein. Denn sein Lebenslauf erschien
unglaubwürdig und man wollte ihn beschuldigen, in der Partei gewesen zu sein.257 Das MdI
stellte entsprechende Bescheinigungen natürlich nicht aus. Zum einen deshalb, weil es kaum
über die notwendigen Informationsquellen verfügte. Zum anderen, weil es sich grundsätzlich
gegen „Persilscheine“ aussprach, die trotz hohen Verwaltungsaufwands schnell wieder an
Aussagekraft verlieren konnten.
Im Übrigen erfolgten Anfeindungen und Vorbehalte gegenüber ehemaligen
Nationalsozialisten auch in subtiler Form beim Umgang mit NDP-Mitgliedern. So kam es vor,
dass es einem Kommunisten politisch unverantwortlich erschien, wenn ein leitender Genosse,
der vorgab klassenbewusst und parteiverbunden zu sein, einen SED-Funktionär in Gegenwart
eines NDP-Mitgliedes diskreditierte, indem er dessen Arbeit höchst abfällig kommentierte.258
Ob der Klagende immer definitiv wusste, ob es sich bei einem anwesenden
Nationaldemokraten auch um ein ehemaliges NSDAP-Mitglied handelte, sei dahingestellt. Es
war wohl auch relativ unerheblich, da damals die Ansicht weit verbreitet war, zur NDP seien
praktisch ausschließlich Pgs., frühere Wehrmachtsoffiziere oder anderweitig durch ihre Rolle
während des NS-Regimes in Misskredit geratene Personen gestoßen. So übertrug sich die
soziale Ausgrenzung NS-Belasteter auf Angehörige der neuen Blockpartei.
Viele Personalleiter sperrten sich also gegen eine tatsächliche Gleichbehandlung der
Nominellen bei der Auswahl von Mitarbeitern. Sie verschanzten sich offenbar auch hinter
juristischen Unklarheiten und spielten auf Zeit.259 Manchmal handelten sich Behörden sogar
den Vorwurf ein, die Befehle der SMAD komplett zu ignorieren.260 Bei der gesamten
Betrachtung der Ausgrenzung von NS-Belasteten im Berufsleben ist zu betonen, dass so
manche Kommunisten es insgeheim als grundsätzlich positive Kaderpolitik ansahen, den
Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den jeweiligen Personalstämmen so niedrig wie
möglich zu halten. Am liebsten hätten sie den neuen Staat ohne die Hilfe der Pgs. aufgebaut,
doch das war utopisch. Konflikte mit einzelnen Funktionären und weiten Teilen der
Parteibasis kamen deshalb vor, weil Letztere aus persönlicher Abneigung den Bogen häufig
überspannten. Sie gingen in der Reinhaltung der Belegschaften so weit, dass sie individuelle
256
257
258
259
260
Siehe die Argumentation eines entlassenen Telegrafenassistenten, der beklagte, nicht an geeigneter Stelle
eingesetzt zu werden, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 102 f.
Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 104.
Diesen Vorwurf erhob 1950 eine Personalreferentin und beschwerte sich beim MdI über den
kommissarischen Leiter der DHZ Kohle. Bei dem erwähnten Nationaldemokraten handelte es sich um
Alexander Mallickh, der damals Abteilungsleiter und Hauptgruppenleiter der Deutschen Handelszentrale
Kohle in Dresden und daselbst NDP-Betriebsgruppenvorsitzender war. Mallickh gehörte der NSDAP an,
dann 1945-1949 der LDP und ab dem 7.2.1949 der NDP. In den Jahren 1950-1952 arbeitete er als
persönlicher Referent des Ministers für Leichtindustrie Wilhelm Feldmann. Mallickh fungierte darüber
hinaus als Mitglied des Hauptausschusses der NDP und als stellvertretender Oberbürgermeister von OstBerlin, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 104, dort auch weitere Quellen und Literaturangaben zu
Alexander Mallickh. Zu Wilhelm Feldmann siehe die ausführliche Darstellung in: ebd., S. 870-888.
Siehe einen Fall aus Sachsen, bei dem die SED-Führung bemüht war, das Gesetz nicht eng, sondern im
Sinne der Nominellen auszulegen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 104.
National-Zeitung, Beitrag „Schluß mit der Ungewissheit!“, vom 20.04.1949.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
60
günstige Kadermerkmale nicht als Ausgleich für braune Biografieanteile gelten ließen und
den Konsolidierungszwängen der Nachkriegszeit weit weniger nachgeben wollten als andere
Kommunisten. Von dieser restriktiven Haltung waren auch solche NS-Belastete betroffen, die
bereits den Sprung in ein Beschäftigungsverhältnis bei der DWK geschafft hatten. Die SEDBetriebsgruppe der Wirtschaftskommission hatte zunächst sehr wenig getan, um bürgerliche
Fachleute, zu denen auch die ehemaligen Nationalsozialisten zählten, für die neuen
Staatsideen zu gewinnen und politisch zu entwickeln. Es hätten sich im Gegenteil Tendenzen
gezeigt, Spezialisten zu bekämpfen und auszuschalten. In einer Resolution der Betriebsgruppe
hieß es deshalb selbstkritisch: »Wir warnen vor diesen Auffassungen, die in der Praxis unsere
Aufbauarbeit unterminieren. Die Betriebsgruppe muß sich bemühen, ein gutes Verhältnis zu
den bürgerlichen Fachleuten herzustellen und sie für die Durchsetzung des Zweijahresplanes
zu gewinnen.«261 In Schulungen war ihnen und anderen indifferenten Mitarbeitern das
marxistisch-leninistische Gedankengut näherzubringen. Gleichzeitig sollte die ebenfalls
bestehende Tendenz, sich auf „feindliche bürgerliche Elemente“ als unentbehrliche Fachleute
zu stützen und ihre Entfernung aus der Verwaltung zu verhindern, auf das Entschiedenste
bekämpft werden. Auch wenn die früheren NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder hier nicht direkt
genannt wurden – was sich schon durch den öffentlichen Adressaten der Resolution erklären
lässt –, trafen sie die bemängelten Umstände als Teil der alten Intelligenz mit aller Härte.
Die SED-nahen Personalverantwortlichen im zentralen Staatsapparat dachten nicht
daran, langfristig frühere Nationalsozialisten zu beschäftigen, die sich der Parteilinie
gegenüber unaufgeschlossen zeigten oder fachlich keine besonderen Leistungen unter Beweis
stellten. Eine ganze Reihe von Nominellen hatte jedoch angesichts der immer weitreichender
erscheinenden offiziellen Reintegrationspolitik die Hoffnung gehabt, ohne Vorbedingungen
und Reibungsverluste in ihre alten Positionen zurückkehren zu können. Das sollte eine
Illusion bleiben. Und selbst wenn es sich bei den Regierungsangestellten um loyale und
effizient arbeitende NS-Belastete handelte, glitten einige Kaderleiter in den Ministerien
immer wieder in pauschale Herabwürdigungen ab. Eine Senkung des Anteils ehemaliger
NSDAP-Mitglieder galt ihnen genauso wie die Reduzierung der Zahl ehemaliger Beamter als
„Aufwärtsentwicklung im Sinne unserer fortschrittlichen Personalpolitik“.262 Noch Ende der
fünfziger Jahre sprachen Kaderverantwortliche von einer Verschlechterung der Situation,
wenn sich der Anteil ehemaliger Pgs. am Gesamtpersonal einer Regierungsdienststelle
erhöhte.263 Wer sich zur Rechtfertigung auf einen Mangel an unbelasteten Fachkräften berief,
stand leicht im Kreuzfeuer der Kritik.264 Wer sich gar – im Wechselspiel mit anderen
Anschuldigungen – dem Verdacht aussetzte, sich für die Anstellung ehemaliger
Nationalsozialisten besonders einzusetzen, ihrer Entlassung Widerstand entgegenzubringen
oder sie durch Hilfestellung beim Eintritt in die SED schützen zu wollen, wusste sich kaum
gegen die Hysterie stalinistischen Terrors zu verteidigen.265 Dabei befürworteten oder
261
262
263
264
265
Die zitierte Formulierung gab nur in abgeschwächter Form wieder, was der Entwurf der Resolution noch
weniger ausgleichend ausdrückte. Dort stand: »Wir warnen und beseitigen die Radikalinskis, die in der
Praxis damit unsere Aufbauarbeit unterminieren. Die Betriebsgruppe bemüht sich um ein gutes Verhältnis
zu den bürgerlichen Fachleuten und versucht alles, sie für die Durchsetzung des 2-Jahresplanes zu
gewinnen.« Siehe: DY 30 / IV, 2/6.02/36, Bl. 46 f., Resolution der SED-Betriebsgruppe der Deutschen
Wirtschaftskommission, undatiert; ebd., Bl. 55, Resolution der SED-Betriebsgruppe der Deutschen
Wirtschaftskommission (Entwurf), undatiert; DC 15 / 708, Bl. 8-16 Resolution der SED-Betriebsgruppe der
Deutschen Wirtschaftskommission (Entwurf), undatiert [Ende 1948].
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium der Finanzen, HA Personal, Berichterstattung für das 1. Quartal 1950, an
MdI, HA Personal, vom 20.04.1950, S. 3.
So hinsichtlich der SPK, wo Pgs. und Wehrmachtsangehörige betroffen waren, siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 106.
DP 1 / SE 0680, Arbeitsbericht für das III. Quartal 1953 der Kaderabteilung, S. 2; ebd., 2/III; DY 30 / IV,
2/11/166, Bl. 192.
Der ehemalige Vorsitzende der SPD-Betriebsgruppe in der ZV Handel und Versorgung, der später durch
die ZPKK aus der SED ausgeschlossen wurde, wehrte sich 1949 gegen den Vorwurf, ehemalige NSDAP-
Jens Kuhlemann – Braune Kader
61
duldeten natürlich auch viele unverdächtige Altkommunisten, Betriebsräte oder die SMAD
die Beschäftigung ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Die Verantwortung für die Anwesenheit
der Pgs. im Verwaltungsapparat war also praktisch nie nur einer einzigen Person
zuzuschreiben und geschah vor den Augen der Machtelite. Gegen solche
Personalverantwortlichen, die nicht zum Opfer kommunistischer Disziplinierungen und
Säuberungen wurden, tauchte der Vorwurf, ein „Nazifreund“ zu sein, aber einfach nicht auf –
schon gar nicht mit Blick auf die fast sakrosankte SED-Führung oder die sowjetische
Besatzungsmacht. Erst wenn sich jemand etwas zu Schulden kommen ließ, holte man dieses
Totschlagargument zum Vorschein und die Angeklagten hatten Mühe, die eigene
Vorverurteilung selbst bei Vorbringen korrekter Sachverhalte aufzuheben. Entsprechende
Vorkommnisse scheint es allerdings vor allem in den ersten Nachkriegsjahren gegeben zu
haben. Dennoch belegt diese „Nebenanklage auf Abruf“, dass ehemalige Nationalsozialisten
vornehmlich in der frühen DDR nie in Gänze als politisch Rehabilitierte akzeptiert wurden.
Denn da sich ihre Belastung auch Jahre später noch dazu eignete, auf vermeintliche oder
tatsächliche Förderer auszustrahlen, war sie latent gegenwärtig.
Grundsätzlich sollte eine ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft bis zum Ende der DDR
einen kaderpolitischen Minuspunkt darstellen. Sie haftete den Pgs. ihr Leben lang als ständige
Erinnerung an. Ihre NS-Vergangenheit erschwerte es ihnen, ein Leben als ganz „normaler“
Bürger zu führen, sobald sie in Beruf und Gesellschaft vorankommen wollten. Das Einzige,
was sich tendenziell änderte, war das Gewicht, das der persönlichen Rolle vor 1945 innerhalb
der personellen Gesamtbetrachtung zukam. Seit Beendigung der Entnazifizierung und mit
Verschärfung des Kalten Krieges bei gleichzeitiger Stabilisierung der SED ließ sich eine
nationalsozialistische
Vergangenheit
zunehmend
leichter
kompensieren.
Doch
Gleichgültigkeit brachten ihr gerade Altkommunisten, Widerstandskämpfer und KZ-Häftlinge
zu keiner Zeit entgegen, auch wenn die eine oder andere Wunde langsam vernarbte.
Auf der anderen Seite gibt es viele Beispiele dafür, dass SED-Funktionäre etliche ExNationalsozialisten bei der Stärkung des sozialistischen Lagers als gute Kampfgefährten zu
schätzen lernten. Oder sie achteten manche Leute, die nicht der braunen Staatspartei angehört
hatten, menschlich und politisch viel weniger als ehemalige NSDAP-Angehörige.266 Offen
sprachen sie aus, dass ihnen ein ehrlicher Pg. in der Produktion lieber ist als ein
„Schreibtischkommunist“.267 Sie nahmen es durchaus ernst mit dem Bewährungsgedanken.
Und ob nun mit einem Rest innerer Verachtung für die ehemaligen Nationalsozialisten oder
nicht: Die bedingte Resozialisierungslinie sollte sich letztlich durchsetzen, aber eben
differenziert nach Arbeitsbereichen, dem Grad der NS-Belastung, der politischen
Anpassungsbereitschaft und den sonstigen kaderpolitischen Abwägungsergebnissen.268
Nicht zuletzt der Umstand, dass die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und
der DDR-Regierung vielfach hervorragende, nur schwer zu ersetzende Fachleute waren, die
sich politisch anpassungsfähig zeigten, wird dafür gesorgt haben, dass so gut wie keine
Anzeichen für deren zwischenmenschliche Herabsetzung oder sonstige Benachteiligung am
266
267
268
Mitglieder (Harald Schaumburg, Herta Ludwig, Kurt Ritter u.a.) in die SPD-Betriebsgruppe (ohne
Zustimmung der Betriebsgruppe) aufgenommen zu haben, „um sie zu schützen“. Details siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 106.
Vgl. die Aussage des Vorstehers eines Postamtes, der meinte, »daß er unter den Nichtmitgliedern der
Nazipartei schon größere Schweinehunde kennen gelernt habe, als unter den ehem[aligen] kleinen Pgs.«
Der Kontext lässt darauf schließen, dass diese Äußerung nicht so gemeint war, dass auch unter Personen,
die keiner NS-Organisation angehört hatten, nazistisches Gedankengut verbreitet war. Stattdessen hätten
sich unter politisch unbelasteten Personen mitunter einfach keine ehrenwerten Menschen befunden, siehe:
DO 1 / 26.0, 17513, Oberpostdirektion L, an Ministerium für Post und Fernmeldewesen, vom 01.12.1950,
S. 1 (Abschrift).
DO 1 / 26.0, 2473, s.v. „HA Kohle“, „Berichte“, Hans G[...], an Dahlem, vom 24.04.1949, S. 2.
Weitere Ausführungen zu den „akzeptablen“ NS-Belastungen und dem Umgang mit ihnen sowie zum
Sprachgebrauch („Naziverbrecher“, „aktive Nazis“, „Nominelle“, „Pgs.“, „NSDAP-Mitglieder“,
„Nationalsozialisten“, „Faschisten“) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 107-109.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
62
Arbeitsplatz aktenkundig wurden. So gesehen machten die meisten von ihnen einen guten
Eindruck und sollten nicht verprellt oder gar dem Klassenfeind zugetrieben werden. Das heißt
allerdings nicht, dass diskriminierende Vorkommnisse auszuschließen sind. Letztlich haben
aber auch nur wenige Menschen von der NS-Belastung dieser Angestellten gewusst. Selbst
wenn wichtige SED-Funktionäre ihnen gegenüber Misstrauen zollten, weil sie angeblich nicht
vertrauenswürdig genug waren, um geheime politische Informationen entgegenzunehmen,
kam es vor, dass sie dafür andere Ursachen nannten als die frühere NSDAP-Mitgliedschaft –
etwa eine bürgerliche Grundeinstellung.269 Dies ist im Umkehrschluss ein weiteres Indiz
dafür, dass frühere Pgs. die Gefahr einer Ausgrenzung aufgrund ihrer politischen
Vergangenheit durch anhaltende, besonders SED-loyale Kooperationsbereitschaft
entscheidend mindern konnten. Bis dahin begegnete ihnen durch Widerstände an der Basis,
die die Machtelite teilweise billigte, eine Kluft zwischen dem Wortlaut der
Wiedereingliederungsgesetze einerseits und ihrer Umsetzung andererseits, was sich in
emotionaler Aversion, Misstrauen sowie anhaltender beruflicher und gesellschaftlicher
Benachteiligung ausdrückte.
1.4
Anzeigen und Denunziationen
Bis in die späte Phase der DDR empfanden es viele Menschen, zumal Altkommunisten und
Opfer des nationalsozialistischen Terrors, als moralische Zumutung, ehemaligen
Nationalsozialisten in der DDR zu begegnen. Ein normaler oder sogar freundschaftlicher
Umgang verbot sich für sie. Zu tief saßen die Wunden, die ihnen das NS-Regime geschlagen
hatte. Zu stark war der Drang, Schuldige zu brandmarken. Sie versuchten, sich psychologisch
und politisch im Sinne größtmöglichen Schutzes pauschal von allen, die das
Verbrechersystem auf irgendeine Art und Weise gestützt zu haben schienen, abzugrenzen und
diese zu bekämpfen. Eine solche Totalität ließ praktisch keine Kompromisse zu. Nur schwer
verständlich war es daher für Idealisten und ehemals Verfolgte, frühere NSDAP-Mitglieder
im Staatsapparat des offiziell antifaschistischen Teil Deutschlands wiederzufinden. Noch
dazu, wenn sich diese einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema Faschismus
entgegenstellten oder die Täter von einst zu Tätern von heute avancierten.270 Aus eigener
Initiative meldeten sich deren oft entrüstete Gegner daher bei den Behörden, um ein
Verfahren in Gang zu setzen. Daneben gab es Personen, die andere Motive als die zuvor
genannten besaßen, sich aber voll bewusst waren, dass das Wissen über eine NS-Belastung
wie eine Waffe wirken konnte. Sie versuchten, es als Druckmittel einzusetzen oder jemandem
aus mitunter ganz unpolitischen Gründen zu schaden. Wie es scheint, taten sie dies manchmal
auch intrigant im Rahmen einer inszenierten Hexenjagd gegen völlig Unschuldige.
In der Regel offenbarten die Anzeigenden ihre Identität. Teilweise waren entsprechende
Schreiben aber auch mit falschem Namen unterzeichnet oder anonym abgefasst. Die
Adressaten solcher Hinweise – in der Regel staatliche Organe – gaben sich manchmal
befremdet über die Namenlosigkeit der Schreibenden. Ein solches Verhalten erschien ihnen
feige und kaum nachvollziehbar. Sie vertraten die Auffassung, dass „fortschrittliche“ und
269
270
Ein Beispiel (Ernst Kaemmel) aus dem MdF siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 109.
So der Bundestagsabgeordnete Konrad Weiß anläßlich des Verbotes eines Kommentars über
neofaschistische Erscheinungen in der DDR durch den Leiter des Presseamtes, Kurt Blecha, einem
ehemaligen NSDAP-Mitglied, im Jahr 1988. Darüber hinaus erwähnt Günter Fippel einen Fall, bei dem
1950 der Träger eines VVN-Abzeichens verhaftet und von einem Nazi vernommen wurde, der zuvor bei
der Liquidierung von Juden und Partisanen mitgewirkt hatte, siehe: Materialien, Bd. III/1, S. 174; Fippel,
Antifaschismus, S. 117.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
63
ehrliche Menschen für ihre Taten einstehen und sich nicht tarnen.271 Sofern die Vorwürfe
keine Phantasieprodukte waren, brauchten die Anzeigenden jedenfalls keine Bestrafung von
staatlicher Seite zu fürchten. Ein Verbergen der eigenen Identität mag mehrere Gründe gehabt
haben, genauso wie die Zurückhaltung derjenigen, die zwar etwas wussten, aber eben keine
Anzeige erstatteten. Einerseits war mit Sicherheit die Furcht vor der Rache der konkret
Belasteten verbreitet. Andererseits hatte man Angst vor einem Verhör durch die Staatsorgane
und der Not, die Kritik an der Partei- und Behördenlinie zu rechtfertigen. Um einer
potenziellen Bestrafung als „Dissident“ zu entgehen, ließ sich Widerspruch daher ohne
Gefahr nur anonym artikulieren. Schließlich war die Bereitschaft zur Verfolgung kleiner
Parteigenossen in der Bevölkerung sehr gering. Dieser Umstand trat bereits während der
Entnazifizierung deutlich zutage. Daher drohten den „Denunzianten“ die sozialen Sanktionen
der Menschen im eigenen Umfeld. Die Solidarität, die viele Deutsche den Nominellen
angesichts willkürlich erscheinender Bestrafung entgegenbrachten, konnte sich potenziell und
real auch gegen Opfer und Gegner des Faschismus richten. Darüber hinaus schreckten die
schlechten Erfahrungen mit Politik im Allgemeinen und Denunziantentum im Besonderen
während des Nationalsozialismus und erneut im Stalinismus so manche Bürger ab, politische
Eigeninitiative zu entwickeln. Der hohe Organisationsgrad in Parteien und
Massenorganisationen steht hierzu nicht im Widerspruch. Er diente den meisten als
Karrieresprungbrett, Mittel zur Ressourcenzuteilung und Minderung des staatlichen
Misstrauens gegen die eigene Person. Dem stand das Leid eines Überwachungsstaates
mitsamt massiven Grundrechtsverletzungen gegenüber, so dass sich viele innerlich
distanzierten und nicht über das übliche Maß an erwarteten Loyalitätsbekundungen hinaus
aktiven Anteil daran haben wollten.
Alles in allem gab es aber immer noch eine ganze Reihe von einschlägigen Meldungen.
Auch für die Gruppe der ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und den DDRMinisterien sind ein paar Vorstöße überliefert. Sie machten staatliche Organe und Amtsträger
auf Bewerber oder Angestellte aufmerksam, die sich durch ihr Verhalten im „Dritten Reich“
diskreditiert haben sollen.272 Bei den Denunzianten oder neutral formuliert Anzeigenden
handelte es sich meist um Personen des näheren sozialen Umfelds: Arbeitskollegen aus der
Zeit vor oder nach 1945, Familienangehörige, Nachbarn und sonstige Personen, die über die
politischen Orientierungen der in Rede Stehenden bestimmte Kenntnisse besaßen.273 Es
scheint sich dabei vor allem um Personen gehandelt zu haben, die der SED und der
politischen Entwicklung in der SBZ/DDR aufgeschlossen gegenüberstanden. Sie traten fast
immer einzeln auf, nur selten als Gruppe.274 Oft war es das Ziel der Anzeigenden, ein
Beschäftigungsverhältnis der Gemeldeten zu verhindern oder zu beenden. Wer aus einer NSfeindlichen Grundhaltung heraus handelte, glaubte oft entweder an einen Irrtum der Behörden
oder an eine skandalträchtige Personalpolitik. Bei den gemeldeten Begebenheiten handelte es
sich einerseits um Umstände, die den Personalabteilungen schon lange bekannt waren.
Andererseits gelangte auch bislang Unbekanntes zur Kenntnis, was dann auf die Behandlung
als Fragebogenfälscher oder auf eine Überprüfung der unmittelbar verantwortlichen
Kaderabteilung hinauslief.
Großes Unverständnis für die Beschäftigung eines ehemaligen NSDAP-Angehörigen
und Referenten in der DWK brachte 1948 beispielsweise ein unbekannter Verfasser mit
folgenden Worten zum Ausdruck: »In Parteikreisen von Berlin-Wilhelmsruh wurde Stellung
genommen gegen die geübte Praxis der Personalpolitik in entscheidenden Verwaltungen und
271
272
273
274
DO 1 / 26.0, 2473, s.v. „HV Chemie“, Prüfungsbogen, betr.: Otto S[...], vom 03.05.1949.
So z.B. bei Harald Schaumburg, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 111.
Ein Beispiel, der das Amt für Reparationen betraf, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 111 f.
Siehe eine Protestresolution, die von dreizehn Personen unterzeichnet war und sich gegen die Einstellung
eines Diplom-Meteorologen in den meteorologischen Dienst der DDR richtete, in: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 112.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
64
öffentlichen Institutionen. Menschen, die von vornherein nicht die Garantie eines Minimums
von Verlässlichkeit gewähren können, werden auf entscheidende Positionen gesetzt, trotz
Warnung der Öffentlichkeit. Es handelt sich konkret um Friedrich S[...] aus BerlinWilhelmsruh, gewesener aktiver Nazi, der in einer Verwaltung beschäftigt war, auf die ich
mich nicht mehr entsinnen kann. Auf Intervention der Partei durch den Amtsvorsteher von
Wilhelmsruh, E[...], wurde S[...] aus der Verwaltung entlassen. Nachdem S[...] längere Zeit
arbeitslos war, vernimmt nun die Öffentlichkeit von Wilhelmsruh, daß er neuerdings in der
deutschen Wirtschaftskommission eingestellt ist. Die Warnung[en] durch E[...] an die
maßgebenden Stellen in der D[eu]t[schen] Wirtschaftskommission blieben unberücksichtigt
und S[..] steht bis heute noch im Dienste derselben.«275
Die zutage tretende Empörung macht die politische Dimension des Bekanntwerdens
einer Karrierefortsetzung ehemaliger Pgs. in der SBZ/DDR deutlich. Denn für den
Beschwerdeführer war eigentlich schon schlimm genug, dass die neuen Staatsorgane sie
einstellten, zumal dann, wenn zuvor im Rahmen der Entnazifizierung schon einmal eine
Entlassung stattgefunden hatte. Regelrechter Protest erhob sich jedoch angesichts der
Tatsache, dass die Behörden trotz ihrer Kenntnisse über die NS-Vergangenheit am
Beschäftigungsverhältnis festhielten, insbesondere wenn sie subjektiv betrachtet den Vorzug
gegenüber politisch Unbelasteten erhielten.276 Darin lag nach Ansicht weiter Teile der
Gesellschaft und – was für die SED-Führung noch ungünstiger war – zahlreicher Mitglieder
der eigenen Parteibasis eine Missachtung politischer und moralischer Grundsätze. Echter
Zündstoff also. Kein Wunder, dass die Kaderabteilungen bemüht waren, mit Blick auf ihre
Pg.-Angestellten Diskretion zu wahren. Denn an einem innenpolitischen oder
innerparteilichen Flächenbrand konnte ihnen nicht gelegen sein.
Dabei hat allein der genannte SED-Unterverband von mehreren Fällen gewusst, auf die
die Bevölkerung die Behörden aufmerksam gemacht hatte. Bezeichnend ist darüber hinaus die
unterschiedliche Bewertung eines Verhaltens in der Hitler-Diktatur, ferner deren Gewicht im
kaderpolitischen Abwägungsprozess. Dessen Grundzüge waren auch den SED-Funktionären
in den unteren Parteieinheiten bekannt. So nannte der obige Verfasser den DWK-Referenten
einen „aktiven Nazi“, was die Quellenlage weder bestätigen noch entkräften kann. Sofern
diese Einschätzung zutraf, hätte aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen keine
Anstellung erfolgen dürfen. Außerdem sprach der Klagende vielen, vielleicht sogar allen
erneut in wichtige Positionen eingestellten Pgs. jegliche Vertrauenswürdigkeit ab. Die
scheinbare Ignoranz der Personalleiter grenzte für so manche einfache Parteimitglieder an
Verrat, ließ sie rumoren und den Konflikt weiterschwelen, den die SED-Führung offenbar nur
über Disziplinierungsmaßnahmen, antifaschistische Propaganda und Totschweigen der realen
Wiedereingliederungspolitik in den Griff bekommen konnte.
Für eine rigorose Säuberung trat eine offenbar der SED zuneigende Person in einem
anderen Fall ein. Sie schrieb an das Ministerium für Maschinenbau über einen seiner
Angestellten: »Dem Ministerium scheint nicht bekannt zu sein, was es sich mit dem
Obengenannten für einen Strolch ins Nest gesetzt hat. Ist dem Ministerium nicht bekannt, dass
[sich] S[...] als früherer SPD-Mann sofort nach der Machtergreifung durch die Nazis bei der
NSDAP meldete und dort derart eifrig war, dass er schließlich dazu ausersehen wurde, die
besetzte polnische Bevölkerung zu knechten? [...] Wie ist es möglich, dass ein solcher
„Genosse“ eine Stellung im Ministerium innehaben kann und sich damit noch brüstet? [...]
Mit solchen Strolchen muss aufgeräumt werden!« Er regte sich noch über die Westkontakte
des vermeintlichen Eindringlings auf, der scheinbar ebenfalls der SED angehörte, und wandte
275
276
ZA I 11494, A. 13, Notiz, vom 30.04.1948.
So hieß es in einem Beschwerdebrief aus dem Landkreis Luckau an die Zentrale Kontrollkommission:
»Wie kann es möglich sein, dass in letzter Zeit aktive Nazis in Amtsstellen kommen, während unsere
verdienten Antifaschisten ohne Arbeit sind?« Siehe: DY 30 / IV, 2/5/201, Bl. 82, ZKK, an
Zentralsekretariat, Abteilung Landespolitik, Plenikowski, vom 15.02.1949.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
65
sich mit seiner Beschwerde auch an das MdI und das MfS.277 Bemerkenswert, aber kaum
nachprüfbar ist die Art der politischen Belastung, die hier geschildert wurde. In Verbindung
mit einem Renommiergehabe über den kürzlich erklommenen Status brachte sie den
Anzeigenden regelrecht zur Weißglut.
Manchmal gingen bei den Ministerien Warnungen vor ehemaligen Nationalsozialisten
und NS-Sympathisanten ein, obwohl gar keine entsprechende Bewerbung und auch kein
Beschäftigungsverhältnis vorlag. Dabei handelte es sich um Präventivmaßnahmen,
Verwechslungen oder Unkenntnis darüber, welche Dienststelle unmittelbar zuständig war.
Die Eingaben konnten sich auch auf das NS-Engagement von Familienmitgliedern, Freunden
und Bekannten beziehen. Die Durchleuchtung des persönlichen sozialen Umfeldes war ja bei
den Personalverantwortlichen ebenfalls eine geläufige Methode. Man glaubte, dadurch
Anhaltspunkte für die geistig-politische Einstellung der Angezeigten zu finden. Ein anonymer
Schreiber führte beispielsweise über einen angeblichen Bewerber beim Ministerium für
Industrie Folgendes aus: »Er war über 20 Jahre in der deutschen Bank [...] als Heizer und
Portier tätig, auch in den Hitlerjahren, in der deutschen Bank galt nur der Hitlergruß und
alles mußte in der Partei sein. Ob nun Herr K[...] in der Partei war, könnte ich nicht
beschwören denn wir haben ihn nur außer Dienst gesehen ohne Abzeichen, aber er selbst
sowohl seine Frau waren fanatische Nazi, ich weiß noch wie Mussolini befreit wurde durch
die deutschen breitete die Frau die Arme aus und sagte ´es ist gerade als wäre ein Geschwür
in uns aufgegangen so befreiend wirkt das auf uns, nun wird es auch wieder vorwärts gehen,
so dergleichen Aussprüche hörte man öfter. [...] Die Tochter ganz Nazi, deren Mann meldete
sich bei den Polizeitruppen S.S. und geriet auch dabei in jugoslawische Gefangenschaft und
heute noch hören sie alle nur den Rias-Sender [...]. Herr K[...] war noch nie in einer
Gewerkschaft, sie rühmen sich immer Arbeit ohne die Gewerkschaft bekommen zu haben und
die SED hassen sie direkt [...]. Und sowas will sich nun in so einen Betrieb einschleichen, da
denken sie dort bis 70 Jahre alt zu bleiben. Entschuldigen Sie bitte, daß ich meinen Namen
nicht nenne, ich möchte schon und bin doch zu feige dazu, gelogen habe ich nicht.«278
Zur Erhärtung der Vorwürfe an den vermeintlichen Kandidaten dienten hier nicht nur
die Vergehen der Verwandten, sondern hinzu kam kumulativ das pronazistische Klima an der
alten Arbeitsstätte. Wer sich in einem solchen Milieu bewegte, musste dadurch beeinflusst
worden sein, sich als Gleichgesinnter davon angezogen gefühlt und es vor allem auch selbst
gestaltet haben – so die Suggestion. Der Anzeigende argumentierte voll und ganz in den
geistigen Bahnen der Machtelite, als er Aspekte wie die Befürwortung des Krieges und der
Politik des NS-Regimes mit anderen, zeitlich näheren Negativmerkmalen wie der
jugoslawischen Kriegsgefangenschaft, der Affinität zum Westen und der Aversion gegenüber
einer gewerkschaftlichen Bindung und der SED ergänzte. Dabei schien es dem Warnenden im
Rahmen seiner „Sippenverurteilung“ gleichgültig zu sein, ob sie auf den eigentlich im
Blickpunkt stehenden Bewerber zutrafen oder nur auf seine soziale Umgebung. Es sollte alles
auf Ersteren zurückfallen. Am Ende ergab sich das Bild des „echten Nazis“, der uneinsichtig
blieb und damals wie heute den Klassenkampf auf der Seite der Bourgeoisie und des
Großkapitals führte. Das schloss die Gefahr von Sabotage und Spionage mit ein. Darüber
hinaus schimmert beim Meldung Erstattenden das Motiv durch, dass es schlicht eine
Ungerechtigkeit der Geschichte wäre, wenn es einem solchen NS-Aktivisten besser ergehen
sollte als zum Beispiel einem Not leidenden Sozialisten. Es wird deutlich, welche Härte es für
277
278
Laut Auskunft des Bundesarchivs Aachen und nach Unterlagen des BDC gab es einen Reinhold oder
Reinhard S., der als Wachtmeister bei einem SS-Polizeiregiment Dienst tat. Ob diese Person identisch mit
dem im zitierten Schreiben erwähnten Reinhold S. war, konnte jedoch nicht zweifelsfrei festgestellt
werden, siehe: DO 1 / 26.0, 17183, Otto K[...], an Ministerium für Maschinenbau, Zentrale Kaderabteilung,
undatiert; BA Aachen; BDC, O. 431 III, S. 10.
Das handschriftlich abgefasste Original ist stellenweise nur schwer entzifferbar, die Zitierung erfolgt daher
ohne Gewähr, siehe: DO 1 / 26.0, 2462, s.v. „R“, [Anonymer Verfasser,] an das Wirtschaftsministerium,
Personalabteilung, vom 28.6.1950.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
66
Gegner und Opfer des Hitler-Regimes bedeutete mitanzusehen, dass zahlreiche braune
Enthusiasten in der DDR von Rechts wegen unbehelligt blieben und ihre Karrieren fortsetzen
durften.
Auch in anderen Fällen kam manchmal einfach das Anliegen zum Ausdruck, eine als
unfair empfundene Situation zu beklagen. Der Schmerz, dass frühere Nationalsozialisten ein
glücklicheres Lebenslos gezogen hatten, nahm dabei in Anbetracht der eigenen Not besonders
bittere Züge an. Die Willkür des Schicksals, durch die manche vermeintliche oder tatsächliche
Täter nach dem Krieg besser gestellt waren als viele Opfer, wirkte verheerend auf die Moral.
Bestimmte Vorwürfe, mit denen sich einige Angestellten konfrontiert sahen, brachten das
Fass in einer solchen Lage schließlich bildhaft zum Überlaufen. Dann packten sie in einem
Rundumschlag aus, was ihrer Ansicht nach alles an Missständen existierte, jedoch bislang
unbeanstandet geblieben war. Dazu zählte auch das „Anschwärzen“ von NS-Belasteten. Oder
Mitarbeiter versuchten, wenn sie in die Enge getrieben wurden, ihre eigenen Verfehlungen
zur Zeit der Hitler-Diktatur dadurch zu relativieren, dass sie sie mit denen anderer Personen
verglichen. Wer sich dabei selbst als Opfer immer noch Schaden verursachender und Cliquen
bildender Altnazis schilderte, handelte frei nach dem Motto „die wahren Schuldigen laufen
frei herum und mich Leidtragenden will man hängen“.279 Der Schuldmaßstab war dabei nicht
auf kleinere Vergehen begrenzt, sondern darauf angelegt, vor dem Hintergrund der totalen
Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die Pgs. als quasi auf ewig „uneinholbar schuldig“
Gewordene abzustempeln. Alle anderen Taten sollten davor verblassen. Besonders
umfangreich scheinen solche Anklagen gewesen zu sein, wenn die Agitatoren wegen einer
Entlassung oder eines Parteiausschlusses praktisch nichts mehr zu verlieren hatten und sich in
ihrer Ehre gekränkt fühlten. Das heißt aber auch, dass die kritisierten Umstände schon vorher
bekannt, aber den Staats- und Parteiorganen nicht mitgeteilt worden waren. Wahrscheinlich
hatte die Furcht vor Nachteilen am Arbeitsplatz ein solches Schweigen bewirkt.
Doch wie reagierten die Kaderverantwortlichen, wenn Anzeigen bei ihnen eingingen?
Welche Auswirkungen hatten sie für die Angezeigten? Hinweise auf NS-Belastungen, die den
Personalleitungen unbekannt waren, wurden zunächst einmal mit möglichst großem Aufwand
überprüft. Die zuständige Personalabteilung und gegebenenfalls die SED-Betriebsgruppe
gaben eine Beurteilung ab. Die Kaderakte wurde aufs Genaueste durchgesehen und jeder
Unklarheit nachgegangen. Von den Mitarbeitern oder Bewerbern genannte Bürgen sollten
Stellungnahmen abgeben. Schließlich versuchten Rechercheure an jetzigen und ehemaligen
Arbeitsplätzen und Wohnorten zielgerichtet Informationen zu erhalten. Als glaubwürdige
Informanten dienten besonders Mitglieder und Sympathisanten der SED, da bei diesen die
Gefahr einer Desinformation der staatlichen Stellen am geringsten erschien. Von Nutzen war
dabei die Registrierung früherer Nationalsozialisten, die anscheinend zumindest den
sogenannten Hausobmännern bekannt gegeben wurde. Hausbewohner und Arbeitskollegen
erteilten Auskunft über das vor und nach 1945 bemerkbare politische Engagement, die
Organisationszugehörigkeit, Ausübung bestimmter Funktionen und das Verhalten gegenüber
Mitmenschen. Am Ende dieser Prozedur folgten Sanktionen für die Angezeigten, wenn den
Behörden gegenüber bis dato verschwiegene Belastungen zur Kenntnis kamen bzw. sich
Anzeigen als wahr herausstellten oder bekannte Tatbestände auf einmal in einem anderen
Licht erschienen.280 Die Kaderverantwortlichen schufen sich dabei stets ein regelrechtes
Mosaik aus Informationen und verließen sich nicht nur auf eine einzige Quelle. Wenn
mehrere Seiten die Anschuldigungen bestätigten, sie für denkbar hielten oder nicht
entkräfteten, waren im Rahmen einer kaderpolitischen Gesamtbetrachtung negative Folgen
für die in Rede Stehenden wahrscheinlich. Bei einer Beibehaltung der Angezeigten in ihren
279
280
Siehe die Ausführungen einer aus der SED ausgeschlossenen und offenbar entlassenen Mitarbeiterin einer
HO-Personalabteilung, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 116.
Vgl. die offensichtlich ohne Konsequenzen bleibende Beschwerde gegen einen Chemiker, in: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 117 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
67
Funktionen blieb den Beschwerdeführern kaum etwas anderes übrig, als die anhaltende
Passivität der Behörden ohnmächtig zur Kenntnis zu nehmen. Die Möglichkeit, sich an die
Medien zu wenden, so wie es in der Bundesrepublik geschah, entfiel wegen der Zensur durch
die SED. Entlassungen, Versetzungen etc., die nicht aus Groll gegenüber den betreffenden
Mitarbeitern veranlasst wurden, sondern allein zur Beruhigung eventuell aufgebrachter
Kollegen, sind nicht bekannt, ebenso wenig Maßnahmen, um Anzeigende zum Schweigen zu
bringen.
Ein Beispiel für eine mehrfach bestätigte NS-Belastung samt Entlassung infolge einer
Anzeige ist das eines bei der Deutschen Wirtschaftskommission beschäftigten Fahrers. Ein
ehemaliger Arbeitskollege von ihm schrieb an die DWK, der Kraftfahrer sei ein äußerst
aktiver Pg. bei der Firma Daimler-Benz gewesen. Die Wirtschaftskommission gab dem
Meldung Erstattenden daraufhin auf, einige Zeugen namhaft zu machen. Nach einigen
Bemühungen gelang es, drei Zeugen, unter anderem einen DWK-Angestellten, zu benennen.
Man kann spekulieren, warum die Zeugen, insbesondere der DWK-Mitarbeiter, nicht schon
vorher die Initiative ergriffen hatten. Vielleicht hatten sie eine in gewissem Maße ablehnende
Haltung zur politischen Säuberung und wollten nicht aktiv „anschwärzen“, konnten sich der
direkten Anfrage, als Zeugen zu fungieren, aber auch nicht entziehen. Vielleicht waren sie
selbst nicht reinen Gewissens, vielleicht wussten sie auch nichts von dem Kraftfahrer, fanden
den Versuch der Entfernung aber gerechtfertigt. Zur Person des bei Daimler-Benz als
Kontrolleur beschäftigten S. hieß es: »Einen seiner eigenen Parteigenossen [...] hat er bei der
Gestapo denunziert, weil er sich irgendwelche Äußerungen gegen das System zuschulden
kommen ließ und angeblich Sabotage getrieben haben soll. Aufgrund dieser Denunziation
wurde dieser Kollege verhaftet, nach kurzer Zeit aber wieder freigelassen, weil, wie er mir
selbst sagte, als Pl[us] für ihn gewertet wurde, daß er bei der Wehrmacht Unteroffizier war
und das E.K. erhalten hatte. Die Tatsache, daß er von dem S[...] denunziert worden ist, hat
dieser Kollege mir selbst mitgeteilt. Kurz vor dem Zusammenbruch, etwa Anfang 1945,
denunzierte S[...] einen Ingenieur der Halle 2 [im Daimler-Benz-Werk] namens Z[...] bei der
Gestapo wegen staatsfeindlicher Äußerungen. Daß Z[...] nicht verhaftet wurde, hatte er nur
dem Umstand zu verdanken, daß sein Vater in der Direktion der Daimler-Benz AG in
Untertürkheim starken Einfluß hatte und durch diese Verbindungen die Angelegenheit nicht
zum Schaden für Z[...] ausfiel. Mir selbst gegenüber nahm er stets eine äußerst aggressive
Haltung ein, weil ihm meine Einstellung bekannt war. Er trug nachweisbar das
Parteiabzeichen der NSDAP.« Der Fahrer wurde schließlich aus der DWK entlassen.281
Viele der in den Anzeigen genannten Belastungen gingen nicht auf formale
Mitgliedschaften in NS-Organisationen zurück und ließen sich daher meistens noch
schwieriger beweisen als eine NSDAP-Zugehörigkeit. Sie betrafen oft Verhaltensweisen und
Aussprüche, die eine Verbundenheit mit dem Hitler-Regime nahelegten und im Gegensatz zu
einer angeblichen Opposition und Entfremdung standen. Oftmals waren solche Tatbestände
auch nicht im Zuge der Entnazifizierung zutage getreten, zum Beispiel weil aussagewillige
Zeugen nicht rechtzeitig ausfindig zu machen waren. Das wirft die Frage auf, wie stichhaltig
die Beschuldigungen eigentlich waren. Trafen sie zu, waren sie das Ergebnis
unterschiedlicher Maßstäbe oder frei erfunden? Wenn sich Angestellte ihrer Meinung nach
ungerechtfertigt mit politisch belastenden Vorwürfen konfrontiert sahen, wehrten sie sich
vehement gegen üble Nachrede. Sie seien aus Neid, persönlichem Argwohn und privaten
Fehden entstanden.282 Ob es sich tatsächlich um Verleumdungen handelte oder nicht, war in
so manchen Fällen für Außenstehende weder damals noch heute restlos aufzuklären.
281
282
DO 1 / 26.0, 6080, Arthur D[...], an DWK, Personalabteilung, vom 04.12.1948.
Die Ex-Ehefrau des SA-Mitglieds und DWK-Oberreferenten Franz H. übermittelte der ZV Industrie im
Januar 1947 persönlich Informationen, um ihn zu diskreditieren. Die Zentralverwaltung vermutete, dass
dies auf Hassgefühle zurückzuführen war, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 118.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
68
Hin und wieder kamen die Behörden der SBZ/DDR jedoch trotzdem zu dem Ergebnis,
dass bestimmte Anklagen, eine aktivere Rolle im Nationalsozialismus gespielt zu haben, nicht
den Tatsachen entsprachen oder nicht beweisbar waren. Über einen ehemaligen DVdIMitarbeiter, der 1950 von der Leitung der Volkspolizeischule in Eggesin entbunden wurde,
berichtete ein Angehöriger des Ministeriums des Innern, dass seine »Entlassung aus der
Volkspolizei auf Grund von Intrigen erfolgte.« Der Anlass dafür war, dass die Frau eines
Polizeioffiziers einem Beauftragten der Sowjetischen Kontrollkommission mitgeteilt hatte,
»daß sie Ph. während des Krieges in Berlin im Kreise von SS-Leuten, ebenfalls als SSAngehöriger, gesehen habe. Er sei seinerzeit von der Ostfront nach Berlin befohlen worden,
um dort Ausrüstungsgegenstände für ein neu einzurichtendes KZ einzukaufen. Sie hätte auch
Zeugen hierfür. Einer Aufforderung, die Zeugen zu benennen, bezw. glaubwürdige
Unterlagen zu erbringen, konnte sie nicht Folge leisten, angeblich, weil der infragekommende
Zeuge es ablehne, da ohnehin genug solcher Leute in der VP wären.« Der MdI-Mitarbeiter
schenkte dem Angeklagten Glauben, dass es sich hierbei um eine Intrige mehrerer mit der
Volkspolizei in Verbindung stehender Personen handelte, von denen einige angeblich zum
Zeitpunkt der Berichterstattung bereits entlassen waren.283 Der Grund, gerade diese Art von
Beschuldigung zu gebrauchen, lag auf der Hand: Die Verschwörer wussten ganz genau um
die politische Wirkung solcher Vorwürfe und benutzten die „Faschismuskeule“, um eine
unliebsame Person zu Fall zu bringen. Dabei gereichte den Ränkeschmieden die Neigung der
Personalverantwortlichen zum Vorteil, unbewiesene Verdächtigungen aus Vorsicht auch
kurzfristig zum Anlass von Sanktionen zu nehmen. Stellten sich die Behauptungen oder
Zeugen jedoch im weiteren Untersuchungsverlauf als nicht glaubwürdig heraus, kam es in der
Regel zu einer Rehabilitierung. Die Zahl falscher Schuldzuweisungen hat sich wahrscheinlich
in Grenzen gehalten, weil sie zu Bestrafungen der Anzeigenden führen konnten.284 Wenn
Beschuldigungen aber tatsächlich mit böser Absicht aus der Luft gegriffen oder zumindest
entstellt wiedergegeben wurden, um Arbeitskollegen zu mobben oder anderen anderweitig zu
schaden, dann lernen wir daraus, dass bereits ein Gerücht oder ein aufgrund – verfälschter –
Beweismittel erhärteter Verdacht geeignet war, erhebliche Konsequenzen nach sich zu ziehen.
Der Beweis musste nicht eindeutig sein. Indizien und fehlende Gegenbeweise konnten
ausreichen, um zumindest Schwierigkeiten zu verursachen.285
Ein weiteres Beispiel von Beschuldigung und Gegenbeschuldigung aus der zentralen
staatlichen Verwaltung der SBZ betraf einen prominenten Funktionär. Es handelte sich um
den Vorsitzenden der Zentralen Deutschen Kommission für Sequestrierung und
Beschlagnahme, Fritz Lange. Er entließ 1946 wütend eine seiner Mitarbeiterinnen, wohl weil
deren geschiedener Mann, der 1928-1934 Mitglied der SS und NSDAP war und dann
ausgeschlossen wurde, behauptete, dass seine damalige Frau ihn wegen Abhörens feindlicher
Sender ins Zuchthaus gebracht hatte. Wie die Gekündigte meinte, handelte es sich hierbei um
eine böse Verleumdung ihres ehemaligen Gatten. Um die als ehrenrührig empfundene
Kündigung rückgängig zu machen und offenbar auch um sich zu rächen, schrieb sie an Walter
Ulbricht und beschuldigte ihrerseits Fritz Lange! Die entlassene Mitarbeiterin teilte Ulbricht
mit, ein Freund Langes aus der Tschechoslowakei habe diesem einen Brief geschickt, der sich
zuletzt in ihrem Besitz befand. Sie zitierte daraus: »Lieber Fritz! Von [...] hörte ich nach
längerer Zeit wieder etwas von Dir und war nicht wenig erstaunt, als ich von Deiner Funktion
als Präsident einer Sequesterkommission erfuhr. Sag mal, alter Nazi, wie hast Du denn das
283
284
285
DO 1 / 26.0, 17183, [MdI,] HA Personal, Abteilung Kader, Seiferth, betr.: Ergebnis des persönlichen
Gesprächs mit Koll. Ph[...], vom 27.05.1953, S. 1 f.
Vgl. DY 30 / IV, 2/2.027/4, Bl. 73, 75, 82-84; vgl. ebd., Bl. 103: Betroffen war ein angeblicher Denunziant,
Freund Hermann Görings und Fluchthelfer Joachim von Ribbentrops. Siehe in diesem Zusammenhang
auch den ausführlich dargestellten Fall eines ehemaligen Reichspostangehörigen aus Ostpreußen. Er wurde
seiner Meinung nach völlig zu Unrecht von einem Kollegen angezeigt, der angeblich selbst NS-Belasteter
war, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 119-123.
Vgl. hierzu Fälle aus dem Eichamt Görlitz und dem DAMG Weida, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 123 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
69
gemacht? Du wirst doch nicht ableugnen, dass ich Dich und viele andere Kameraden hier nur
als Kriegstreiber kenne. Als Leiter der Flugmotorenwerke warst Du bekannt dafür, den
kleinen Mann immer zu übersehen. Wir denken noch mit Neid Deiner dickbelegten Speck- und
Butterwecken, die Du von Faschisten als grosser Mann zugesteckt erhalten hast und die Du
nur alleine zynisch-grienend verschlungen hast. Aber dessen ungeachtet denke auch mal,
wenn es Dir im Roten Reiche gutgeht an Deine alten Kämpfer.« Eine „Briefbombe“ mit ganz
besonders explosivem Inhalt. Die Gekündigte schrieb weiter: »Dieser Brief kam Dr. Lange
abhanden und er war sehr erregt und bemüht ihn wiederzufinden. Er äusserte sich zu mir mit
folgenden Worten: „der Brief muss her!; er kann mir politisch das Genick brechen!“«
Schließlich fand die Mitarbeiterin den Brief nach einigen Tagen. Darüber hinaus soll Lange
vorgehabt haben, einem Mann, der nach Angaben des ZDKS-Vorsitzenden „Nazi“ gewesen
sei, zur Entnazifizierung zu verhelfen und ihn dann in die zentrale Sequesterkommission
hineinzubringen. Lange habe sich außerdem sowjetkritisch geäußert sowie gesagt, kein
Kommunist zu sein und dass es besser gewesen wäre, in die CDU zu gehen.286
Der „Freund“ richtete seine Worte an den Kommissionsvorsitzenden direkt und
couragiert, dabei mit einem zynischen und spöttischen Unterton, ja geradezu burschikos und
jovial. Es scheint, als sei er sich der Bedeutung seines Schreibens für Langes Karriere vollauf
bewusst gewesen, als ob er geradezu die Macht genoss, die er durch eine entsprechende
Enthüllung ausüben konnte, oder diejenige, die in der nicht ausgesprochenen, aber
implizierten Drohung steckte, es jederzeit tun zu können. Inhalt und Stil verfehlten ihr Ziel
nicht. Lange verfiel, wenn man der Anzeigenden Glauben schenkt, regelrecht in Panik.
Mehrere Zeugen, die ihn nicht nur als Nazi-Kollaborateur, sondern sogar als „Kriegstreiber“
beschreiben konnten, hätten das Aus für sein Amt als Spitzenfunktionär bedeutet. Diesmal
ging der Brief noch an Lange selbst, um seine einschüchternde Wirkung zu entfalten. Doch
schon beim nächsten Mal hätte er, wie die anderen in diesem Kapitel skizzierten
Protagonisten, sich unmittelbar an die zuständigen Behörden wenden können. Dann wäre
jeder Vertuschungsversuch zu spät gekommen. Der letzte Satz des zitierten Briefes ist
schließlich ein relativ eindeutiges Indiz für die zugrunde liegende erpresserische Motivation.
Lange sollte sich nun, da er in der SBZ an den Fleischtöpfen saß, für das weitere Schweigen
des ehemaligen Mitarbeiters erkenntlich zeigen. Die gekündigte Angestellte sah am Ende
jedoch keinen Grund mehr, sich ebenfalls zurückzuhalten, erstattete Meldung und ergänzte
das Ganze noch mit einigen Stützargumenten, die helfen sollten, Lange als faschistophilen,
bürgerlichen Opponenten der SED und der Arbeiterklasse abzustempeln. Inwieweit all diese
Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen und welche Folgen sie hatten, dazu liegen leider
keine zusätzlichen Quellen vor. Ein Karrierebruch blieb auf jeden Fall aus. Doch die
Möglichkeit, das Wissen über eine NS-Verstrickung als kompromittierendes Druckmittel
einzusetzen und Nutzen daraus zu ziehen, wird überaus deutlich.
In einem anderen Fall, dem des Schulrates und Berliner Abgeordneten Georg Wolff, der
kein NSDAP-Mitglied war, spitzte sich die Lage in diesem Zusammenhang anscheinend zu.
Einige Führungskader der Verwaltung und der SED mussten sich wiederholt Kritik gefallen
lassen, was ihre personalpolitischen Pläne anbelangte. Der Präsident der Deutschen
Verwaltung für Volksbildung, Paul Wandel, sah sich 1949 schließlich veranlasst, an Otto
Grotewohl zu schreiben, es seien »ernste Bemühungen im Gange, seine Belastung aus der
Nazizeit zu einer stärkeren Misskreditierung gegen uns auszunutzen«, nachdem die Presse ihn
als Kandidaten für die Funktion des Staatssekretärs im neuen Ministerium für Volksbildung
handelte. Die Besetzung dieser hohen Position und die dadurch größere Verbreitung der
Personalie begünstigten natürlich, dass Anzeigewillige über die Medien Kenntnis erhielten
286
Die Entlassene hat den Brief aus der Tschechoslowakei wegen der Länge des Zitats und der sehr eigenen
Wortwahl offensichtlich nicht dem Sinn, sondern tatsächlich dem Wortlaut nach wiedergegeben, siehe:
BStU, AU 307/55, Band 5a, Bl. 15-17, [Mitarbeiterin des ZDKS-Vorsitzenden,] an das Zentral-Sekretariat
der SED, Ulbricht, vom 17.08.1946 (Abschrift)
Jens Kuhlemann – Braune Kader
70
und die Initiative ergriffen. Ob Wandel Unruhe an der Basis oder sonstige Erpressungen
fürchtete, ist aus der zitierten Stelle nicht ersichtlich. Bereits 1946 hatte ein freier Mitarbeiter
der DVV an den Präsidenten des Volksbildungsressorts geschrieben, dass Wolff über
Aufsätze und Buchempfehlungen, etwa zur rassenpolitischen Unterrichtspraxis, viel zur
Verbreitung und Festigung des Nationalsozialismus beigetragen habe: »Wolff war bis 1933
Vorsitzender des Deutschen Lehrervereins und hat ihn mit seine[n] über 120.000 Mitgliedern
widerspruchslos und ohne Zögern dem Nationalsozialismus zugeführt. Und er tat das mit
Begeisterung, denn er schrieb über die Gründung des NS-Lehrerbundes [...] in der
„Deutschen Schule“ 1933 [...]: „Es war selbstverständlich, dass die Tagung zugleich zu
einem Bekenntnis zu den politischen Ideen der neuen Bewegung wurde, die durch die
Regierung des Volkskanzlers Hitlers Wirklichkeit geworden ist. Der tiefste Sinn der Tagung
war das Bekenntnis zum Volk und zu den Fundamenten unseres deutschen Volkstums.“ Und
obgleich Wolff jahrelang den D[eutschen] L[ehrer-] V[erein] nach demokratischen
Grundsätzen und in parlamentarischen Formen geleitet hatte, scheute er sich nicht, zu
schreiben: „Es galt die Ablehnung aller demokratischen Methoden und der Wille zum
Führerprinzip.“ [...] Mich treibt keine persönliche Feindschaft zu dieser Darlegung. Aber in
meiner Eigenschaft als Personalreferent der Volksschulabteilung von 1920 bis 1933 habe ich
seinerzeit den Lyzeallehrer Wolff, dessen Kenntnisse und geistige Beweglichkeit ich schätze,
in Verkennung seines Charakters zur Ernennung als Schulrat vorgeschlagen. Den Fehler, den
ich damit beging, möchte ich jetzt korrigieren, zudem: Wolff ist jetzt als Mitglied der LDP
Mitglied der Stadtverordneten Berlins und es besteht die Gefahr, dass er auf diesem Wege
Einfluss auf das Berliner Schulwesen erhält. Das darf nicht sein. Für den Neubau unserer
Schule ist Wolff weder als Schulrat noch als Lehrer, noch in der gemeindlichen
Selbstverwaltung geeignet. Er muss aus der pädagogischen Arbeit ehestens endgültig
verschwinden.«287 Der Anzeige erstattende Ex-Ministerialrat gab also als Handlungsmotiv ein
schlechtes Gewissen an. Er wollte eine NS-förderliche Amtstat, die er selbst zu verantworten
hatte, wiedergutmachen. Sein Vorstoß gegen eine Karrierefortsetzung Wolffs, der seinerzeit
einem
mitgliederstarken
Pädagogenverband
vorstand,
erfolgte
nicht
aus
zwischenmenschlichen Gründen. Im Gegenteil wurde die Wertschätzung bestimmter
Charakterzüge betont. Der Berliner Stadtverordnete sollte vielmehr aus prinzipiellen
politischen Erwägungen nicht mehr auf das Volksbildungswesen einwirken können.
Die Beispiele in diesem Kapitel erlauben einen recht vielfältigen Einblick in Motive,
zugrunde liegende Tatbestände, Reaktionen und Auswirkungen von Anzeigen, die eine NSBelastung zum Gegenstand hatten. Hervorheben möchte ich noch einmal die interessante
Beobachtung, welch brisantes Wissen die Anzeigenden besaßen und bereit waren mitzuteilen.
Es waren Informationen, die die Behörden noch nicht kannten oder die sie gerne für sich
behalten hätten. In manchen Fällen war eine Anzeige eines der wenigen Mittel, um Protest
gegen die Personal- und Wiedereingliederungspolitik von Staat und Partei zu erheben oder
divergierende Meinungen dazu zu artikulieren. In anderen Situationen ging es um Rache,
Intrigen und Erpressung. Dabei handelte es sich lediglich um die Spitze eines Eisbergs. Nur
erahnen lässt sich, wie viele NS-Vergehen ostdeutscher Kader bekannt waren, aber nie ans
Tageslicht kamen.
287
NY 4090 / 397, Bl. 49-51, DVV, Wandel, an SED, Grotewohl, vom 06.10.1949, darin enthaltene Anlage:
G. M[...], an Wandel, vom 22.12.1946 (Abschrift).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
1.5
71
Personalbestand und Fachkräftemangel
Die Reparationsleistungen an die UdSSR bestanden zur Zeit der Deutschen
Wirtschaftskommission in ganz überwiegendem Maße aus beschlagnahmten Waren, die aus
der laufenden Produktion in der sowjetischen Besatzungszone stammten, und nicht mehr aus
demontierten Industrieanlagen. Allerdings führten neben dem Mangel an Produktionsmitteln
und dem kaum noch leistungsfähigen Verkehrsnetz die teilweise sehr umfassenden
Entlassungen im Rahmen der Entnazifizierung zu Störungen der Betriebsabläufe.288 Umso
größer war das Interesse an der Wiedereinstellung NS-belasteter Spezialisten ab 1948/49,
auch vom materiellen Standpunkt aus gesehen. Besonders dringend war der Bedarf an
hochqualifizierten Spitzenkräften, die von „normalen“ Fachleuten zu unterscheiden waren,
von denen es quantitativ keinen größeren Mangel in der SBZ gab.289
Doch der politische Wille zur durchgreifenden Säuberung der nationalsozialistisch
verstrickten Dienstklasse schuf schon zu Beginn der Entnazifizierung einen erheblichen
Mangel an funktionalen Eliten. Neben der Repression dieser Schicht verschärfte ihre
Abwanderung in den Westen den fachlichen Aderlass. Dadurch verschlechterten sich auch die
Möglichkeiten eines Wissenstransfers auf den potenziellen Expertennachwuchs. Die
Reproduktion der Funktionseliten wurde gehemmt. Alles in allem bewirkte die massenhafte
Übersiedlung nach Westdeutschland enorme Verluste an Qualifikation und
Leistungsfähigkeit. Etliche Spezialisten wurden darüber hinaus in die Sowjetunion gebracht,
vor allem aus der Wirtschaft. Da solche Fachkräfte auch in der staatlichen Verwaltung sehr
gefragt waren, tangierte ihr Abgang nicht nur die Produktionsbetriebe. Aus dem skizzierten
„brain drain“ resultierten auf der anderen Seite Aufstiegschancen für die Verbliebenen.290 In
diesem Zusammenhang zwang die offene Grenze zur ökonomisch gedeihenden
Bundesrepublik die Machthaber zu größerer Rücksichtnahme auf bürgerliche Kräfte. Daher
betrieb sie gegenüber der alten Intelligenz eine Politik der Zugeständnisse. Ihre zu schnelle
Ausschaltung hätte die Krisensituation der Aufbauphase andernfalls erheblich verschärft.291
Dabei herrschte in der SBZ eigentlich ein allgemeiner Arbeitskräfteüberschuss. In der
zweiten Hälfte der vierziger Jahre stieg der Anteil der berufsqualifizierten Personen vor allem
durch hereinströmende Kriegsheimkehrer und Heimatvertriebene an. Trotzdem ließen sich die
Bedürfnisse des Arbeitsmarktes nicht befriedigen. Denn es gab zum Beispiel ein Überangebot
an Büro- und kaufmännischen Berufen bei gleichzeitiger Unterversorgung mit Facharbeitern
in der Industrie- und Bauwirtschaft.292 Darüber hinaus konnten viele Fachkräfte wegen
Mangel an Wohnraum und Verkehrsmitteln nicht immer dort eingesetzt werden, wo sie
gebraucht wurden. Schließlich arbeiteten sie oft in fachfremden oder ineffektiven Positionen,
288
289
290
291
292
Die UdSSR hatte von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs am allermeisten unter der Zerstörung der
heimischen Infrastruktur zu leiden. Ihr Interesse richtete sich deshalb frühzeitig auf Kompensationen wie
die Demontage von Industrieanlagen. Hinzu kam die Beschlagnahme der laufenden Produktion in ihrer
Besatzungszone. Sie betrug 1949 ein Fünftel der materiellen Gesamtproduktion (einschließlich der
Sowjetischen Aktiengesellschaften), während Demontagen dann nicht mehr stattfanden. Dabei erreichte die
SBZ Ende 1946 einen Produktionsstand von etwa 56% des Niveaus von 1936. Eine empirisch gesättigte
Bilanz zu den Reparationsverlusten und Besatzungs- bzw. Bündnisverlusten der SBZ/DDR fehlt allerdings,
siehe: Zank, Zentralverwaltungen, S. 253 f., 260, 272; Niethammer, Erfahrungen, S. 101.
Zank, Wirtschaft, S. 49, 53-56, 58 f.; ders., Zentralverwaltungen, S. 253.
Andere Experten nahmen die Westmächte vor dem Abzug aus den zeitweilig besetzten ostdeutschen
Gebieten in ihre Besatzungszonen mit, teilweise auf freiwilliger Basis, siehe: Zank, Wirtschaft, S. 53;
Jessen, Elitewechsel, S. 51; Kocka, Gesellschaft, S. 548.
Der Loyalitätssicherung der älteren bürgerlichen Intelligenz dienten laut Oskar Anweiler beispielsweise
„gewisse Privilegierungen bei der Studienzulassung der Söhne und Töchter aus diesen Kreisen“. Teilweise
stützte die SED auch das elitäre Selbstverständnis bestimmter Berufsgruppen wie das von Wissenschaftlern
und Ärzten, um nicht zuletzt eine Westflucht zu vermeiden, siehe: Anweiler, Hochschulpolitik, S. 84;
Kleßmann, Relikte, S. 255 f.; Hübner, Einleitung, S. 19.
Welsh, Wandel, S. 84.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
72
vor allem wegen der Entnazifizierung, aber auch aufgrund von demontierten und
kriegszerstörten Betriebsanlagen oder fehlenden Produktionsmitteln. Anders als die Zahl der
qualifizierten Fachleute stieg die der hochqualifizierten Kräfte nach dem Zweiten Weltkrieg
nicht an. Zwar befand sich in der SBZ anfangs ein äußerst kompetenter Stamm an
Spezialisten, die vor 1945 kaum eine Einberufung zur Wehrmacht erhalten hatten. Der
Mangel an hochqualifizierten Experten nahm so zumindest ganz am Anfang nur partielle
Ausmaße an. Doch schon 1946 führte die kommunistisch geprägte politische Umwälzung
auch in diesen Reihen zu Verlusten.293 Generell reduzierten die ideologisch begründeten
Entnazifizierungsvorgaben, „bürgerlich-faschistoide Elemente“ zu entfernen und proletarischsozialistische zu fördern, das kaderpolitisch und längerfristig tatsächlich brauchbare
Personalangebot erheblich – weit über das offizielle Ende der Entnazifizierung hinaus.
Letztlich zog das Spannungsfeld zwischen den fachlichen Zwängen und den politischen
Wünschen eine abgestufte Integrationspolitik gegenüber der alten Intelligenz nach sich, die
dem Expertenmangel Tribut zollte. Eine Reinform der Stalin´schen Kaderkonzeption ließ sich
auf diese Weise nicht realisieren.294
Um die öffentliche Versorgung in Gang zu setzen und am Leben zu halten, musste also
in der Transformationsphase vom Nationalsozialismus zur DDR auf bürgerliche Experten
zurückgegriffen werden.295 Häufig passierte das selbst dann, wenn sie kaderpolitisch nicht
tragbar schienen. Unter ihnen befanden sich in vielen Fällen ehemalige NSDAP-Mitglieder,
auch im zentralen Staatsapparat.296 Ideologisch war das kein Tabu. Schon Lenin hatte die
Einbeziehung „klassenfremder“ Spezialisten zur Stabilisierung der Macht befürwortet und
durchgeführt.297 Und so wie die Kommunisten in der SBZ/DDR hatten auch die Bolschewiki
an einem Mangel an loyalen und geschulten Arbeitskräften gelitten. Deshalb kontrollierten sie
die bis auf weiteres unverzichtbaren bürgerlichen Fachkräfte. Sie versuchten dabei
auszuloten, inwiefern sie kooperativ und entwicklungsfähig waren. Führungspositionen im
Verwaltungsapparat wurden jedoch gleich mit politisch zuverlässigen Kadern besetzt, trotz
meist lückenhafter Bildung und fehlender Führungserfahrung.298 Analog mussten sich in der
ostdeutschen Regierung die von der Machtelite als politische Gegner empfundenen
Angestellten anpassen, oder sie kamen über den Status einer Übergangsdienstklasse nicht
hinaus und erhielten schon nach relativ kurzer Zeit wieder ihre Entlassung.299 Von Beginn an
sah die Politik der KPD/SED vor, bürgerliche Herrschaftsträger zu entmachten und neue
Kader heranzuziehen. Das geschah zunächst zurückhaltend, dann immer offener.300 Das
Risiko einer Beeinträchtigung der Elitenkooperation, hervorgerufen durch eine Konfliktlinie
zwischen alten und neuen Führungskräften, ging sie ein.301 Entscheidend für den Spielraum
der Kaderverantwortlichen war das Gegenangebot an politisch unbelasteten oder sogar
vorteilhaften Kräften, die fachlich wenigstens die notwendigen Grundkenntnisse mitbrachten.
Doch kurzfristig ließen sich solche Fachleute, die beruflich einen wirklich gleichwertigen
293
294
295
296
297
298
299
300
301
Zank, Wirtschaft, S. 42-44, 47, 57.
Glaeßner, Herrschaft, S. 94.
Bauerkämper, Bodenreform; Jessen, Professoren; Zwahr, Kontinuitätsbruch.
Der stellvertretende DWK-Vorsitzende und Industrieminister Fritz Selbmann konstatierte 1949, dass man
bis zur Ausbildung von genügend Ersatzkräften auf die alte technische Intelligenz angewiesen sei. Unter
ihnen befanden sich demnach „fortschrittliche Intellektuelle“, die zahlenmäßig stärksten „neutralen“
Fachleute sowie „alte reaktionäre Kräfte, die dem Konzerndenken verhaftet sind“, siehe: Hübner, Manager,
S. 70 f.; DO 1 / 26.0, 17554, s.v. „G“, [Staatliche Geologische Kommission,] Sasse, Arbeitsbericht 1952
der Staatlichen geologischen Kommission, vom 07.01.1953, S. 4.
Wenzke, Wege, S. 222.
Diese verwandelten sich schnell in eine „Kaste bürokratischer Kader“. Erst im zweiten Jahrzehnt nach der
Machtergreifung war eine neue Sowjetintelligenz vorhanden, siehe: Müller / Hodnett, Kader, Sp. 456.
DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 206 f.; DO 1 / 26.0, 17168, betr.: Amt für Wasserwirtschaft, [1953]; Boyer,
Kaderpolitik, S. 15, 26.
Boyer, Kaderpolitik, S. 11, 14 f.
Bauerkämper, Elite, S. 27.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
73
Ersatz für die traditionelle Intelligenz darstellten, trotz großer Bemühungen nicht in
ausreichender Zahl heranziehen. Eine adäquate Ausbildung und ein beruflicher
Erfahrungsschatz erforderten eben viel Zeit.302 Außerdem stellte die Möglichkeit der
Westflucht ein Faustpfand für die alten Fachkräfte dar, auf das die SED Rücksicht nehmen
musste. Andererseits minderte die Abwanderung das Potenzial politischer Opposition in der
SBZ/DDR. Die Forschung hat zwar mittlerweile festgestellt, dass die alten Eliten länger und
zahlreicher wirkten als lange Zeit vermutet. Ähnliches galt für deren Milieutraditionen.
Jedoch sind die sich daraus ergebenden Konsequenzen bisher kaum untersucht.303
Die Grenzen der Einbeziehung variierten je nach erlerntem Beruf und Einsatzgebiet. In
der Justiz wurde mit der Ausbildung von Volksrichtern und Staatsanwälten in
Sonderlehrgängen ein radikaler und vor allem sehr nachhaltiger Bruch vollzogen.304 Gleiches
erfolgte bei der Polizei, die nur auf sehr wenige Beamte aus der Weimarer Republik und der
NS-Ära zurückgriff.305 Extrem kurze Ausbildungszeiten von wenigen Monaten oder Wochen
charakterisierte auch die Neulehrer.306 Gleichwohl war während der Formierungsphase der
SBZ/DDR ein vollständiger Austausch der Dienstklasse im Schuldienst nicht möglich, ohne
den Zusammenbruch der Unterrichtsversorgung zu riskieren. Bei den Lehrern musste deshalb
ebenfalls auf ehemalige NSDAP-Mitglieder zurückgegriffen werden.307 Noch größer war
nach 1945 der Mangel an politisch unbelasteten und zugleich fachlich hervorragenden
Akademikern an Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Folglich kam es zu einer
„selektiven Reintegration“ nicht weniger Wissenschaftler aus dem „Dritten Reich“.308
Ähnlich sah es bei den Ärzten aus.309 Auf dem Land verfügten darüber hinaus die alten
Gutsbesitzer noch längere Zeit nach ihrer Enteignung über einen gewissen Einfluss im
dörflichen Milieu, und sei es nur aufgrund ihrer Autorität.310 Eine vergleichsweise moderate
Säuberung fand in der Wirtschaft statt. In vielen Betrieben bewirkte das Streben nach
Produktionssteigerung mindestens bis in die sechziger Jahre hinein, dass Führungskräfte und
Pgs. unter den Fachleuten nicht rigoros ausgewechselt wurden. Dennoch schwächten sich die
bürgerlichen Verwurzelungen auch dort ab.311
In der öffentlichen Verwaltung wurde zwar im Vergleich zur Wirtschaft stärker auf eine
strikte Entnazifizierung geachtet. Dabei waren die Unterschiede zwischen der sowjetischen
Besatzungsmacht und der KPD/SED meines Erachtens kleiner als manchmal vermutet.312
302
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312
Selbst der DDR-Historiker Wolfgang Meinicke deutet den Fachkräftemangel und die kurzfristige
Abhängigkeit von den alten Eliten an. Er schreibt, es standen nach Kriegsende „nicht genügend geeignete
Antifaschisten zur Verfügung, die sofort die einzelnen Bereiche im Staatsapparat und in der Verwaltung
übernehmen konnten“, siehe: Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 24.
Niethammer, Erfahrungen, S. 100; Walter, Milieus, S. 489; Kocka, Sonderweg, S. 38; Noack, Eliten, S.
786; Kleßmann, Relikte, S. 256; Badstübner, Geschichte, S. 339; u.a. zu bildungsbürgerlichen
Reminiszenzen bei Neulehrern siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 50 f., 65.
Dennoch hatten KPD und auch SPD zu wenig Justizfachleute, siehe: Haferkamp / Wudtke,
Richterausbildung; Hoefs, Kaderpolitik, S. 151.
Schneider, Verwaltung, S. 213.
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 50.
Roß, Eliten, S. 183; Mertens, Austausch.
Jessen, Elitewechsel, S. 24; Glaeßner, Herrschaft, S. 306.
Hockerts, Grundlinien, S. 525 f.
Bauerkämper, Elite, S. 24.
Schulz, Elitenwandel; ders., Elitenwechsel; Kleßmann, Staatsgründung, S. 83; Hübner, Manager;
Bauerkämper, Elite, S. 23 f.; Kaelble, Gesellschaft, S. 566-568.
So spricht Lutz Niethammer von den „pragmatischen Russen“ und den „ideologischen Deutschen“, weil die
SED den weitgehend nationalsozialistisch belasteten öffentlichen Dienst relativ streng säuberte, während
die Sowjets in den von ihnen beschlagnahmten Industriebetrieben einen „bemerkenswerten Pragmatismus
in der Weiterbeschäftigung von Nazis“ zeigten, solange sie in ihrem Sinne funktionierten. Trotz der
bewussten Überspitzung der Wortwahl würde ich in der Terminologie nicht soweit gehen. Zwar mögen die
russischen Verantwortlichen eine graduell tolerantere Linie verfolgt haben. Was die unter ihrer Ägide
stehenden Wirtschaftsunternehmen anbelangt, verfolgte aber auch die SED im Vergleich zur Verwaltung
Jens Kuhlemann – Braune Kader
74
Doch in bestimmtem Maße waren sowohl nachgeordnete Verwaltungsdienststellen313 als auch
der zentrale Staatsapparat auf bürgerliche und NS-belastete Kräfte angewiesen, um ihre
Aufgaben zu erfüllen. Die Kaderabteilungen versuchten dabei, unter ihnen die möglichst
politisch loyalen Mitarbeiter herauszusuchen und zu rekrutieren, was aber nicht immer den
gewünschten Erfolg hatte.314 Dabei drängte es viele Fachleute, vor allem die exzellenten unter
ihnen mit den meisten Arbeitsplatzofferten, nicht nur wegen der unterschiedlichen
Säuberungsmaßstäbe gar nicht in den öffentlichen Dienst. Denn ihn kennzeichnete eine
gewisse Unattraktivität. Zum einen war das Berufsbeamtentum inklusive Unkündbarkeit und
Versorgungsprivilegien abgeschafft. Zum anderen bewegte sich die Bezahlung im Vergleich
zur Wirtschaft auf relativ niedrigem Niveau. In der DWK führten Stellenplanstreichungen
durch die SMAD im Zuge der Reorganisation im März 1948 mitsamt Herabsetzung des
Gehaltsniveaus sogar zu Konflikten mit dem Sekretariat der Wirtschaftskommission.315
Schließlich zogen eine ungünstige Lebensmittelkarteneinteilung und fehlende Beziehungen,
die ähnlich wie in Landwirtschaft, Handel und Industrie diverse Tausch- und
Schwarzmarktgeschäfte begünstigt hätten, weitere Nachteile beim täglichen Überlebenskampf
nach sich.316
Kennzeichnend für die sukzessiv nachlassende Säuberungsintensität und beginnende
Wiedereingliederung ehemaliger Nationalsozialisten waren nicht nur die SMAD-Befehle 201
und 35 sowie die Gleichstellungsgesetze von 1949 und 1952. Hinzu kam die interne,
ausdrückliche Unterordnung der Kaderpolitik unter den Primat der Wirtschaftsplanung auf
der Konferenz von Werder. Ab 1950 stand die Personalpolitik dann im Zeichen des ersten
Fünfjahrplanes.317 Die ökonomischen und machtpolitischen Konsolidierungszwänge nach
innen sowie die Konfrontation mit dem westlichen Klassenfeind nach außen bewirkten eine
Schwerpunktverlagerung innerhalb der Kaderpolitik. NS-Belastete mussten immer weniger
den beruflichen und gesellschaftlichen Ausschluss fürchten, je mehr sie dazu bereit waren,
sich für die Machtelite einzusetzen. Die anpassungsfähigen Bürgerlichen bildeten dabei
zusammen mit dem jungen Kadernachwuchs eine Schicht, die nach Lutz Niethammer den
Schlüssel zur Strukturgeschichte der DDR ab den sechziger Jahren darstellt: eine relativ
homogene Generation mit staatsverbundener Aufstiegserfahrung und „exekutivem
Aktivismus“, deren Schicksal unauflöslich mit dem Staatsobjekt verbunden und deren
Erfahrung für jüngere nicht wiederholbar war.318
Um nun den Fachkräftemangel und seine Linderung in der DWK und DDR-Regierung
zu beschreiben, ist ein Blick auf die allgemeine Personalentwicklung notwendig. Die
folgenden Ausführungen sind darüber hinaus grundlegend für sämtliche Kapitel zu einzelnen
kaderpolitischen Merkmalen. Beginnen wir bei den Planstellen und dem tatsächlich
vorhandenen Personalbestand in der DWK und der DDR-Regierung.319 Ausweislich der
aufgefundenen Statistikquellen arbeiteten in der Deutschen Wirtschaftskommission 4900-
313
314
315
316
317
318
319
eine zurückhaltende Denazifizierung. Auf der anderen Seite erhob die SMAD keinen Einspruch gegen die
Ausrichtung der SED-Personalpolitik in der staatlichen Verwaltung – insbesondere auch die in der DWK
und den Zentralverwaltungen –, sondern stimmte sie im Gegenteil eng mit den deutschen Genossen ab,
siehe: Niethammer, Erfahrungen, S. 104; Kuhlemann, Teufel.
Richert, Macht, S. 182.
Kurt Koch, ehemaliges NSDAP-Mitglied und Direktoriumsmitglied der Deutschen Notenbank, äußerte
1951 zum Beispiel, es gebe „noch eine grosse Anzahl traditionsgebundener Kräfte“ in der Notenbank. Die
personalpolitische Lage sei nicht gut gewesen. Bereits Bernd Niedbalski vertrat richtigerweise die These,
dass die DWK ehemalige Beamte meistens nur bei positiver Einschätzung und wegen unentbehrlicher
fachlicher Qualifikation berücksichtigte, siehe: DY 30 / IV, 2/11/174, Bl. 184; Niedbalski,
Wirtschaftskommission, S. 401; Kuhlemann, Teufel.
DC 15 / 315, Bl. 7; DC 15 / 713, Bl. 20-23.
Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 387.
Boyer, Kader, S. 19, 28.
Niethammer, Erfahrungen, S. 105.
Quellenangaben hierzu sowie zu Stellen- und Gehaltsplänen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
75
5900 Verwaltungsangestellte (ohne technische Kräfte).320 Das sind deutlich weniger, als die
Forschung bislang angenommen hat.321 Ein leichter Rückgang der Beschäftigtenzahl
zwischen dem Jahreswechsel 1948/49 und April 1949 war eine Folge der Währungsreform
vom Juni 1948. Denn die „weiche“ Ostwährung machte den aufgeblähten SBZVerwaltungsapparat zu einem sehr kostspieligen Unterfangen.322 Wie schon auf der
Konferenz von Werder gefordert, verfolgte die Deutsche Wirtschaftskommission daher die
Einsparung von Personalkosten und den Abbau des Personalbestandes um mindestens 20%
und erließ am 24. November 1948 eine entsprechende Verordnung. Damit sollte eine
Effizienzsteigerung einhergehen.323 Im Ergebnis wurden an Personalstellen etwa 10% des
reinen Verwaltungsapparates eingespart und an Besoldungsmitteln etwa 11%. Die
Zielvorgabe der Personalsparaktion wurde also klar verfehlt.324 Der Personalrückgang zum
Juni und zum Oktober 1949 ist primär das Ergebnis der sogenannten W-Aktion, auf die ich
noch zurückkomme.325 In den DDR-Regierungsdienststellen stieg die Zahl der
Verwaltungskader in den Jahren 1949-1957 dann von ca. 5300 auf über 18.500 an. Rechnen
wir die technischen Angestellten noch hinzu, wuchs der gesamte Apparat sogar von fast 6500
auf ungefähr 23.500 Mitarbeiter.326 Eine gewaltige Expansion. Sie unterstrich die
Kompetenzverlagerung von sowjetischen auf deutsche Stellen und die Zentralisierung der
Staatsverwaltung. Das personelle Wachstum der Bürokratie war aber auch Ausdruck des
Allzuständigkeitsanspruches, der Kontroll- und Regelungswut der SED.327
Die kaderpolitische Bedeutung der Planstellen wird durch überlieferte Zahlen zur
Auslastung der Stellenpläne deutlich. So hat es bei den Verwaltungsangestellten der DDRMinisterien zunächst noch stärkere Schwankungen gegeben, 1951 und 1953 mit
Minimalständen von 68% und 78%.328 Sie wurden in diesem Ausmaß durch eine parallel
erfolgte Zunahme der Planstellen begünstigt. Von heute auf morgen waren neu genehmigte
Arbeitsstellen natürlich nicht zu besetzen, so dass auf dem Papier kurzfristig eine größere
Personallücke entstand. Dennoch spiegelt ein niedriger Auslastungsgrad insgesamt nicht nur
punktuelle Planstellenerhöhungen wieder, sondern vor allem die grassierende Personalnot. Ab
1954 ließen die erwähnten Schwankungen dann nach und der Auslastungsgrad pendelte sich
bei maximal 95% ein. Das galt zum Schluss auch für den Wert, der das sogenannte
Fachpersonal und die technischen Kräfte einbezog und zuvor oft ein paar Prozentpunkte
320
321
322
323
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325
326
327
328
Einige Quellen machen für dieselben Erhebungszeitpunkte leicht unterschiedliche Angaben. Es empfiehlt
sich daher, die im Anhang bei Kuhlemann, Kader (2005) aufgeführten kopierten Originale abzugleichen.
Eine grafische Darstellung siehe in: ebd., S. 132 f. (Abb. 1), dort auch weitere Quellenhinweise.
In diesem Zusammenhang ist auf einen Brief von Wilhelm Pieck an die SMAD zu verweisen. Pieck
schrieb, Ende 1948 hätte es in der DWK 6000 sogenannte „politische“ oder „Verwaltungsangestellte“ und
noch einmal 3000 technische Angestellte gegeben. Zumindest die erste Zahl stimmt – wenn wir sie als
aufgerundet betrachten – mit den Statistiken der HA Personalfragen und Schulung überein. Zur zweiten
treffen sie keine Aussage, siehe: NY 4130 / 83, Bl. 22 f., W[ilhelm] P[ieck], an SMAD, Semenow, vom
11.12.1948. Zu Zahlenangaben bei Bernd Niedbalski und Wolfgang Zank siehe: Niedbalski,
Wirtschaftskommission, S. 249; Zank, Zentralverwaltungen, S. 266; Kuhlemann, Kader (2005), S. 132,
dort auch ein Kommentar zu den Vorgenannten; vgl. die Angaben zu den Personalbeständen in den
Deutschen Zentralverwaltungen, in: Merker, Zentralverwaltungen, S. 61.
Boyer, Bürohelden, S. 267 f.; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 395.
Boyer, Kader, S. 20.
DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 32 ff., [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert;
DC 15 / 754, Bl. 10, 13; Zur Währungsreform in der SBZ siehe: Schneider, Kriegswirtschaft, S. 47; Boyer,
Kader, S. 27; Amos, Justizverwaltung, S. 96 f.; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 385 f.
Siehe Kapitel „Westkontakte“.
Quellenangaben und Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 3), 133. Vgl. das
Personal der HVA, das sich 1949-1951 von 31.000 auf 52.000 Personen vergrößerte, in: Wenzke, Wege, S.
247 f.
Im Zuge der Restrukturierung der Regierungsdienststellen im Jahr 1958 kam es dann wieder zu einer
Kürzung der Apparate, siehe: Richert, Macht, S. 263.
Quellenangaben und Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 4), 133.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
76
höher lag als der für die reinen Verwaltungsangestellten.329 Bei den technischen Angestellten
gab es eben ein weitaus günstigeres Personalangebot.
Damit ist bereits aufgezeigt, dass die Rekrutierungsprobleme in den einzelnen
Mitarbeiterschichten sehr uneinheitlich ausfielen. Bevor ich darauf weiter eingehe, ein Wort
zur unterschiedlich starken Ausprägung der Hierarchie-Ebenen in den DDRRegierungsdienststellen. Es ist wichtig im Auge zu behalten, dass die Apparatsegmente im
Laufe der Zeit verschieden groß waren. Eine Auswertung der prozentualen Anteile der
einzelnen Positionshöhen am Gesamtpersonal 1950-1957 zeigt, dass sich zum Beispiel
derjenige der leitenden Angestellten am Personalkörper fast verfünffachte (von 4 auf 19%).330
Darunter fielen unter anderem Hauptverwaltungs-, Hauptabteilungs-, Abteilungs- und
Gruppenleiter. Diese Entwicklung könnte eine Folge der zahlreichen Umstrukturierungen und
Neugründungen eigenständiger Regierungsorgane gewesen sein, die dann alle eigene
Leitungskader hatten. Vielleicht gab es auch eine Zunahme der Beförderungen. Ebenfalls
einen starken Anstieg verzeichnete die mittlere Ebene der Hauptreferenten, Oberreferenten
und Referenten. Sie vergrößerte sich von 27 auf bis zu 44%. Fast halbiert wurde hingegen der
Anteil der übrigen Verwaltungsangestellten. Die am unteren Ende rangierenden
Hauptsachbearbeiter, Sachbearbeiter, Hilfssachbearbeiter, Sekretärinnen und Stenotypistinnen
fielen von 68 auf 38%. Da der gesamte Personalkörper sich in den fünfziger Jahren stark
vergrößerte und Prozentangaben daher täuschen können, sind die absoluten Zahlen zu
berücksichtigen. Hier stiegen die zuletzt genannten „übrigen“ Verwaltungskader sogar von
4700 auf über 7100. Dieser Zuwachs nahm sich jedoch weit geringer aus als bei den höheren
Verwaltungsebenen. Die absolute Zahl der Leitungskader verbuchte den stärksten Zugewinn
und hatte sich bis Ende 1957 mehr als verzehnfacht (von 332 auf 3504).331
Nun zurück zum Auslastungsgrad auf den jeweiligen Hierarchie-Ebenen. Die
aufgefundenen Statistiken verdeutlichen den anfangs eklatanten Mangel an fachlich
überdurchschnittlich gebildeten und erfahrenen Kadern.332 Bis 1952 gab es den größten
Personalmangel nämlich erwartungsgemäß bei den leitenden Angestellten mit einem
Minimalwert von 40%. Am zweitschlechtesten sah es bei den mittleren Funktionen aus mit
Niedrigstständen von bis zu 57%. Gerade in diesen beiden Segmenten führte der
Spezialistenmangel zu einer Aufgabenhäufung und Überlastung der beschäftigten Kader. Die
allgemeine Überarbeitung des Personals trieb wiederum die Zahl der Krankmeldungen in die
Höhe.333 Laut Bernd Niedbalski begünstigte der Fachkräftemangel außerdem eine starke
Fluktuation zwischen Partei- und Staatsapparat.334 Meines Erachtens galt das wohl für
Spitzenfunktionäre. Das Gros der wechselnden Kader wanderte jedoch zur Wirtschaft. Am
wenigsten Probleme mit der Personalbeschaffung hatten die Kaderabteilungen bei den unteren
Verwaltungsangestellten und den technischen Kräften. Dort gab es zwar auch Minimalwerte
von 77% bzw. 92%, zeitweilig aber auch eine Planstellenüberbesetzung mit 109% bzw.
329
330
331
332
333
334
Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 133 f.
Selbst wenn wir berücksichtigen, dass die Hauptreferenten bis 1952 auch noch zu den Leitungskadern
rechneten, ergeben sich für die dergestalt ergänzte Leitungsschicht in den Jahren 1950-1952 nur 10-17%.
Die Prozentzahlen beziehen sich auf die Gesamtzahl der – auch vom MdI als solche definierten –
Verwaltungsangestellten im engeren Sinne. Rechnen wir noch die technischen Kräfte und das sogenannte
Fachpersonal zur absoluten Gesamtzahl hinzu, so ergeben sich für den Zeitraum 1950-1956 folgende
Werte: Leitende Angestellte 4 auf 14% steigend, mittlere Funktionen 23 auf 34% zunehmend, übrige
Verwaltungsfunktionen 57 auf knapp 30% fallend, technische Kräfte um 20% und Fachpersonal ca. 4%.
Quellenangaben und grafische Auswertung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 6), 134.
Quellenangaben und Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb. 5), 134.
Quellenangaben und ein Diagramm samt Erläuterung siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 ff. (Abb.
2), 134.
Die Krankenstände lagen teilweise bei bis zu 11%, normal waren 5-7%, siehe: DO 1 / 26.0, 17480,
43/54/1/1.
Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 388; auf nationaler Ebene soll es mehr Personalwechsel als auf der
Kommunal- und Landesebene gegeben haben, siehe: König, Integration, S. 394.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
77
115%. Bei den höheren Hierarchie-Ebenen entspannte sich die Lage dann bis Ende 1957,
zumindest statistisch. Zusammen mit den anderen Gruppen war auf relativ hohem Niveau ein
Auslastungsgrad von 91-94% zu verzeichnen.
Trotz eines insgesamt stark anwachsenden Verwaltungsapparates galt also: Je höher und
anspruchsvoller die Position, umso schwieriger war die Personalbeschaffung und umso größer
die Unterbesetzung. Der hohe Grad unbesetzter Planstellen in der DWK und in den frühen
fünfziger Jahren in der DDR-Regierung ist ein Beleg dafür, dass an die vollständige
Ausschaltung der in manchen Verwaltungszweigen hohen Präsenz bürgerlicher und NSbelasteter Fachkräfte anfangs nicht zu denken war.335
1.6
Quantitative Ausmaße der Beschäftigung
ehemaliger Mitglieder der NSDAP, SA, SS
und sonstiger NS-Organisationen
Die Geschichte der Wiedereingliederung ehemaliger Nationalsozialisten in der SBZ/DDR ist
nicht zu schreiben, ohne Aussagen über die Anzahl der im zentralen und sonstigen
Verwaltungsapparat beschäftigten NS-Belasteten zu treffen. Waren sie gemessen an der
Bevölkerung und der jeweiligen Berufsgruppe repräsentativ vertreten? Diese Frage ist
essenziell für die Beurteilung der offiziellen Linie der sowjetischen Besatzungsmacht und der
SED, die nominellen Pgs. zu integrieren und die aktivistischen weiterhin auszuschließen. Ihr
Anspruch und seine Umsetzung stießen, wie bereits beschrieben, auf interne Widerstände und
vereinzelten Protest. Inwiefern setzte die Kaderpolitik dabei das inoffizielle, das eigentliche
Ausmaß der beruflichen und, eng damit verbunden, der gesellschaftlichen Resozialisierung
fest?
Zu bedenken sind vorab die demografischen Voraussetzungen. In der SBZ lebten 1945
circa 1,5 Millionen NSDAP-Mitglieder. Rechnen wir noch die Angehörigen der NSDAPGliederungen (SA, SS, NSKK, Hitlerjugend etc.) hinzu, ergibt sich zur gleichen Zeit die Zahl
von rund vier Millionen.336 Die Gesamtbevölkerungszahl im Territorium der SBZ betrug gut
siebzehn Millionen. Dabei kam es durch die hohe Zahl der Heimatvertriebenen aus den
ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches einerseits und der Übersiedler, die nach
Westdeutschland
gingen,
andererseits
zu
erheblichen
Schwankungen
und
Austauscherscheinungen.337 Viele Bildungsschichten waren stark nationalsozialistisch
kontaminiert. Dazu zählten beispielsweise Mediziner,338 Juristen339 und Lehrer.340 Der alte
Staats- und Verwaltungsapparat war in besonders hohem Maße mit NSDAP-Mitgliedern
durchsetzt gewesen. Wolfgang Meinicke nennt eine Größenordnung „zwischen 80 und 90
335
336
337
338
339
340
Boyer, Kader, S. 24 f., 49 f.
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 53; Badstübner, Geschichte, S. 343; Welsh, Wandel, S. 81; vgl. Zank,
Wirtschaft, S. 51 ff.; Wille, Entnazifizierung, S. 209 f.; vgl. die Zahl von ca. zwei Millionen ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern in der SBZ in: DY 16 / 2786, NZ; nach Jürgen Danyel stellten die NSDAP-Mitglieder
„rund ein Sechstel der Gesamtbevölkerung“ in der SBZ/DDR, siehe: Danyel, SED, S. 178.
Zum sowjetischen Machtbereich sind darüber hinaus noch 1,2 Millionen Einwohner Ost-Berlins
hinzuzurechnen, siehe: Weber, Geschichte, S. 325; Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1070 f.
Zu Mitgliedschaften von Medizinern in NS-Organisationen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 136;
Kleßmann, Relikte, S. 257 f.; Joseph, Nazis, S. 143.
Zu Pgs. in der Justiz siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 136; Rössler, Aspekte, S. 143.
Zu Lehrern, die der NSDAP angehörten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 136; Niedbalski,
Wirtschaftskommission, S. 113; Joseph, Nazis, S. 39.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
78
Prozent“ ehemaligen Pgs.341 In Thüringen, einer Hochburg der Nationalsozialisten, zählten
während des NS-Regimes über 90% aller Angehörigen des öffentlichen Dienstes zur NSDAP,
speziell im Verwaltungsapparat rund 96%.342 Die Entnazifizierung sollte zwar den gordischen
Knoten lösen, sich an Wort und Geist der Säuberungsrichtlinien zu halten, ohne bei allen
Berufsgruppen „tabula rasa“ zu machen und ohne die lückenhafte Versorgung der
Bevölkerung gänzlich zu unterminieren. Doch die genannten Zahlen verdeutlichen, dass
solche signifikanten Bevölkerungsschichten nicht dauerhaft auszugrenzen waren und es für
die SED über kurz oder lang keine Alternative zur Integration gab.343 Über Neueinstellungen
NS-Belasteter nach Erlass des Befehls 35 oder nach der Verabschiedung der
Gleichstellungsgesetze liegen der Forschung dabei meist gar keine oder nur ganz vereinzelt
Zahlen vor.344 Für den Bereich der staatlichen Verwaltung schließt sich diese Lücke im
Weiteren etwas, so dass sich Aussagen zur Nachhaltigkeit der Entnazifizierung treffen lassen.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Anteil der ehemaligen NSDAPMitglieder am Gesamtpersonal der Deutschen Wirtschaftskommission 1948/49 meist
zwischen 1 und 2% lag.345 Der Vergleich der Wirtschaftskommission mit den drei
Zentralverwaltungen, die unmittelbar vor der DDR-Staatsgründung noch eigenständig neben
der DWK existierten, nämlich die Deutsche Verwaltung des Innern,346 die Deutsche
Justizverwaltung347 und die Deutsche Verwaltung für Volksbildung,348 bringt ähnlich niedrige
Beschäftigungsraten ehemaliger Nationalsozialisten ans Tageslicht. Im Zeitraum 1950-1957
schwankte die Zahl in der DDR-Regierung dann überwiegend zwischen 4,5 und 6%.349 Auf
geringem Niveau stellte sich also eine leichte Steigerung ein. Dabei gab es zwar
Verwaltungszweige, in denen sich NS-Belastete konzentrierten.350 Dennoch ist eindeutig, dass
es sich bei der Gesamtheit der Pgs. im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR quantitativ um
eine kleine Randgruppe handelte. Das gilt insbesondere auch im Vergleich zur
nationalsozialistischen Staatsverwaltung oder der der frühen Bundesrepublik. Qualitativ oder
politisch gesehen barg sie allerdings Sprengstoff. Deshalb konnten auch wenige ExNationalsozialisten in der Verwaltung bei entsprechend strengem Maßstab subjektiv
betrachtet noch (zu) viele darstellen.351 Es sei dabei daran erinnert, dass nur sehr wenige
Zeitgenossen den Umfang der beruflichen Wiedereingliederung NS-Belasteter kannten und
341
342
343
344
345
346
347
348
349
350
351
Meinicke, Entnazifizierung (1983), S. 24.
Der Reichsdurchschnitt betrug 75% Pgs. in der Verwaltung, siehe: Vollnhals, Entnazifizierung, S. 46;
Welsh, Wandel, S. 46.
Danyel, SED, S. 178.
Bis zur Wende in der DDR standen überhaupt keine Angaben zur Verfügung. Helga A. Welsh vermutet,
dass im Anschluss an das Gleichstellungsgesetz von 1949 kein größerer Rückstrom stattgefunden hat. Auch
sie konnte keine offiziellen Daten ausfindig machen, siehe: Welsh, Wandel, S. 84 f., Zank, Wirtschaft, S.
51.
Manchmal weisen die Quellen leicht unterschiedliche Angaben auf. So werden zum Beispiel für die DWK
zum 30.6.1948 einmal 51 ehemalige NSDAP-Mitglieder und ein andermal 78 konstatiert. Solche
Schwankungen haben aber keine größeren Auswirkungen auf die statistische Auswertung. Von März bis
Dezember 1949 differenzieren die Statistiken der HA Personalfragen und Schulung bzw. des MdI zwischen
einzelnen NS-Belastungskategorien. Doppelzählungen sind hier wahrscheinlich, also z.B. bei NSDAPMitgliedern, die zusätzlich in der SA waren, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK
und ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); Kuhlemann, Kader
(2005), S. 137 f., dort insbesondere Abb. 7.
Zu ehemaligen Mitgliedern der NSDAP, SA und HJ sowie Wehrmachtsoffizieren in der DVdI siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 137.
Zu Pgs. in der DJV siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 138.
Zu Angehörigen der NSDAP, SA, HJ und anderer NS-Organisationen in der DVV siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 138.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (dort insbesondere Abb. 9), auf S. 138 auch detaillierte
Quellenangaben.
Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“.
Vgl. Boyer, Bürohelden, S. 258 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
79
dadurch eine echte Beurteilungsmöglichkeit besaßen. Ferner lässt sich sagen, dass etliche der
beschäftigten alten Fachleute nicht der NSDAP angehört hatten.352
Während die Kategorie „NSDAP“ in den Quellen zur DWK und DDR-Regierung
zumindest bis Ende 1949 noch neben einzelnen anderen NS-Organisationen (SA, SS etc.)
aufgeführt wird, steht sie ab 1950 alleine in den Personalstatistiken. Gliederungen oder
angeschlossene Verbände der NSDAP tauchen nicht mehr auf. Das wirft die theoretische
Frage auf, ob die Personalabteilungen nicht nur die unmittelbare Parteimitgliedschaft als
„NSDAP“-Zugehörigkeit betrachteten, sondern auch eine Mitgliedschaft in den Gliederungen
der NSDAP. Wurden diese fortan den Pgs. gleichgestellt? Die NSDAP-Gliederungen waren
ja im „Dritten Reich“ nichts anderes als ein Teil der Partei. Und wie wurden dann die
angeschlossenen Verbände der NSDAP gewertet?353 Diese Fragen lassen sich nicht mit letzter
Sicherheit beantworten. Mehrere Regierungsdienststellen berücksichtigten in ihren Berichten
an die HA Personal des MdI in puncto „Parteizugehörigkeit vor 1945“ bzw. bei der Sparte
„NSDAP“ nicht nur direkte Parteimitglieder, sondern auch Angehörige der NSDAPGliederungen. Aus der Zusammenfassung von „NSDAP und Parteigruppierungen“354 lässt
sich allerdings nicht automatisch ableiten, dass Partei, Parteigliederungen und sonstige NSOrganisationen inhaltlich auf eine Stufe gestellt wurden. Auf der anderen Seite war die
Beachtung anderer nationalsozialistischer Formationen als der NSDAP im engeren Sinn
kaderpolitisch durchaus relevant. Hinsichtlich der Statistiken zum Gesamtpersonal des
zentralen Staatsapparates lässt sich immerhin beweisen, dass das Innenministerium zur
Gruppe „NSDAP“ ausschließlich solche Personen zählte, die unmittelbares Parteimitglied
waren.355 Das bedeutet nicht, dass sich das MdI für mutmaßlich „schwerer“ wiegende Fälle
wie die einer SS- oder SA-Mitgliedschaft nicht interessierte. Im Gegenteil waren genaue
Informationen über die Verteilung von einst aktiveren Faschisten sicherheits- und
personalpolitisch besonders wichtig. Es arbeiteten nur derart wenige Angehörige solcher
Gruppierungen in der DDR-Regierung, dass sich eine gesonderte statistische Beschreibung
nicht lohnte. Bei den übrigen NSDAP-Gliederungen, die eine minder belastende
Mitgliedschaft als die der NSDAP nach sich zogen, ergab sich ein etwas anderes Bild. Die
früheren Angehörigen der Hitlerjugend stellten zwar zum Beispiel eine hinreichend große
Gruppe dar, um statistisch für sich erfasst zu werden. Nur waren die jüngsten unter den
organisierten Nationalsozialisten seit jeher die am wenigsten schuldfähigen und politisch
belasteten Angestellten. Wenig sprach daher für eine numerische Ausdifferenzierung durch
das MdI. Ähnliches galt für Massenorganisationen wie die Nationalsozialistische
Volkswohlfahrt, die Deutsche Arbeitsfront oder den Reichsbund Deutscher Beamten, die zu
den angeschlossenen Verbänden der NSDAP gehörten. Trotz der organisationsbedingt
unterschiedlichen Schwere der politischen Verstrickung sei jedoch betont, dass in die
individuellen Kaderakten jede Art der politischen Betätigung und Bindung Eingang fand –
egal, ob es sich um eine geringfügige Belastung handelte oder um eine gravierende. Das MdI
wertete sie nur nicht immer statistisch aus.
352
353
354
355
Vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26.
NSDAP-Gliederungen waren SA, SS, NSKK, HJ, NSD-Studentenbund, NS-Frauenschaft und NSDDozentenbund. Angeschlossene Verbände der NSDAP waren der NSD-Ärztebund, der Bund
Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bzw. NS-Rechtswahrerbund, der NS-Lehrerbund, die NSV, die
NS-Kriegsopferversorgung, der NS-Bund Deutscher Technik, RDB und DAF einschließlich der NSGemeinschaft Kraft durch Freude, siehe: Kammer / Bartsch, S. 82 f.
Als Beispiel hierfür siehe: DO 1 / 26.0, 17163, [MdI,] HA Kader, Abteilung Handel und Verkehr,
Auswertung der Berichte und der Halbjahresstatistik Ministerium für Post und Fernmeldewesen und HV
Funk, vom 16.08.1954, S. 3.
Zur Frage, ob neben Mitgliedern der NSDAP auch solche der Gliederungen bei der Erstellung von
Personalstatistiken durch die Regierungsdienststellen Berücksichtigung fanden, siehe ausführlich
kommentierte Beispiele zum MdJ und zur deutschen Notenbank, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 139 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
80
Die quantitativen Bewegungen der NSDAP-Mitglieder im Personalkörper
beobachteten die Kaderverantwortlichen hingegen äußerst genau. Nicht zuletzt galt es,
Konzentrationen in einzelnen Dienststellen oder Abteilungen zu vermeiden. Penibel meldeten
die Ministerien selbst kleinste Veränderungen an das Ministerium des Innern. Bei jeder
Verschlechterung der kaderpolitischen Zusammensetzung, das heißt bei Zunahme der
ehemaligen Nationalsozialisten, sahen sich manche Personalabteilungen grundsätzlich in
einem Rechtfertigungszwang. Dabei ließ sich einfach gesprochen „Masse“ durch „Qualität“
ausgleichen, zum Beispiel indem neu eingestellte NS-Belastete ein SED-Mitgliedsbuch bei
sich trugen und parteilose Pgs. ersetzten.356 Andere Personalleiter betrachteten leichte Pg.Zuwächse von 1-2% auf insgesamt bereits unterdurchschnittlichem Niveau zwar als
erwähnenswert, maßen dem aber keine besondere Bedeutung bei. Die Verfolgung anderer
kaderpolitischer Ziele schien ihnen dringlicher zu sein als die Drosselung einer nur
unwesentlich changierten NSDAP-Präsenz. In dieser Auffassung wurden sie bestärkt, wenn es
sich bei den neuen Mitarbeitern um solche Ex-Nationalsozialisten handelte, die nach 1945
entweder durch physische Arbeit oder durch ein deutliches politisches Bekenntnis unter
Beweis gestellt hatten, dass sie positiv zu den Grundsätzen der „antifaschistischdemokratischen Ordnung“ stehen.357 Machten die früheren NSDAP-Mitglieder allerdings in
einem Ministerium mehr als das Dreifache des Durchschnittswertes aus und bestanden sie
großenteils aus alten Reichsbeamten, kam die verantwortliche Personalabteilung nicht darum
herum, einen „hohen“ Prozentsatz und eine „schwache“ Personallage zu diagnostizieren. Sie
ergab sich aus dem Zwang, auf alte Fachleute zurückgreifen zu müssen, da jüngerer
Nachwuchs nur nach und nach heranzubilden war.358 In manchen Branchen führte dies dazu,
dass auch schwerer wiegende Belastungen der Spezialisten toleriert wurden.359
Eines besonderen Wortes bedarf die Wirkung des Gleichstellungsgesetzes von 1949 auf
die Kaderpolitik. Aus ihm erwuchs eine „Kann-Bestimmung“, aber kein einklagbarer
Rechtsanspruch auf Vergabe bestimmter Arbeitsplätze. Die Forschung hat als Folge der
geänderten Rechtslage bereits einen Anstieg der Neueinstellungen früherer
Nationalsozialisten vermutet oder behauptet.360 Die Quellen bestätigen diese Aussage für die
DDR-Regierungsdienststellen und legen den gleichen Schluss für andere Verwaltungsorgane
nah. Nachweislich führten die Personalabteilungen mehrerer Ministerien die vermehrte
Anstellung ehemaliger NSDAP-Mitglieder ausdrücklich und direkt auf den Erlass des
Gesetzes zurück. Selbst eineinhalb Jahre nach seiner Verabschiedung erklärten
Kaderverantwortliche die Steigerung eines Pg.-Quantums noch mit diesem Argument. Ein
Hauptgrund war demnach, dass die neue Rechtslage wieder NSDAP-Mitglieder in leitenden
Positionen zuließ. Dabei habe es sich aber nur um solche Pgs. gehandelt, die durch ihre
fachliche und gesellschaftliche Arbeit den Beweis erbracht hätten, ihre Fehler aus der
Vergangenheit wieder gutzumachen.361
Unterm Strich gab es einen punktuellen Anstieg des Anteils früherer NSDAPAngehöriger unmittelbar nach Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes, der zwischen
356
357
358
359
360
361
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Post und Fernmeldewesen, HA Personal III 1a, Vierteljährliche
Berichterstattung, an MdI, HA Personal, vom 03.07.1950, S. 2 f.
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Handel und Versorgung, HA Erfassung und Aufkauf
landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Personalabteilung, Bericht über die Arbeit der Personalabteilung der HA
Erfassung und Aufkauf des ersten Quartals 1950, an MdI, HA Personal, vom 27.04.1950, S. 1 f.
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Post und Fernmeldewesen, HA Personal III 1a, Vierteljährliche
Berichterstattung an die HA Personal des MdI der DDR, an MdI, HA Personal, vom 19.04.1950, S. 3 f.
So zum Beispiel bei den Ärzten, wie Detlef Joseph kritisch kommentiert, siehe: Joseph, Nazis, S. 148.
So Manfred Wille, der jedoch diesbezüglich keine konkreten Zahlen nennt, siehe: Wille, Entnazifizierung,
S. 213.
Zum Pg.-Anteil in Thüringer Kommunalverwaltungen sowie bei den Generaldirektionen Reichsbahn und
Schifffahrt siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 142.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
81
Dezember 1949 und Februar 1950 stattfand (von 2,5% auf 4,8%).362 Eine Verdoppelung auf
niedrigem Stand. Dabei ist der meist noch unter dem Niveau der DWK liegende Pg.-Anteil in
den drei verbliebenen Zentralverwaltungen, die sich mit der Wirtschaftskommission zur
DDR-Regierung vereinigten, zu berücksichtigen. In einzelnen Ministerien und Positionshöhen
nahmen sich die Zuwachsraten mittelfristig wesentlich höher aus als der Durchschnittswert,
wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird.363 Sie fielen jedoch für die Gesamtinstitution DDRRegierung prozentual kaum ins Gewicht. Denn die Vergrößerung des Gesamtapparates wurde
bis Ende der fünfziger Jahre in gleichbleibendem Maße von der Einstellung NS-unbelasteter
Kräfte getragen.364
Bei der Erörterung der Wirkung von Gesetzen in der DDR ist stets in Erinnerung zu
rufen, dass die Kluft zwischen ihrem Wortlaut einerseits und der Rechtswirklichkeit
andererseits immens sein konnte. Wenn es um Macht und Sicherheitsfragen ging, handhabte
die Machtelite Gesetze oft willkürlich, zumindest opportunistisch, und belegte sie mit einer
Interpretation der ganz eigenen Art. Für die Nominellen hieß das zum Beispiel, dass sie auch
weiterhin nicht (dauerhaft) in ihre alten Berufe zurückkehren konnten, wenn sie sich dem
Marxismus-Leninismus gegenüber verschlossen oder der SED die Kooperation verweigerten.
Auf der anderen Seite geben Gesetze im Allgemeinen ja nicht nur ein zu erreichendes Ziel
vor, sondern spiegeln auch Zugeständnisse an die Realität wider. Als das
Gleichstellungsgesetz in die Volkskammer eingebracht wurde, war die Verwaltung schon
längst dazu übergegangen, der Beschäftigung ehemaliger Pgs. mehr Toleranz
entgegenzubringen. Teilweise entsprach das Gesetz also nur der bereits gängigen Praxis.
Teilweise bewirkte es jedoch auch, dass sich die tatsächliche Ausübung der Kaderpolitik erst
an die neue Vorgabe anpasste. Vor allem in weniger wichtigen Dienststellen hat dies
scheinbar zu einer vermehrten Anstellung von Pgs. geführt.
Solche Personalleiter, die schon während der Entnazifizierung eine ungezwungenere
Haltung eingenommen hatten und gerne mehr NS-Belastete herangezogen hätten, bekamen
nun die Möglichkeit dazu. Das Gesetz vergrößerte den Spielraum und sie nutzten ihn. Andere
Kaderverantwortliche weigerten sich jedoch sehr wahrscheinlich, von den neuen
Rekrutierungspotenzialen Gebrauch zu machen, oder nutzten sie nur widerwillig und
verhalten. Ihre Verachtung gegenüber ehemaligen NSDAP-Mitgliedern änderte sich eben
nicht so schnell wie die Rechtslage. Wieder andere waren zwar willig, der Personalnot mit der
Einstellung früherer Pgs. zu begegnen. Sie zeigten jedoch Furcht vor der eigenen
Verantwortung. Gerade nachgeordnete Dienststellen waren unsicher, wo die interne
Schmerzgrenze der Wiedereingliederungspolitik lag, wie viele und welche ExNationalsozialisten sie beschäftigen durften, ohne den Zorn der Partei heraufzubeschwören.
Erschwerend kamen dabei Unklarheiten des Gesetzestextes über weiterhin ausgeschlossene
Arbeitsgebiete hinzu, mit deren Deutung sich bis auf weiteres die Exekutive befassen musste.
Verzögerungen bei der Umsetzung des Gleichstellungsgesetzes waren die Folge. Ungeachtet
der Rechtslage hielt die SED bestimmte Ressorts wegen ihrer macht- und
sicherheitspolitischen oder kontrollierenden und planenden Bedeutung auch weiterhin von
NSDAP-Mitgliedern nahezu rein, während sie bei anderen Behörden zunehmend aus dem
Pg.-Reservoir schöpfte.365
Neben dem numerischen Ausmaß der Beschäftigung der reinen Parteimitglieder ist hier
auch die Frage nach den Anteilen anderer NS-Belastungskategorien zu stellen. Auf diese
362
363
364
365
Eine Änderung der Zählweise bei der Rubrik „NSDAP“ in den MdI-Statistikquellen ist, wie bereits
erläutert, als Grund für die Pg.-Zunahme auszuschließen; siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 ff. (dort
insbesondere Abb. 7 und 9), 142.
Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche:
Positionshöhen“.
Siehe Kapitel „Personalbestand und Fachkräftemangel“.
Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche:
Positionshöhen“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
82
Weise betrachten wir gleichzeitig einen Aspekt der Binnendifferenzierung der politischen
Vergangenheit. Dadurch erwächst aus der Quantität eine Aussage zur Qualität. Beginnen wir
bei der wohl am meisten diskreditierten Organisation – der SS. Nach den vorliegenden
Quellen beschäftigte die Deutsche Wirtschaftskommission 1948/49 nie mehr als fünf
Mitglieder der SS zur gleichen Zeit und lediglich acht insgesamt. Das betrifft natürlich nur
solche Personen, die den Behörden als SS-Angehörige auch bekannt waren. Dabei
unterschieden die Kaderabteilungen sehr wohl zwischen den einzelnen Unterorganisationen
der Schutzstaffel, wie der Allgemeinen SS, der Waffen-SS oder den fördernden Mitgliedern
der SS. Sie fassten sie aber unter einer einheitlichen Rubrik zusammen. Für die fünfziger
Jahre liegt nur eine einzige zusätzliche MdI-Statistik vor, die die ehemaligen SS-Mitglieder
beziffert. Danach meldeten die Personalabteilungen im September 1951 für den gesamten
zentralen Regierungsapparat lediglich vier ehemalige SS-Angehörige. Es sind zwar im
Rahmen dieser Arbeit noch ein paar weitere Kader identifiziert worden, die sich während des
NS-Regimes an die berüchtigtste und mächtigste NSDAP-Gliederung gebunden hatten. Doch
im Großen und Ganzen scheinen keine wesentlichen Steigerungen in den DDR-Ministerien
vorgekommen zu sein.366 In leicht höherem Maße trafen die vorstehenden Ausführungen auch
auf die ehemaligen Mitglieder der SA zu. Ihr Anteil am DWK-Gesamtpersonal betrug zuletzt
etwa 0,5%. Die erwähnte Quelle vom September 1951 belegt, dass diese Belastungsgruppe im
Weiteren unter einem Prozent blieb.367 Die Sturmabteilung war eine militärisch ausgebildete
und organisierte Kampftruppe der NSDAP, die zum Beispiel bei Aufmärschen, Saal- und
Straßenschlachten eingesetzt wurde. Im Jahr der NS-Machtergreifung bestand die SA
größtenteils aus Arbeitslosen, die von Sozialmaßnahmen profitierten. Der ohnehin starke
Mitgliederzustrom erfuhr eine weitere Steigerung durch die Verhängung der Aufnahmesperre
der NSDAP 1933. Anfangs übernahm die SA auch die Bewachung der Konzentrationslager.
1934 wurde sie als Machtfaktor zugunsten der SS ausgeschaltet. 1938 war sie dennoch
maßgeblich an der Reichspogromnacht beteiligt. Die Sturmabteilung spielte außerdem eine
nicht unbedeutende Rolle bei der vormilitärischen Wehrerziehung und der Ausbildung
zurückgestellter Wehrpflichtiger.368
Partiell liegen auch Angaben zu „sonstigen NS-Organisationen“ vor, die mir allerdings
nicht immer sehr zuverlässig erscheinen. Gemeint waren offenbar die anderen Gliederungen
366
367
368
Näheres zu Belastungsunterschieden zwischen den früheren SS-Mitgliedern siehe Kapitel „Zugehörigkeit
zur SS und sonstigen NS-Organisationen“. Acht Personen des NS-Samples waren Mitglied der SS,
wenngleich sie fluktuationsbedingt nicht alle zur selben Zeit in der DWK arbeiteten. Zum 30.6.1948 waren
bereits fünf von ihnen in der DWK tätig. Im Zeitraum März bis Dezember 1949 arbeiteten in der
Wirtschaftskommission bzw. in der DDR-Regierung null bis zwei ehemalige SS-Mitglieder. Siehe: DO 1 /
26.0, 17359, 290/51/3/1, Namenliste ehemaliger SS- und SA-Mitglieder in den DDRRegierungsdienststellen, Stand: 30.9.1951; DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und
ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); DC 1 / 1914, [DWK,] HA
Personalfragen und Schulung, Gruppe Personalfragen, Allenstein, an ZKK, Lange, vom 27.10.1948;
Kuhlemann, Kader (2005), S. 144.
Zum 30.6.1948 waren neun DWK-Angestellte einst in der SA. Von März bis Dezember 1949 arbeiteten in
der DWK nie mehr als 25-41 frühere SA-Mitglieder gleichzeitig. Das NS-Sample, das auf Namenlisten
basiert, die bis Juni / Juli 1949 reichen, beinhaltet 34 jener SA-Leute. Damit werden unter
Berücksichtigung der Personalfluktuation die meisten Angehörigen dieser Belastungskategorie erfasst. In
den DDR-Regierungsdienststellen waren im September 1951 insgesamt 90 ehemalige SA-Mitglieder tätig.
Zehn davon arbeiteten bereits in der DWK und sind im NS-Sample mitenthalten; siehe: DO 1 / 26.0, 17359,
290/51/3/1, Namenliste ehemaliger SS- und SA-Mitglieder in den DDR-Regierungsdienststellen, Stand:
30.9.1951; DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die
Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); DO 1 / 26.0, 17099, XLVI/49/3/2; Kuhlemann, Kader
(2005), S. 137 f. (Abb. 7), 144.
Bei der „Röhm-Affäre“ Mitte 1934 wurden etwa 50 SA-Führer durch die SS ermordet. Die anschließende
Wiederausgliederung des ehemaligen Kyffhäuser-Bundes oder die Verleihung der formalen
Unabhängigkeit an die SS, HJ und das NSKK führten zu rapiden Mitgliederverlusten (von 4,5 Millionen im
Juni 1934 auf 1,2 Millionen 1938), siehe: Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 569 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
83
neben SS und SA, manchmal in Verbindung mit den angeschlossenen Verbänden der
NSDAP. Zusammen stellten sie in der Wirtschaftskommission meist 1-2% des
Gesamtpersonals.369 Da zahlreiche Pgs. in der NS-Ära zusätzlich Organisationen wie der
NSV und dem RDB beitraten, kam es in dieser Sparte wohl ganz besonders zu
Doppelzählungen. Die Tatsache, dass die „Sonstigen“ ab 1950 in den Statistikquellen zur
DDR-Regierung verschwinden, ist ein Indiz dafür, dass das MdI die Zugehörigkeit zu den
meisten Gliederungen und Verbänden ohne gleichzeitige NSDAP-Mitgliedschaft als eher
geringfügige Belastung einstufte. Sie scheint für die kaderpolitische Formung des Apparates
relativ unerheblich gewesen zu sein. Für die individuelle Abwägung kaderpolitischer
Merkmale blieb sie natürlich weiterhin von Relevanz. Eine besondere Rolle nahmen die
ehemaligen Mitglieder der Hitlerjugend ein, obwohl sie offiziell ebenfalls den Status einer
Gliederung der NSDAP besessen hatte. Aufgrund des allgemeinen Wohlwollens, das die
Machthaber der Jugend entgegenbrachten, und der mutmaßlich geringen NS-Belastung
gehörten HJ-Angehörige zu den förderungswürdigen Berufsbewerbern. In der späten DWK
wurden sie personalstatistisch gesondert erfasst. Ihr Anteil stieg ab März 1949 innerhalb
weniger Monate von 6 auf 9-10%.370 Diese Entwicklung war eine direkte Folge der
vermehrten Einstellung junger Kader. Ein weiterer Zuwachs in den Folgejahren ist
anzunehmen. Jedenfalls betrug der Anteil derjenigen Mitarbeiter in den Ministerien und
zentralen Staatsorganen, die der NSDAP oder „faschistischen Organisationen“ angehörten,
Ende der achtziger Jahre ca. 24%.371 Rechnen wir alle erwähnten Belastungsgruppen für die
DDR-Regierungsdienststellen Ende 1949 zusammen, kommen wir auf weniger als 20%. Vier
Jahrzehnte danach lag der Wert also sogar etwas höher. Altersbedingt ist das nur durch eine
erhebliche Neueinstellung ehemaliger HJ-Mitglieder erklärbar, die dann zum Ende der DDR
hin den Löwenanteil der auf diese Weise definierten NS-Belasteten stellten.
369
370
371
Es ist nicht überliefert, welche konkreten Gruppierungen die Quellen zu „sonstigen NS-Organisationen“
rechneten. Die überlieferten Statistiken listen entsprechende Angaben in der Regel ohne weitere
Unterteilung auf. Sie deuten darüber hinaus wechselnde Erhebungsraster an. Der Deutschen
Wirtschaftskommission gehörten mit Stand vom 30.6.1948 zusammen 21 Personen an, die anderen
Gliederungen als der SS und SA sowie angeschlossenen Verbänden angehörten (0,4%). Dazu zählten NSF,
NSKK, NSFK, NSDStB, NSBDT und NS-Rechtswahrerbund. Hinzu kamen noch 14 HJ-Mitglieder. Zum
30.9.1948 gab es 74 „Mitglieder ehem[aliger] NS-Organis[ationen]“ (1,3%). Am 31.12.1948 und 31.1.1949
wurden 25 (0,4%) und 34 (0,6%) Angestellte des Gesamtpersonals unter „SA, SS, NSKK, usw.“
beziehungsweise erneut unter „ehemalige Mitglieder v[on] NS Organisationen“ geführt. Da ab dem
31.3.1949 der Anteil der unter „Sonstige NS-Organisationen“ geführten Mitarbeiter höher lag, nämlich
zwischen 1,5 und 1,7%, und gleichzeitig SA und SS extra aufgelistet wurden und nicht mehr in den
„Sonstigen“ enthalten sein konnten, erscheint es unwahrscheinlich, dass im Dezember 1948 und Januar
1949 tatsächlich sämtliche Angehörige des NSKK „usw.“ in einer Reihe statistisch erfasst wurden. Das traf
auf die Mitglieder der Hitlerjugend sicher erst recht nicht zu, weil ihr Anteil im März 1949 gleich bei 6%
lag, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die
Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48); DC 1 / 1914, DWK-Personalstatistik, Stand: 30.9.1948;
Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (Abb. 7), 145.
Laut Quelle vom 30.6.48 sollen zu diesem Zeitpunkt nur 14 DWK-Mitarbeiter in der HJ gewesen sein.
Diese Zahl ist so niedrig, daß ich die entsprechende Statistik für unvollständig halte. Die Statistikquelle für
den 10.11.1949 weist nur 47 HJ-Mitglieder von 5593 DWK-Angestellten aus (0,8%), was mit den zehnmal
so hohen vorherigen und nachfolgenden Werten absolut nicht zusammenpaßt. Ich habe diesen Wert in der
Graphik daher nicht berücksichtigt. Vielleicht zählte das MdI kurzfristig nur bestimmte HJFunktionsträger. Für diese Annahme gibt es aber keinen Beweis, siehe: DO 1 / 26.0, 17601, Statistik über
Mitarbeiter der DWK und ihrer Hauptverwaltungen, die Mitglieder der NSDAP waren (Stand: 30.6.48);
Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (Abb. 7), 145.
Erfasst waren Personen, die 1930 und früher geboren wurden. Dadurch sind offenkundig auch Mitarbeiter
gezählt worden, die allein aufgrund ihres Alters noch gar nicht in der NSDAP, sondern bestenfalls in der
Hitlerjugend gewesen sein können. Dieser Umstand verstärkt die gewisse Verzerrung, die bereits durch die
unterschiedslose Erfassung von Mitgliedern der NSDAP und anderer NS-Organisationen in einer
gemeinsamen Rubrik entstanden war, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 203, 205.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
84
Um den kaderpolitischen Stellenwert der DWK und DDR-Regierung als Institution zu
beschreiben, ist ein Vergleich mit den Verwaltungsapparaten der fünf Länder zweckdienlich.
Darunter sind die Landesregierungen und die jeweiligen Kommunalverwaltungen zu
verstehen. Für die Jahre 1950-1952 ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen den
einzelnen Organen. Am meisten ehemalige NSDAP-Mitglieder beschäftigte Thüringen (1112%), gefolgt von Sachsen-Anhalt (10-11%). In den übrigen drei Ländern stellten die
früheren Pgs. etwa 7-8% aller Verwaltungsangestellten.372 Bereits in der SBZ hatten die
Landesregierungen Thüringens und Sachsen-Anhalts deutlich höhere Pg.-Werte aufgewiesen
als die Deutsche Wirtschaftskommission.373 Nicht zu den Ländern gehörig war Ost-Berlin.
Dort hatten Anfang der fünfziger Jahre im Magistrat und in den Bezirken mit 3-5% deutlich
weniger Pgs. eine Anstellung gefunden als in den Länderapparaten.374 Sicherlich hing das
nicht zuletzt mit einem unterdurchschnittlichen Organisationsgrad der Berliner Einwohner zur
Zeit des Nationalsozialismus zusammen. Er mag bis zu einem gewissen Grad auch für die
Personalzusammensetzung der zentralen DDR-Regierungsdienststellen verantwortlich
gewesen sein.375 Denn der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder lag in der DDR-Regierung bis
zum Jahr 1952 mit 4-5% deutlich unter dem Niveau der Verwaltungen in den Ländern. Der
entscheidende Punkt scheint mir dafür aber folgendes Prinzip gewesen zu sein: Je wichtiger
ein Organ oder ein Arbeitsgebiet sicherheits- und machtpolitisch war, umso strenger wurde
die Kaderpolitik gehandhabt. Im Ergebnis fanden dadurch umso weniger NS-Belastete
Einlass in den Zentralapparat.376
Für die Zeit nach Auflösung der Länder 1952 wird mit Blick auf die Bezirke und
örtlichen Räte deutlich, dass der Pg.-Anteil der betreffenden Verwaltungen bis 1957/1958
teilweise auf dem gleichen Niveau wie der der zentralen DDR-Regierungsdienststellen lag,
meistens jedoch darüber.377 Der oben beschriebene Grundsatz, wonach tendenziell umso
weniger NS-Belastete beruflich integriert wurden, je wichtiger das Organ und das Arbeitsfeld
waren, bestätigt sich also im Großen und Ganzen. Auch hier spielte als Antagonist natürlich
die Verfügbarkeit entsprechender Alternativkader eine entscheidende Rolle, so dass es zu
Abweichungen von diesem Grundsatz kommen konnte.
Im Vergleich zur DWK und DDR-Regierung ergeben sich für die nachgeordneten
Dienststellen des zentralen Staatsapparates ebenfalls höhere Anteile nationalsozialistisch
belasteter Kader. Das Gleiche gilt für die volkseigene Wirtschaft, die unter der Aufsicht der
Ost-Berliner Ministerien stand.378 In diesen politisch weniger wichtigen Bereichen war nach
Meinung der Personalverantwortlichen der Bedarf an Fachleuten groß, die Gefahr der
Beschäftigung früherer Faschisten jedoch gering. Im Fall einer Sabotage oder
372
373
374
375
376
377
378
Erläuterungen zu den MdI-Statistikquellen, die das Verwaltungspersonal in den Ländern erfassen und mit
der Zentralregierung vergleichen, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 f. (Abb. 8), 146 ff.
Zahlen und Kommentare zu den Apparaten in Sachsen-Anhalt und Thüringen 1948/49 siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 146 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 211 f.; Boyer, Kader, S. 27; Vollnhals,
Entnazifizierung, S. 230 f.; vgl. Meinicke, Berücksichtigung, Tabelle 3; DO 1 / 7/41, Bl. 57; vgl. DO 1 /
8/420, 429 und 430, dort unter anderem zu NS-belasteten Eltern von Studierenden und ehemaligen
Nationalsozialisten im Thüringer Ministerium für Bildung.
Details zu NSDAP-Mitgliedern beim Magistrat von Groß Berlin, den Räten der östlichen Bezirke bzw.
Bezirksverwaltungen siehe: DO 1 / 26.0, 17367, 376/51/1/1, Personalstatistik, Stand: 1.4.1951; DO 1 /
26.0, 17446, 10-11/58/1/1, Kaderstatistik, Stand: 15.10.1958; Kuhlemann, Kader (2005), S. 147.
Auch hinsichtlich der Mitglieder der SED wies Berlin im Vergleich zu den Ländern bzw. Bezirken deutlich
geringere Werte ehemaliger Angehöriger der NSDAP und ihrer Gliederungen auf, siehe: Kowalczuk,
Stalin, S. 238.
Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche:
Positionshöhen“.
Ende der 1980er Jahre waren bei den Räten der Bezirke ca. 26% der Angestellten einst in der NSDAP oder
in „faschistischen Organisationen“. Erfasst wurden nur Personen, die 1930 und früher geboren wurden,
siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 203, 205; Kuhlemann, Kader (2005), S. 137 ff. (Abb. 10), 148.
Einzelheiten zu nachgeordneten Dienststellen, der volkseigenen Wirtschaft etc. siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 148; Hornbostel, Vertreter, S. 203, 205; Nehrig, Leitungspersonal, S. 316.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
85
Agententätigkeit wäre der Schaden begrenzt gewesen. In den politisch bedeutenderen, weil
lenkenden und kontrollierenden Organen und Positionen galten dagegen strengere
kaderpolitische Maßstäbe.379 Weitere Quellen bekräftigen das Muster der unterschiedlich
sensiblen Berufssektoren und Ebenen. Im gesamten öffentlichen Dienst der SBZ waren im
Mai 1949 fast sieben Prozent aller Angestellten ehemalige NSDAP-Mitglieder. Das waren
deutlich mehr als gleichzeitig in der Wirtschaftskommission.380 Analoges galt für die
nachgeordneten Dienststellen der Länder, die wiederum mehr Pgs. beschäftigten, als die
Apparate der Landesregierungen.381 Zum öffentlichen Dienst gehörten natürlich auch die
Mitarbeiter der Bahn und der Post. Die Domänen des ehemaligen Beamtentums wiesen
erwartungsgemäß besonders hohe NSDAP-Quoten auf, die regional auf 20-30% stiegen.382
Die Persistenz NS-Belasteter ergab sich aus der eher unpolitischen Natur der beiden
genannten Bereiche und dem dort herrschenden großen Fachkräftemangel bei gleichzeitig
dringender Notwendigkeit, die Kommunikations- und Verkehrsströme wieder fließen zu
lassen. Die bewaffnete und gesellschaftlich sicherheitsrelevante Polizei hingegen war weit
weniger mit ehemaligen Nationalsozialisten durchsetzt.383 Dabei war sie in der NS-Ära
ebenfalls eine Hochburg der Beamten, die wiederum zum großen Teil der NSDAP
angehörten. Es gab in der Polizei jedoch keinen größeren Bedarf an Fachleuten, den nicht
auch neue Kräfte umgehend decken konnten. In den Universitäten sah es ganz anders aus.
Hochgebildete Akademiker waren begehrt und schwer zu ersetzen, schon gar nicht kurzfristig.
Im Jahr 1954 zählte die Professorenschaft in der DDR daher über 28% ehemalige NSDAPMitglieder. Diese Größe blieb bis in die sechziger Jahre hinein stabil.384
Angesichts all dieser Zahlen stellt sich erneut die Frage, wer über sie eigentlich im
Bilde war. Verschiedene Personen und Institutionen wussten unterschiedlich viel über das
Ausmaß der Beschäftigung NS-belasteter Kader.385 Zu bedenken ist, dass die internen MdI379
380
381
382
383
384
385
Vgl. auch die Parteien und Massenorganisationen der DDR: 1986 befanden sich in dem vom XI. Parteitag
der SED gewählten Zentralkomitee unter 165 Mitgliedern mindestens 13 ehemalige NSDAP-Mitglieder, in:
Fricke, Nazigrößen, S. 141; bei den Dresdener FDGB-Funktionären waren 1945-1951 von 224 Personen
zehn (4,5%) in der NSDAP, einer in einer Gliederung und einer in einem angeschlossenen Verband, siehe:
Simsch, Grenzen.
Details zu ehemaligen Mitgliedern der NSDAP und ihrer Gliederungen im öffentlichen Dienst der SBZ im
Mai 1949 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 148 f.; vgl. Sachsen, wo im Januar 1948 von den in der
gesamten öffentlichen Verwaltung tätigen Personen 6,2% frühere NSDAP-Mitglieder waren, in: DO 1 /
7/232, Personalstatistik der im öffentlichen Dienst Beschäftigten der S.B.Z. außer DVdI und Berlin, Stand:
15.5.1949; DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 21, [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung,
undatiert.
Siehe die nachgeordneten Dienststellen der Länder in Sachsen-Anhalt und Thüringen, in: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 149; Vollnhals, Entnazifizierung, S. 230 f.; Wille, Entnazifizierung, S. 211 f.; vgl.
Meinicke, Berücksichtigung, Tabelle 3.
Einzelheiten zur Reichsbahn und Post in Thüringen bzw. der SBZ siehe: Kuhlemann, Kader (2005), 149.
Vollnhals, Entnazifizierung, S. 230 f.; vgl. Meinicke, Berücksichtigung, Tabelle 3.
Zahlen zu Angehörigen der NSDAP und ihrer Gliederungen in der Polizei siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 149 f.; Wenzke, Wege, S. 237; Gieseke, Frage, S. 134.
Jessen, Professoren, S. 226, 241.
In diesem Zusammenhang erscheint mir ein Schreiben von Wilhelm Pieck an die SMAD vom Dezember
1948 erwähnenswert. Darin steht, er habe Gespräche mit dem Vorsitzenden der ZKK, Fritz Lange, und mit
seinem Sohn Arthur Pieck (Leiter der Inneren Verwaltung in der DWK, zu der die HA Personalfragen und
Schulung gehörte) über die Deutsche Wirtschaftskommission geführt. Ihm sei versichert worden, dass
»unter den Angestellten sich keine ehemaligen Nazimitglieder befinden, es sei denn, dass sie ihre
Mitgliedschaft bei der Anstellung verschwiegen haben«. Von welchem seiner beiden Gesprächspartner
diese Fehlinformation stammte, ist unklar. Es erschließt sich auch nicht der Sinn derselben. Denn Wilhelm
Pieck war SED-Vorsitzender und hätte über kurz oder lang die genaue Zahl der gegenwärtig angestellten
Pgs. mitgeteilt bekommen. Sofern der spätere DDR-Präsident zwar richtig informiert, aber gegenüber der
SMAD nicht ganz ehrlich gewesen sein sollte, hätte auch die sowjetische Seite in kurzer Zeit die Wahrheit
erfahren. Oder der Anteil von unter zwei Prozent früheren NSDAP-Mitgliedern in der DWK Ende 1948
beziehungsweise der der übrigen ehemals organisierten Nationalsozialisten wurde als praktisch gegen Null
tendierend eingeschätzt. Doch obwohl es keine ehemaligen NSDAP-Angehörigen in der
Jens Kuhlemann – Braune Kader
86
Statistiken keine Angaben zu Fragebogenfälschungen und Biografiemanipulationen enthalten.
Die Dunkelziffer der tatsächlich beschäftigten ehemaligen Nationalsozialisten lag deshalb
höher, als es sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, zumal wenn wir noch solche
Vergehen hinzufügten, die nicht in einer Organisationszugehörigkeit bestanden, sondern im
bloßen Handeln zur Zeit des NS-Regimes.
Für die zentrale Staatsverwaltung der SBZ/DDR lässt sich als Ergebnis festhalten, dass
der Erlass des Befehls 35 keine nennenswerten Veränderungen herbeiführte. Das quantitative
Ausmaß beschäftigter NSDAP-Mitglieder blieb mit 1-2% vorerst minimal. Gleiches galt für
Angehörige der SA und SS, während für die geringer belasteten HJ-Mitglieder am frühesten
merkbare Wachstumsraten festzustellen sind. Ebenso wenig ist eine unmittelbare Auswirkung
des Endes der Berliner Entnazifizierung auf die Personalzusammensetzung zu beobachten.
Trotz der offiziellen neuen Rekrutierungsmöglichkeiten machte die DWK praktisch kaum
Gebrauch davon. Ihr interner Reinhaltungsmaßstab führte also ein Eigenleben, das nur den
Kaderansprüchen der SED folgte. Die gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten toleranter
werdende Rechtslage, wie sie das Gleichstellungsgesetz von 1949 zum Ausdruck brachte,
folgte dabei im Wesentlichen der gängigen Praxis. Im Ergebnis fiel die Steigerung des Pg.Anteils in den DDR-Regierungsdienststellen bis 1957 auf summa summarum 5-6% immer
noch recht moderat aus. Nebenbei stellte sich wegen der bis 1949 sehr geringen Reintegration
NS-Belasteter praktisch für keinen der Beteiligten die Frage, ob die bis dato Beschäftigten
aufgrund der jeweils neuen Rechtslage noch entlassen werden konnten. Die ab 1948 in der
DWK tätigen Pgs. hatten ohnehin fast alle erfolgreich ein Entnazifizierungsverfahren
durchlaufen. Davon abgesehen fand die SED mit oder ohne Gesetz stets Mittel und Wege,
erwünschte Pgs. einzustellen und zu halten oder ungewollte zu entfernen.
Die Entnazifizierung war von nachhaltiger Wirkung, auch wenn für die fünfziger Jahre
bestimmte Rückkehrerscheinungen von Pgs. zu beobachten sind. Diese lagen jedoch immer
noch sehr deutlich unter dem Ausgangsniveau der staatlichen Verwaltung zur NS-Zeit.
Außerdem fielen sie auf der Zentralebene geringer aus als in macht- und sicherheitspolitisch
weniger wichtigen Verwaltungen der SBZ/DDR. Der Ost-Berliner Staatsapparat sollte mehr
als andere Organe mit Kadern besetzt sein, die keinen Anlass gaben, an ihrer politischen
Zuverlässigkeit zu zweifeln. Politisch minder bedeutsame Institutionen setzten die Prioritäten
hingegen klarer auf eine fachliche Effizienzsteigerung. Sie zeigten eine nur leicht oder fast
gar nicht eingeschränkte personelle Kontinuität früherer Nationalsozialisten. Die Frage, ob es
in der DDR einen Elitenaustausch gab oder nicht, ist angesichts dieser Ergebnisse sektor-,
organ- und postenspezifisch zu beantworten.386
386
Wirtschaftskommission gegeben haben soll, mahnte Wilhelm Pieck eine gründlichere Kontrolle der Kader
an, offenkundig mit Blick auf die Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes. Er schlug vor, Rechercheure
von der DVdI oder der operativen Abteilung der SMA einzusetzen, die die Beschäftigten mit
entsprechenden polizeilichen Befugnissen auch im Privatbereich beobachten sollten, siehe: NY 4130 / 83,
Bl. 22 f., W[ilhelm] P[ieck], an SMAD, Semenow, vom 11.12.1948.
Zur Frage einer Elitenwanderung von einem Sektor zum anderen, etwa von der Verwaltung zur Wirtschaft
oder von einer höheren Verwaltungsebene zu einer niedrigeren oder von einer einflussreicheren Funktion in
eine kompetenzärmere bzw. zur Abwanderung in den Westen, siehe Kapitel „Westkontakte“, „Soziale
Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes“ und „Berufliche
Karriereverläufe“, „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“ und „Vertikale Arbeitsbereiche:
Positionshöhen“; vgl. Welzel, Rekrutierung, S. 218.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
2
87
Das soziale und politische Profil der
ehemaligen NSDAP-, SA- und SSMitglieder im zentralen Staatsapparat
der SBZ/DDR
Die folgenden Kapitel behandeln soziale und politische Merkmale der ehemaligen
Nationalsozialisten in der DWK und DDR-Regierung. Die Mustererkennung geht dabei in
den Versuch einer Typisierung über. Dabei ist vorab auf die besondere Schwierigkeit
hinzuweisen, aus Aspekten wie der Sozialisierung oder Organisationszugehörigkeit
authentische geistige Dispositionen abzuleiten, noch dazu verallgemeinerbare. Dabei hat die
kommunistische Machtelite, aber auch der westdeutsche Systemkonkurrent immer wieder
genau das getan. Der Nachhall dieser Debatte ist bis heute zu spüren. Die SED sah die
Präsenz früherer NSDAP-Mitglieder unter den Funktionseliten in der Bundesrepublik stets als
angeblichen Beleg für die Kontinuität des Faschismus und das Fortwirken bewusst
angewandten faschistischen Gedankengutes. Die Gegner der Einheitspartei schlugen zurück,
indem sie die Betrauung ehemaliger Pgs. mit wichtigen Aufgaben in der DDR als
Zusammenarbeit von Antidemokraten wertete, deren gemeinsamer Nenner eine ausgeprägte
Affinität zum Totalitarismus gewesen sei. Die ehemaligen Nationalsozialisten im jeweils
eigenen Lager hätten hingegen einen glaubhaften Wandel durchlaufen und sich zu „guten“
Demokraten bzw. Sozialisten entwickelt.387 Diese Deutungen sind wissenschaftlich nicht
belegt und vor allem von der Zielsetzung beider Seiten geprägt, den politischen Gegner zu
diskreditieren und sich selbst zu rechtfertigen.388 Allgemein sind Mentalitäten und
Wertorientierungen der Funktionseliten in der DDR noch weitgehend unerforscht und
unbekannt.389 Die Frage nach mentalen Profilen und Habitus, nach Korpsgeist,
Gruppendenken und –bewusstsein ist auch deshalb so schwer zu beantworten, weil der
angepasste Jargon und die ritualisierte Darstellungsweise mit dem NS-Regime oder später
dem SED-Regime als Adressaten entsprechende Indizien meistens überformten.390 Oft lässt
sich also nur ahnen oder eine Wahrscheinlichkeit ablesen, ob sich jemand wirklich veränderte
oder nur so tat. Man kann eben in keinen Kopf hineinschauen.391
Wir dürfen aber grundsätzlich davon ausgehen, dass langfristige Wertorientierungen die
Transformationsphase von der NS-Diktatur zur DDR überdauerten oder unter den neuen
Rahmenbedingungen bestimmte Modifikationen annahmen.392 Es spricht auch einiges dafür,
dass bestimmte Charakteristika in der Gruppe der ehemaligen Pgs. häufiger als bei anderen
vorkamen. Es ist jedoch kaum zu bewerkstelligen, die Spezifik faschistoiden Gedankenguts
387
388
389
390
391
392
Meinicke, Berücksichtigung, S. 32; Joseph, Nazis; Kappelt, Braunbuch; Kappelt, Entnazifizierung.
Jens Gieseke bezeichnete in diesem Zusammenhang das Schlagwort von „Nazigrößen“ im Ministerium für
Staatssicherheit als „Phantomthema“. Im Personal fand er bei insgesamt sehr geringen Ausmaßen vor allem
Hitlerjungen, die früh in die NSDAP überführt wurden, und Fragebogenfälscher, die man fast immer
entfernte. Gieseke konnte keine kaderpolitische Strategie nachweisen, geschweige denn entsprechende
Personalzusammensetzungen, die auf eine personelle Kontinuität zwischen „Nazi-Terrororganisationen“
und hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern deuten, siehe: Gieseke, Frage, S. 147.
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 40.
Zimmermann, Überlegungen, S. 335 f.; Boyer, Kaderpolitik, S. 28; vgl. Häder, Sozialporträt, S. 398, 400;
Wenzke, General, S. 190.
Die zweite Chance führte oft zu einer Überanpassung, weil die Betreffenden nicht auffallen wollten. Die
NDP zum Beispiel war besonders unterwürfig. So auch der Tenor eines Historikergesprächs im:
Deutschlandfunk, Journal am Vormittag, vom 07.06.2002.
Vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 356.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
88
herauszufiltern und sie von solchen Anteilen zu trennen, die politisch weit weniger
kompromittiert, vielleicht sogar besonders „deutsch“ waren, aber dennoch die
Machtausübung diktatorischer Systeme begünstigten. Hierbei spielen Begriffe wie
Untertanenmentalität, Gehorsam und Obrigkeitsdenken, aber auch Leistungsethik eine
wichtige Rolle.393 Gleichzeitig bewirkte die allgegenwärtige Überpolitisierung des Alltags in
der DDR bei vielen Menschen den Rückzug in entpolitisierte Ruhezonen, um nicht zuletzt
individuellen Interessen wieder mehr Raum zu geben.394 Das verstärkte den weit verbreiteten
Gang in die private Nischengesellschaft aufgrund der Erfahrungen mit „der Politik“ im
Nationalsozialismus, auch wenn sich dies wegen der geforderten äußeren
Loyalitätsbekenntnisse nur innerlich vollzog.
Da man der SED das Feld nolens volens überließ, wuchs faktisch die Akzeptanz der
Autorität der neuen Machtelite, nicht jedoch automatisch auch der Respekt für sie oder gar die
Identifikation mit ihr. Die weitgehende Abwendung von der NS-Ideologie führte von
Ausnahmen abgesehen nicht zu einer freiwilligen Hinwendung der Mehrheit zum
Sozialismus. Der Grund für die neuerliche Anpassung in der SBZ/DDR lag weit weniger in
der Zustimmung zu idealistischen Ideen, die der Legitimierung von Freiheitsverlusten zwecks
Erlangung des utopisch anmutenden Endstadiums des Kommunismus dienten. Entscheidend
war vielmehr der eigene spürbare Vorteil im Hier und Jetzt. Nur die Erlangung persönlicher
Vorteile durch Selbstentfaltung in Beruf und Familie, durch Aufstieg in Form einer besseren
wirtschaftliche Stellung und durch höheren Status scheint den Widerspruch von massenhafter
politischer Organisationszugehörigkeit und damit verbundenem Engagement bei
gleichzeitigem Ansehensverfall politischer Aktivität erklären zu können.395 Das galt, egal
welche politischen Vorlieben man insgeheim hatte oder wie indifferent man sich fühlte. So
gesehen bleibt auch offen, wie tiefgreifend die Leidenserfahrungen im Krieg und in der
Entnazifizierung waren und ob sie einen echten Wandel aus Überzeugung beschleunigten
oder lediglich die äußere Anpassungsbereitschaft ohne eigene politische Willensbildung
beeinflussten.396 Die alte NS-Dienstklasse zeigte sich jedenfalls gegenüber den neuen
Machthabern gehorsam und sehr loyal, weil sie auf ihren guten Willen angewiesen war.397
Die vorherige Existenz und das Überleben des NS-Ungeistes in den Köpfen der Kader
ist in der Regel nicht eindeutig belegbar. Auch die Personalverantwortlichen erhoben nur sehr
selten den konkreten Vorwurf, dass sich ehemalige Nationalsozialisten im Staatsapparat als
politisch weiterhin Gleichgesinnte gegenseitig förderten oder in der Absicht
zusammenrotteten, kollektiv Sabotage oder gar Anschläge zu verüben.398 Eher sprachen sie
von potenziellen Gefahren, die es im Vorfeld zu entschärfen galt, etwa durch Entlassungen,
Versetzungen und Auflösung von personellen Konzentrationen. Selbst wenn zum Beispiel
393
394
395
396
397
398
Vgl. Karl Wilhelm Fricke, der in diesem Zusammenhang den ehemaligen Pg und Präsidenten des Obersten
Gerichtes, Kurt Schumann, erwähnt, der durch die Anregung Walter Ulbrichts für ein politisches
Todesurteil verantwortlich zeichnete und dabei „auch hier Gehorsam bewies, wie er ihn vermutlich in der
Nazizeit bewiesen hat“. Ergänzt wurde dies von anderer Seite durch die Erwähnung einer „SSKommandeuse“, die nach Kriegsende als Staatsanwältin in Leipzig „Terror-Urteile“ fällte, in: Fricke,
Nazigrößen, S. 142; Materialien, Bd. III/1, S. 149; vgl. Fippel, Antifaschismus, S. 117.
Broszat, Stalingrad, S. XXV ff.
Wierling, HJ, S. 116 f.; Plato, Entnazifizierung, S. 9-13; vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 354 f.
Lutz Niethammer spricht von den „diktaturgewöhnten und hinnahmebereiten“ Deutschen. Eine
„außerordentliche Umstellungsfähigkeit und Kontinuitätslosigkeit“ war nach Hannah Arendt typisch für
einen totalitären Charakter. Kontinuitätslosigkeit ist hier im Sinne von Verwerfung und Verleugnung der
Vergangenheit zu verstehen. Zitiert nach: Eckert, Entnazifizierung, S. 55, 58; Lübbe, Nationalsozialismus,
S. 583 f.; Niethammer, Erfahrungen, S. 108; Kocka, Sonderweg, S. 39; Lüdtke, DDR, S. 13; vgl.
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 58; Frei, Karrieren, S. 315, 335.
So auch in der Bundesrepublik laut Curt Garner in seinem Vortrag „Zur Sozialgeschichte des öffentlichen
Dienstes in den 1950er Jahren: Sozialstruktur, geschlechtsspezifische Zusammensetzung und die Rolle
ehemaliger NSDAP-Mitglieder“ am 21.01.1997 im Forschungskolloquium an der Universität Göttingen
unter der Leitung von Bernd Weisbrod; vgl. Frei, Karrieren, S. 335.
Vgl. das Verhalten der westdeutschen Justiz bei: Rüping, Staatsanwälte.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
89
Termini der Rassenlehre wie „Halbjude“ oder Alltagsgegenstände Verwendung fanden, auf
denen beiläufig ein NS-Symbol prangte, fiel den Protagonisten die damit verbundene Brisanz
oft gar nicht auf.399 Hätten sie ein Bewusstsein dafür besessen, wären solche Erscheinungen
wegen möglicher Sanktionen überhaupt nicht aufgetaucht. Sowohl die ehemaligen Pgs. als
auch ihre „Volksgenossen“ scheinen so daran gewöhnt gewesen zu sein, dass ihr Gebrauch
keine böse Absicht darstellte. Er war so in Fleisch und Blut übergegangen, dass der politisch
heikle Gehalt gar nicht mehr erkannt wurde. Diese „Normalität“ oder Unbekümmertheit
wurde von der SED-Führung meistens nicht geteilt. Im Gegenteil schöpfte sie sofort
Verdacht, es könnte sich um ideelle Faschisten handeln.
Im Zusammenhang mit Wertvorstellungen ist noch auf einen anderen Punkt einzugehen.
Neben der fachlichen und der politischen Beurteilung weisen manche Charakteristiken, die
die Kaderabteilungen über Angestellte und Bewerber anfertigten, nämlich eine weitere
Kategorie auf: die „Moral“.400 Dahinter verbirgt sich der private Lebenswandel, der Umgang
mit anderen Menschen, das persönliche Erscheinungsbild. Grundsätzlich gab es dabei keine
unantastbare Intimsphäre. Die Grenzen zum Privatbereich waren bei der Kaderbetrachtung
fließend. Da Kritik nicht am politischen Programm festgemacht wurde, sondern an den
Personen, die es umsetzen sollten, war dies durchaus konsequent. Dabei zeigte sich auch bei
der „Moral“ eine Tolerierung von Verstößen, solange sie nicht ausuferten und das übrige
Kaderkonto günstig aussah.401 Die Personalverantwortlichen wünschten sich Mitarbeiter, die
sich in geordneten Verhältnissen bewegten und ein „anständiges“ Leben ohne Skandale nach
den Grundsätzen der „sozialistischen Moral“ führten. Diese unterschied sich in weiten Teilen
kaum von den Vorstellungen des Bürgertums. Bestimmte Maßstäbe, die bei Arbeitsstil und
Teamfähigkeit in der Verwaltung angelegt wurden, sollten dabei auch im Privatleben gelten.
Überheblichkeit und Ignoranz gegenüber den Mitmenschen sollten der Vergangenheit
angehören, Merkmale eines individualistischen oder elitären Lebensstils ebenso. Seriosität
und Zuverlässigkeit waren gefragt. Darüber hinaus hatte das Ehe- und Familienleben
möglichst einwandfrei zu funktionieren. Ein moralisches Fehlverhalten wie Ehebruch konnte
das Ende der beruflichen Karriere nach sich ziehen. Ähnlich schädlich waren bereits sexuelle
Anzüglichkeiten am Arbeitsplatz und alle sexuellen Orientierungen, die vom Typ der
monogamen Heterosexualität abwichen. Schlecht waren zudem übermäßiger Alkoholgenuss,
unkontrollierte Gewalt- und Zornesausbrüche, Konsumexzesse und ausschweifende Feste.
Justiziable Vergehen wie Betrug, Veruntreuung oder Diebstahl zählten ohnehin dazu.402
Entsprechende Aussagen zu einigen dieser Punkte finden sich in negativer403 und positiver404
Hinsicht auch zu den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern im zentralen Staatsapparat. Das betrifft
deren eigenen Lebenswandel als auch ihr Eintreten für diese Werte gegenüber anderen.405
Alles in allem lassen sich hier im Vergleich zu den übrigen Angestellten keine nennenswerten
Unterschiede erkennen, auch nicht in allgemeinen Wesenszügen.406 Menschen, die das
gemeinsame Merkmal „ehemals organisierter Nationalsozialist“ verband, wiesen also beim
Lebensstil anscheinend – bei allen individuellen Besonderheiten – große Gemeinsamkeiten
mit ihren Zeitgenossen auf, obwohl sie sich zuvor zu einer zumindest äußerlich homogenen
399
400
401
402
403
404
405
406
DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 18, Analyse zur SED-Mitgliederüberprüfung, vom 11.04.1951; Boyer, Kader, S.
37.
Welsh, Kaderpolitik, S. 111; Hoefs, Kaderpolitik, S. 170 f.
Hoefs, Kaderpolitik, S. 170 f.
Boyer, Kader, S. 47; Welsh, Kaderpolitik, S. 111; zur „Moral“ ehemaliger SS-Aufseherinnen siehe:
Eschebach, Elemente, S. 203 f., 206 f.
Beispiele (u.a. Hans Forsbach) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 155 f.
Beispiele (Günther Kromrey, Rudolf Lang, Franz Woytt) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 156.
Luitpold Steidle forderte die Entfernung einer Hauptreferentin aus dem Ministerium für Gesundheitswesen
und die Einleitung eines Parteiverfahrens. In einem Bericht heißt es, sie soll »in ihrer Wohnung Orgien
gefeiert haben, wobei die Grundsätze der sozialistischen Moral weit über den Haufen geworfen worden
sind«, siehe: DO 1 / 26.0, 13389, [Verfasser unklar,] betr.: Marie-Luise J[...], vom 08.02.1956.
Beispiele (u.a. Kurt D.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 156.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
90
politischen Gruppe zusammengeschlossen hatten. Während sich viele der genannten
Eigenschaften in der Gesellschaft bis heute als erstrebenswerte Konventionen erhalten haben,
wirken einige Lebens- und Sittenkonzepte durch ihre einengende Strenge rückblickend
geradezu „spießbürgerlich“. Mögen die Kommunisten ein eigenes kulturelles Kapital in Form
von Sprache, Gesten, Kleidung, Symbolen, Geschmack etc. besessen haben:407 Die von ihnen
so viel geschmähte Kleinbürgeridylle sah auch in den eigenen Reihen nicht viel anders aus.
Der Gartenzwerg war lediglich in einen roten Farbtopf gefallen und trug fortan Sichel statt
Harke.
2.1
Soziales, Bildung und Beruf
Die nachfolgenden Kapitel befassen sich mit dem sozialen Hintergrund, dem Bildungserwerb
und der Arbeitswelt der ehemaligen Nationalsozialisten im zentralen Staatsapparat der
SBZ/DDR. Arbeit und Soziales spielten in der Kaderpolitik eine sehr bedeutende Rolle, weil
die Arbeiterklasse den Kommunisten ideologisch als wertvollste Gesellschaftsschicht galt.
Proletarier wurden daher bevorzugt eingestellt. Sie schienen zur Umsetzung der großen
politischen Leitlinien – zumindest ihrem Geiste und sozio-ökonomischen Milieu nach – am
meisten geeignet zu sein. Gleichzeitig sollten sie als Klientel der SED deren Machtposition
stärken. Dem avantgardistischen Selbstverständnis der Partei zufolge ließ sich so die
angestrebte sozialistische Lebensordnung am besten verwirklichen. Ihre Grenzen erfuhr
dieses Ansinnen im Staatsapparat in der oftmals unzureichenden Bildung der Arbeiter. Es
musste auf bürgerliche Spezialisten zurückgegriffen werden, um den fachlichen
Anforderungen einer Zentralregierung zu genügen. Soziales hing also auch eng mit dem
Transfer von Bildung zusammen. Daraus wiederum ergaben sich unterschiedliche
Berufsbilder und Karrieremuster.
Bevor ich auf diese Aspekte im Einzelnen eingehe, sei noch auf einige Merkmale
verwiesen, die unter dieselben Oberbegriffe fallen, aber nicht näher ausgebreitet werden, weil
sie entweder kurz erzählt sind, kaderpolitisch nicht weiter ins Gewicht fielen oder zu wenige
Quellen vorliegen. Da ist zum Beispiel der Familienstand: Fünf Sechstel aller untersuchten
NS-Belasteten waren zur Zeit ihrer Beschäftigung bei der Deutschen Wirtschaftskommission
verheiratet.408 Viele von ihnen hatten Kinder.409 Die Verheiratetenquote ist vergleichsweise
hoch, da sich unter den früheren NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern relativ wenige junge
Menschen befanden, die am ehesten zu den Ledigen gehörten. Der Familienstand stellt eine
nicht unwichtige Information bei der Beurteilung der Motivation dar, sich auf der Suche nach
einem Arbeitsplatz mit den politischen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit zu
arrangieren. Denn wer die Verantwortung für eine Familie trug, musste mehr Geld verdienen
als ein Alleinversorger. Verheiratete waren darüber hinaus lokal gebundener als andere und
konnten schwerer auf Arbeitsangebote andernorts reagieren. Der Druck zur politischen
Anpassung nahm also zu. Daneben entlastete ein Ehepartner den Funktionsinhaber natürlich
407
408
409
Rebenstorf, Karrieren, S. 157 f.; Zimmermann, Überlegungen, S. 335 f.
Der Familienstand der untersuchten Ex-Nationalsozialisten war bei 130 von insgesamt 154 ehemaligen
NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern festzustellen. Davon waren 109 Personen (84%) verheiratet. Neunzehn
(15%) rechneten zu den Ledigen. Verwitwet und geschieden waren je eine Person. In fast allen Fällen ließ
sich der Familienstand zur Zeit der Beschäftigung in der DWK ermitteln, in wenigen anderen für die
unmittelbare Zeit davor. Hinter der hohen Zahl der Verheirateten verbergen sich auch einige, die bereits
eine erste Scheidung hinter sich hatten und dann erneut geheiratet haben, siehe: Kuhlemann, Kader (2005),
S. 157.
Vgl. Ross, Aufstieg, S. 158.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
91
auch durch die Übernahme von häuslichen und Erziehungsaufgaben. Ein Kader hatte so den
Rücken frei, sich gänzlich seinen Aufgaben in der staatlichen Verwaltung zu widmen.410
Anpassungszwänge resultierten darüber hinaus aus den momentanen wirtschaftlichen
Vermögensverhältnissen.411 Diese lassen sich bei den Ex-Nationalsozialisten allerdings nicht
exakt beziffern und in einen makroökonomischen Bezugsrahmen setzen. Zwar sind einige
Angaben zu Einkommensgrößen vor und nach der Entnazifizierung und dem Eintritt in den
Staatsapparat sowie zu sonstigen Besitztümern wie Immobilien überliefert. Doch völlig
unbekannt ist, wie viel davon wann ausgegeben wurde und wofür. Auch persönliche
Kaufkraft- und Wertverluste durch Inflation, Vertreibung, Enteignung und Kriegszerstörung
ließen sich nicht ermitteln. Dabei waren viele NS-Belastete mit Sicherheit erheblich davon
betroffen. Diese Faktoren verstärkten oftmals die finanzielle Notlage, die durch den
Arbeitsplatzentzug und sonstige Berufsbeschränkungen im Zuge der Entnazifizierung
entstand.412 Um diesbezüglich weiteren Geldstrafen und Konfiskationen von Sachwerten zu
entgehen, ist auch die Verheimlichung oder Übertragung von Vermögen überaus denkbar.
Daneben liegen keine Auskünfte über Aktiva vor, die den NS-Belasteten juristisch nie selbst
gehörten, dafür aber zum Beispiel den Eltern und Ehepartnern und daher von ihnen genutzt
werden durften. Aufgrund all dieser ungenauen Größen wurde auf eine systematische Analyse
der ökonomischen Kapitalien im Sinne Bourdieus verzichtet. Das gilt auch für die Gehälter in
der DWK und DDR-Regierung, die im Wesentlichen von den jeweils eingenommenen
Positionen abhingen.413 Sie stehen allerdings indirekt im Blickpunkt, wenn im Folgenden auf
die ausgeübten Funktionen im Staatsapparat eingegangen wird. Außerdem spielten für den
politischen Anpassungsdruck vorhandene Alternativen auf dem Arbeitsmarkt eine Rolle, die
sich teilweise aus den beruflichen Stationen vor und nach der Beschäftigung in der zentralen
Staatsverwaltung ableiten lassen.
Eine unmittelbare Begünstigung durch die Sozialpolitik zugunsten körperbehinderter
Menschen scheint im Falle der untersuchten Nationalsozialisten praktisch entfallen zu sein.
Zwar gab es bestimmte Beschäftigungsquoten, die für den staatlichen Verwaltungsapparat
angestrebt wurden. Eine Reihe von ehemaligen Pgs. war auch offiziell als schwer- oder sogar
schwerstbehindert anerkannt. Dabei waren die Handicaps meist durch direkte
Kriegseinwirkung entstanden. Doch bei Durchsicht der Quellen entsteht der Eindruck, dass
eine hilfsbedürftige physische Beeinträchtigung zu keiner Zeit geeignet war, um einer NSBelastung im Rahmen einer kaderpolitischen Gesamtabwägung etwas entgegenzusetzen.414
Eher unvorteilhaft war für ehemalige NSDAP-Mitglieder ein Status als
Heimatvertriebener oder, wie es im SED-Jargon hieß, „Umsiedler”.415 Die
Kaderverantwortlichen sahen es, bei grundsätzlichen Bemühungen um eine Integration der
Millionen von Flüchtlingen, als ernsthaftes Problem an, die NS-Belasteten unter ihnen
ausfindig zu machen und entsprechend zu behandeln. Der mangelnde Zugriff auf einschlägige
Schriftstücke und Zeugen begünstigte eine besonders weit verbreitete Biografiefälschung in
410
411
412
413
414
415
Vgl. Ross, Aufstieg, S. 157.
Seifert, Politik, S. 458.
Was frühere Nominalgehälter anbelangt, bewegten sich die Summen im NS-Sample innerhalb einer relativ
großen Bandbreite, die weitgehend abhängig von Position und Branche war. Beispiele hierzu und zum
Vermögensverlust (Gerhard F., Johannes A., Rudolf Ha.) sowie weitere Quellenangaben siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 158.
Damit muss an dieser Stelle die Frage, inwiefern ein besonderer Verdienst als Zeichen der Privilegierung
anzusehen ist, durch die sich die Kader vom Rest der Bevölkerung abhoben, offen bleiben, siehe: Welsh,
Kaderpolitik, S. 112; vgl. Gieseke, Genossen, S. 222.
Der Anteil der Schwerbeschädigten bzw. zu über 50% körperbehinderten Angestellten in der zentralen
Staatsverwaltung lag 1949-1956 relativ konstant bei 7-9%, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 159 (dort
weitere Quellenangaben).
Zur Vertriebenenproblematik (in der SBZ/DDR) siehe: Hoffmann, Integration; Fischer, Lexikon, S. 79 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
92
diesem Personenkreis.416 Darüber hinaus richtete sich Misstrauen gegen Heimatvertriebene,
weil ein Teil von ihnen sich nicht mit dem Verlust der alten Heimat abfinden wollte und zum
Beispiel die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkannte. Sie galten daher als (potenziell)
revanchistisch und politisch wankelmütig oder unzuverlässig. Unter diesen Voraussetzungen
verwundert es nicht, dass die Personalabteilungen auf der zentralen Verwaltungsebene sich
zumindest Ende der vierziger Jahre mehr als andere Stellen zurückhielten, Flüchtlinge
einzustellen, deren Biografie kaum bekannt oder nur schwer überprüfbar war. Denn das
„Einschleichen” eines politisch schwer belasteten Heimatvertriebenen in dieses Organ hätte
aus Sicht der SED wesentlich mehr Schaden anrichten können als zum Beispiel in einer
kleinen Gemeindeverwaltung. Der Versuch einer solchen Risikominimierung ist im
Zusammenhang mit den Bemühungen zur effektiveren Kaderkontrolle und Wachsamkeit
gegenüber dem Klassenfeind in den wichtigen Regierungsdienststellen zu sehen. In der
Deutschen Wirtschaftskommission kamen „Umsiedler” 1949 daher mit fünf Prozent im
Gesamtpersonal deutlich weniger vor als im gesamten öffentlichen Dienst der SBZ, wo ihr
Anteil zur gleichen Zeit zwanzig Prozent betrug.417 Eine genaue Quantifizierung, wie viele
der untersuchten NS-Belasteten in der DWK als Heimatvertriebene galten, ist aufgrund der
diesbezüglich recht lückenhaften Quellenlage sehr schwierig. Zwar waren nachweislich über
zwanzig von 154 in den nach dem Zweiten Weltkrieg abgetretenen deutschen Ostgebieten
oder in osteuropäischen Staaten wohnhaft. Einige davon waren auch eindeutig in den
verlorenen Regionen verwurzelt und hatten dort ihren Lebensmittelpunkt. Bei anderen, die
nur einige Jahre in den entsprechenden Gebieten verbrachten, bestehen jedoch Zweifel, ob sie
sich selbst überhaupt als Flüchtlinge empfanden oder auch echte Vermögens- und sonstige
Verluste zu beklagen hatten.418 Bei Letzteren fiel zumindest der Nachweis bestimmter
Unterlagen zur Dokumentierung des Lebenslaufes leichter, was wiederum einen
Bewerbungsvorteil bei der Deutschen Wirtschaftskommission darstellte. Über solche
Personen ließen sich eher Informationen anhand eines noch bestehenden sozialen Umfelds in
Erfahrung bringen als bei „Umsiedlern”, deren Studienfreunde, Arbeitskollegen, Verwandte
und Nachbarn in alle Winde verstreut waren.
Was Wohnorte anbelangt, sticht beim NS-Sample der hohe Anteil von Angestellten
ins Auge, die vor ihrer Einstellung bei der DWK bereits irgendwann einmal, unmittelbar
zuvor oder seit jeher in Berlin gelebt und gearbeitet hatten. Dies traf auf rund 70% der
untersuchten ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder zu. Hinzu kam eine Reihe von
Kadern, die im direkt angrenzenden Brandenburger Umland wohnten.419 Daraus lässt sich
416
417
418
419
Die Oberpostdirektion Dresden schrieb in diesem Zusammenhang 1950 an das Ministerium für Post und
Fernmeldewesen: »Bei der Übernahme der Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetenland in den Jahren
1945 und 1946 waren wir zu größter Vorsicht genötigt, da von allen Bewerbern die Zugehörigkeit zur
NSDAP oder ihren angeschlossenen Organisationen verneint wurde. Nur die Bewerber, die durch
ehem[alige] Mitarbeiter oder andere glaubwürdige Zeugen legetimiert [sic] werden konnten, wurden
eingestellt.« Siehe: DO 1 / 26.0, 17513, Oberpostdirektion L, an Ministerium für Post und
Fernmeldewesen, vom 01.12.1950 (Abschrift); vgl. den Fall eines Pgs., der aussagte, Verbindungen zum
Widerstand des 20. Juli 1944 gehabt zu haben, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 159 f.; siehe auch Kapitel
„NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“.
In der DWK gab es im Juli 1949 nur 260 „Umsiedler” bei 5358 Angestellten insgesamt. In den DDRMinisterien lag die Quote zum 1.5.1951 bei 12,1% (991 von 8219 Beschäftigten). Weitere Details zur
Erfassung von Heimatvertriebenen, auch im öffentlichen Dienst der SBZ sowie in der HVA, siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 160; Wenzke, Wege, S. 258.
Unter den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK gab es mehrere Heimatvertriebene aus den
ehemaligen deutschen Ostgebieten. Einige gehörten den deutschen Minderheiten in solchen Staaten an, die
dieselben nach 1945 ausbürgerten (z.B. Sudetendeutsche). Bei anderen wiederum handelte es sich um
Angestellte, die kürzere oder längere Zeit in kriegsbesetzten Gebieten gearbeitet und gelebt haben, z.B. in
Polen („Wartheland”, „Generalgouvernement“), und dem „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren”.
Diverse Beispiele aus dem NS-Sample siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 160.
Angaben zu Wohnorten vor der Arbeitsaufnahme bei der DWK konnten bei 132 von insgesamt 154
Personen ausfindig gemacht werden. 51 von ihnen waren nachweisbar in zwei oder mehr Orten wohnhaft,
Jens Kuhlemann – Braune Kader
93
zum einen auf eine allgemeine Immobilität innerhalb der SBZ oder auch Gesamtdeutschlands
schließen, die eine Rekrutierung aus Bewerbern vor Ort stark begünstigt hat. Zum anderen ist
dies ein Zeichen für die beruflichen Qualitäten insbesondere der hinzuziehenden ExNationalsozialisten. Denn sie wurden als überdurchschnittlich gute Fachleute in wichtige
zentrale Verwaltungsdienststellen oder Wirtschaftsunternehmen berufen, die ihren Sitz an der
Spree hatten. Die räumliche Präsenz erleichterte den NS-Belasteten dann natürlich eine
persönliche Kontaktpflege im Rahmen ihrer Bewerbung und Beschäftigung bei der Deutschen
Wirtschaftskommission. Darüber hinaus lassen die vielen „Ur-Berliner” gewisse Annahmen
über die Mentalität der Betreffenden zu, auf die noch näher eingegangen wird. Etliche der
Pgs. lebten in der Hauptstadt schon seit vielen Jahren in ihren Wohnungen und Häusern. Sie
hatten in den jeweiligen Vierteln ihr gewohntes Lebensumfeld. Die SED verlangte von vielen
im Zuge der noch zu beschreibenden „W-Aktion” nichts Geringeres als die Aufgabe all
dessen. Soziale und politische Prozesse standen also miteinander in intensiver
Wechselwirkung.
2.1.1
Frauen
Während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit nahmen viele Frauen die
Arbeitsplätze von Männern ein, die ihren Dienst bei der Wehrmacht versahen. Daraus ergab
sich jedoch kein anhaltender Emanzipationseffekt. Denn nach der schrittweisen Rückkehr der
Männer aus der Kriegsgefangenschaft und der Kompensierung der Bevölkerungsverluste
durch zuströmende Ostflüchtlinge in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre nahmen die
zeitweilig berufstätigen Frauen oftmals wieder ihre traditionelle Rolle als Mutter und Haufrau
ein.420 Die kommunistischen Machthaber strebten im Gegensatz dazu eine steigende
Erwerbstätigkeit von Frauen an. Sie taten das zum einen aus ideologischen, eine
Geschlechterbenachteiligung ablehnenden Gründen. Zum anderen befanden sich unter den
Frauen weit weniger NSDAP-Angehörige und Inhaberinnen verantwortlicher Posten in
Hitlerdeutschland als bei den Männern. Frauen stellten daher eine derjenigen
Bevölkerungsgruppen dar, die die SED als vielversprechendes Rekrutierungsreservoir für ihre
Kaderpolitik betrachteten. Früh setzte eine personalpolitische Förderung ein. Die SMAD
sicherte gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu. Der weiblichen Bevölkerung boten sich in den
fünfziger und sechziger Jahren ganz allmählich in wachsendem Maße auch
Beschäftigungsoptionen
außerhalb
traditioneller
Frauenberufe
und
neue
Qualifizierungsmöglichkeiten. Letztere wurden in großem Umfang wahrgenommen, die
soziale Mobilität wuchs. Durch eine stärkere Einbindung der femininen „Gesellschaftshälfte“
zielte die SED letztlich auf eine bessere Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruches. Diese
Hoffnung war nicht unbegründet angesichts einer größeren Verbundenheit mittels neuer
Aufstiegserfahrung und zunehmender ökonomischer Unabhängigkeit. Daneben existierte für
die Kaderverantwortlichen ein Zwang zur offeneren Frauenpolitik aufgrund der permanenten
420
und zwar für mehrere Monate, Jahre oder ein Leben lang. Daher sind Mehrfachnennungen möglich. Ein
Berliner Wohnsitz ist bei 93 ehemaligen Nationalsozialisten überliefert, einer in der SBZ bei 43. Für die
nach dem Zweiten Weltkrieg abgetretenen deutschen Ostgebiete und osteuropäische Staaten ist ein längerer
Aufenthalt in 22 Fällen zu ermitteln gewesen, für Westdeutschland und das westliche Ausland in 27, siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 161.
Merkel, Leitbilder, S. 362 f.; Ross, Aufstieg, S. 149; zur Frauengeschichte im besetzten Berlin siehe:
Boveri, Tage.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
94
Knappheit an berufsqualifizierten Kräften. Sie gewann durch den Westabgang vor allem
ausgebildeter, lediger junger Männer weiterhin an Schärfe.421
Trotz dieser Vorgaben blieb die berufliche Realität der DDR hinter den Erwartungen
zurück. Auch die Geschichte ehemaliger Nationalsozialisten in der DWK und den DDRMinisterien macht hier keine Ausnahme und ist männlich dominiert. Der Frauenanteil an der
Gruppe der untersuchten NS-Belasteten in der Deutschen Wirtschaftskommission lag bei nur
sieben Prozent. Selbst unter Berücksichtigung, dass im NS-Sample Angehörige der
frauenfreien SA vertreten sind, bewegte sich der weibliche Anteil an den NSDAP-Mitgliedern
in der DWK lediglich zwischen 6 und 14%.422 Dieses Niveau war etwa drei- bis sechsmal so
niedrig wie das der weiblichen Mitarbeiterinnen im Gesamtpersonal. Bezogen auf alle DWKAngestellten stieg die Frauenquote innerhalb eines guten Jahres nämlich von 32 auf 37%.423
Diese Größe entsprach zu jener Zeit ungefähr der Geschlechteraufteilung im öffentlichen
Dienst der SBZ.424
Der allgemeine Trend zur vermehrten Beschäftigung von Frauen setzte sich
anschließend in den zentralen DDR-Regierungsdienststellen fort. Von Ende 1949 an kletterte
der Anteil der dort beschäftigten Frauen innerhalb von gut zwei Jahren auf 48%. Er sank dann
bis 1954 wieder auf etwa 43% und blieb in der Folgezeit auf diesem Niveau.425 Das durch die
Westabwanderung sehr zugunsten der Frauen verschobene Geschlechterverhältnis in der
DDR schlug sich in diesen Zahlen also nur bedingt nieder. Eine Erklärung hierfür mag die
Bedeutung der Regierungsdienststellen gewesen sein, in die höher qualifizierte – männliche –
Kader eher eingestellt wurden als in unwichtigeren Institutionen. Die Entwicklung des
Frauenanteils an den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern im DDR-Ministerialapparat korrelierte
mit der Auf- und Abwärtsbewegung im Gesamtpersonal. Einer Verdoppelung von zehn auf
zwanzig Prozent folgte bis zum Jahr 1954 ein Rückgang im fast gleichen Verhältnis.426 Die
weiblichen NS-Belasteten wiesen also kaderpolitisch offenkundig nicht mehr oder weniger
Gründe auf, im zentralen Staatsapparat belassen zu werden, als alle anderen angestellten
Frauen auch. Dabei blieb die wesentlich geringere Frauenquote unter ehemaligen
Nationalsozialisten im Vergleich zum Frauenanteil am Gesamtpersonal in den fünfziger
Jahren bestehen.427
Andere statistische Erhebungen veranschaulichen in diesem Zusammenhang, dass unter
denjenigen Mitarbeitern im Regierungsapparat, die vor 1933 bzw. 1945 einer anderen Partei
angehört hatten als der NSDAP, im Wesentlichen ähnliche Frauenquoten bestanden wie in der
Gruppe der ehemaligen Pgs. Von allen Angestellten, die also vor Hitlers Machtergreifung die
Mitgliedschaft der KPD, SPD und der kleineren Arbeiterparteien besaßen, waren je nach
Partei und Zeitpunkt der Erfassung zwischen vierzehn und 24 Prozent Frauen. Eine
Ausnahme bildete lediglich die Gruppe der einst in bürgerlichen Parteien (DVP, DNVP, BVP,
Deutsche Staatspartei, Zentrum etc.) organisierten Mitarbeiter, deren Frauenanteil zumeist
unter dieser Spannbreite lag.428 Aus dieser relativen Gleichheit lässt sich der Schluss ziehen,
421
422
423
424
425
426
427
428
Gerhard, Lösung, S. 383-403; Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 150 f.; Ross, Aufstieg, S. 149; Roß,
Eliten, S. 188 f.; zur Entwicklung weiblicher Traditionslinien der industriellen Berufstätigkeit siehe:
Hofmann / Rink, Mütter.
Von 154 untersuchten NS-Belasteten in der DWK waren 10 Frauen und 144 Männer. 22 Männer im NSSample gehörten der SA an, der Frauen wegen ihres Charakters als Schutz- und Kampftruppe nicht
beitraten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 12 und 18). Zu den Auswirkungen der
Übersiedlung in den Westen: Niethammer, Erfahrungen, S. 100.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 f. (Abb. 11).
Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 163.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 13).
Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 14).
Quellenangaben zu weiteren Statistiken über Frauen in Verwaltungsapparaten, teilweise denen der Länder,
der örtlichen Organe und nachgeordneten Dienststellen, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 163.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 17), 164 (dort weitere Erläuterungen zu Frauen und
Parteibindung vor 1945 bzw. vor 1933).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
95
dass es andere Gründe als die NSDAP-Zugehörigkeit gewesen sein müssen, die im Vergleich
zum Gesamtpersonal zu der besonders niedrigen Frauenquote innerhalb der Gruppe der
ehemaligen Nationalsozialisten führten. Den weiblichen NS-Belasteten wurde ihr politischer
Makel also keineswegs stärker angekreidet als den männlichen.
Unterm Strich scheint die Frauenerwerbsquote in den DDR-Ministerien zwar trotz
späteren Rückgangs recht hoch gewesen zu sein. Ein Blick auf die eingenommenen
Positionshöhen relativiert diesen Eindruck jedoch erheblich:429 Die weiblichen Beschäftigten
übten vor allem Tätigkeiten mit geringerem Status, Einkommen, Ansehen und Einfluss aus.
Sie arbeiteten zumeist als Sekretärinnen, Stenotypistinnen oder auf der Sachbearbeiterebene.
Ihr Anteil an der Besetzung dieser unter „übrige Funktionen“ zusammengefassten Stellen
stieg 1950-1956 von 60 auf 88%. Im technischen Personal, also beispielsweise bei den
Reinigungskräften, stieg die Frauenquote bis Mitte der fünfziger Jahre von 34 auf 49%. In den
mittleren und leitenden Hierarchien konnten sich die Männer hingegen klar behaupteten. Der
Frauenanteil lag auf der Referentenebene 1950 bei nur zwölf Prozent und erhöhte sich im
Weiteren auch lediglich auf 21%. Noch deutlicher war die maskuline Übermacht in den
leitenden Positionen. Dort ging die Präsenz berufstätiger Frauen in den fünfziger Jahren sogar
von acht auf fünf Prozent zurück. Eine insgesamt hohe Erwerbstätigenrate von Frauen ist
also, wie die Positionsauffächerung zeigt, noch kein Beleg für eine tatsächliche
Gleichberechtigung.430 Diese Aussage gilt erst recht für die ehemaligen NSDAP-Mitglieder.
Einerseits war die Reihenfolge, wie sie vorstehend für das Gesamtpersonal, beginnend bei den
„übrigen Funktionen“ und endend bei den leitenden Posten, beschrieben wird, bei ihnen zwar
die gleiche. Unter allen Pgs., die auf der jeweiligen Ebene arbeiteten, waren jedoch bei
weitem noch weniger Frauen vertreten. Das galt für alle Positionshöhen gleichermaßen.431
Die gemachten Ausführungen verdeutlichen, dass die gesetzlichen und sonstigen
kaderpolitischen Bemühungen zur Förderung der Frauen im Berufsleben in der staatlichen
Verwaltung der frühen DDR nur sehr begrenzte Erfolge verbuchen konnte. Im zentralen
Staatsapparat sollte sich wie generell überall im Land auch bis zum Ende der DDR nichts an
dem Grundsatz ändern, dass eine Institution oder Position umso wichtiger war, je niedriger
der Frauenanteil lag.432 Was war die Ursache für die beschriebenen Befunde? Der Grund lag
allgemein in einem weiterwirkenden patriarchalischen Gesellschaftsverständnis und einer
daraus resultierenden geschlechtsspezifischen Chancenungleichheit.433 In diesem
Zusammenhang waren Frauen vor 1945 traditionell beim Erwerb höherer Bildung
benachteiligt. Wenn sie dennoch einen Hochschulabschluss erwarben, besaßen ihre Väter im
Vergleich zu den männlichen Kommilitonen einen überdurchschnittlich hohen akademischen
Grad. Die soziale Herkunft der höher gebildeten Frauen hatte dann also einen wesentlichen
Einfluss ausgeübt.434 Doch selbst wenn Frauen eine beruflich gute Qualifizierung nachweisen
konnten, gelang es ihnen oft nur mit Mühe oder überhaupt nicht, in die Stellungen mit den
meisten Einflussmöglichkeiten vorzudringen. Was die Positionshöhen anbelangt, bekamen die
SED-Funktionäre also auch ein wenig Angst vor der eigenen Courage.
429
430
431
432
433
434
Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 15), 164.
Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 148, 157-160; vgl. Ross, Aufstieg, S. 148.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 163 ff. (Abb. 16).
Diese Feststellung traf auch auf andere Ostblockländer zu. In den Ministerien und zentralen Staatsorganen
der DDR waren Frauen 1989 im Vergleich zu anderen Sektoren wie den Räten der Bezirke und den
Betrieben weit weniger präsent. Und wenn sie es waren, dann in höchsten Führungspositionen wie denen
der Minister und Staatssekretäre deutlich weniger als in darunter rangierenden Funktionen, siehe:
Hornbostel, Vertreter, S. 191-193; Ross, Aufstieg, S. 149; Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 152-154;
Welsh, Eliten, S. 149; Boyer, Kader, S. 33; vgl. für Polen: Rautenberg, Eliten, S. 195.
Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 95 ff.
Mertens / Voigt, Herkunft, S. 170; Niethammer, Erfahrungen, S. 102 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
96
Wie verhielt es sich nun mit den zehn weiblichen NSDAP-Mitgliedern in der Deutschen
Wirtschaftskommission, die im NS-Sample zu finden sind?435 Acht von ihnen wurden 19201927 geboren und fielen daher nach Kriegsende unter die Jugendamnestie. Teilweise gehörten
die ehemaligen Nationalsozialistinnen zunächst dem BDM an und wurden dann in die
NSDAP überführt. Eine über die bloße Mitgliedschaft in der Hitlerjugend und NSDAP
hinausgehende Belastung ist mit Ausnahme der Fragebogenfälscherin Herta Ludwig, deren
Biografiemanipulation ich noch näher behandele, praktisch nicht nachweisbar.436 Die
weiblichen NSDAP-Angehörigen waren zur Zeit ihrer Beschäftigung in der DWK
überwiegend ledig. Eine Konfliktsituation, in der eine Wahl zwischen Beruf und Familie zu
treffen oder eine Doppelbelastung hinzunehmen war, stellte sich für die Dauer der
Beschäftigung meistens also gar nicht. Sie war für den Fall des Ausscheidens aus der
Dienststelle ebenfalls nicht nachzuweisen.437 Diese Umstände deuten andererseits auf einen
erhöhten Zwang der Unverheirateten zur Berufstätigkeit zwecks Bestreitung des
Lebensunterhalts hin. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass es sich um besonders berufsund weniger um familienorientierte Frauen handelte, die aufgrund ihres Personenstandes auch
sozial unabhängiger waren. Sie arbeiteten als Krankenschwester, Stenotypistin, Sekretärin,
Buchhalterin und auf der Sachbearbeiterebene.
Die beiden älteren NSDAP-Mitglieder wiesen als Referentin und im Fall von Herta
Ludwig als Hauptreferentin bzw. persönliche Referentin des stellvertretenden DWKVorsitzenden Handke bezeichnenderweise auch gleich höherrangige Tätigkeitsmerkmale auf.
Bei Letzterer stimmen die soziale Herkunft und der Bildungsgrad mit den oben beschriebenen
Forschungsergebnissen überein: Ludwig besaß als Diplom-Volkswirtin als einzige einen
Hochschulabschluss und trug sogar einen Doktortitel. Ihr Vater war Ingenieur. Während des
Zweiten Weltkrieges arbeitete sie als Assistentin an der Berliner Universität und als
wissenschaftliche Hilfsarbeiterin in einem nicht näher benannten Ministerium bzw. als
Referentin beim SS-Hauptamt. Mit diesen Biografieanteilen stellte sie eine Ausnahme dar,
sowohl im NS-Sample als auch unter allen einst im NS-Regime organisierten Frauen und
unter sämtlichen weiblichen Mitarbeiterinnen der DWK. Das Elternhaus hat ihr scheinbar
beim Erwerb eines hohen Bildungsgrades und einer akademisch geprägten Berufslaufbahn
eine günstige Ausgangslage geboten.
Die Informationen zu den anderen nationalsozialistisch vorbelasteten Frauen in der
Wirtschaftskommission lassen auf ein unterschiedliches Niveau an Schul- und
Berufsausbildung schließen. Ein paar absolvierten nach Volksschule, mittlerer Reife oder dem
Lyzeum eine Lehre. Andere besuchten eine weiterführende Bildungseinrichtung wie eine
Handels- oder Wirtschaftsschule. Vor Eintritt in die staatliche Verwaltung der SBZ konnten
die meisten bereits eine mehrjährige Berufserfahrung vorweisen, die sie in der Wirtschaft oder
im öffentlichen Dienst gesammelt hatten. Es hat sich also nicht um ungelernte oder gänzlich
unerfahrene Kräfte gehandelt. Die Personalleitungen der DWK-Hauptverwaltungen
bescheinigten, soweit das in Erfahrung zu bringen war, überwiegend eine gute
Arbeitseinstellung und Leistung. Ob dies auf einen besonderen Eifer zurückging, den Frauen
zeigen, um sich in einer Männerwelt beweisen und behaupten zu können, ist unbekannt. Auch
inwiefern typisch „weibliche“ Kompetenzen wie soziales Engagement im Kollegenkreis,
Fürsorglichkeit oder Kommunikationsfähigkeit, mithin die heute als „soft skills“ oder
emotional intelligent gerühmten Eigenschaften, vorhanden und erwünscht waren sowie zum
Einsatz kamen, verraten die Quellen leider nicht.438
435
436
437
438
Kuhlemann, Kader (2005), S. 165.
Siehe Kapitel „NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“.
Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 148, 157-160; vgl. Ross, Aufstieg, S. 148.
Vgl. Ross, Aufstieg, S. 165; Niethammer, Erfahrungen, S. 102 f.; zur weiblichen Bearbeitung familiärer
Traumata, Entwurzelungen und Konflikte, besonders der aus der Kriegszeit herrührenden, vgl.: Hofmann /
Rink, Mütter, S. 207.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
97
Die genannten Bildungs- und Berufsmerkmale gleichen denen der Frauen im
Gesamtpersonal. Die NS-belasteten weiblichen Kader in der DWK nahmen vor allem
Positionen in der unteren Verwaltungshierarchie ein. Fachlich waren sie vielleicht etwas
besser ausgebildet als die meisten anderen ihrer Geschlechtsgenossinnen in der SBZ. Doch
handelte es sich keineswegs um hochqualifizierte Kräfte. War dies doch der Fall, lag auch die
Positionshöhe auf der internen Rangleiter weiter oben. Diese Analyse relativiert die Aussage,
dass
jemand
trotz
besserer
Bildungsabschlüsse
„künstlich“
aufgrund
von
Geschlechterdiskriminierung mit niederen Arbeiten beschäftigt wurde, obwohl eine
verantwortungsvollere Tätigkeit möglich gewesen wäre. Ein gewisser Aufstieg im zentralen
Staatsapparat war selbst vergangenheitspolitisch makelbehafteten Frauen bei entsprechenden
Qualifikationen nahezu sicher. Die Frage ist jedoch, wie viele Frauen tatsächlich
Bildungsabschlüsse erwarben, die sie für eine entsprechende Verwaltungsstelle empfahlen.
Hinzu kam, ob eine Frauenkarriere trotz Fachkompetenz in der Verwaltungshierarchie auch
bis zu den höchsten Ebenen führen konnte und nicht auf den darunter liegenden ins Stocken
geriet. Inwiefern die betreffenden Frauen zwar Leitungspositionen einnehmen konnten, dies
aber gar nicht wollten, etwa weil sie es sich nicht zutrauten und sich gegenüber männlichen
Kandidaten zurückhielten, muss hier offen bleiben.439
Angesichts nur verhalten entwickelter Fachqualitäten ist ein besonderes Augenmerk auf
die politische Vita der untersuchten Frauenbiografien zu richten. Aufgrund ihres meist
jugendlichen Alters bei Eintritt in die NSDAP und keiner aus den Quellen hervorgehenden
besonderen Aktivitäten vor 1945 traf auf die allermeisten dieser früheren weiblichen NSDAPMitglieder eine besonders geringe NS-Belastung zu. Die Jugendamnestie wird bei ihnen
wahrscheinlich dazu geführt haben, dass nicht einmal Entnazifizierungsverfahren stattfanden.
Darüber hinaus fiel das Urteil der DWK-Hauptverwaltungen zum politischen Engagement in
der SBZ grundsätzlich „positiv“ aus. Die Hälfte der NS-belasteten Frauen gehörte der SED
an. Doch auch bei den Parteilosen unter ihnen fanden sich gesellschaftlich aktive und
politische Funktionen ausübende, „fortschrittlich“ eingestellte und theoriebemühte
Mitarbeiterinnen. Eine Ausnahme bildete in diesem Punkt erneut Herta Ludwig, die trotz ihrer
Zugehörigkeit zur KPD/SED politisch passiv und ohne Klassenbewusstsein gewesen sein soll.
Insgesamt kommt bei den ehemaligen Nationalsozialistinnen jedoch das allgemeine Bemühen
der Personalleiter zum Ausdruck, junge und politisch aufgeschlossene Kräfte zu rekrutieren.
Trotz des „Risikos“ des ehe- oder kinderbedingten Ausfalls sollten dabei auch fachlich und
gesellschaftlich „entwicklungsfähige“ NS-belastete Frauen gefördert und weitergebildet
werden.
Dennoch war, wie eingangs festgestellt, die Frauenquote innerhalb der Gruppe der
ehemaligen Nationalsozialisten im Vergleich zum Gesamtpersonal der DWK und DDRRegierung auffallend niedrig. Das ist ein Beleg dafür, dass NS-belastete Personen in der
Deutschen Wirtschaftskommission vor allem dann eine Anstellung fanden, wenn sie als
„Ausgleich“ für ihr politisches Manko eine überdurchschnittlich gute Fachqualifikation
vorweisen konnten. Es sei denn, es handelte sich wie bei den meisten weiblichen Pgs. um sehr
junge und vergleichsweise gering belastete Kader. Eine besonders gute Berufsausbildung und
–erfahrung
wiederum besaßen
traditionell vornehmlich
Männer.
Frauen –
nationalsozialistisch belastete wie unbelastete – hatten hier mit überkommenen
Benachteiligungen zu kämpfen und waren entsprechend selten in mittleren und leitenden
Positionshöhen zu finden. Auf der anderen Seite gab es für diejenigen Tätigkeitsfelder, die
eine geringe oder überhaupt keine Fachqualifikation erforderten, genügend politisch
unbelastete Bewerberinnen. Vor die Wahl gestellt, eine ehemalige NS-Parteigenossin als
Reinigungskraft einzustellen oder eine Parteilose, entschied sich die Wirtschaftskommission
deshalb gegen die ehemalige NSDAP-Angehörige. Ein solches Vorgehen entsprach den
DWK-Personalrichtlinien, die bei gleich qualifizierten Kandidaten den NS-Unbelasteten den
439
Vgl. Ross, Aufstieg, S. 162 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
98
Vorzug gaben. Alles zusammen erklärt, warum die früheren Nationalsozialistinnen in der
DWK fast gar nicht in Führungspositionen und auch nicht in technischen anzutreffen waren.
Beim Einsatz auf der unteren Verwaltungsebene kamen ihnen schließlich neben
ausreichenden Fachkenntnissen und geringer NS-Belastung gute Arbeitsleistungen und ein
politisches Verhalten im Sinne der SED zugute.440
2.1.2
Alter
Der Altersaufbau der untersuchten NS-Belasteten liefert wichtige Hinweise darauf, welche
generationenspezifischen Zwänge und Chancen den ehemaligen Nationalsozialisten in der
Deutschen Wirtschaftskommission begegneten. Es ergeben sich beispielsweise die Fragen, in
welchem Maße sie zu den Jahrgängen gehörten, die den Nationalsozialismus am ehesten
geprägt haben bzw. die umgekehrt das NS-Regime besonders beeinflusst hat. Inwiefern gab
es Altersgruppen, die mehr als andere unter seinen Auswirkungen litten? Welche Jahrgänge
waren beruflich am gefragtesten, welche politisch besonders anpassungsfähig? In diesem
Rahmen ist zu ergründen, inwiefern die HJ-Generation, zu der ich an dieser Stelle alle unter
die Jugendamnestie Fallenden rechne, in der DWK von dem Bestreben der SED profitierte,
junge Kräfte in den Verwaltungsapparat einzubauen.
In diesem Zusammenhang hat die SBZ-/DDR-Forschung methodisch schon öfter auf
eine Differenzierung der Eliten nach Generationen zurückgegriffen. Auch in diesem Fall
erscheint mir eine Aufteilung in bestimmte Kohorten sinnvoll.441 Die Alterszusammensetzung
erlaubt dabei Rückschlüsse auf die jeweilige Sozialisation. Ihr liegt die Annahme zugrunde,
dass ein Wertewandel zwischen zwei Generationen vorliegt, wenn bestimmte Jahrgänge
wichtige politischen Erfahrungen ihrer formativen Jugendphase gemeinsam teilen und als
derartige Prägung erleben, dass sie sich dadurch von ihrer Vorläufergeneration unterscheiden.
Nach Wilhelm Bürklin stellen die Phasen der verschiedenen staatlichen Systeme eine
Abgrenzung der „zeitlich umgrenzten Abschnitte kollektiven Geschehens, die mehrere
Geburtsjahrgänge als Erlebnisgemeinschaft konstituiert“, dar. Seine Einteilung in „politische
Generationen“ gestaltet sich wie folgt:442
Politische Generation
Kaiserreich
Weimarer Republik
Drittes Reich
Sozialisation
bis 1918
1919-1932
1933-1945
Geburtsjahr
bis 1903
1904-1917
1918-1930
Es ist zu vermuten, dass alle genannten Generationen in relativ gleichem Maße Pflichtund Akzeptanzwerten gegenüber aufgeschlossen waren.443 Eine umfassende Absicherung der
eigenen beruflichen oder familiären Existenz genoss Vorrang. Selbstentfaltungswerte und
persönliche Freiheit spielten demgegenüber in weit geringerem Maße eine Rolle als
440
441
442
443
Quellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 168; Langenhan / Roß, Berufskarrieren, S. 148, 157-160; vgl.
Ross, Aufstieg, S. 148; zu den günstigen Aufstiegschancen der Frauen in der „FDJ-Generation“ siehe:
Merkel, Leitbilder, S. 366.
Vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26.
Auf der individuellen Ebene geht Bürklin bei der formativen Phase gesellschaftlicher Wertorientierungen
vom Lebensabschnitt zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr aus, wobei das 15. Lebensjahr quasi als
statistischer Mittelwert dient, siehe: Bürklin, Einstellungen, S. 393-395; vgl. Schnapp, Merkmale, S. 103 f.
Vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 356, 364.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
99
heutzutage. Alle hier vorgetragenen Verallgemeinerungen geben natürlich bestenfalls
Tendenzen wieder. Unter Sozialisation und Prägung ist nicht zwangsläufig ein bejahender
Automatismus zu verstehen. Die Möglichkeit der kritischen Reflexion bleibt bestehen. Auch
ist die hier vorgenommene Aufteilung bestimmter Geburtsjahrgänge in politische
Generationen keine scharfe und ausschließliche. Wesentlich ist allein der Versuch, bestimmte
historische Erfahrungen und Lebensumstände als für spezifische Altersgruppen
bewusstseinsbildend und handlungsprägend herauszustellen.444 Es ist eben zu
berücksichtigen, dass Menschen nicht nur Produkte ihres sozialen Umfelds sind. Sie gehen oft
ihre eigenen Wege, haben individuelle Lebensgeschichten und Schlussfolgerungen, die sie
daraus ziehen. Damit verbunden ist die geistige Lern- und Wandlungsfähigkeit, der die SED
eine große Bedeutung beimaß.
Hinsichtlich der politischen Erfahrungen ergeben sich in diesem Zusammenhang
Altersunterschiede bei der Frage, inwiefern die DWK-Angestellten vor 1945 überhaupt
andere politische Systeme als das NS-Regime persönlich kennen gelernt hatten. Die in den
dreißiger Jahren Geborenen, deren Sozialisation als erste überhaupt nichts mehr mit dem
„Dritten Reich“ zu tun hatte, spielten für die Kaderpolitik erst ab Mitte der fünfziger Jahre
eine Rolle.445 Die nach dem Ersten Weltkrieg Geborenen sind im Nationalsozialismus
aufgewachsen und haben in ihrem Bewusstsein nichts anderes als ihn erfahren. Diejenigen,
die etwa seit der Jahrhundertwende auf die Welt kamen, sind zur Zeit der freiheitlichdemokratischen Weimarer Republik sozialisiert worden. Sie besaßen vor 1933 teilweise
schon das Wahlrecht, standen vor der Entscheidung, sich politisch zu erklären oder zu
engagieren, und haben den Übergang zur Diktatur miterlebt. Ältere Jahrgänge erfuhren ihre
Wertebildung im Kaiserreich. Sie erlebten im Unterschied zu ihren Nachfolgegenerationen
den verlorenen Ersten Weltkrieg und den Wechsel zur politisch instabilen Demokratie.
Genauso wichtig wie der rückwärtige Blick auf die Sozialisationsphase und die
Lebensabschnitte bewusst gemachter politischer und sozialer Erfahrungen ist die Betrachtung
der sich den ehemaligen Nationalsozialisten bietenden Zukunftsperspektiven am Vorabend
der Entstehung zweier deutscher Staaten. In diesem Zusammenhang ist die von Hartmut
Zwahr vorgenommene Generationeneinteilung von Nutzen, die ich argumentativ ergänzen
möchte.446 Eine erste Gruppe bilden danach die Jahrgänge 1880 bis 1909, die bei DDRGründung ein Alter von 40 bis 69 Jahren erreicht hatten. Bei Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges unterstand ein größerer Teil von ihnen keiner Kriegsdienstpflicht mehr. Zum
Zeitpunkt der deutschen Niederlage befanden sich die Überlebenden dieser Jahrgänge im
Alter zwischen 36 und 65 Jahren. Der Krieg, die Kapitulation und die Entnazifizierung
unterbrachen oder beendeten ihre Karrieren. Die Betroffenen standen daher zwischen 1945
und 1949 vor der Entscheidung, in der SBZ zu bleiben oder im Westen die berufliche
Existenz unter vermeintlich oder tatsächlich günstigeren Bedingungen fortzusetzen bzw. als
Ruheständler Versorgungsbezüge zu erhalten. Berlin stellte insofern einen Sonderfall dar, als
noch bis zum Mauerbau das Nachgehen einer Erwerbstätigkeit im Westteil der Stadt bei
gleichzeitigem Wohnort im sowjetischen Sektor im Allgemeinen möglich war. Speziell in der
zentralen Staatsverwaltung ging Letzteres jedoch ab 1949 nicht mehr.447
Es folgt die nächste Gruppe der Jahrgänge 1910 bis 1919, die sich ebenfalls nach dem
Krieg aufgrund ihres Alters und ihrer abgeschlossenen Ausbildung in einer
Entscheidungssituation befanden, abzuwandern oder in der SBZ zu bleiben.
Beeinträchtigungen oder gar ein Ende der Karriere konnte diese Generation weniger
akzeptieren als die vorherige. Schon allein deshalb, weil ihre Kinder beruflich noch nicht auf
eigenen Füßen und existenziell in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Elternhaus
444
445
446
447
Welsh, Kaderpolitik, S. 122.
Schütrumpf, Stalinismus, S. 79 f.
Zwahr, Umbruch, S. 448-450.
Zur hierfür maßgeblichen „W-Aktion“ siehe Kapitel „Westkontakte“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
100
standen. Mitunter mussten auch noch die Eltern versorgt werden, was bei der zuerst
genannten Jahrgangsgruppe (1880-1909) durch Alterssterblichkeit zunehmend entfiel. Doch
auch die eigenen Lebensentwürfe waren zu großen Teilen noch nicht verwirklicht. Die
Prägung in der NS-Gesellschaft begann 1933 im Alter von 14 bis 23 Jahren. Bei
Kriegsausbruch waren sie 20 bis 29 Jahre alt, bei Kriegsende 26 bis 35 Jahre.
Allen Geburtsjahrgängen bis 1910 und – wegen der besseren beruflichen
Aufstiegschancen in eingeschränktem Maße – auch noch denen bis 1920 wurde in der DDR
die stärkste Anpassungsleistung abverlangt. Die neuen Machthaber forderten von ihnen eine
radikale Abgrenzung zum Faschismus, in dem sie sich als politisch zurechnungsfähige
Menschen zumeist auf die eine oder andere Weise eingerichtet hatten. Darüber hinaus
verlangte die SED eine Abkehr von bourgeoisen und kapitalistischen Elementen in Staat und
Gesellschaft, die sie oft vollkommen verinnerlicht hatten. Das „falsche“ Denken und
Benehmen musste deshalb verborgen, verdrängt oder überwunden werden. Vieles wirkte
dennoch weiter, wie Zwahr formuliert: »Hypothetisch aber sind im Alltag, in den Familien, in
der Sprache, in der häuslichen Erziehung und den Mustern des Auftretens in der autoritär
überformten Öffentlichkeit der DDR ältere, tieferliegende Bewußtseinsschichten anzunehmen,
in denen Anpassung, nicht Widerstand vorherrschte.«448 Dem kann ich im Grundsatz
zustimmen. Jedoch erscheint es mir ratsam, die Lebensumstände und Wertvorstellungen der
ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK noch eingehender zu beleuchten,
bevor wir beginnen, allein aufgrund von altersbedingten Sozialisationserfahrungen für diese
Gruppe von einem stärkeren tendenziellen Einverständnis zu sprechen, Freiheiten gegen
Sicherheiten und Autonomie gegen Vormundschaft einzutauschen.449
Eine letzte Altersgruppe stellen die Jahrgänge 1920 bis 1929 dar. Ihre Angehörigen
wiesen die wohl stärkste NS-Sozialisation auf. Nationalsozialistische Inhalte begegneten
ihnen in besonders frühem Lebensalter in der Schule und in ihrer Erziehung sowie durch die
Erfassung in der Hitlerjugend. Auf der anderen Seite traf die Jugendlichen, die nichts anderes
kannten als den Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit bei vielen Erwachsenen
erlebten, wie sie sich selbst wandelten und somit keine stabile Orientierung boten, eine sehr
schwere Werte- und Vertrauenskrise.450 Sie waren 1933 vier bis dreizehn Jahre alt und 1939
zehn bis neunzehn Jahre. 1945 zählten sie dann 16 bis 25 Jahre, 1949 schließlich 20 bis 29.
Die Mitte der zwanziger Jahre geborenen Männer verzeichneten neben den Jahrgängen 19101919 die meisten Kriegstoten und Geschädigten. Diese Jahrgänge hatten die
Berufsausbildung, den Besuch höherer Schulen und ein Studium in der Regel begonnen, aber
noch nicht abgeschlossen. Eine längere Karriereunterbrechung war wenn, dann durch
Militärdienst oder Kriegsgefangenschaft eingetreten, jedoch kaum aus politischen Gründen.
Denn eine nationalsozialistische Belastung dieser HJ-Generation fiel unter die
Jugendamnestie und wurde im Rahmen der Kaderpolitik weit nachsichtiger behandelt als bei
Älteren.
Die Jahrgänge 1920 bis 1929 bildeten zusammen mit den wenige Jahre Älteren und
Jüngeren das Gros der FDJ-Aufbaugeneration. Dieser Altersgruppe eröffneten sich – unter der
Bedingung politischer Anpassung – besonders viele berufliche Aufstiegsoptionen: die
Fortführung der Berufsausbildung, des Studiums und schließlich die Übernahme der von den
Älteren beispielsweise wegen der Entnazifizierung geräumten Posten. Von Unterschieden bei
Verdienstmöglichkeiten und bürgerlichen Freiheiten im innerdeutschen Vergleich abgesehen
hatten die zwanziger Jahrgänge so gesehen am wenigsten Grund zur Westflucht. Dabei
verfügten sie als oft noch Ledige und weniger an bestimmte Orte oder Arbeitgeber
Gebundene gegenüber den älteren Generationen über die höhere Mobilität. Wer sich von
ihnen dazu entschied, im Osten zu bleiben, empfand folgerichtig wegen der besonderen
448
449
450
Zwahr, Umbruch, S. 449.
Vgl. Kaina, Wertorientierungen, S. 386.
Eckert, Entnazifizierung, S. 54.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
101
Aufstiegserfahrung tendenziell eine weiterreichende Verbundenheit zur DDR als Vertreter
anderer Altersgruppen.451
Wie sah nun vor diesem Hintergrund der Altersaufbau der früheren Nationalsozialisten
in der DWK im Vergleich zum übrigen zentralen Staatsapparat aus? Die über Vierzigjährigen
in der Gruppe der NS-Belasteten waren unterm Strich um einige Prozentpunkte stärker
vertreten als im gesamten Kollegenkreis der Wirtschaftskommission.452 Die Kohorte der 3140 Jahre Alten entsprach dem Durchschnitt. Die Zahl der während des NS-Regimes
sozialisierten, bis 30 Jahre jungen ehemaligen Pgs. fiel hingegen kleiner aus als bei den
unbelasteten Mitarbeitern. Die nach dem 1. Januar 1919 geborenen und unter die
Jugendamnestie fallenden NS-Belasteten machen etwa fünfzehn Prozent des NS-Samples aus.
Über die im zentralen SBZ-Regierungsapparat beschäftigten Ex-Nationalsozialisten lässt sich
also sagen, dass sie ihre Sozialisation überwiegend im Kaiserreich und in der Weimarer
Republik erfahren hatten, stärker noch als der restliche Mitarbeiterstab. Nur wenige lernten
bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kein anderes Staatssystem als den Nationalsozialismus
kennen. Der Erfahrungshorizont der meisten Pgs. umfasste mehr als die Zeit der NS-Diktatur.
Aufgrund dieser Altersstruktur blieben nur wenige von der Entnazifizierung unberührt.
Nur eine Minderheit stand relativ frei von personalpolitischen Vorbehalten am Beginn ihrer
beruflichen Laufbahn.453 Die meisten anderen NS-Belasteten befanden sich in der Mitte oder
am Ende ihrer Karriere, waren im fortgeschritteneren Alter familiär gebundener und
geografisch sowie politisch weniger beweglich. Das traf auf das NS-Sample auch im
Vergleich zum Gesamtpersonal überdurchschnittlich oft zu. Diese Relationen untermauern
darüber hinaus die Bedeutung der fachlichen Qualifikation bei der Wiedereingliederung
früherer Nationalsozialisten in der SBZ. Für die Mehrheit waren eine gute Ausbildung, ein
Hochschulstudium und der Erwerb beruflicher Praxis ausschlaggebend. All dies nimmt viele
Jahre in Anspruch. Solche Fähigkeiten lassen sich nicht in Schnellkursen vermitteln. Deshalb
ist es nicht verwunderlich, dass die NS-Belasteten tendenziell älter waren als die übrigen
Angestellten. Sie konnten die gewünschten Berufslaufbahnen bei Eintritt in die DWK bereits
vorweisen. Die HJ-Generation vermochte in den Jahren 1948/49 mit vergleichbaren
Fachqualitäten noch kaum zu trumpfen und kam deshalb gerade für höhere Positionen vorerst
nicht in Frage. Sie musste ihre vielfach kriegsbedingt unterbrochene Ausbildung erst
abschließen oder zunächst in anderen Wirtschafts- und Verwaltungseinrichtungen
Erfahrungen sammeln. Bei den Stellen im Regierungsapparat, die ihrem Qualifikationsniveau
entsprachen, hatte die Schar der jungen Ex-Nationalsozialisten gegenüber unbelasteten
Mitbewerbern ebenfalls das Nachsehen, sofern nicht andere Kadermerkmale wie ein
gesellschaftliches Engagement im Sinne der SED einen besonderen Rekrutierungsvorteil
schufen.454
Der Vergleich des Altersaufbaus der DWK mit dem des gesamten öffentlichen Dienstes
in der SBZ zeigt ebenfalls, dass sich in der zentralen Staatsverwaltung überdurchschnittlich
viele erfahrene Kräfte befanden. In den weniger wichtigen Dienststellen in der Provinz
arbeiteten mit Abstand mehr junge Kräfte unter dem 30. Lebensjahr und wesentlich weniger,
451
452
453
454
Zwahr, Umbruch, S. 448-450.
Zum NS-Sample: Von 154 waren zu fünf Personen keine Geburtsdaten zu ermitteln. Einzelheiten zur
Zuordnung zu einer Jahrgangskohorte mit Stichtag vom 31.12.1948 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
173 f. (Abb. 19 und 20).
Generell hob Erich Honecker jedoch 1963 auf der 2. Tagung des ZK der SED hervor, die Partei habe
besonders der „irregeleiteten und im faschistischen Sinne erzogenen Jugend“ eine Chance zum Neuanfang
gegeben. Zitiert aus: Danyel, SED, S. 178.
Vgl. das besonders eindrückliche Beispiel zum politisch motivierten Generationenwechsel des
Mitarbeiterstabes der DJV bzw. des MdJ, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 174 f.; zu den alten Fachkräften
in der DJV siehe auch: Kuhlemann, Teufel.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
102
die 40 Jahre und älter waren. Dabei gab es ein eindeutiges Übergewicht der älteren
Generationen in den Leitungsfunktionen.455
Die gesamte Entwicklung in den fünfziger Jahren spricht allerdings dafür, dass auch die
jungen NS-Belasteten in zunehmendem Maße persönliche Aufstiegserfahrungen machten.
Denn nachdem die Personalpolitik schon in der DWK den zu Beginn relativ kleinen Anteil
der jüngsten Mitarbeiter vergrößert hatte, setzte sich die Verjüngungskur im
Ministerialapparat fort.456 Im zentralen Staatsapparat steigerten sich alle Altersgruppen unter
40 Jahre innerhalb von sieben Jahren zusammengenommen von 46 auf 57%.457 Von dieser
Kräfteverlagerung profitierten mit Sicherheit auch die jungen Pgs. Denn der Prozentsatz
ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Regierungsapparat blieb im selben Zeitraum relativ gleich,
während die Gesamtzahl der Mitarbeiter ständig wuchs. Schon allein weil sich aus
demografischen Gründen im Laufe der Zeit immer weniger ältere Jahrgänge unter den
Eingestellten befanden, muss sich das Personal dabei aus immer mehr Personen
zusammengesetzt haben, die den Nationalsozialismus lediglich als Jugendliche erlebt hatten.
Die Regierungsdienststellen der DDR relativierten die Existenz der bei ihnen beschäftigten
früheren Nationalsozialisten manchmal sogar ausdrücklich mit dem Hinweis auf deren junges
Alter. Ihre Jugend war ein kaderpolitischer Vorteil bei der Verringerung des politischen
Belastungsgrades.458
Ein zwischenzeitlich Mitte der fünfziger Jahre erfolgter Rückgang vor allem der bis 25Jährigen im Gesamtpersonal wird ein Indiz dafür sein, dass die Bedeutung fachlicher
Qualifikation in der Kaderpolitik zunahm, die SED sich zugleich machtpolitisch sicherer
fühlte und daher auf ihre ideologisch am leichtesten beeinflussbaren Helfer zugunsten einer
Steigerung der fachlichen Effizienz teilweise verzichtete. Denn die jüngsten der Kader ließen
sich wohl am ehesten von allen Mitarbeitern politisch erziehen und körperlich am stärksten
belasten. In der Praxis aber waren sie den Anforderungen des Dienstes und vor allem der
Menschenführung häufig nicht gewachsen. Man stelle sich einen Neueinsteiger Anfang
zwanzig vor, der einem fünfzigjährigen Routinier Order erteilte – viel Autorität wird das
„Grünhorn“ nicht besessen haben, von einer besseren Sachkenntnis ganz zu schweigen. Der
teilweise sehr schnelle Aufstieg in höhere Funktionen bei Überspringen normalerweise
üblicher Bildungs- und Berufsstationen bewirkte in dieser Altersgruppe also nicht nur
fachliche Lücken. Er provozierte außerdem Durchsetzungsprobleme, die von moralischen
Unzulänglichkeiten begleitet waren und sich in einer gewissen Überheblichkeit ausdrückten.
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass sich schon unter den bis 25-jährigen ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern in der DWK kein einziger in leitenden oder mittleren Positionshöhen
befand. Derart junge Bewerber waren für diese Posten einfach nicht zu gebrauchen.
Grundsätzlich stellten Jugendliche für die SED zwar eine bevorzugte Rekrutierungsgruppe
dar.459 Um die Leistungsfähigkeit des zentralen Staatsapparates nicht zusätzlich zu
beeinträchtigen, setzte die SED-Jugendpolitik dort aber zunehmend auf die Endzwanziger und
Dreißiger. Dieser Kreis, darunter junge ehemalige Pgs., machte in den
455
456
457
458
459
Details zum Altersaufbau im öffentlichen Dienst der SBZ im Mai 1949 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
175.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 173 ff. (Abb. 21), 175.
Vgl. das überdurchschnittlich junge Offizierkorps in der HVA 1951. Fast 90 % der Offiziere waren jünger
als 30 Jahre. Über 2000 Offiziere in den Bereitschaften waren sogar jünger als 20 Jahre alt, in: Wenzke,
Wege, S. 252 f.
Die DWK-Hauptverwaltungen und die betreffenden Pgs. selbst betonten häufig, unter die Jugendamnestie
zu fallen. Wegen einer geringeren NS-Belastung diente dies als Argument für eine Weiterbeschäftigung.
Beispiele für Belastungsrelativierungen durch geringeres Alter im Amt für Information und im MdF siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 176; zu jungen NSDAP-Mitgliedern, die geschlossen am 20. April 1944 in
die Partei eintraten, siehe: Joseph, Nazis, S. 203-205.
Weitere Statistiken zur Jugendpolitik, teils in den Ländern, siehe: DO 1 / 26.0, 17331, 51/52/3/1; DO 1 /
26.0, 17343, 57/51/3/2; DO 1 / 26.0, 17352, 186/51/2/1; DO 1 / 26.0, 17471, 9/54/2/1; DO 1 / 26.0, 17476,
33/54/2/1; DO 1 / 26.0, 17344, 77/51/2/2; DO 1 / 26.0, 17348, 114/51/3/2.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
103
Regierungsdienststellen Karriere.460 Die Aufstiegschancen lockten. Viele Angehörige dieser
den Kern der „Aufbaugeneration“ bildenden, ungefähr ab 1908 geborenen, teils in der
Weimarer Republik, teils im Nationalsozialismus sozialisierten Kader waren nach dem
Zusammenbruch des Deutschen Reiches zudem auf der Suche nach neuen weltanschaulichen
Orientierungen.461
Ein Blick auf die Stärke der einzelnen Alterskohorten auf den jeweiligen HierarchieEbenen der Regierungsdienststellen unterstreicht die vorstehenden Ausführungen.462 Die
SED-Linie, bevorzugt junge, ideologisch formbare Kräfte einzustellen, bewirkte nicht nur
eine Verjüngung des gesamten Personalkörpers, sondern auch zunehmende
Handlungsspielräume der bis 40-Jährigen. Ihr Anteil an den mittleren und leitenden
Positionen stieg nämlich bis Ende 1956 jeweils um vier bis zehn Prozentpunkte und verharrte
in der Regel auf dem erreichten Niveau. Viele von ihnen hatten nach Ende des Zweiten
Weltkrieges ihre Ausbildung fortsetzen und weitere Berufserfahrungen sammeln können, was
sie auch fachlich etwas mehr empfahl als noch einige Jahre zuvor. Nur bei den bis 25 Jahre
alten Angestellten stieß die Jugendförderung an ihre Grenzen. Ihre temporär anwachsende
Präsenz in den Stellen ab Referent und aufwärts ging bald wieder auf fast das gleiche
Ausgangsniveau zurück, wie es kurz nach der Staatsgründung bestand. Diese jüngste
Altersgruppe konnte lediglich bei den unteren Verwaltungsposten markante Zuwächse
verzeichnen. Die tatsächlichen Verlierer dieses sich seit Beginn der Entnazifizierung im
Prozess befindlichen Generationenwechsels waren jedoch die Kohorten ab dem 40.
Lebensjahr. Ihr Einfluss ging zurück. Der Anteil dieser älteren Jahrgänge nahm fast durchweg
auf allen Leitungs-, Referenten- und darunter rangierenden Verwaltungsstellen ab. Den
größten Rückgang gab es dabei in der Gruppe der 41- bis 50-jährigen Mitarbeiter. Bei den
leitenden Funktionen betrug er zehn Prozent, bei den mittleren über vierzehn Prozent und bei
den übrigen acht Prozent Minus.463
Ich führe all diese Altersverschiebungen darauf zurück, dass die SED zum Ausbau ihrer
Macht bei der Einstellung neuer Kader in den Ministerien vor allem auf junge,
entwicklungsfähige, politisch im sozialistischen Sinne auftretende Kräfte setzte. Die
fachlichen Qualitäten blieben dabei zweitrangig, obwohl sie sich in dieser Teilgruppe
verbesserten. Die SED konnte es sich mit zunehmender Festigung ihrer Herrschaft auch
erlauben, fachlichen Erwägungen bei der Kaderauswahl ohne Erhöhung des Sicherheitsrisikos
mehr Bedeutung einzuräumen. Daraus folgt gleichzeitig, dass sich in den jüngeren
Altersgruppen häufiger als bei den älteren Kohorten Personen fanden, die zur politischen
Kooperation bereit waren. Je älter hingegen jemand war, desto weniger galt er als lernfähig
und für die neuen Ideen erreichbar. Bei mehreren Jahren, die selbst bei aufgeschlossen
Geistern im Rahmen der SED-Erziehungstätigkeit zur Schaffung und Vervollkommnung
eines neuen Bewusstseins zu veranschlagen waren, schien es nicht lohnenswert, noch auf
ältere Mitarbeiter zu setzen, die über ein gefestigteres Weltbild verfügten oder sowieso bald in
den Ruhestand traten.
Die schon angesprochene Alterskohorte der 41- bis 50-Jährigen (Jahrgänge 1898-1907)
ist in diesem Zusammenhang insofern von besonderem Interesse, als sie in der DWK und
auch noch kurz nach der Staatsgründung sowohl bei den ehemaligen Nationalsozialisten als
auch im Gesamtpersonal die mit Abstand größte Gruppe stellte. Darüber hinaus besetzte sie
460
461
462
463
Beispiele (Kurt Koch, Hans Goßens alias Gossens) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 176 f.; vgl.
Wenzke, Wege, S. 253.
In diesem Verjüngungsschub liegt aber auch ein wesentlicher Grund für den mangelnden
Generationenaustausch in der späteren DDR. Denn durch das junge Eintrittsalter verharrten die
Betreffenden bis zum Ende ihres Berufslebens auch länger in bestimmten Positionen und Institutionen,
siehe: Kocka, Sonderweg, S. 41.
Siehe die entsprechenden Grafiken in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 173 ff. (Abb. 22-27), 177.
Einzelheiten zur Altersentwicklung beim sogenannten Fachpersonal der Regierungsdienststellen und beim
technischen Personal siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 177-179.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
104
zu Beginn der fünfziger Jahre weit mehr als die anderen Teile des Altersspektrums
einflussreiche Positionen. Innerhalb des Gesamtpersonals nahmen sie nämlich rund 40% aller
leitenden und 36% aller mittleren Funktionen ein. Auch die untersuchten NSDAP-, SA- und
SS-Mitglieder dieser Altersgruppe – sowie die der 31- bis 40-Jährigen – besetzten solche
Positionen im Vergleich zu jüngeren und älteren NS-Belasteten relativ häufig. Grundsätzlich
standen die jüngeren mit den älteren Ex-Nationalsozialisten dabei in einer Art
Generationenkonkurrenz. Sie beinhaltete, dass bei der Stellenvergabe unter Berücksichtigung
aller anderen kaderpolitischen Merkmale zu entscheiden war, entweder die Jüngeren mit
tendenziell geringerer NS-Belastung und größerem politischem Entwicklungspotenzial, aber
weniger beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen, oder die Älteren mit den politisch
gravierenderen Verfehlungen und der geringeren Erziehbarkeit, aber der fachlich
umfassenderen Versiertheit heranzuziehen. In der DWK fiel die entsprechende Postenvergabe
eher zugunsten der älteren Generationen aus. Die Bedeutung der Fachkompetenz wog bei
ihnen schwerer, weil sie für die Älteren am ehesten geeignet war, eine NS-Vergangenheit
auszugleichen.
2.1.3
Soziale Herkunft
Eine besondere Bedeutung innerhalb der SED-Kaderpolitik kam der sozialen Herkunft zu.
Die Abkömmlinge der Arbeiterschicht sollten an der Eroberung gesellschaftlicher
Schlüsselstellungen entscheidenden Anteil nehmen. Die Durchsetzung des Klassenprinzips
diente dabei ausschließlich der kommunistischen Machtsicherung. Der revolutionäre Wandel
sollte im sich verschärfenden Klassenkampf nicht nur politisch, sondern auch sozial erfolgen.
Beide Aspekte bedingten sich nach marxistischer Lesart gegenseitig. Nach einem Austausch
sozialer Gruppen in der Macht- und anschließend Funktionselite sollte ein hoher
Arbeiteranteil den Anspruch der SED als Vorhut des Proletariats unterstreichen. Von vielen
Arbeitersprösslingen nahmen die Kommunisten an, sie würden zu ihrer vermeintlich besten
Interessenvertretung, der SED, stehen und sie unterstützen. Auch in der staatlichen
Verwaltung strebten sie daher einen hohen Arbeiteranteil an. Die Machtstellung der Partei
schien so weiter gefestigt zu werden. Denn eine proletarische Herkunft und eine
entsprechende politische Gesinnung im Apparat galten als Gewähr für Treue und
Zuverlässigkeit bei der Umsetzung politischer Entscheidungen der Partei und
Besatzungsmacht.464 Diese Maßgabe betraf auch die Politik gegenüber früheren
Nationalsozialisten. So schrieb die „Tägliche Rundschau“, das Organ der sowjetischen
Besatzungsmacht, im Jahr 1947: „Es liegt im Interesse des schnellen Wiederaufbaus der
Wirtschaft und des friedlichen Lebens in Deutschland, daß die ehemaligen nominellen Pgs,
vor allem aus den werktätigen Schichten der Bevölkerung“, in breitem Maße herangezogen
werden.465 Es ist im Weiteren zu analysieren, wie sich die hier angedeutete Bevorzugung
proletarischer Kreise in der Gruppe der NS-Belasteten ausgewirkt hat.
Vorweg muss auf ein generelles Problem hingewiesen werden, nämlich auf die
Schwierigkeit, die „Arbeiterklasse“ und die übrigen Gesellschaftsschichten genau zu
definieren. Die Forschung hat schon seit langem auf diesen Umstand aufmerksam gemacht.
Wegen Manipulierbarkeit und schlechter Überprüfbarkeit erhob sie verschiedentlich den
464
465
So behauptete ein Instrukteur des Staatssekretariates für Hochschulwesen 1954, man werde sich immer zu
seiner früheren Gesellschaftsschicht gehörig fühlen. Dies galt noch mehr für den machtpolitisch besonders
relevanten Militär- und Sicherheitsbereich, siehe: Wenzke, Wege, S. 209 f.; Jessen, Professoren, S. 221225, 241 f.
Zitiert nach: Welsh, Wandel, S. 73.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
105
Vorwurf, entsprechende Quellen seien unvollständig und unzuverlässig. Peter Christian Ludz
verzichtete in seiner Studie „Parteielite im Wandel“ wegen „geringem Aussagewert“ völlig
auf eine umfassendere Analyse dieses Merkmals.466 Die Ursache dafür ist im Wesentlichen,
dass in der SBZ/DDR die Ansichten der Kader und der Kaderabteilungen darüber, wer sich
zum Beispiel „Arbeiter“ nennen durfte, manchmal relativ weit auseinandergingen.467 Ihre
Abgrenzungsversuche waren willkürlich und unscharf. Letztlich kam es nirgendwo zu einer
allgemein gültigen exakten Definition der sozialen Herkunft und ihrer einzelnen
Klassifikationen.
Auch
unter
den
Personalleitern
im
Regierungsapparat
gab
es
Meinungsverschiedenheiten darüber, wie weit differenziert werden sollte und welche
Kriterien heranzuziehen seien.468 Sie gingen davon aus, dass nicht bei allen Individuen klare
Trennlinien zwischen einzelnen sozialen Klassen handhabbar waren. Die soziale Herkunft
richtete sich jedoch primär nach dem Beruf des Vaters. Die Forschung berücksichtigt heute
üblicherweise die soziale Stellung beider Elternteile, und zwar zu einem Zeitpunkt in der
Jugend der untersuchten Personen, der vor deren eigener Berufsentwicklung lag.469 Die
Mütter der in der DWK beschäftigten NS-Belasteten fanden aber, soweit feststellbar, fast
keine Erwähnung bzw. gingen kaum einer geregelten Erwerbstätigkeit nach. Das Festhalten
an diesem heutzutage patriarchalisch anmutenden, aber den damaligen Verhältnissen
entsprechenden Ansatz des Vaterberufes erscheint mir insofern unproblematisch. Darüber
hinaus kann es hier, zumindest was das Gesamtpersonal der zentralen Staatsverwaltung
anbelangt, nur darum gehen, die Sichtweise der Personalleiter zur klassenmäßigen
Unterteilung wiederzugeben.
Beim Vaterberuf scheinen sich die Kaderverantwortlichen in der frühen DDR weniger
an der im Leben zuerst eingenommenen Position orientiert zu haben als mehr an der
hauptsächlich
ausgeübten
Tätigkeit.
Gleichwohl
haben
die
untersuchten
Regierungsangestellten, wenn es ein günstiges Licht auf sie warf, zum Beispiel auch die
Ausbildungsberufe ihrer Väter genannt. Die soziale Herkunft ist zu unterscheiden vom
Kadermerkmal der sozialen Stellung, die sich auf die Kader selbst bezog und die
überwiegende Art ihrer beruflichen Tätigkeit vor Eintritt in die Verwaltung bezeichnete. Trotz
dieser Differenzierung hingen beide Kriterien in vielen Fällen eng miteinander zusammen.470
466
467
468
469
470
Hübner, Zukunft, S. 171 f.; Boyer, Kaderpolitik, S. 12 f.; Schneider, Funktionselite, S. 38, 77; Ludz,
Parteielite, S. 165; Boyer, Kader, S. 39-41; Kleßmann, Relikte, S. 260.
Unter den Vaterberuf „Arbeiter“ fassten die Kaderabteilungen wahrscheinlich überwiegend qualifizierte
Industriearbeiter, einfache Landarbeiter, Handwerksgesellen und ungelernte Hilfskräfte zusammen. Viele
Angehörige dieser sozialen Herkunftsgruppe hatten in kleineren Betrieben gearbeitet, der klassische
Industrieproletarier war nur zum Teil vertreten, siehe: Wenzke, Wege, S. 206, 251.
Das ZK und das MdI kritisierten die folgenden Kategorisierungen, die der Personalleiter des Ministeriums
der Finanzen aufgestellt hatte. Es ist unklar, ob sie im Ganzen oder nur teilweise verworfen wurden. Als
Einteilungskriterien bzw. Hilfsmittel wurden genannt die politische Organisationszugehörigkeit, ein
Schulbesuch vor oder nach 1945, Karrierebrüche aus politischen Gründen, frühes Verlieren des leiblichen
Vaters und Aufwachsen unter anderen sozialen Rahmenbedingungen, bei Handwerkern: ob diese
lohnabhängig waren oder selbständig etc.; anderweitige Überlegungen, bei Bauern nicht nur die Größe der
Bewirtschaftungsfläche zu berücksichtigen, sondern zusätzlich die Bodenqualität, weil ein großes Feld mit
schlechter Bodengüte weniger Kapital abwerfe als ein kleiner, aber sehr fruchtbarer Acker, setzten sich
nicht durch, siehe: DO 1 / 26.0, 17567, [Ministerium der Finanzen, Personalabteilung,] Gräfe, betr.:
Aufstellung des Perspektivplanes für Kaderentwicklung im Jahre 1952, vom 10.01.1952 (Abschrift von
Abschrift); ebd., SED, ZK, Abteilung Agitation, an MdI, SED-Parteiorganisation, vom 28.05.1952; ebd.,
[MdI,] HA Personal, Aktenvermerk, vom 21.07.1952.
Schnapp, Zusammensetzung, S. 72.
In späteren Jahren diente als Indikator bei der sozialen Herkunft die „erste berufliche Tätigkeit“,
offenkundig des Individuums selbst und nicht seines Vaters. Bei den bewaffneten Organen richtete sich die
Einstufung in den 1980ern nach der überwiegend verrichteten Tätigkeit (des betreffenden Kaders). Der
Vaterberuf scheint also im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren zu haben, während die berufliche
Entwicklung des eigentlichen Mitarbeiters als Bestimmungskriterium zum Ende der DDR hin an
Jens Kuhlemann – Braune Kader
106
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen teile ich die Bedenken zur Aussagekraft der
sozialen Herkunft weitgehend und werde zur Begründung noch weitere Beispiele anführen.
Allerdings darf eine Skepsis gegenüber der Deckungsgleichheit eines tatsächlich ausgeübten
Berufes einerseits und seiner Deutung und begrifflichen Zuordnung in den Quellen
andererseits nicht dazu führen, dass diesem Kadermerkmal insgesamt weniger Beachtung bei
der historiografischen Analyse geschenkt wird. Denn auf jeden Fall lässt sich der Umgang mit
der sozialen Herkunft durch die betreffenden Akteure, ihre Instrumentalisierung und
Zweckorientierung beschreiben. Die bis Mitte der fünfziger Jahre in den MdI-Statistiken in
immer ausgefeilterer Form auftauchenden Klassifizierungen belegen darüber hinaus, dass die
kommunistische Bewusstseinselite die Definitionsprobleme sehr wohl erkannte und
versuchte, sie in den Griff zu bekommen. Die Reduzierung und Vereinfachung der sozialen
Herkunftsgruppen gegen Ende der fünfziger Jahre, die im Detail noch erörtert werden, ist
demgegenüber ein Anzeichen dafür, dass die fast haarspalterisch anmutenden Einteilungen
ihren Zweck ebenfalls nicht erfüllten oder undurchführbar waren. Eine solch filigrane
Segmentierung erschien wegen des dann erreichten hohen Arbeiteranteils und der
Verfestigung der politischen Macht der SED wohl auch nicht mehr notwendig.
Bei all dem ist es von entscheidender Bedeutung, die eigentliche soziale Dimension der
sozialen Herkunft im Auge zu behalten. Sie ist eng mit der Sozialisation verbunden, dem
Prozess des sozialen Lernens. Die Familie und frühe „peer groups“ entfalten bei der
Aneignung von Verhaltensmustern und Einstellungen eine besonders starke Wirkung. Hinzu
kommt die Vermittlung von Geschmack, Sprechweise und Kontaktaufnahme. Solche Codes
formen einen Habitus, der gruppen- oder klassenspezifische Merkmale beinhaltet. Er ist
identitätsstiftend und verbindet Menschen gleicher Herkunft, die sich über Gemeinsamkeiten
als einander nahestehend empfinden. In späteren Lebensabschnitten prallen erworbene
Traditionen schließlich auf andere Werte und gehen aus dieser Konfliktsituation bestätigt oder
verändert hervor. Persönliche Veränderungen sind deshalb ausdrücklich möglich, wenngleich
die SED bei Arbeitern vor allem Höherentwicklungen des ideologischen Bewusstseins im
Sinn hatte und keine „Rückfälle“. Das war neben ihrer fachlichen Weiterqualifizierung
entscheidend, um die Macht der SED zu sichern. Denn eine rein numerische Steigerung des
Arbeiteranteils reichte dazu nicht aus.471 Alles in allem erwartete die SED eine starke
Verbundenheit der Proletarier mit der Einheitspartei, was nicht zuletzt als Korrektiv für die
vielen nominellen SED-Mitglieder diente, die vor allem ihre Karriere verfolgten und der
Machtelite nur bedingten Rückhalt boten. Die Kommunisten setzten daher auf ihr
Basismilieu, da ihnen bei anderen Gesellschaftsschichten eine radikale und allumfassende
Abkehr von den Inhalten der in der Kindheit und Jugend durchlaufenen Sozialisation
unwahrscheinlich erschien.472 Die Zusammengehörigkeit, die aus gleichen Normen und
Handlungsweisen entsteht, kann zugleich ein Hemmnis beim Wechsel in eine andere Klasse
darstellen. Das betraf zum Beispiel diejenigen Angestellten, die in einer anderen sozialen
„Gemengelage“ aufwuchsen, sich aber gerne einen proletarischen Anstrich gaben. Denn die
Charakteristik der eigenen Herkunft tendiert dazu, auch beim Versuch, sich eines neuen
Habitus zu bedienen, durchzuschimmern. So zum Beispiel die Sprechweise einer bestimmten
Klasse oder Region. Das liegt nach Pierre Bourdieu daran, dass dieses „inkorporierte
Kulturkapital“ zum festen Bestandteil der Person wird und sich nicht kurzfristig abstreifen
lässt.473
Zwischen den sozialen Milieus gab es teilweise sehr unterschiedliche
Wertorientierungen und Deutungen der Geschichte und der Gegenwart. Sie boten historisch
471
472
473
Bedeutung gewann, siehe: Roß, Eliten, S. 186 f.; Wagner, Kadernomenklatursystem, S. 55; Gieseke,
Mitarbeiter, S. 139.
Glaeßner, Herrschaft, S. 322.
Rebenstorf, Integration, S. 126 f.
Bourdieu nennt dies den „Hysteresiseffekt“, siehe: Bourdieu, Kapital, S. 56.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
107
gewachsene Orientierungen und entwickelten mit Hilfe einer erhöhten Binnenkommunikation
Wertcodices zum Verhalten ihrer Angehörigen. In diesem Zusammenhang darf auf der
anderen Seite die Bindungskraft zwischen sozialer Herkunft und politischer Einstellung auch
für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht überschätzt werden.474 Viele
Bindungen und Beziehungen verliefen quer zu den diversen Milieus. Nach außen hin
überlebte im Zuge der Stalinisierung der SBZ/DDR von diesen Subkulturen, Lebensweisen
und Mentalitäten nur die der Kommunisten. Sie wurde den Angehörigen anderer Milieus
aufoktroyiert. Ihre Symbole (Grußformeln, Parolen, Fahnen, Aufmärsche etc.) und ihre
Weltanschauung wurden maßgeblich, ihre zumindest partielle Übernahme durch andere
wichtiges Merkmal von Konformität.475 Mit der Verdrängung des gesellschaftlichen
Pluralismus war jener allerdings keineswegs verschwunden. Die verschiedenen
Milieugruppen suchten sich andere Räume und tauchten zum Beispiel ins Private ab. Die
Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder bewirkten auch weiterhin, bis zum Ende der DDR einen
starken inneren Zusammenhalt.476 Die wissenschaftliche Untersuchung dieser „verborgenen“
Milieus steckt jedoch noch in den Anfängen.477 Rückschlüsse auf das Wechselspiel von
markanten mentalitätsbestimmenden Strömungen und dem Handeln ihrer Angehörigen sind
daher schwierig.
Auch innerhalb der Funktionseliten gab es Unterschiede in Sozialisation und Habitus.478
Diese „Stratifikatorische Segmentation“ zog Trennlinien zwischen den Angehörigen der
DWK und Regierungsdienststellen nach sich. Hervorzuheben ist hierbei das gespannte
Verhältnis zwischen Arbeitern und der Intelligenz. Obgleich sich Letztere sehr wohl aus
sozial unterschiedlichen Gruppen zusammensetzte, dominierte in ihr in den ersten
Nachkriegsjahren doch eindeutig das bürgerliche Element.479 Denn die Vermittlung von
Bildung ist unter anderem das Produkt einer Investition von Zeit und kulturellem Kapital, das
sich aus Wissen und Fähigkeiten zusammensetzt, die per Sozialisation in Familie,
Bildungseinrichtungen oder durch Milieueinflüsse vermittelt werden.480 Die Söhne und
Töchter von nichtproletarischen Eltern waren vor dem Hintergrund der Anforderungen einer
Verwaltungsarbeit in dieser Beziehung gegenüber Arbeitersprösslingen klar im Vorteil. Zwar
unternahm die SED seit ihrer Machtübernahme große Anstrengungen, den Anteil der
Arbeiter- und Bauernkinder an Studierenden und Kadern zu erhöhen. Doch der
Bildungsvorsprung und die sonstigen sozialen Voraussetzungen der Nachkommen der bis
dato privilegierten Schichten machten es ihnen schwer, in kurzer Zeit Anschluss an das
fachliche und übrige Kulturniveau der Intelligenz zu finden.481
Den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK mag das zum Vorteil gereicht haben.
Denn für sie waren Ersatzkräfte umso schwerer heranzuziehen. Durch diese anfängliche
„Unerreichbarkeit“ wurde vielleicht auch ein gewisser Sozialneid bei den Angestellten aus
dem Arbeitermilieu geschürt. Er begünstigte ihre größtenteils antielitäre Einstellung. Die
besondere Förderung von Arbeiterkindern im Staatsapparat bewirkte auf der anderen Seite
Unmut bei der bürgerlichen Intelligenz. Denn sie sahen sich nicht nur als Teil einer
personalpolitisch benachteiligten Gruppe. Sie ließen darüber hinaus eine gewisse
Geringschätzung für die fachlich oftmals schlechtere Arbeit der Kollegen proletarischer
474
475
476
477
478
479
480
481
Bürklin, Elitestudie, S. 19 f.
Tenfelde, Milieus, S. 253, 258, 261.
Ende der achtziger Jahre waren laut Dietrich Mühlberg traditional verwurzelten Milieus 75% der Menschen
in der DDR zuzuordnen, siehe: Mühlberg, Überlegungen, S. 72.
Franz Walter weist kritisch darauf hin, dass kaum empirische Studien zu sozialmoralischen Milieus
existieren, siehe: Walter, Milieus, S. 480.
Rebenstorf, Integration, S. 123 ff.
Zimmermann, Überlegungen, S. 346 f.
Bourdieu, Kapital, S. 54.
Zimmermann, Überlegungen, S. 333.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
108
Herkunft durchblicken.482 Diese nicht im Milieu der Intelligenz verwurzelten Kader wurden
daher in ihrem Arbeitsgebiet längst nicht immer von allen Mitarbeitern akzeptiert. Das trug
unter ihnen trotz politischer Fürsprache und Förderung zu einer hohen Fluktuation bei.483
Dieser Aspekt lenkt den Blick auf die Frage nach den Auswirkungen der sozialen Herkunft
auf Verhalten und Selbstverständnis der NS-Belasteten sowie auf das Vorhandensein von
elitärem Denken. Hierzu ist generell festzuhalten, dass den Quellen keine direkten Hinweise
zu entnehmen sind. Es bleibt diesbezüglich nur übrig, die weiteren Ausführungen als
Hintergrundinformation zu verwenden.484
Die Konfliktsituation zwischen den Abkömmlingen des Bürgertums und der alten
Intelligenz einerseits und denen des Arbeitermilieus im Regierungspersonal andererseits wird
aber auf jeden Fall eine abgrenzende Wirkung auf die ehemaligen Pgs. gehabt haben. Denn
sie entstammten mehrheitlich dem bürgerlichen Milieu und waren der Intelligenz
zuzurechnen. Es mögen zwar parallel dazu Angleichungen der jeweiligen Milieuspezifika
vorgekommen sein, sowohl auf der einen als auf der anderen Seite. Kapital, das bei Belegen
einer bestimmten Position noch nicht vorhanden ist, kann offenbar über die Sozialisation in
einem neuen Umfeld zumindest teilweise erworben werden.485 Doch insgesamt entmachtete
die SED die traditionalen Führungsgruppen und drängte das vom NS-Regime eingesetzte
Leitungspersonal zurück. Mit dem Rückgang der alten Eliten schwand auch deren
spezifisches kulturelles Kapital in seiner Bedeutung für die Personalpolitik und den
zwischenmenschlichen Umgangsformen im DDR-Regierungsapparat. Dies war ein politisch
erzwungener Prozess, der in den benachteiligten Gruppen auf Bedenken oder Ablehnung
stieß. An ihre Stelle trat schließlich die neue sozialistische Intelligenz und formte ihren
eigenen Kodex.486
Die empirisch belegte Präsenz von Angehörigen verschiedener Milieugruppen in der
DWK und im DDR-Regierungsapparat unterstreicht die Existenz mentaler Trennungslinien
(cleavages) zwischen denselben.487 Die überlieferten Statistiken zum Gesamtpersonal der
DWK und des DDR-Regierungsapparates geben dabei den Blickwinkel der Kaderabteilungen
wieder, indem sie deren Klassifizierungen der sozialen Herkunft übernehmen.488 Die
Einteilungen sind von dem Bemühen geprägt, möglichst genau und im Laufe der Zeit immer
exakter zwischen ideologisch bedeutsamen und geringgeschätzten Gesellschaftsschichten zu
unterscheiden. Zahlreiche Änderungen der Erhebungskriterien in den fünfziger Jahren zeugen
zugleich von den Zuordnungsproblemen, auf die die Kaderabteilungen stießen. Jedenfalls
stellte die kommunistische Wertelite mit hohem Energieaufwand Überlegungen an, welche
Charakteristika eine bestimmte soziale Schicht ausmachten. Bei allen Ungenauigkeiten und
Interpretationsmöglichkeiten der Zuordnung beruflicher Tätigkeiten zu bestimmten Klassen
lassen sich aber doch Tendenzen erkennen. So fällt sofort die Verdoppelung des
Arbeiteranteils von 1948 bis 1957 ins Auge. Lag er in der DWK noch bei etwa 30%, waren es
in den DDR-Regierungsdienststellen zuletzt fast 60%. Ein Niveau, dass bis zum Ende der
DDR ungefähr gleichblieb.489 In dieser Beziehung konnte die Kaderpolitik der SED also
482
483
484
485
486
487
488
489
Hübner, Einleitung, S. 19.
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 51 f.
Zimmermann, Überlegungen, S. 334.
Vgl. Rebenstorf, Integration, S. 154.
Hübner, Einleitung, S. 23 f.
Statistiken zur sozialen Herkunft siehe auch in: DO 1 / 26.0, 17309, 45/53/3/1; DO 1 / 26.0, 17359,
287/51/2/1; DO 1 / 26.0, 17473, 19/54/3/1.
Grafische Darstellungen sowie Einzelheiten zu den vom MdI für seine Statistiken verwendeten und
mehrfach veränderten Kategorien innerhalb des Merkmals der sozialen Herkunft siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 185 f. (Abb. 28 und 29).
Im Jahr 1989 war der Arbeiteranteil bei den vor 1936 Geborenen im Ministerrat bzw. in den Ministerien
mit über 60% deutlich höher als bei den danach Geborenen. Ihrer sozialen Herkunft nach spielte die
Intelligenz in dieser Alterskohorte mit gut 3% nur eine absolute Nebenrolle. Zugleich war der
Arbeiteranteil im Wissenschafts-, Gesundheits- und Kulturbereich im Vergleich zu anderen
Jens Kuhlemann – Braune Kader
109
deutliche Erfolge verbuchen, wenngleich nicht so früh, wie DDR-Historiker dies manchmal
behaupteten.490 Spätestens in den fünfziger Jahren wurde die sozialmoralische Absicherung
des kommunistischen Machtanspruchs im „Befehlsausführungsorgan“ Staatsapparat jedoch
klar ausgebaut und seine politische Funktionsfähigkeit gesteigert.491
Demgegenüber kam der Anteil der Söhne und Töchter von Bauern bis 1957 nicht über
drei Prozent hinaus und blieb somit marginal. Der Zwang oder Wunsch, den eigenen Hof als
Existenzgrundlage der Familie weiterzubewirtschaften, verhinderte offenbar einen Wechsel in
die Verwaltung. Vielleicht lag es zudem auch an einer besonders starken Verbundenheit mit
dem ländlichen Raum und dem Leben im Dorf. Ein Umzug in die anonyme Großstadt Berlin
hätte für viele wohl Züge einer sozialen Entwurzelung getragen.492 Schließlich trug die hohe
Rekrutierungsquote von Bewohnern der Hauptstadt und ihres nahen Einzugsgebietes das
Ihrige zum geringen Bauernanteil bei.493 Keine signifikante Rolle spielten die Abkömmlinge
von Vätern mit freien und sonstigen Berufen. Sie erreichten nur 2-5% bzw. ein halbes
Prozent, was wohl auch ungefähr ihrem Rekrutierungspotenzial in der Bevölkerung entsprach.
Nicht recht erklärlich ist der Verlauf des Anteils der Angestelltenkinder, der in der DWK in
sehr kurzer Zeit von 46 auf zwanzig Prozent fiel und im Weiteren auf diesem Niveau
verharrte.494 Es gibt keine Anzeichen für eine Änderung der Erhebungskriterien. Alle anderen
Erklärungsversuche sind spekulativ, zumal diese Kategorie kaderpolitisch nicht sonderlich
verdächtig erschien. Letzteres traf schon eher auf die sozialen Herkunftsgruppen
Gewerbetreibende und selbständige Handwerker einerseits und vor allem Beamte andererseits
zu. Beide konnten ihren Anteil im Personal der DWK zunächst ausbauen, von sechs auf
sechzehn Prozent im ersten Fall und von elf auf neunzehn im zweiten, noch dazu bei einem in
absoluten Zahlen sich vergrößernden Angestelltenkreis. Innerhalb von vier Jahren ging der
prozentuale Anteil der Gewerbetreibenden und selbständigen Handwerker sowie der der
Beamten in den DDR-Ministerien jedoch wieder auf 9-10% zurück. In absoluten Zahlen
wuchs die Gruppe der Beamtenkinder dabei zwar weiterhin tendenziell an. Doch das geschah
eben längst nicht so stark wie bei den Mitarbeitern aus dem Proletariat. Das
„Beamtenelement“ verlor daher zunehmend an Bedeutung.495
Wie sah nun im Vergleich dazu die soziale Herkunft der ehemaligen NSDAP-, SA- und
SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission aus? Um zu einem möglichst
authentischen Ergebnis zu gelangen, habe ich versucht, jenseits von damals vorgenommenen
Einstufungen in eine der genannten Kategorien zusätzlich Primärdaten in Erfahrung zu
bringen, also die ursprünglichen Berufsbezeichnungen. Leider machen die Quellen nur zu
weniger als der Hälfte der untersuchten Personen diesbezüglich Angaben.496 Dabei ließen sich
zwar einige begrenzte Manipulationsabsichten in Form von Verheimlichungen,
490
491
492
493
494
495
496
gesellschaftlichen Bereichen unterdurchschnittlich vertreten. Die alten Bildungsschichten konnten sich dort
also stärker halten, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 190 f.
Bei Wolfgang Merker ist zu lesen, bereits Ende 1946 habe sich „die Hegemonie der revolutionären
Arbeiterklasse in den Zentralverwaltungen durchgesetzt“, siehe: Merker, Zentralverwaltungen, S. 38.
Vgl. die Sicherheitsbereiche, in denen die Förderung der sozialen Herkunft „Arbeiter“ noch mehr Priorität
genoss. Die Offiziere in der HVA wiesen im Juni 1951 beispielsweise einen Arbeiteranteil von 91,5% auf.
Hierzu und zur Polizei siehe: Wenzke, Wege, S. 222, 251.
Das Beharrungsvermögen alter Eliten drückte sich auch bei Gutsbesitzern und Großgrundbesitzern aus, die
noch nach der Entnazifizierung im ländlichen Milieu einen bemerkenswerten Einfluss ausübten, und sei es
nur durch ihre Autorität, siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 52.
Siehe Abschnittseinleitung „Soziales, Bildung und Beruf“.
Zur Fluktuation siehe auch einen ausgewechselten Pg. mit der Herkunft „Angestellter“, in: DO 1 / 26.0,
17171, Ministerium für Eisenbahnwesen, Arbeitsbericht für das I. Quartal 1954, vom 23.04.1954, S. 3.
Zur sozialen Herkunft der Angestellten des öffentlichen Dienstes der SBZ siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 187 f.; vgl. die soziale Herkunft der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter, in: Gieseke, Mitarbeiter, S.
138.
Bei 64 von insgesamt 154 Angehörigen des NS-Samples waren Bezeichnungen des väterlichen Berufes
ermittelbar. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 188.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
110
Beschönigungen und Relativierungen feststellen, um sich in der sozialen Herkunft besser zu
positionieren. Wenn, dann geschah dies scheinbar eher von Seiten der NS-Belasteten als
durch die Kaderabteilungen. Totalverzerrungen dergestalt, dass der Sohn eines höheren
Beamten als Arbeiterkind eingestuft wurde, waren jedoch nicht nachweisbar.497
Grundsätzlich finden sich zum NS-Sample Vaterberufe, die sich allen genannten
Kategorien der sozialen Herkunft zuordnen lassen. Was sich in diesem Zusammenhang mit
Sicherheit sagen lässt, ist, dass sich unter den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK
ihrer sozialen Herkunft nach erheblich weniger Arbeiter befanden als im Gesamtpersonal der
Wirtschaftskommission. Auch bei den Vätern der leitenden Angestellten im NS-Sample
waren die Arbeiter zusammen mit den Bauern in der Minderheit.498 Darüber hinaus sei
angemerkt, dass, soweit erkennbar, auch diejenigen NS-Belasteten, die vor 1933 oder
unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in die SPD oder KPD eintraten, überwiegend nicht
aus Arbeiterkreisen stammten. Die Idee von den Parteien als Spiegel der Sozialmilieus findet
insofern keine Entsprechung in der sozialen Herkunft des untersuchten Personenkreises. Auf
der anderen Seite gab es deutlich mehr Beamtenkinder unter den NS-Belasteten als im
gesamten Mitarbeiterstab der DWK. Beinahe die Hälfte der relevanten Ex-Nationalsozialisten
hatte einen Beamten als Vater. Daraus folgt zum einen die banale und zugleich fundamentale
Feststellung, dass es nicht nur innerhalb des Gesamtpersonals Unterschiede des sozialen
Hintergrunds gab, sondern auch in der Gruppe der ehemaligen Nationalsozialisten selbst – mit
allen milieubedingten Konsequenzen. Zum anderen spiegelt der hohe Beamtenanteil teilweise
eine gewisse Beeinflussung oder Neigung wieder, es dem Vater gleichzutun und ebenfalls in
den Staatsdienst einzutreten. Darüber hinaus belegt dieser Befund, dass die ehemaligen
Nationalsozialisten ihre Beschäftigung in der DWK zum größten Teil nicht einer eventuellen
Abstammung aus Arbeiterkreisen verdanken. Im Gegenteil gehörten ja viele einer
kaderpolitisch negativen Gruppe an. Es ist dies daher ein weiterer Beleg für den Faktor
Bildung als wichtigstem Einstellungsgrund für NS-Belastete.
In diesem Zusammenhang wird die Theorie bestätigt, dass bei Kindern aus
Elternhäusern mit höherem Bildungsgrad und –ethos eine größere Transmission kulturellen
Kapitals stattfindet. Die herausragende fachliche Qualität vieler NS-Belasteter in der DWK ist
eine direkte Folge hiervon. Neben den väterlichen Beamten untermauern auch die Berufe der
anderen Familienoberhäupter diese Annahme. Eine ganze Reihe von ihnen übte Berufe aus,
für die ein Studium erforderlich war. In diesen Fällen kann man durchaus von Mitgliedern des
Bildungsbürgertums sprechen. Selbst einige der Handwerker unter ihnen scheinen einen
höheren Ausbildungsstand erreicht zu haben. Damit verbunden war natürlich auch ein
gewisser Status und eine relative ökonomische Unabhängigkeit – zumindest vor 1945. Der
Bildungsstand und die berufliche Position des Vaters waren für die weitere Karriere der ExNationalsozialisten in der DWK also von besonderer Bedeutung.499 Die mehrfach
anzutreffende akademische Ausbildung der Familienoberhäupter ist neben der Besetzung
leitender Positionen außerdem ein Grund dafür, einen nicht unwesentlichen Teil der Väter als
Angehörige der reichsdeutschen Dienstklasse zu bezeichnen. Da jedoch im NS-Sample die
Zahl der ihnen untergeordneten Mitarbeiter oder der Grad der eigenverantwortlichen Tätigkeit
497
498
499
Vgl. Jens Gieseke, der für die achtziger Jahre die Primärdaten von hauptamtlichen MfS-Mitarbeitern
kontrollierte und keine größeren Abweichungen bei der Einstufung als „Arbeiter“ feststellte. Die
betreffenden Berufe ließen sich als solche bezeichnen, eine systematische Manipulation war nicht
erkennbar, siehe: Gieseke, Mitarbeiter, S. 138 f.
Einer der wenigen Bauernsöhne im NS-Sample war der leitende DWK-Funktionär Ernst Schinn, siehe: DC
1 / 2569, XVII / 1/14.
Vgl. Hans-Werner Rautenberg, der festgestellt hat, dass in Polen die „Experten“ ebenfalls vorwiegend aus
Familien mit höherem Bildungstand stammten. Vertreter einer politischen Karriere kamen dort jedoch
meist aus Familien mit niedrigerem Bildungsniveau, in: Rautenberg, Eliten, S. 198; zu Ungarn vgl.: Kurtán,
Erkundungen, S. 223 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
111
kaum zu ermitteln war – und wenn, dann gemischte Ergebnisse andeutet –, erübrigt sich eine
Feinaufteilung in obere, untere und Nichtdienstklasse.500
Es bleibt festzuhalten, dass die Beamtennachfahren die größte nachweisbare Gruppe im
NS-Sample darstellten. Daher ist es angebracht, den Einfluss auch der nationalsozialistisch
unbelasteten Beamtensöhne und -töchter in den jeweiligen Positionshöhen der DDRMinisterien zu betrachten, und zwar im Vergleich zu allen beschäftigten Arbeiterkindern.501
Die MdI-Statistiken zeigen, dass die Beamtengruppe im technischen Personal mit konstanten
fünf Prozent am wenigsten vertreten war. Das war aufgrund der geringeren
Qualifikationserfordernisse und den ausreichend vorhandenen Personalalternativen bei den
ideologisch wertvolleren Herkunftsklassen auch zu erwarten. Dazu passt, dass die
Beamtenkinder im sogenannten Fachpersonal im Vergleich zu den anderen HierarchieEbenen am stärksten vertreten waren. Für das in absoluten Zahlen kleine Fachpersonal
verlangte man eine relativ hohe Berufsqualifizierung. Hierfür boten Beamtenfamilien
offenbar gute Rahmenbedingungen, nicht zuletzt wegen der vergleichsweise besseren
Ausstattung mit finanziellen Mitteln zur Finanzierung von Ausbildung und Studium. Bei
tendenziell prozentualer Abnahme Anfang der fünfziger Jahre waren die Mitarbeiter mit
Beamtenvätern im unteren Verwaltungspersonal (10-13%) und in mittleren und leitenden
Funktionen (10-18%) zunehmend gleich schwach präsent. Dass ihr Anteil bei den hohen
Positionen nicht größer ausfiel, wie man es aufgrund der insgesamt umfassenderen Bildung
hätte vermuten können, lag wahrscheinlich an der Zurückhaltung der Kaderverantwortlichen,
diese Mitarbeiter mit kontrollierenden und anleitenden Aufgaben zu betrauen. Denn ihre
soziale Herkunft spiegelte sich oftmals auch in einem politisch unerwünschten Verhalten
wider. Darüber hinaus wurden Leitungsposten besonders häufig mit Arbeiterkindern
besetzt.502
Aus all diesen Zahlen können wir schließen, dass NS-belastete Bewerber aus dem
Arbeitermilieu mit überdurchschnittlicher Fachqualifikation recht gute Karrierechancen
gehabt hätten – nur gab es nicht so viele von ihnen. Und solche ohne besondere Bildung
hatten gegenüber den fachlich ebenfalls normal bis minder qualifizierten, politisch aber
unbelasteten Angehörigen dieser sozialen Herkunftsgruppe das Nachsehen. Die
Beamtenkinder unter den Ex-Nationalsozialisten mussten auf der anderen Seite ihren
„Geburtsmakel“ auch in den fünfziger Jahren durch andere Kadermerkmale wettmachen,
wenn sie in den Regierungsdienststellen arbeiten oder sogar aufsteigen wollten. Wir treffen
also sowohl im Gesamtpersonal als auch bei den Angehörigen des NS-Samples zweigleisige
Auswirkungen der sozialen Herkunft an. Zum einen beeinflusste sie in erheblichem Maße die
Karrieremöglichkeiten aufgrund der nach Pierre Bourdieu ungleichen Ausstattung mit
ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, über die Menschen verfügen.503 Zum
anderen überformte der Primat der Politik diese Trias. Denn nach Bourdieu wäre gerade für
Abkömmlinge des Proletariats ein Aufstiegsnachteil zu vermuten, der sich in einem
verhältnismäßig geringen Anteil am Gesamtpersonal des Regierungsapparates widerspiegeln
müsste. Wie die Untersuchungsergebnisse zeigen, war genau das jedoch nicht der Fall. Diese
Feststellung widerlegt Bourdieus These allerdings keineswegs, sondern ergibt sich aus den
verzerrenden externen Rahmenbedingungen der Politik. Denn die qualitative Höherwertigkeit
der Arbeiterklasse war ideologisch begründet und ihre Beförderung in wichtige
Verwaltungsfunktionen zugunsten der Machtfestigung der SED politisch gewollt. Für eine bis
dato unterprivilegierte Gruppe resultierten daraus enorme Karrieresprünge. Zugleich
betrachtete die Machtelite ehemalige Nationalsozialisten im zentralen Staatsapparat als
500
501
502
503
Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 72 f.
Diagramme hierzu und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 185 ff. (Abb. 30 und 31), 191.
Details zum Anteil von Arbeiterkindern an den jeweiligen Positionshöhen im DDR-Regierungsapparat
siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 185 ff. (Abb. 30 und 31), 191.
Bourdieu, Kapital; Rebenstorf, Integration, S. 133 ff.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
112
politisch eher unerwünscht. Für die NS-Belasteten war demnach eine Herkunft aus dem
Arbeitermilieu zwar von Vorteil. Sie allein reichte jedoch nicht zur Wiedereingliederung aus.
Entscheidend für ihren Einlass in die zentralen Regierungsdienststellen waren andere
Faktoren, insbesondere die fachlichen Qualifikationen.
Im Weiteren soll ein Eindruck vermittelt werden, wie die ehemaligen
Nationalsozialisten in der DWK ihre Prägung in jungen Jahren durch das Elternhaus, das
private Lebensumfeld, die Freunde und Nachbarn und den Arbeitsplatz darstellten. Dabei
spielten „menschliche“ Aspekte wie die Strenge einer Erziehung oder das Intaktsein der
elterlichen Ehe und des Familienlebens für die Kaderpolitik keine Rolle. Wirtschaftliche Not
wurde zwar mitunter erwähnt. Das geschah aber kaum, um sich ausdrücklich als Angehöriger
einer ausgebeuteten Klasse stilisieren zu können. Viel wichtiger war die Erziehung, und zwar
in Hinsicht auf politische und weltanschauliche Einflüsse. Ein paar der ehemaligen NSDAP,
SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission beriefen sich in diesem
Zusammenhang auf eine proletarische Herkunft. Soweit konkrete Berufsbezeichnungen der
Väter vorliegen, bestätigen sie zum Teil eine solche Klassifizierung oder widersprechen ihr
zumindest nicht. In diesen Fällen wurde die Auskunft der Betreffenden bereits von den
Entnazifizierungskommissionen bestätigt oder eine Berufsbenennung unter Berücksichtigung
familiärer Rahmenbedingungen sogar erst mit einer unzweideutigen Erhebung in den
Arbeiterstand aufgewertet. Später taten dies die Kaderabteilungen, die SED oder der
Staatssicherheitsdienst. Es war also frühzeitig von Vorteil, über eine Nähe zu proletarischen
oder sozialistischen Kreisen eine Distanz zu ihren Gegnern, den „echten“ Nationalsozialisten,
nahe zu legen.
In manchen Fällen weisen die Quellen nur das Etikett „Arbeiter“ aus, ohne dass deutlich
wird, ob es sich hier um die Einstufung beim Kadermerkmal der sozialen Herkunft handelt
oder zusätzlich um den tatsächlich ausgeübten Beruf. Wenn die momentane oder überwiegend
ausgeführte Tätigkeit des Vaters nicht ausreichte, um eine proletarische Klassenzugehörigkeit
zu dokumentieren, verwiesen einige NS-Belastete auf jüngere Lebensjahre und die ersten
einfachen Arbeiten oder Berufsausbildungen, um den Eindruck einer Arbeiterherkunft zu
erwecken. Andere griffen auch gerne auf die Mutter zurück, die ja in den wenigsten Fällen
eine höhere Berufsposition einnahm. Darüber hinaus ist das Bemühen festzustellen, die
Großeltern und andere Vorfahren ins Feld zu führen, um so die Zugehörigkeit zu einer
Arbeiterfamilie im weiteren Sinne zu belegen. Der Arbeiterstand wurde vom ideologischen
und kaderpolitischen Standpunkt aus so hoch angesehen und gefördert, dass sein Glanz bei
jedem Hinweis auf sein Vorkommen in der eigenen Genealogie auch noch auf jüngere
Generationen zu fallen schien.504 Unbekannt ist, ob es vielleicht insgeheim auch solche
Arbeiter gab, die das Arbeitermilieu eigentlich als negativ empfanden, die gerne als
Angestellte in den Staatsapparat eintraten und dies als sozialen Aufstieg weg von den schlecht
bezahlten, „ungebildeten und ungehobelten Proleten“ begrüßten.
Mit der familiären Abstammung aus dem Arbeitermilieu verbanden die Kommunisten
gewisse Hoffnungen und Erwartungen an das soziale und politische Bewusstsein. Denn das
eigene Zuhause galt als die beste Brutstätte für den gewünschten Gedankentransfer, für eine
ideologisch bewusste Erziehung von klein auf. Das Aufwachsen im Proletariat, das
Verinnerlichen seiner wirtschaftlichen Not, seiner sozialen Probleme und politischen Ziele
sollte ein Garant für eine starke Verbundenheit mit der Arbeiterschicht und ihrer Avantgarde,
der Partei, sein. Zugleich erhoffte sich die SED davon eine Immunisierung gegen Einflüsse
504
Beispiele (Heinz B., Martin Bierbass, Heinz Fr., Bruno R., Erwin Melms u.a.) siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 192. Im Falle des NSDAP-Mitglieds und DDR-Ministers Hans Reichelt registrierte das
Ministerium des Innern intern „Schneiderin“ als Beruf der Mutter. Die Klassifizierung des väterlichen
Berufes war nicht möglich. Die Angabe bei Černý, DDR, S. 365 f.; („Vater Arbeiter“) ist insofern
unzutreffend. Herbst / Ranke / Winkler, DDR, Bd. 3, S. 271, übernehmen die verallgemeinernde
Formulierung „Sohn einer Arbeiterfamilie“, siehe auch: DO 1 / 26.0, 3716, [MdI, HA Personal,] Mitglieder
der Fraktion der DBD in der Volkskammer, undatiert (Stand: 15.11.1950).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
113
der Bourgeoisie. Eine klare Abgrenzung zu den Interessen des Bürgertums, seiner
Lebensweise, Sprache, Kleidung, Gewohnheiten, Bildungsideale, Weltanschauung oder
seines Verständnisses von Demokratie und Wirtschaft. Manche NS-Belastete betonten denn
auch eine entsprechende Erfahrung oder Aufgeschlossenheit. Andere gaben selbstkritisch zu,
dass ihre Familie trotz Bindungen zu einer Arbeiterpartei oder Verbundenheit zum
proletarischen Milieu über kein politisches Bewusstsein verfügte bzw. nicht imstande war, ein
solches weiterzuvermitteln. Mitunter machten sie eine „unproletarische“ Erziehungsweise
sogar für ihre spätere „Verirrung“ zu den NS-Organisationen mitverantwortlich.505 Wo es
jedoch direkte Hinweise auf eine parteipolitische Beeinflussung durch das Elternhaus im
Sinne der SED und ihrer Ideologie gab, betrachteten die Personalabteilungen diese als sehr
wertvoll. Einige wenige ehemalige Nationalsozialisten in der DWK bekundeten, aus „alten
Sozialistenfamilien“ zu stammen und zu den Eltern sowie anderen Vorfahren Mitglieder und
Funktionäre der SPD oder USPD zu zählen.506
Da die Verwaltungskader mit einer Arbeiterherkunft Pluspunkte sammeln konnten,
verwundert es nicht, dass es auch hier Versuche gab, den Vaterberuf sowie das politische
Denken und Handeln der Familie umzudeuten oder zu verfälschen. Es kam zu einer gewissen
„Proletarisierung“. Simultan fand eine Distanzierung zu einer kaderpolitisch ungünstigen
sozialen Herkunft statt. Die NS-Belasteten in der DWK bildeten hier keine Ausnahme. So
zum Beispiel ein Sachbearbeiter in der HV Post und Fernmeldewesen: Er teilte 1933 der SA
mit, Sohn eines Kaufmanns zu sein. Seine zu dieser Zeit opportune Abgrenzung zu jeglichem
linken Milieu steigernd, gab er an, alten pommerschen Soldaten- und Beamtenfamilien zu
entstammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine familiäre Nähe zum Militär und
Beamtentum jedoch unvorteilhaft, ja schädlich. Denn man hätte eine Erziehung in
militaristischen oder sonstigen NS-unterstützenden Mustern durch Angehörige dieser
ebenfalls der Entnazifizierung unterliegenden Berufsgruppen vermuten können. Das hätte
eine Erschwernis bedeutet, eine antifaschistische Gesinnung glaubhaft zu machen bzw. die
demokratische Reife zur Mitgestaltung eines demokratischen Deutschland. Um also
Nachteilen aus dem Weg zu gehen, äußerte der Betreffende bei der Entnazifizierung 1947,
sein Vater sei Werkmeister, altes Gewerkschaftsmitglied des Holzarbeiterverbandes und ca.
50 Jahre Mitglied der SPD gewesen. Nach Quellenlage stimmte beides. Bestimmte
Informationen wurden nur je nach Adressat weggelassen oder hervorgekehrt.507 Doch selbst
wenn nur eine Version der Wahrheit entsprochen hätte, eines wird hier besonders deutlich:
Die Familie war personalpolitisch ein wichtiges Beurteilungskriterium. Die ehemaligen
Nationalsozialisten in der DWK begriffen dies spätestens angesichts der Stalinisierung und
passten ihre Herkunftsdarstellung den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen an.
Es ist nicht immer klar, ob den Kaderverantwortlichen solche Ungereimtheiten auffielen
und wie ihre Reaktion darauf war. Zumindest in einigen Fällen sind unterschiedliche
Klassifizierungen seitens der ehemaligen Nationalsozialisten und der sie beaufsichtigenden
Organe überliefert. Dabei nahmen die Vorstöße ehemaliger NSDAP-Mitglieder manchmal
regelrecht pseudoproletarische Züge an, bei denen wohl überwiegend Wunschdenken und
weniger die Mehrdeutigkeit der sozialen Herkunft zu Grunde lag. Ein ehemaliger SAAngehöriger und Referent in der HV Metallurgie äußerte zum Beispiel, seine Erziehung als
Sohn eines Werkmeisters sei „ganz klar sozialistisch“ gewesen. Später hätten sich dann auch
bürgerliche Tendenzen eingestellt. Das Ministerium für Staatssicherheit war jedoch ohne
Einschränkung der Auffassung, er entstamme bürgerlichen Kreisen und sei auch
„kleinbürgerlich“ erzogen. Ein anderer Pg. führte in den fünfziger Jahren an, seine Großväter
seien allesamt Arbeiter gewesen. Der Vater habe sein Tagewerk als Streckenarbeiter bei der
505
506
507
Beispiele (Albert K., Kurt D., Helmut Wikary) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 193.
Beispiele (Konstantin Pritzel, Willi Hintze, Walter R., Olaf S.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 193 f.
Einzelheiten zu Otto Ka. sowie weitere Beispiele (Heinz Cramer, Josef Schaefers) siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 194.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
114
Bahn verrichtet. Er beeilte sich hinzuzufügen, dass jener parteilos gewesen sei und nur der
Gewerkschaft angehört habe. Dem stehen Angaben gegenüber, dass der Vater gewöhnlicher
Eisenbahnbeamter war. Die Zentrale Kontrollkommission notierte nüchtern, dass der Pg. aus
kleinbürgerlichen Verhältnissen stamme.508
Eindeutig häufiger als Arbeiterkinder fanden sich unter den ehemaligen
Nationalsozialisten in der DWK solche Mitarbeiter, die aus Beamten- und
Angestelltenfamilien stammten. In diesem Konnex benutzten manche der Betreffenden selbst,
als Teil der Eigenkritik, aber mehr noch die Kaderverantwortlichen das Negativetikett
„bürgerlich“ oder noch herabsetzender „kleinbürgerlich“.509 Dahinter steckte der Gedanke,
Teil der Bourgeoisie und damit Förderer und Nutznießer des Monopolkapitals zu sein. Die
kommunistische Bewusstseinselite scheint dabei „kleinbürgerlichen“ Menschen insgesamt
einen lediglich beschränkten Wahrnehmungshorizont zugestanden zu haben. Der Vorwurf
lautete unter anderem, durch eine rudimentäre Bildung und geringes politisches Bewusstsein
das „reaktionär-kapitalistische“ System in der Manier einer gehorsamen, leicht
manipulierbaren Masse gestützt zu haben. In der DDR war es für die Kader zugunsten ihrer
Karriere hilfreich, im Sinne der kommunistischen Machtelite eine unproletarische Herkunft
zu verbergen oder zu relativieren. War sie nicht zu leugnen, erwartete die SED ihre
selbstkritische Reflexion und eine Stellungnahme zu einer eventuell damit verbundenen
mental-politischen Beeinflussung.
Eine interessante Abfolge entsprechender Umschreibungen liegt zu Kurt Ritter vor,
NSDAP-Mitglied sowie DWK-Hauptabteilungsleiter. Er gab im Jahr 1936 in einem
Fragebogen anlässlich des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ an, sein
Vater sei Landwirt und Pächter eines Rittergutes gewesen. Die Zentrale Kontrollkommission
bezeichnete ihn später schlicht als „Sohn eines Bauern“. Ritter selbst bezog anschließend im
Rahmen der SED-Mitgliederüberprüfung 1951 zu seiner sozialen Herkunft wie folgt Position:
»Ich entstamme aus bürgerlichen Kreisen. Mein Vater war landwirtschaftlicher Berater und
Häuserverwalter. Ich wurde in Berlin gross. Meine Spiel- und Jugendgefährten waren die
Kinder von Arbeitern. Der Gegensatz zwischen ihren Lebensverhältnissen und den
Bedingungen, unter denen meine Eltern lebten, erweckte in mir früh Interesse für soziale
Fragen. Der Umgang mit den Landarbeitern während meiner Lehrzeit verstärkte es. Deshalb
entschloss ich mich schon 1914, außer der Landwirtschaft auch Volkswirtschaft zu
studieren.«510
Die Umdeklarierung der ideologisch vorteilhaften Berufsbezeichnung „Bauer“ in
„landwirtschaftlicher Berater“ ist wohl nur in Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu
verstehen, sein Vater sei ein „Bürgerlicher“ gewesen. Eigentlich schienen die
Personalbeobachter wie die ZKK den Bauernstand ja bereits zu akzeptieren. Vielleicht
tauchten dann aber Zweifel an dieser Version auf. Andererseits wollte sich der leitende
Verwaltungsfunktionär nicht in die Nähe des Junkertums bringen und machte aus dem
väterlichen Rittergutspächter einen politisch unverdächtig klingenden „Häuserverwalter“.
Noch bemerkenswerter ist die Beschreibung einer frühen Hinwendung zum Arbeitermilieu in
der Großstadt Berlin, trotz andersartiger Herkunft. Der erfahrene Kontrast seiner eigenen
privilegierten Lebensumstände mit denen der befreundeten Arbeiterkinder habe in ihm schon
als Jugendlicher einen Sensibilisierungprozess für sozioökonomische Grundsatzfragen
angestoßen. Der weitere Kontakt mit der unterdrückten Schicht der Werktätigen habe diese
508
509
510
In ersterem Fall handelte es sich um Gerhard H., in letzterem um Heinz Fengler, siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 195.
Das Ministerium des Innern beurteilte einen erhöhten Anteil ehemaliger Pgs. in Zusammenhang mit einer
vielfach bürgerlichen Herkunft derselben, siehe: DO 1 / 26.0, 17163, [MdI, HA Kader,] Analyse über die
Kaderarbeit im Amt für Wasserwirtschaft im II. Quartal 1954, vom 17.08.1954, S. 2.
DY 30 / IV, 2/11/176, Bl. 319, Ritter, Lebenslauf, [angefertigt aus Anlass der SED-Mitgliederüberprüfung
1951,] vom 26.02.1951 (Abschrift); DC 1 / 2575, XX / 21, [ZKK, Kurzcharakteristik], undatiert; ZB II
1907, A. 3, Übersicht; ebd., Fragebogen, vom 19.01.1936.
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Bewusstseinsentwicklung und als implizite Konsequenz die Abwendung vom Bürgertum
weiter befördert.
Keine so frühzeitig beginnende Abnabelung vom bürgerlichen Nexus vermeldete
Ferdinand Beer, ebenfalls wie Kurt Ritter NSDAP-Mitglied und DWK-Hauptabteilungsleiter
in der HV Wirtschaftsplanung. Er beschrieb Elternhaus und Erziehung in Böhmen Anfang der
fünfziger Jahre gegenüber der SED wie folgt: »Mein Vater war zuerst Revierförster, später
Forstmeister auf dem Großgrundbesitz des Fürsten Schwarzenberg und bürgerlicher
Herkunft. Seine Einstellung war österreichisch-monarchistisch. [...] Auch meine Mutter hatte
eine kleinbürgerliche Grundeinstellung, lehnte sich jedoch sehr heftig gegen die halbfeudalen
Verhältnisse, wie sie auf dem Großgrundbesitz Schwarzenberg herrschten, auf und begrüßte
den Stutz [sic] der österreichisch-ungarischen Monarchie 1918 [...]. Während meiner
Jugendentwicklung schwankte ich zwischen der konservativen bürgerlichen Welt und der
neuen sozialistischen Weltanschauung ohne mich endgültig zu einer Weltanschauung
durchringen zu können. Zu stark waren die Einflüsse meiner kleinbürgerlichen Erziehung und
Umwelt.«511 Aufgewachsen in einem durch die Eltern und deren Arbeitsstätte bedingten
bürgerlich-ständischen Umfeld, berichtet Beer von seiner Mutter und deren „Auflehnung“
gegen die überkommene Gesellschaftsordnung mit ihren Relikten der Leibeigenschaft. Dabei
schimmert eine klassenkämpferische, fast revolutionär anmutende Note durch. Dennoch habe
der frühe sozialistische Impetus das spätere NSDAP-Mitglied in einem inneren Widerstreit
ohne Lenkung in die „richtige“ Richtung belassen. Das soziale Umfeld habe dies verhindert
bzw. den jungen Menschen derart mit „reaktionären“ Gedankenmustern umgarnt, dass er sich
nicht aus eigener Kraft daraus habe befreien können.
Wer aus dem Schoß der Bourgeoisie herrührte, den verdächtigten oder beschuldigten
die Kommunisten, eine bürgerliche, d.h. arbeiterinkompatible Erziehung erhalten und
angenommen zu haben. Auch eine bürgerlich-demokratisch-republikanische Gesinnung der
Eltern und Großeltern statt einer rein monarchistischen oder rechtsnationalen war kein
kaderpolitischer Vorteil. Wessen Vater dem Bürgertum oder der Beamtenschaft angehörte,
versuchte manchmal, diesen Makel über die Mutter oder andere Vorfahren auszugleichen,
indem man deren Arbeiterstand betonte. Auf der anderen Seite scheinen manche ExNationalsozialisten bei der Entnazifizierung noch nicht die Nachteile einer Beamtenherkunft,
so wie sie die KPD/SED sah, wahrgenommen zu haben und betonten nicht ohne
unterschwelligen Stolz, dass sie selbst oder ihre Ehepartner aus „alten Beamtenfamilien“
stammten, die schon dem Kaiser gedient hätten. Teilweise befanden sich auch höhere Beamte
unter den Vätern. Vielleicht glaubten die NS-Belasteten, durch ein solches Vorgehen ihren
Status heben oder die Verbundenheit zu staatstragenden Bevölkerungsschichten aus der PräNS-Ära unterstreichen zu können.512
Zur vollkommenen Bedeutungslosigkeit in der staatlichen Verwaltung Ostdeutschlands
verkam der Adel. Er verlor durch die Bodenreform und weitere Zwangsmaßnahmen im
Rahmen der Entnazifizierung nicht nur sein wirtschaftliches Kapital. Darüber hinaus gab es
zwischen der alten ständischen Elite und den neuen Macht- und Funktionseliten nichts mehr,
was mit den politisch bedeutsamen Kommunikationsnetzen zwischen Adel und Eliten im
Deutschen Reich vergleichbar war. Die pauschale Verantwortung, die die Kommunisten den
Adligen beziehungsweise den ostelbischen Junkern für den Nationalsozialismus zuschrieben,
führte zu deren totaler Entmachtung. Adlige, die in der SBZ/DDR verharrten, sahen sich
genötigt, sich im politischen und sozialen Koordinatensystem mit einem niederen Platz
abzufinden. Wollten sie wieder in ihrem Status aufsteigen, mussten auch sie sich im neuen
511
512
DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 146, Protokoll der Sonderkommission, [SED-Mitgliederüberprüfung 1951,]
Lebenslauf, vom 25.02.1951 (Abschrift); DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 2, Personalfragebogen, vom 29.08.1945
(Abschrift). Vgl. Äußerungen von Herbert Seifert, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 197.
Beispiele (Walter E., Heinz König, Hans Mat., Werner Wilcke, Kurt V., Eberhard H., Walter Pi., Wilhelm
St., Hans Lutz, Friedrich L., Wilhelm Salzer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 197 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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Gesellschaftsgefüge auf die Vorgaben der kommunistischen Machtelite einlassen. Soweit sie
wegen der Ablegung ihrer Adelstitel nicht unerkennbar wurden, befanden sich im NS-Sample
der DWK nur zwei Personen, denen eine adlige Abstammung nachzuweisen war. Die Quellen
weisen keine Vermerke über besondere Vermögens- und Lebensverhältnisse im Vergleich zu
den nichtadligen Ex-Nationalsozialisten auf. Ein exklusiver Lebensstil ist auch dann noch
nicht zwangsläufig erkennbar, wenn das MfS zum Beispiel Ende der fünfziger Jahre festhielt,
die Wohnung eines dieser ehemaligen Adligen sei „mit alten, den früheren bürgerlichen
Verhältnissen entsprechenden Möbeln ausgestattet.“513
Für das Merkmal einer ungünstigen sozialen Herkunft liegen wie schon beschrieben
Beispiele der Umdeutung, aber auch der eindeutigen Vertuschung vor. Dies betraf in der
SBZ/DDR insbesondere die Nachkommen von Beamten und anderen NS-Staatsbediensteten.
So wurden selbst hochrangige Amtsträger in der Familie nach 1945 praktisch totgeschwiegen.
Ein Doppelbeispiel für Justiz und Militär ist Harald Schaumburg, NSDAP-Mitglied und
DWK-Hauptabteilungsleiter. Wie Dokumente aus der NS-Ära belegen, war er der leibliche
Sohn eines Generalstaatsanwalts und der Adoptivsohn seines Onkels, eines Generalleutnants.
Allein die bloße Zugehörigkeit zu diesen Berufsgruppen war kaderpolitisch suspekt. In
Kombination mit der jeweils einflussreichen Position drohte jedoch eindeutig ein
Karrierehindernis. Bei der SED-Mitgliederüberprüfung 1951 schrieb der Leitungsfunktionär
daher beschwichtigend: »Ich entstamme einer bürgerlichen Familie. Mein Vater war bei der
Justizverwaltung beschäftigt. Im Jahre 1940 adoptierte mich ein Onkel«.514 In ersterem Falle
handelte es sich also um ein Abtauchen in der Verallgemeinerung, in letzterem um ein
Übergehen jeglicher Berufsbezeichnung. Ob diese Umstände der SED auffielen und wie sie
reagierte, ist unbekannt. Zumindest begegnete Schaumburg aus diesem Grund kein
erkennbares Misstrauen. Seine Stellung im Ministerialapparat blieb unberührt.
Einige ehemalige Nationalsozialisten in der DWK versuchten also, ihre nachteilige
soziale Herkunft und die loyale Haltung ihrer Väter zum Nationalsozialismus zu
verheimlichen. Demgegenüber behaupteten manche, politisch passive und indifferente Eltern
gehabt zu haben, eine Beeinflussung sei durch sie ausgeblieben.515 Schließlich verwiesen
andere auf ein politisch oppositionelles Elternhaus. So beispielsweise Hans Forsbach
(NSDAP und KPD/SED), Abteilungsleiter in der Deutschen Wirtschaftskommission. Sein
Vater war demnach Former, Mitglied im Metallarbeiterverband und bis 1933 mehrere Jahre
SPD-Vorsitzender in Remscheid-Lennep. Mit der Machtergreifung Hitlers sei er fristlos
wegen seiner politischen Vergangenheit entlassen worden. Zudem habe man die Kriegsrente
gekürzt, weshalb sich Forsbachs Vater als Versicherungsagent eine neue Existenzgrundlage
habe erarbeiten müssen. Die Mutter, von Beruf Kassiererin und ebenfalls in der Weimarer
Republik SPD-Mitglied, soll ihn dabei unterstützt haben. Die Familie des nach eigener
Einschätzung aus „Arbeiterkreisen“ stammenden DWK-Funktionärs sei 1934 schließlich nach
Dresden gezogen. Dort habe sie laut Forsbach enge Verbindung mit Antifaschisten gehalten
und lange Zeit unter politischer Beobachtung gestanden. Ein in der NS-Ära inhaftierter Zeuge
bestätigte diese Schilderung weitgehend.516 Eine solche Leidens- und Widerstandsgeschichte
der Eltern rückte auch deren Nachkommen in ein positives Licht. Denn es war zu vermuten,
dass sie ihre unnachgiebige politische Überzeugung an die Kinder weitervermittelt hatten.
513
514
515
516
Gemeint sind Heinrich von B. und in letzterem Falle Franz Woytt. Details, auch zu Luitpold Steidle, siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 198 f.; Tenfelde, Milieus, S. 250; vgl. Rautenberg, Eliten, S. 202, dort auch
zum Klerus; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 4, 6.
Einzelheiten zu Schaumburg sowie weitere Beispiele (Luitpold Steidle, Hans W.) siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 199; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 4.
Beispiele (Werner Wa., Hans Naake, Egon Wagenknecht, Franz H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
199.
Details hierzu sowie weitere Beispiele (Rudolf Lang, Günther Kromrey) siehe: Kuhlemann, Kader (2005),
S. 200.
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117
Das wiederum half Letzteren, ihre Zugehörigkeit zu NS-Organisationen als lediglich formale
zu deklarieren und den Vorwurf, „Gesinnungstäter“ gewesen zu sein, von sich zu weisen.
Die meisten ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK entstammten also
Beamtenfamilien und unterschieden sich damit deutlich vom Gesamtpersonal, in dem die
Arbeiterkinder dominierten. Manche NS-Belastete versuchten in der SBZ/DDR, eine
kaderpolitisch ungünstige soziale Herkunft zu verbergen bzw. durch echte oder erfundene
proletarisch-sozialistische Elemente in ein günstigeres Licht zu rücken.
2.1.4
Bildung und Weiterbildung
Wissen – der Schlüssel, der versperrte Türen aufschließt? Namhafte Vertreter der Soziologie
wie Pierre Bourdieu haben immer wieder auf die Bedeutung von Erziehung und Bildung im
Zusammenhang mit Elitenpersistenzen nach einem Systemwechsel hingewiesen.517 Dieses
„kulturelle Kapital“ ist mitverantwortlich für das Beharrungsvermögen von Funktionseliten
bei Änderung politischer Machtkonstellationen. In der SBZ/DDR kam diese Komponente
gegenüber anderen besonders stark zum Tragen. Verantwortlich dafür war zum einen die
materielle Enteignung der alten gesellschaftlichen Oberschicht in der Wirtschaft und im
Landadel. Zum anderen erfolgte eine Entwertung des sozialen Kapitals der alten NSDienstklasse durch Verlust von Positionshöhen und durch den weitgehenden Kontaktbruch zu
einflussreichen Personen durch Einsetzung neuer Führungsgruppen, die zwar bislang
schichtfremd, dafür aber SED-loyal waren.
Die Übertragung und Entstehung kulturellen Kapitals wird in hohem Maße durch das
Elternhaus und die Erziehung geprägt, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch viel stärker
als heutzutage. Auch für die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK und DDRRegierung liegt die Verbindung von sozialer Herkunft und Bildungsniveau mehrheitlich auf
der Hand, bei allen Ausnahmen und individuellen Auf- und Abstiegsszenarien.518 Leider lässt
sich die soziale Situation in der Adoleszenz und Ausbildungsphase der NS-Belasteten nur
ungenau rekonstruieren. Doch übten viele ihrer Väter Akademiker- und Beamtenberufe aus.
Beamte rechneten zumindest im gehobenen und höheren Dienst zur oberen Dienstklasse, die
über ein hohes Bildungskapital verfügte und durch ausreichende Gemeinsamkeiten
gruppenbildenden Charakter trug.519 Alles in allem lässt sich der Schluss ziehen, dass der
größere Teil der untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder von der
überdurchschnittlichen Bildung ihrer männlichen Elternhälften in vielerlei Hinsicht
profitierte: einerseits durch die direkte Transmission bereits vorhandenen Wissens von einer
Generation auf die nächste, andererseits durch die Schaffung eines Klimas, das erfolgreiches
eigenständiges Lernen begrüßte. Gebildete Eltern erkannten die Bedeutung von Bildung als
ideellen Wert eben stärker an als andere.520 Die oft überdurchschnittlich gut situierte soziale
Stellung der Väter erleichterte tendenziell in einem weiteren Schritt die kostspielige Schulund Berufsausbildung der untersuchten Ex-Nationalsozialisten. Bildung musste man sich
finanziell auch leisten können. Allein durch Verdienstausfall oder den notwendigen Unterhalt
steckte hinter einer mehrere Jahre über dem Normalmaß liegenden Schulung eine erhebliche
Summe investierten Geldes. Dabei waren finanzielle Engpässe nicht auszuschließen.521
517
518
519
520
521
Bourdieu, Kapital.
Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 85 ff.
Herz, Dienstklasse, S. 233 f., 237.
Mertens / Voigt, Herkunft, S. 173.
Ein Beispiel (Gerhard H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 202.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
118
Die so begründete Teilhabe an der gesellschaftlichen Bildungsschicht begünstigte den
Kontakt und Austausch mit Gleichgesinnten und Gleichgebildeten, privat wie im Beruf. Es ist
daher vorauszusetzen, dass Ethos und Wertvorstellungen des Bildungsbürgertums im NSSample weite Verbreitung gefunden hatten. Das schließt Milieuspezifika wie Habitus,
Umgangsformen und Lebensstil ein. Darüber hinaus profitierten die Betreffenden von den
Beziehungen, die sich aus dem eigenen Wissenserwerb sowie der Bildung und sozialen
Stellung ihrer Väter ergaben, beim Karriereaufbau. Erleichterte Einstiegsbedingungen durch
Kooptation deuten zum Beispiel die beiderseits relativ hohen Quoten an Staatsbediensteten
unter den NS-Belasteten und ihren Vätern an.522 Ralph Jessen weist in diesem
Zusammenhang darauf hin, dass Akademikerfamilien, zu denen die Angehörigen des NSSamples in größerem Umfang gehörten, 1933 nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung
ausmachten. Aus diesen Familien stammte aber über die Hälfte aller Professoren.523 Ein
Wissensschatz „vererbte“ sich also zumindest in modifizierter Form weiter. Soziale Herkunft,
Bildung und Berufsleben hingen eng miteinander zusammen. Die Pgs. im zentralen
Staatsapparat der SBZ/DDR bildeten dabei keine Ausnahme, im Gegenteil.
Nach 1945 wurde diese Trias allerdings zunächst schwer erschüttert. Denn große Teile
der alten bürgerlichen Bildungselite hatten sich durch Kooperation und Förderung des
Nationalsozialismus weitgehend kompromittiert.524 Die Entnazifizierung traf sie besonders
hart. Nach deren offizieller Beendigung kehrten zwar viele Intelligenzler in ihre alten
Positionen oder ähnliche Stellen zurück. Allgemein stellte die politisch größere Nähe der
Akademiker zum bürgerlichen Lager in den Augen der SED jedoch einen Unsicherheitsfaktor
für die innerstaatliche Machtfestigung dar. Die Stalinisierung setzte daher die partielle
Ausschaltung alter Bildungseliten unter anderen Vorzeichen fort. Die erheblichen Verluste an
Fachkompetenz hielten an, wenngleich nicht mehr in den Dimensionen der unmittelbaren
Nachkriegszeit. Dennoch blieb der intern vom MdI selbst zugegebene Qualifikationsmangel
zahlreicher Mitarbeiter ein Zeichen für die anhaltende Elitenzirkulation.525 Abhilfe sollte die
Heranbildung neuer, politisch einwandfreier Ersatzkader aus bis dato unterprivilegierten
Schichten schaffen. Dadurch versuchte die SED die Dominanz des Bürgertums in
akademischen Zirkeln zu beenden und den „proletarischen Geist“ in der Intelligenz zu
verankern, was ihr zum Teil auch gelang.526 Bis es soweit war, mussten die neuen „Eliten“
jedoch erst einmal die essenziellsten Bildungsstationen durchlaufen. Das erforderte viel Zeit,
weshalb die alte Dienstklasse je nach Berufssektor und politischem Anpassungsvermögen mal
mehr, mal weniger umfassend bleiben konnte.527
Um die vorstehenden Ausführungen empirisch zu untermauern, schlüssele ich im
Folgenden das Bildungsniveau der Regierungskader im Vergleich zum NS-Sample auf. Dazu
diente den Personalverantwortlichen offenbar der individuell höchste jemals erreichte
Bildungsgrad. Beim Gesamtpersonal der DWK und DDR-Regierungsdienststellen springt
522
523
524
525
526
527
Zur These, dass die Selbstrekrutierungsrate in der DDR umso größer ausfiel, je schwieriger das Studium
und je höher das Berufsprestige war, siehe: Mertens / Voigt, Herkunft, S. 173; Näheres zu den Eltern der
NS-Belasteten sowie ihrer Jugend- und Lernzeit im Kapitel „Soziale Herkunft“, zum Berufsleben siehe
Kapitel „Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes“ und
„Berufliche Karriereverläufe“; Herz, Dienstklasse, S. 238.
Genau genommen handelte es sich um 52% der Professoren im Jahr 1938. Die ca. 60% der Bevölkerung,
die als Arbeiter oder kleine Angestellte tätig waren, stellten hingehen nur 4% der Hochschullehrer, siehe:
Jessen, Professoren, S. 218.
Mertens, Austausch, S. 31.
Siehe auch Abbildung Nr. 44 zum Qualifikationsniveau der Regierungsangestellten im Kapitel
„Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz“ in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 294 f.
Jessen, Professoren, S. 218.
Hübner, Einleitung, S. 24.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
119
sofort der hohe Anteil der Volksschüler ins Auge.528 Er stieg bereits in der
Wirtschaftskommission von 51 auf 65% und lag dann bis 1953 relativ unverändert bei 6064%. Die Volksschüler stellten also mit Abstand die größte Gruppe. Das war nicht zuletzt
eine Folge der verstärkten Anstellung von Arbeiterkindern.529 Weit dahinter rangierten die
Mittelschüler bzw. die Absolventen der mittleren Reife. Ihr Anteil stieg in der DWK von 13
auf 21-24% und hielt sich in den DDR-Ministerien in etwa auf dieser Höhe. Die Besucher
„höherer Schulen“ bzw. Abiturienten lagen 1948 noch bei bemerkenswerten 26%, im
Anschluss daran sank ihr Anteil jedoch rasant auf nur noch 6-11%. Die
Hochschulabsolventen lagen bis 1957 zwischen 5-10%.530 Im Großen und Ganzen lässt sich
also sagen, dass die betreffende Personengruppe umso kleiner war, je höher ihr Bildungsgrad
lag. Das entsprach grundsätzlich auch den Verhältnissen in der Gesamtbevölkerung und im
öffentlichen Dienst der SBZ.531
Abiturienten und Akademiker verkörperten eine quantitativ kleine, aber privilegierte
Bildungsschicht. Allerdings schuf der zentrale Regierungsapparat auch besondere
Anforderungsprofile, die überdurchschnittlich viele gut gebildete Angestellte notwendig
machten. Bei alledem ist zu konstatieren, dass es innerhalb der Deutschen
Wirtschaftskommission in sehr kurzer Zeit eine merkliche Absenkung des Bildungsniveaus
gab. Die Präsenz der Abiturienten ging zurück, die der Volks- und Mittelschüler nahm zu.
Diese Entwicklung ist natürlich in Zusammenhang mit der tendenziellen Vergrößerung des
Gesamtapparates und dem wachsenden Personalbedarf zu sehen. Gleichzeitig waren die
kaderpolitischen Richtlinien in puncto SED-Treue strenger zu handhaben als vor 1948.
Dadurch verschärfte sich der Mangel an geeigneten Bildungskadern zunehmend. Die
scheinbare „Stabilität“ der Bildungsverteilung im Gesamtpersonal, die die überlieferten
Statistiken zu den DDR-Regierungsdienststellen für die anschließenden fünfziger Jahre
andeuten, täuscht. Denn wie noch zu zeigen sein wird, herrschte in den Bereichen, in denen
der Spezialistenmangel am schlimmsten war, die „Dilettantisierung“ bis mindestens zur Mitte
des Jahrzehnts weiter an. Ich möchte mitnichten in Frage stellen, dass einige der bis dato von
Bildungsressourcen ausgeschlossenen Kader willens und imstande waren, sich im Laufe der
Jahre diejenigen Kenntnisse anzueignen, die zur erfolgreichen Erfüllung verantwortlicher
Aufgaben erforderlich waren. Doch für einen großen Teil der kurzfristig in vakante
Positionen aufrückenden Angestellten traf das mit Sicherheit nicht zu. Die Erfordernisse
überstiegen einfach ihre Fähigkeiten. Der naiv-euphorische Glaube der SED, bei guter
Anleitung könnte praktisch jeder Mensch mit einem Mindestmaß an Vorbildung,
Lernbereitschaft und –potenzial fast jedes Arbeitsfeld bewältigen, begünstigte zwar eine
schärfere Kaderselektion nach politischen Gesichtspunkten. Er musste jedoch die fachliche
Effizienz weiter zurückdrängen.532
Die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Wirtschaftskommission
unterschieden sich grundlegend von den zuvor beschriebenen Mustern. Hochgerechnet
besaßen etwa 70% (!) der ehemaligen Nationalsozialisten das Abitur. Der ganz überwiegende
Teil dieser Abiturienten durchlief anschließend noch eine Hochschulbildung.533 Sie besuchten
528
529
530
531
532
533
Eine grafische Darstellung und Quellenangaben zu Statistiken über (Weiter-)Bildungsaspekte des Personals
der DDR-Regierungsdienststellen, Bezirke etc. inklusive Pgs. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 ff.
(Abb. 32 und 34).
Siehe Kapitel „Soziale Herkunft“.
Für die HA Personalfragen und Schulung bzw. das MdI war vermutlich der entsprechende Abschluss
entscheidend und nicht der bloße Besuch entsprechender Bildungseinrichtungen ohne Abschluss.
Erläuterungen der vorgefundenen Statistikquellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 f.
Einzelheiten zur Schulbildung der Angestellten im öffentlichen Dienst der SBZ im Mai 1949 siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 204.
Zur höheren Schulbildung politischer Eliten in Polen, die ihre formale Qualifikation oft durch ein
Fernstudium erlangten, vgl. Rautenberg, Eliten, S. 196; zu Ungarn vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 225 ff.
Verwertbare Aussagen zum Schulbesuch machen die Quellen bei 83 von 154 Angehörigen des NSSamples. Als höchsten Schulabschluss (ungeachtet der nachfolgenden Tertiärbildung oder weiterer
Jens Kuhlemann – Braune Kader
120
Universitäten, technische und sonstige Hochschulen.534 In den DDR-Ministerien lag das
Bildungsniveau der ehemaligen Nationalsozialisten tiefer als in der DWK. Vermutlich ist das
vor allem auf eine vermehrte Einstellung jüngerer und dadurch tendenziell weniger gebildeter
Pgs. zurückzuführen. Vielleicht war auch eine verbesserte Möglichkeit, mit anderen
Eigenschaften als einer sehr guten Ausbildung punkten zu können, der Grund. Insgesamt
übertrafen die Abschlüsse der NS-Belasteten die der Durchschnittskader jedoch weiterhin mit
Abstand. So besaß drei bis vier Jahre nach der Staatsgründung immer noch jeder fünfte der
ehemaligen NSDAP-Angehörigen im Verwaltungspersonal einen Hochschulabschluss.535 Bei
der Erstellung des Bildungsprofils der NS-Belasteten ist zu berücksichtigen, dass die
allermeisten Angehörigen des NS-Samples, egal ob mit Matura oder ohne, nach der Schule
eine weiterführende Bildungseinrichtung absolvierten. Sie hatten sich also über Jahre hinweg
ein sehr fundiertes Fachwissen angeeignet. Es begründete eine der markantesten
Eigenschaften, die diese „ungeliebten“, aber wichtigen Kader mit sich brachten. Sie gehörten
in hohem Maße zur oberen Bildungsschicht der Gesellschaft, deren Kenntnisse für den
Aufbau so dringend benötigt wurden. Dieser Befund wird im Folgenden noch mit weiteren
Details auszufüllen sein. Doch bereits an dieser Stelle können wir den eindeutigen Schluss
ziehen, dass die herausragende Bildung der NS-Belasteten das Schlüsselmerkmal für ihre
Anstellung in der DWK darstellte. Sie verlor im Laufe der fünfziger Jahre als
Ausgleichsmoment für die politische Vergangenheit zwar an Bedeutung, spielte aber – gerade
für ältere, gewissermaßen voll schuldfähige Pgs. – weiterhin eine elementare Rolle.
Zur Untersuchung des Verlaufes politischer Systemtransformationen ist die Frage nach
den Studienfächern ein weiterer Aspekt von wesentlicher Bedeutung. Trugen die
Bildungsinhalte rein „wissenschaftlichen“ und ideologieneutralen Charakter? Oder besaßen
sie ideologienahe Züge und standen in enger Verbindung mit der jeweiligen Staats- und
Wirtschaftsordnung?536 Politische oder andere Motive für die Wahl der Studien- und
Berufsgänge sind nur selten überliefert. Wenn, dann korrespondierten sie mit den
Idealvorstellungen der SED vom ideologisch reifenden und bewussten Menschen.537 Auf die
Bildungsinhalte selbst sind zwar noch weitere Rückschlüsse auf Grundlage der innerhalb des
Staatsapparates eingenommenen Arbeitsbereiche zu ziehen. Beim NS-Sample ist die Tendenz
der Fächerwahl jedoch auch so klar. Technisch und naturwissenschaftlich orientierte Fächer
dominierten nämlich zusammen mit Recht und Wirtschaft. Geistes- und Sozialwissenschaften
waren im Kreis der NS-Belasteten hingegen absolut unterrepräsentiert. Theologische,
534
535
536
537
Schulbesuche ohne Abschluss) weisen die Quellen bei 8 die Volksschule aus. 23 besaßen eine höherwertige
Schulbildung, die aber noch unterhalb des Abiturs lag (davon explizit dreizehnmal Obersekundareife und
viermal Primareife). Der Großteil, nämlich 52 Personen, hatte das Abitur erlangt (bei einigen wenigen
davon habe ich aufgrund des Gymnasialbesuches ohne nachweisbaren vorzeitigen Abgang auf den Erwerb
der allgemeinen Hochschulreife geschlossen). Hinsichtlich der Hochschulbildung erscheint ein direkter
Vergleich mit dem Gesamtpersonal schwierig, da nicht eindeutig ist, ob das MdI in seinen Statistiken unter
„Hochschulbildung“ z.B. auch eher kürzere Zeit besuchte Handelsschulen oder Fachschulen verstanden hat.
Etwa vier Personen scheinen nach der Schule trotz teilweise längerer Lerndauer keinen weiteren Abschluss
gemacht zu haben. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 205.
Der Typ der Bildungseinrichtung war bei 57 von 154 ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern in der
DWK Angaben zu ermitteln. Bei 13 NS-Belasteten davon ist nicht eindeutig, ob sie Hochschulen im Sinne
des MdI besuchten. Das betrifft Berg- und Technikakademien, ein Polytechnikum, Gewerbe-, (höhere)
Handels- und Fachschulen, eine Technische Mittelschule sowie Forst-, Wirtschafts-, Ingenieur- und
kaufmännische Schulen. Nicht in allen Fällen scheint die allgemeine Hochschulreife die unabdingbare
Zugangsvoraussetzung gewesen zu sein. Einzelheiten zu Art und Häufigkeit der besuchten Hochschulen
etc. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 205.
Anders ausgedrückt: 1952/53 waren 13-15% aller Hochschulabsolventen im zentralen DDRRegierungsapparat ehemalige NSDAP-Mitglieder (15.12.1952: 122 von 879); 1953 waren zusätzlich 11%
aller Angestellten mit Fachschulabschluss ebenfalls Pgs.; Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 205 f.
Vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 110 ff.
Siehe die Ausführungen von Franz Woytt zur Berufswahl, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 206.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
121
künstlerische und medizinische Studiengänge ebenso.538 Was Religion und Schöne Künste
anbelangt, lag das natürlich nicht zuletzt an der andersartigen fachlichen Ausrichtung der
DWK, von ideologisch begründeten Barrieren abgesehen. Darüber hinaus war die HV
Gesundheitswesen alleine zu klein, um einen größeren Bedarf an Medizinern und sonstigen
Heilberufen hervorzurufen.
Auf der anderen Seite war die zentrale Staatsverwaltung zumindest in begrenztem
Umfang eigentlich ein originäres Betätigungsfeld für Geistes- und Sozialwissenschaftler.
Nicht alle Einzelfächer dieser Studienbereiche waren nach Kriegsende eindeutig diskreditiert
und viele blieben weiterhin gefragt, zum Beispiel Sprachen. Doch in solchen politisch
unbedenklicheren Sparten scheint es ausreichend Alternativen zu ehemaligen
Nationalsozialisten gegeben zu haben. Die SED brauchte hier keine Zugeständnisse zu
machen. In anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, die zur Zeit der
bürgerlichen Weimarer Republik und der NS-Diktatur eine inhaltlich überwiegend
weltanschaulich-ethisch geprägte Ausbildung beinhalteten, verfügte die kommunistische
Machtelite nicht nur über ausreichend „eigene“ Experten, die im Marxismus-Leninismus
bewandert waren. Die Radikalität des Systemwechsels seit 1945 und die politische Bedeutung
der DWK als Institution verlangten geradezu, dass im zentralen Staatsapparat keine wie auch
immer exponierten Stützen des Nationalsozialismus einen hochgradig ideologisierbaren
Erziehungshintergrund besaßen, der während des NS-Regimes die Grenze des geistigen
Empfangens zur geistigen Sendeabsicht überschritten hatte. Wer sich im „Dritten Reich“ zum
Beispiel dazu entschlossen hatte, Politologie zu studieren, hatte im Nachhinein Probleme, sich
als passives Opfer zu stilisieren und das Image des Überzeugungstäters abzustreifen. Die
Kommunisten ächteten eben vor allem den politisch-ideologischen Charakter des
Nationalsozialismus und solche Personen, die ihn aktiv verbreiteten. Sie beanspruchten auf
diesem Feld eine absolute Deutungshoheit und setzten praktisch ausschließlich solche Kräfte
ein, die sich ihr Weltbild außerhalb der Universitäten, in der KPD und Arbeiterbewegung,
aufgebaut hatten.539
Die vorstehenden Ausführungen galten eigentlich auch in bestimmtem Maße für
Ökonomen und Juristen. Ihre Chancen auf Einstellung in die Staatsverwaltung waren jedoch,
wie die Empirie belegt, bei entsprechenden kaderpolitischen Ausgleichsmerkmalen ungleich
besser. Denn der Fachkräftemangel war hier offensichtlich erheblich größer. Gerade der Beruf
des Juristen gehörte zu denjenigen, die langwierige umfangreiche Ausbildungsbestimmungen
vorsahen, um einen umfassenden Kenntnisstand zu erlangen. Das trug wesentlich dazu bei,
dass neue, sachlich gute Fachkräfte nur langsam heranzubilden und die alten schwerer zu
ersetzen
waren.540
Außerdem
konnten
Absolventen
der
Rechtsund
Wirtschaftswissenschaften wohl glaubhaft machen, einerseits viele politisch neutrale Inhalte
gelernt zu haben wie beispielsweise Bilanzierungen oder Vertrags- und Handelsrecht.
538
539
540
Bei 52 von 154 Angehörigen des NS-Samples sind die Studienfächer mehr oder weniger eindeutig in den
Quellen belegt. Sie lassen sich zu den Gruppen Ingenieurwesen, Forst- und Agrarwissenschaften,
Naturwissenschaften, Handel und Wirtschaft, Rechtswissenschaften sowie sonstige Fächer
zusammenfassen. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 206 f.
Auf der anderen Seite besaß jemand, der in der DDR gesellschaftswissenschaftliche Fächer studierte, zwar
die Anerkennung der SED. In der Bevölkerung genoss er jedoch ein deutlich niedrigeres Berufsprestige.
Das lag zum einen an der größeren politischen Nähe zum Regime, zum anderen daran, dass sich
entsprechende Studieninhalte mit geringeren intellektuellen Fähigkeiten durchlaufen ließen. Fächer wie
Marxismus-Leninismus dienten daher als Sprungbrett für einen sozialen Aufstieg. Ein Drittel solcher
Absolventen kamen über den zweiten Bildungsweg. Die NS-Belasteten in der DWK hatten demgegenüber
eher prestigeträchtige Ausbildungen hinter sich, siehe: Mertens / Voigt, Herkunft, S. 173.
Außerhalb der Verwaltung lag bei Richtern und Staatsanwälten die Priorität klar auf einer politisch
„sauberen“ Biografie. Pgs. hatten keine Chance, in diese Posten zu gelangen, siehe Kapitel „Horizontale
Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“. Eine Statistik über die Ende 1948 in der DWK beschäftigten 48
Juristen siehe in: DO 1 / 26.0, 17098, XXV / 48, [DWK, HA Personalfragen und Schulung,] an DWK,
Sekretariat, vom 04.12.1948.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
122
Andererseits hatten die ehemaligen Nationalsozialisten zusammen mit ihren NS-unbelasteten
Studienkollegen in der DWK fachlich und ideell anscheinend keine größeren Probleme, sich
vom Kapitalismus weg in eine sozialistische Planwirtschaft zu begeben bzw. sich in einem
politischen System zurechtzufinden, das frühzeitig jede Rechtsstaatlichkeit vermissen ließ.
Am stärksten vertreten waren im NS-Sample jedoch die ideologisch gänzlich
unverfänglichen Fächer im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich. Sie waren
besonders kompatibel mit dem jeweils von der Machtsituation vorgegebenen Politiksystem.
Studenten dieser Fachgebiete mussten sich ideologisch am wenigsten anpassen oder erklären.
Ihre Lerngebiete ließen sich weltanschaulich nicht pluralistisch deuten oder prägen, sondern
waren wie die Mathematik „objektiv“. Das erleichterte bei Opposition oder Gleichgültigkeit
gegenüber der politischen Ordnung den Beginn und die Fortsetzung einer beruflichen
Karriere. Der große Bedarf an Spezialisten in diesen Fächern tat sein Übriges für die
Aufstiegschancen im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR.541
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Betrachtung der Ausbildungslehren. Es sei vorweg
erwähnt, dass die meisten Angehörigen des NS-Samples, bei denen sich eine Lehrlingszeit
nachweisen lässt, im Anschluss an ihre Ausbildung weiterführende Bildungseinrichtungen
besuchten bzw. ein Studium belegten. Nur relativ wenige erlangten vor Eintritt in die
Wirtschaftskommission keinen zusätzlichen oder höheren berufsqualifizierenden Abschluss
mehr. Doch wie sah die Binnendifferenzierung der Lehrberufe aus? Bei den
Ausbildungsberufen nahmen zum einen die industriell-technischen und zum anderen die
kaufmännischen eine starke Stellung ein. In geringerem Maße folgten die Forst- und
Agrarlehren. Für sich genommen überwog der Verwaltungssektor jedoch alle anderen. Die
öffentliche Verwaltung, zu der ich auch die Reichsbahn und Reichspost, die Finanz- und
Justizverwaltung zähle, war ohne direktes Gegenstück bei den Studienfächern. Die
eingeschlagenen Laufbahnen der NS-Belasteten betrafen, soweit erkennbar, meist den
gehobenen und höheren Verwaltungsdienst. Sie schlossen die behördeninternen
Ausbildungsverfahren samt staatlicher Prüfungen ein. Der zumindest temporäre Besuch
spezieller Lehrstätten ist bei ihnen zwar nicht aktenkundig geworden, scheint aber
zwangsläufig Ausbildungsbestandteil gewesen zu sein. Das Juristenmonopol für höhere
Verwaltungsstellen bewirkte, dass dieser Kreis aus Personen bestand, die bereits ein Studium
absolviert hatten. Bei den meisten anderen Auszubildenden, die sowohl Lehre als auch
Studium durchliefen, ging die Lehrlingszeit der Hochschule voraus. Die enge Verwandtschaft
von Verwaltung und Rechtsleben ergab sich nicht nur aus der Natur der Sache. Sie wurde
auch bereits im Referendariat durch den Besuch von Verwaltungsstationen unterstrichen.
Resümierend ist festzustellen, dass die Berufslehren der ehemaligen Nationalsozialisten
ungefähr die gleiche fachliche Orientierung aufwiesen wie der von ihnen zum Beispiel an den
Universitäten belegte Fächerkanon.542
Es lässt sich weitgehend ausschließen, dass die Häufigkeit bestimmter Bildungsgänge
einer eventuellen Verbundenheit von Dienststellen- und Kaderleitern zur „eigenen“
Universitätsstadt oder zu alten Studienfreunden zuzuschreiben ist. Bei der
541
542
Welzel, Rekrutierung, S. 210.
Eine Lehre ließ sich bei 41 von 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern nachweisen. Nur für
etwa 12 von ihnen scheint der Gesellenbrief oder das entsprechende Pendant der höchste im Leben erzielte
Berufsabschluss gewesen zu sein. 4 beendeten die Ausbildungslehre ohne Abschluss. Nur ein einziger
scheint angelernt und als anfänglicher Bürobote ohne richtige Berufsausbildung gewesen zu sein. Auf eine
Unterscheidung der Ausbildungsgruppen in „White Collar“ und „Blue Collar“ ist wegen derjenigen NSBelasteten, die außer einer Berufslehre noch ein Studium absolviert hatten, zu verzichten. Unterteilt in die
klassische Dreiteilung habe ich eine Zuordnung von 4 in der Land- und Forstwirtschaft, 9 im
produzierenden Gewerbe und 28 im Dienstleistungssektor vorgenommen. Einzelheiten zu den relevanten
Bereichen Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Technik, Handel und Wirtschaft, öffentliche
Verwaltung sowie Sonstige siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 209 f.; Herz, Dienstklasse, S. 233 f.; vgl.:
Rebenstorf, Integration, S. 137; zu Lehrlingszeiten siehe auch Kapitel „Berufliche Karriereverläufe“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
123
Personalbeschaffung spielten persönliche Bekanntschaften zwar eine größerer Rolle. Sie
ergaben sich jedoch eher aus der Berufstätigkeit. Jedenfalls waren die Studien- und
Ausbildungsorte der ehemaligen Nationalsozialisten in der Wirtschaftskommission relativ
gemischt und erstreckten sich über ganz Deutschland. Eine gewisse Konzentration trat nur für
Berlin auf. Das war wegen der räumlichen Nähe und der ursprünglichen Herkunft vieler
DWK-Mitarbeiter zu erwarten. Doch selbst in der alten Reichshauptstadt fand eine Aufteilung
auf mehrere Lehranstalten statt. Ein aus gemeinsamen Studientagen resultierender
zusammenhaltender Einfluss auf die betreffenden Pgs. oder nennenswert erleichterte
Einstellungsbedingungen sind nicht feststellbar. Die Bedürfnisse der Kaderpolitik samt ihren
Kontrollmechanismen standen dem entgegen.543
Ebenfalls ein eher unwesentliches Kriterium war, zu welchem Zeitpunkt die fachliche
Ausbildung erfolgte. Zwar konnte niemand ausschließen, dass die NS-Ideologie die meist
noch recht jungen Menschen auch in ihren berufspolitischen Wertemustern, ihrer
Arbeitsauffassung, ihrem Verhältnis zum Kapital und zur Arbeiterschaft etc. auf nachhaltige
Art und Weise negativ beeinflusst hatte.544 Dennoch war eine Ausbildung oder ein Studium
vor 1945 vom Standpunkt der kaderpolitischen Belastung betrachtet kein Nachteil.545 Denn
zum einen traf dies auf die allermeisten Bewerber in der SBZ/DDR zu. Zum anderen war die
Betätigung in einer NS-Organisation als Belastungsindiz ungleich wichtiger. Schließlich
sollte eine fachliche und politische Weiterbildung die erwünschte Neuausrichtung der Kader
im Sinne der SED leisten. Wer eine Ausbildung in der SBZ/DDR, am besten an politisch
„korrekten“ Einrichtungen wie beispielsweise der Verwaltungsakademie „Walter Ulbricht“
oder einer Arbeiter- und Bauern-Fakultät, absolvierte, fand natürlich das Wohlwollen der
SED-dominierten Personalabteilungen. Für die berufliche Primärausbildung der untersuchten
Mitglieder der NSDAP, SA und SS spielten sie jedoch keine Rolle. Altersbedingt erfolgte
bereits der Schulbesuch bei fast allen von ihnen zeitlich in Gänze oder überwiegend vor
Hitlers Machtergreifung. Daher überrascht es nicht, dass die NS-Belasteten nur selten von
einer nationalsozialistisch geprägten Schulzeit berichteten.546
Es erschien vielen Pgs. nach 1945 vorteilhaft, von einer antifaschistischen Erziehung zu
berichten, so wie Rudolf Lang, der in den zwanziger Jahren Abitur machte und studierte. Ein
Schulfreund und Kommilitone schrieb dazu anlässlich der Entnazifizierung: »Ich kenne Dr.
Rudolf Lang aus unserer gemeinsamen Schulzeit im Friedrichs-Realgymnasium zu Berlin.
Diese Anstalt stand damals unter der Leitung des sozialdemokratischen Oberstudiendirektors,
Dr. Paul S[...], der uns zu demokratischen und pazifistischen jungen Menschen erzog. Als
Studenten trafen wir uns haeufig im Deutschen Fremdsprachlerbund, der auf demokratischer,
ueberparteilicher und internationaler Grundlage Menschen aller Bildungs- und
Gesellschaftsschichten vereinigte, die ihren Gesichtskreis durch das Erlernen fremder
Sprachen und durch Fuehlungnahme mit dem Ausland zu erweitern trachteten.«547 Der
Vorsitzende der Entnazifizierungskommission fragte Lang daraufhin unverhohlen ironisch, ob
er in der NSDAP und SA Studien praktischer Art als pazifistischer und demokratischer junger
Mensch betreiben wollte. Lang antwortete unter Bezug auf das Schreiben seines
Studienfreundes: »Diese Erklärung gibt eine Grundlage für das, was in der Schule an mich
herangetragen worden ist. Die inzwischen verstrichene Zeit hat für jeden jungen Menschen
andere Eindrücke hinterlassen. Die damaligen Verhältnisse liessen gar nicht erkennen,
worauf die Nazipartei einmal hinauslaufen würde. Man kann nicht sagen, dass ich irgendwie
543
544
545
546
547
Quellenangaben zum NS-Sample siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 210.
Vgl. DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 343.
Anders die vom ZK und MdI kritisierte Unterscheidung in: DO 1 / 26.0, 17567, [Ministerium der Finanzen,
Personalabteilung,] Gräfe, betr.: Aufstellung des Perspektivplanes für Kaderentwicklung im Jahre 1952,
vom 10.01.1952 (Abschrift von Abschrift); ebd., SED, ZK, Abteilung Agitation, an MdI, SEDParteiorganisation, vom 28.05.1952; ebd., [MdI,] HA Personal, Aktenvermerk, vom 21.07.1952.
Letzteres tat Hans Naake, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 210.
ZJ 53, A. 6, Gerhard H[...], Eidesstattliche Erklaerung, vom 20.02.1947.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
124
bewusst die Linie, in der ich erzogen worden war, damals verlassen habe.«548 Lang versuchte
also glaubhaft zu machen, dass er eine Erziehung genossen habe, wie sie in der
Nachkriegszeit angestrebt wurde. Er habe sich nie wirklich von ihren Grundsätzen entfernt,
sondern sei wie viele andere junge Menschen als unerfahrener Mann von den
Nationalsozialisten verführt und getäuscht worden.
Die sich der Schule anschließende Berufsausbildung beendeten die meisten ExNationalsozialisten der DWK ebenfalls in der Kaiserzeit oder Weimarer Republik. Etwas
weniger als die Hälfte der untersuchten NS-Belasteten legte ihre letzte Prüfung während des
Nationalsozialismus ab. Manche davon haben erst zur Zeit des NS-Regimes mit ihrer
berufsqualifizierenden Ausbildung begonnen.549 Diese Angaben dienen als Hintergrund für
die hin und wieder aufgestellte Behauptung, sich an eine NS-Organisation binden zu müssen,
um ein Studium aufnehmen oder beenden zu können. Zu ergänzen ist, dass nur relativ wenige
Sample-Angehörige ihre Berufsausbildung aus diversen Gründen wie gesundheitlicher
Beeinträchtigung, wirtschaftlicher Probleme etc. unterbrechen mussten. Selbst die beiden
Weltkriege zeigten – anders als auf die Berufsausübung – diesbezüglich kaum Auswirkungen.
Familiäre Gründe, aber auch attraktive Arbeitsangebote etc. tauchen als Ursache für
unvollendete Studien- und Ausbildungsgänge zwar nicht ausdrücklich auf, sind aber ganz
vereinzelt denkbar.
Soweit zu den Angehörigen des NS-Samples Noten vorliegen, die über ihre Leistungen
im Studium und in der Lehrlingszeit Auskunft erteilen, lauteten diese überwiegend „gut“ und
„sehr gut“. Teilweise lagen sie auch darunter. Vereinzelt ist der Erhalt von Stipendien
nachweisbar.550 Abschlüsse und Zensuren sind ein wertvoller Indikator wissenschaftlichen
Kapitals. Denn das deutsche System akademischer Qualifikation war und ist sehr zertifikatsund institutionsorientiert.551 Titel stellen dabei eine Art „institutionalisiertes Kulturkapital“
dar. Sie sind schulisch und rechtlich sanktioniert und gelten unabhängig von der Person ihrer
Träger. Ein Autodidakt kann diesen „objektiven“ Qualitätsnachweis nicht erbringen und steht
daher ständig unter Beweiszwang.552 Für das berufliche und gesellschaftliche Prestige spielten
die akademischen Titel des Doktors und des Professors eine besonders wichtige Rolle. Sie
avancierten zum Bestandteil des Namens und gaben auch Fremden eine Information mit
scheinbarer Garantie über den sozialen und Bildungshintergrund der Betreffenden. In diesem
Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, wenn ein Pg., der nicht promoviert hatte,
versuchte, den Wert eines Doktorgrades herunterzuspielen, um seine Qualifikation in ein
besseres Licht zu rücken. Oder er versuchte zu verdeutlichen, dass er zwar die geistigen
Fähigkeiten zur Abfassung einer Dissertation besaß, aber aus fachfremden Gründen nicht
dazu kam.553
In einem anderen Fall handelte sich ein früheres NSDAP-Mitglied den Vorwurf ein,
sich mit falschen Federn zu schmücken. Gemeint ist der DWK-Leitungskader Hans Forsbach,
der sich 1948 einem Verhör der Zentralen Kontrollkommission unterziehen musste. Der
Vorsitzende der ZKK, Fritz Lange, schrieb dazu an das Mitglied des DWK-Sekretariates Fritz
Selbmann: »Im Verlauf dieser Vernehmung verwickelte sich Forsbach in bezug auf seine
Vergangenheit in verschiedene Widersprüche. Es wurde festgestellt, dass Forsbach
unberechtigt den Doktortitel führt. Er besitzt nach seinem eigenen Eingeständnis weder ein
548
549
550
551
552
553
Zur Fortsetzung der Ausführungen Langs siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 211.
Über Studien- und Lehrzeiten lässt sich zu 73 von 154 NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern in der DWK eine
Aussage zum Abschlussdatum treffen: 40 von ihnen hatten die Berufsbildung bereits vor 1933
abgeschlossen. Darüber hinaus legten 32 ihre letzte Prüfung im Nationalsozialismus ab. Nur einer konnte
seinen ersten Berufsabschluss erst in der SBZ machen. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 211.
Beispiele (Hintze, Hans Mat., Schaumburg, Beer, Forsbach, Wikary) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
212.
Jessen, Professoren, S. 228-232, 242 f.
Bourdieu, Kapital, S. 61.
Siehe hierzu die Schilderungen von Harald Schaumburg, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 212.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
125
Diplom noch ein anderes Dokument, dass ihn berechtigt, diesen Titel zu führen. Diese
Hochstapelei des Forsbach bestätigt lediglich seine Neigung, die eigene politische
Vergangenheit in hochstaplerischerweise [sic] antifaschistisch auszuschmücken.« Lange
suspendierte Forsbach mit sofortiger Wirkung vom Dienst und wies ihn aus dem Haus. Er bat
Selbmann, den ehemaligen Pg. umgehend zu entlassen.554
Tatsächlich wechselte Forsbach wenige Monate später zur Brandenburger
Landesregierung, wenngleich nicht alleine aus diesem Grund. Was war geschehen? Forsbach
hat nachweislich zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften promoviert, und zwar an der
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Seine Arbeit zum
Thema „Die imperialistische Rolle der Konzerne im faschistischen Deutschland“ erhielt die
Note „gut“.555 Die entsprechende Urkunde datiert vom 23. Oktober 1948, dem Tag der
Vernehmung durch die ZKK.556 Mithin hat Forsbach also sehr wohl eine Dissertation
abgefasst. Er benutzte aber bereits vor Überreichung der Urkunde den Doktortitel, ab wann
genau ist unklar. In einem Brief an die ZKK gab der Abteilungsleiter im Sekretariat Selbmann
zu, mindestens vom Zeitpunkt des bestandenen Examens an bis zur Ausstellung des DoktorDiploms den Titel getragen zu haben.557 Dazu war er nicht befugt, denn üblicherweise
begründet erst die Aushändigung der Urkunde das Recht, den Doktortitel zu führen. Man
kann also zu dem Schluss gelangen, dass es sich negativ gesprochen um Betrug handelte oder,
etwas weniger nachtragend, um Angeberei und Renommiergehabe aus persönlicher Eitelkeit.
Interessant ist, dass der ZKK-Vorsitzende die Aufschneiderei in puncto Bildung gleich als
allgemein gültigen Charakterzug ansah. Sie diente als Stützargument dafür, dass der
„Prahlhans“ auch zu vorteilhaft verfälschten Darstellungen seines Verhaltens im
Nationalsozialismus imstande gewesen sei.558
Anders als im vorangegangenen Fall bildete eine Promotion, die erst nach 1945
erfolgte, im NS-Sample die absolute Ausnahme.559 Über zwanzig Prozent aller untersuchten
NS-Belasteten erwarben ihren Doktortitel bereits vor dem Eintritt in die Deutsche
Wirtschaftskommission. Mindestens zwei dieser promovierten Akademiker hatten zum selben
Zeitpunkt zusätzlich habilitiert bzw. einen Professorentitel erhalten.560 Diese hohe Quote ist
ein weiterer Beleg für die hervorragende fachliche Qualifizierung der meisten ehemaligen
Nationalsozialisten in der DWK.561 Sie deutet aber auch an, dass diese Personen in ihrem
sozialen Umfeld auf ein gewisses Ansehen aufbauen konnten, zumal wenn Kollegen und
Mitbürger nichts von der NS-Vergangenheit wussten. Das betrifft auch die akademische
Öffentlichkeit. Von über einem Dutzend der untersuchten NS-Belasteten sind Fachartikel und
Fachbücher bekannt. Mehrere von ihnen waren Mitarbeiter wissenschaftlicher Zeitschriften
oder diverser Fachblätter, die teilweise von Regierungsdienststellen herausgegeben wurden.
554
555
556
557
558
559
560
561
Langes Vorwurf der Vergangenheitsverdrehung trägt ironische Züge angesichts der Beschuldigungen, die
Zeitgenossen an Lange richteten (beschrieben im Kapitel „Anzeigen und Denunziationen“), siehe: DC 1 /
2601, ZKK, Lange, an DWK, Selbmann, vom 23.10.1948.
Details zu Titel und Erstellung von Forsbachs Dissertation siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 213.
DC 1 / 2601, Universität Leipzig, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Urkunde zur
Verleihung des akademischen Grades „Dr. der Wirtschaftswissenschaften“, vom 23.10.1948.
DC 1 / 2601, Forsbach, an ZKK, Lange, vom 27.10.1948.
DC 1 / 2601, Forsbach, an ZKK, Lange, vom 27.10.1948.
Siehe Kapitel „NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen, verringern: Biografiemanipulation“.
Laut Quellenlage hatten 32 von 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern vor ihrer
Beschäftigung in der DWK den Doktorgrad erlangt. Zwei weitere habilitierten erst in der DDR bzw.
nahmen dort erstmals einen Lehrstuhl ein. Details, insbesondere zu Kurt Ritter, Friedrich Z., Egon
Wagenknecht, Walter F., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 214.
Zu Studienabschluss- bzw. Promotionsnoten von Rudolf Lang und Günther Kromrey siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 214.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
126
Einige haben im Laufe ihrer Karriere sogar haupt- oder nebenberuflich an Universitäten und
anderen Bildungseinrichtungen gewirkt.562
Wir wissen jetzt, dass die ehemaligen NSDAP-Mitglieder im zentralen Staatsapparat
ganz überwiegend eine höherwertige Schul- und Berufsbildung besaßen. Sie waren, gemessen
an ihrem Anteil am Gesamtpersonal, überdurchschnittlich oft unter den Abiturienten und
Hochschülern vertreten. Deshalb soll die Verteilung dieser beiden Gruppen auf die jeweiligen
Verwaltungsebenen etwas näher beleuchtet werden. Denn daraus lassen sich auch
Rückschlüsse ziehen, weshalb die NS-Belasteten bestimmte Positionshöhen im zentralen
Staatsapparat eingenommen haben und andere nicht. Diejenigen Regierungsmitarbeiter, deren
höchster Bildungsabschluss das Abitur war, zeigten sich demnach am stärksten im
„Fachpersonal“ vertreten. Am zweitstärksten taten sie das bei den leitenden und mittleren
Funktionen. Dann folgten die unteren Verwaltungsangestellten und am allerwenigsten traf
man sie unter den technischen Kräften an.563 Ganz ähnlich, wenngleich mit einigen
Schwankungen, verhielt es sich auf den jeweiligen Hierarchie-Ebenen mit den
Hochschulbesuchern. Am stärksten waren die Akademiker bei den Leitungskadern und dem
sogenannten Fachpersonal vertreten. Dabei befand sich das Fachpersonal in der
Verwaltungshierarchie nicht wirklich mit den leitenden Angestellten auf einer Höhe, sondern
besaß mehr externen Charakter. Dann folgte die mittlere Ebene der Referenten, darunter die
der Sachbearbeiter etc. Bei den technischen Kräften lag der Studiertenanteil schließlich bei
Null.564 Abiturienten waren also umso stärker präsent, je höher eine Position in der Hierarchie
rangierte und je anspruchsvoller der Aufgabenbereich war. Für die Hochschulabsolventen galt
ein solcher Grundsatz noch viel deutlicher.565 Jürgen Kockas Aussage, dass das Gewicht des
Fachwissens in der Rekrutierung wie im Verwaltungsalltag relativ zur politischen Macht
abnahm, mag also für die wenigen Posten der obersten Dienststellenleitungen (Minister etc.)
eine gewisse Geltung haben.566 Für den eigentlichen Verwaltungsapparat trifft sie nicht zu.
Die skizzierten Verteilungen korrelierten auch mit den Positionshöhen der ehemaligen
Nationalsozialisten in der DDR-Regierung. Deren Bildung trug entscheidend dazu bei, dass
die Kaderabteilungen sie kaum in unteren Stellungen einsetzten, wie noch zu zeigen sein
wird.567 Gleichzeitig belegen die beiden zuletzt angeführten Diagramme, dass der bereits
beschriebene Ausbau der leitenden und mittleren Positionshöhen bis Ende der fünfziger Jahre
bei gleichzeitig prozentualem Rückgang der unteren Verwaltungspositionen ganz
überwiegend von ehemaligen Volks- und Mittelschülern getragen wurde.568 Das wird
besonders an der abnehmenden Stärke der Hochschulabsolventen in den mittleren und
leitenden Funktionen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre deutlich. Insgesamt blieb das
Bildungs- und Weiterbildungsniveau im ersten Jahrzehnt der DDR schwach.569 Diese
562
563
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565
566
567
568
569
Beispiele (Heinz Cramer, Konstantin Pritzel, Rudolf Lang, Ferdinand Beer) siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 214 f.; Baumgartner / Hebig, Handbuch, S. 669; zu Promotionen und Berufungen in die
Hochschullehrerschaft in der DDR siehe: Jessen, Professoren, S. 228-232; mehr zur Berufstätigkeit der NSBelasteten an Hochschulen siehe Kapitel „Soziale Stellung: statistische Auswertung des 1933-1945
überwiegend ausgeübten Berufes“ und Kapitel „Karriereverläufe“.
Die Prozentwerte im einzelnen (1950-1953): Fachpersonal zwischen 15-20%, leitende und mittlere
Funktionen meistens 8-11%, übrige Funktionen meistens 3-5%, technische Kräfte unter 1%. Eine grafische
Auswertung samt Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 f. (Abb. 33), 215.
Die Prozentwerte im Einzelnen (1950-1957): Fachpersonal anfangs 37%, dann auf 9% fallend, zuletzt bei
26%. Leitende Angestellte zunächst 37%, dann auf 20% sinkend, schließlich bei 27%. Mittlere Funktionen
24%, zuletzt 13%. Übrige 3% bis zuletzt 0,5%. Technische Kräfte knapp über Null. Eine grafische
Auswertung und weitere Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 203 ff. (Abb. 35), 215.
Vgl. Stefan Hornbostel, der für das Jahr 1989 feststellt, dass die Bildungsqualifikation in den zentralen
Staatsorganen relativ wenig mit der Positionshöhe korrespondierte, in: Hornbostel, Vertreter, S. 194 f.
Kocka, Sonderweg, S. 38.
Siehe Kapitel „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“.
Siehe Kapitel „Personalbestand und Fachkräftemangel“.
Vgl. Welsh, Kaderpolitik, S. 115.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
127
Umstände waren Ausdruck des anhaltenden Fachkräftemangels bei gleichzeitiger Expansion
der Verwaltung. Sie machten es notwendig, bei den Neueinstellungen vorübergehend mehr
und mehr minderqualifizierte Kader zu akzeptieren. Nicht anzunehmen ist, dass sich die
gleichen Aufgaben im Laufe der Zeit zunehmend von weniger gut ausgebildeten Angestellten
bewältigen ließen. Es dauerte bis zur zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, bis die Präsenz der
Hochschüler beim Fachpersonal sowie in den leitenden und mittleren Funktionen wieder
zunahm. Erst zu diesem Zeitpunkt scheinen die großen Anstrengungen, neue politisch
unbelastete oder gar ideologisch bewusste Fachkräfte heranzubilden, auch statistisch zum
Beginn einer Kehrtwende geführt zu haben. Offensichtlich hat es so lange gebraucht, bis
genügend Kader ihre Ausbildungen beenden konnten und fachlich eine wenigstens
annähernde Alternative zu den alten Fachkräften darstellten (wenn auch so große
Berufserfahrungen wie die der alten Experten immer noch fehlten). Wo sie sie nicht ersetzten,
ergänzten die „Neuen“ die „Alten“ und halfen, die weiterhin klaffende Personallücke
allmählich zu schließen. Dass diese neu eingestellten Fachkräfte, die ihre Berufsbildung
überwiegend in der SBZ/DDR erhielten, politisch der neuen Machtelite alles in allem näher
als die älteren Spezialisten standen, erklärt sich nicht zuletzt aus der Selektion, die die SED
mittlerweile bei der Vergabe von Studienplätzen vornahm. Die Kommunisten steuerten auf
diese Weise den Zugang zur Funktionselite.570 Darüber hinaus spielte für die politische
Loyalität die in der Forschung soviel beschworene Verbundenheit der bis dato von solchen
Karrierechancen ausgeschlossenen Bildungsaufsteiger eine Rolle, wenngleich es keinen
Automatismus gab.571
Doch zumindest in einigen Berufsgruppen misslang es der SED bis zum Mauerbau, das
bürgerliche Bildungsprivileg zu brechen. Lange Ausbildungszeiten und professionelle
Anforderungen schirmten Berufe wie Professor, Mediziner und Pastor gegenüber der
Machtelite und Quereinsteigern längere Zeit ab. Zudem waren sie in gesellschaftlichen
Milieus verwurzelt.572 Die alte Intelligenz konnte mit dem Trumpf der drohenden
Abwanderung in den Westen sogar bestimmte Zugeständnisse erreichen. Zum Beispiel
verlangten Ärzte für die eigenen Kinder Studienplätze, was die Selbstrekrutierung unter den
Medizinern förderte. Manche Akademiker schickten ihren Nachwuchs auch an westdeutsche
Universitäten, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Insofern war die Zeit bis 1961, wie
Christoph Kleßmann es ausdrückt, „in unterschiedlichem Ausmaß kontinuierlich von dem
Widerspruch zwischen Diskriminierung und Rücksicht auf noch nicht ersetzbare Fachkräfte
charakterisiert“.573 Auch in den DDR-Regierungsdienststellen verleitete der Mangel an
„unersetzlichen“ Wissenschaftlern dazu, bürgerlichen Fachleuten in einer Art und Weise
entgegenzukommen, die das Zentralkomitee für politisch nicht vertretbar hielt.574 Darüber
hinaus ist bei der Gegenüberstellung von alten und neuen Fachkräften zu bedenken, dass der
Kontrast bei den Berufsidealen nicht immer so groß ausfiel, wie man meinen könnte, denn
berufliche Milieus üben einen Anpassungsdruck aus. Es gab gerade in akademischen Zirkeln
ein traditionelles Berufsethos. Zum einen war daher in den sozialistischen Staaten eine
auffällige Kontinuität traditioneller akademischer Gepflogenheiten zu beobachten.575 Zum
anderen genossen schlechter ausgebildete Akademiker oder Verwaltungskader kein Ansehen
570
571
572
573
574
575
Hornbostel, Vertreter, S. 194 f.
Zimmermann, Überlegungen, S. 334; Hofmann / Rink, Mütter.
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 47 f.
Kleßmann, Relikte, S. 258 f.
Im Zentralkomitee der SED kritisierte man in einem Fall „versöhnlerische Tendenzen“ gegenüber
Fachkräften, die eine positive Orientierung zum Westen besaßen. SED-Mitglieder hätten sich diesen
gegenüber politisch sehr zurückgehalten, ihre Parteiabzeichen abgenommen und von ihnen »nur
ehrfurchtsvoll und im Flüsterton, um sie nicht zu verscheuchen« und vor den Kopf zu stoßen, gesprochen.
Dies betraf den Bereich Geophysik / Geologie am Beispiel der Staatlichen Geologischen Kommission,
siehe: DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 250 f., 255.
Anweiler, Hochschulpolitik, S. 83.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
128
bei ihren Kollegen und bei den Institutionen, die sie anleiten sollten. Allein deshalb hatten die
Kaderverantwortlichen und die Nachwuchskräfte selbst allen Grund, ein möglichst hohes
Fachniveau vor Einbau in den Verwaltungsapparat anzustreben.576
In zahlreichen Fällen gelang dies jedoch nicht. Das insgesamt eher niedrige
Bildungsniveau und der geringere fachliche Ausbildungsstand vieler neuer Kader, die oft
einige Stufen der üblichen Karriereleiter übersprungen hatten, zog mangelnde Autorität und
ungenügende Führungseigenschaften nach sich.577 Die vermehrte Einstellung von
Abkömmlingen der Arbeiterklasse, von denen sehr wenige die Hochschulreife besaßen,
geschweige denn einen Universitätsabschluss, trug maßgeblich dazu bei. Hinzu kam die
verstärkte Rekrutierung von Jugendlichen, die aufgrund ihres Alters noch keinen hohen
Bildungsgrad erreichen konnten, und von Frauen, die traditionell wegen weit verbreiteter
Rollenzuweisungen von besseren Bildungschancen ausgeschlossen waren. Die Bildung verlor
damit faktisch erheblich an Auslesefunktion. Im Zuge des schnellen Wachstums des
Regierungsapparates waren andere Kriterien wie die soziale Herkunft und Parteizugehörigkeit
in den fünfziger Jahren wichtiger.578 Die Machtfestigung und ideologisch begründete
Ausrichtung im Sinne der SED stand im Vordergrund. Das hieß primär, einen politisch
zuverlässigen Apparat zu schaffen und erst in zweiter Linie einen fachlich effizienten.
Für ehemalige Nationalsozialisten wiederum bedeutete diese Maxime, dass sie gerade in
den ersten Jahren der Stalinisierung ganz besonders gute Fachqualitäten vorweisen mussten,
um in der zentralen Staatsverwaltung eine Anstellung zu finden. Der Anspruch der KPD/SED,
den alten Staatsapparat möglichst vollständig zu zerschlagen und von „faschistischen“ und
„reaktionären“ Elementen zu säubern, war während der Entnazifizierung besonders stark.579
Erst mit zunehmender Konsolidierung der kommunistischen Machthaber ließ der Zwang, eine
politische Belastung durch Fachbildung auszugleichen, für die meisten NS-Belasteten etwas
nach, wenn er auch gerade in sensibleren Dienststellen alles andere als verschwand.580
Zugleich gewann die fachliche Qualifikation für NS-unbelastete Kader bzw. in der
Kaderpolitik allgemein an Bedeutung, obwohl sich das in den Regierungsdienststellen
statistisch kaum niederschlug.581 Insgesamt gesehen wurde der DDR-Staatsapparat den Ruf
der „politisierten Inkompetenz“ nie los.582
Wir haben es also mit zwei gegenläufigen Tendenzen zu tun: In den vierziger Jahren
war der Zwang, alte und nationalsozialistisch vorbelastete Fachleute zu verwenden, größer als
Ende der fünfziger Jahre. Gleichzeitig wollte die SED diesem Druck, als er am stärksten war,
am wenigsten nachgeben. Ihre Macht war noch nicht restlos gesichert und das Zutrauen in
den Wandel der Pgs. noch nicht gefestigt. Im Laufe der Zeit konnten ehemalige NSDAPMitglieder ihre Resozialisierung dann anstatt oder ergänzend zur Bildung zunehmend durch
andere Kadermerkmale wie politische Loyalität erreichen. Es gab ständig neue Gelegenheiten,
sie den Machthabern gegenüber zu bekennen und so Vertrauen zu schaffen. Gleiches galt
ungeachtet der fachlichen Qualifikation im Beruf, solange man eine kontinuierliche
576
577
578
579
580
581
582
Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 56.
Vgl. Wenzke, Wege, S. 268.
Vgl. Wenzke, Wege, S. 210, 252.
Richert, Macht, S. 271.
Noch 1958 sollten in der SPK politisch einwandfreie Leute auch bei fachlichen Defiziten bevorzugt
beschäftigt werden, siehe: DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 344, Bericht über die kaderpolitische
Zusammensetzung der Staatlichen Plankommission, undatiert [Eingangsstempel: Mai 1958].
Seit den sechziger Jahren war ein Hoch- oder Fachschulstudium Voraussetzung für Nomenklaturkader.
Peter Hübner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im „Neuen ökonomischen System der
Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖS) die Bedeutung des Expertenwissens zunahm, womit sich
ein technokratischer Trend verstärkte, siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 331; Hübner, Menschen, S.
328; Welsh, Wandel, S. 85; vgl. die Bezirkssekretäre der SED, deren fachliche Qualifizierung Ende der
1950er und Anfang der 1960er Jahre unverzichtbar wurde, in: Welsh, Kaderpolitik, S. 123.
Derlien, Elitezirkulation, S. 12.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
129
Aufbauarbeit nach den Vorstellungen der SED leistete.583 Die Eigenmotivation der
Bildungsschichten erklärt sich nicht zuletzt aus dem Bestreben, sich materielle Wünsche zu
erfüllen und den Beruf optimal auszuüben. Dadurch gelang es beim Systemwechsel ab 1945
nach demjenigen im Jahr 1933 zum erneuten Male, funktionale Eliten nach „Ausschaltung“
der unerwünschten oder nicht anpassungsfähigen Gruppen auf die Ziele der neuen politischen
Führung auszurichten.584
Erschwert wurde die Reintegration NS-belasteter Bildungseliten, aber auch die Arbeit
der neu ausgebildeten Kader durch latent schwelende anti-intellektuelle Ressentiments vieler
proletarischer SED-Mitglieder. Ihr Bildungsneid und die Geringschätzung der „Bourgeoisie“
schufen ein Klima, in dem sich die Intelligenz manchen Anfeindungen ausgesetzt sah.585 Die
SED-Führung mühte sich, dem entgegenzuwirken. Sie warb für eine hohe Bildung als
erstrebenswertes Gut.586 Davon unbeschadet versuchten die Leitungen und Kaderabteilungen
der Ministerien, jungen Nachwuchs aus dem nachgeordneten Apparat und der Produktion
nach Berlin zu holen, natürlich die besten und „fortschrittlichsten“.587 Die „unteren“
Einrichtungen gaben ihre Angestellten jedoch nur ungern und nicht ohne Widerstand ab, da
sie selbst unter Fachkräftemangel litten. Die Rekrutierungsbemühungen wurden außerdem
dadurch beeinträchtigt, dass das Lehrpersonal an den Ausbildungsstätten selbst nicht immer
die notwendigen Qualifikationen aufwies, teils in fachlicher, teils in politischer Hinsicht. Das
Ausbildungsniveau der Abgänger lag in diesen Fällen entsprechend weit unter den
geforderten Ansprüchen.588 Eine andere Methode war es, den alten Fachleuten aufzutragen,
neue Kräfte direkt am Arbeitsplatz zu „unterrichten“. Auf diese Weise entstand natürlich auch
Konkurrenz.589 Denn die Pgs. und andere „Negativgruppen“ sollten Kader anlernen, von
denen sie annehmen konnten, dass sie ihren Posten eventuell übernehmen würden. Das wird
die NS-belasteten „Abschusskandidaten“ nicht gerade zu Höchstleistungen motiviert haben.
Der persönliche Kontakt der Bildungsaufsteiger mit den übrig gebliebenen Vertretern
der Dienstklasse des NS-Regimes lässt mich sehr daran zweifeln, dass die
Auseinandersetzung mit den alten Eliten „auf die abstrakte Ebene der
Systemauseinandersetzung gehoben und damit der realen Erfahrung enthoben worden“
war.590 Denn die persönlichen Lebenserfahrungen konterkarierten die Ideologie der
Kommunisten.
Die
Kenntnis
der
gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen
im
Nationalsozialismus und die zwischenmenschlichen Beziehungen zu den hauptsächlich wegen
formaler Mitgliedschaften und beruflicher Positionen als besonders verantwortlich
eingestuften Subjekten schufen ein alternatives Beurteilungsraster. Sie verliehen dem
Faschismus, dem Kapital und ihren bürgerlichen Stützen ein menschliches Gesicht, dass sich
für viele kaum von dem eigenen unterschied. Was die Bildungsressourcen anbelangte, so
versperrte die SED-Kaderpolitik dennoch vielen NS-Belasteten und Bürgerlichen den Zugang
zu ihnen.591 Die Öffnung der höheren Bildungswege für bislang benachteiligte Randgruppen
begründete daher ein überaus markantes Merkmal sozialen Wandels in den fünfziger und
583
584
585
586
587
588
589
590
591
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Planung, Statistisches Zentralamt, vom 20.04.1950, S. 1.
Beyrau, Bildungsschichten, S. 44.
Vgl. Gieseke, Genossen, S. 209, 224 f.
Hübner, Menschen, S. 342.
Das ging oft mit mehr oder weniger lukrativen Abwerbungen einher. Nachwuchs- und Reservekader
wurden aber auch regelrecht „gezogen“. Grundsätzlich galten alle Hoch- und Fachschulabsolventen als
potenzielle Nachwuchskader, siehe: DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium der Finanzen, HA Personal,
Berichterstattung für das 1. Quartal 1950, an MdI, HA Personal, vom 20.04.1950, S. 7; Zimmermann,
Überlegungen, S. 330.
DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 255.
DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 344, Bericht über die kaderpolitische Zusammensetzung der Staatlichen
Plankommission, undatiert [Eingangsstempel: Mai 1958]; Zimmermann, Überlegungen, S. 334.
Hofmann / Rink, Mütter, S. 209.
Hoefs, Kaderpolitik, S. 155.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
130
sechziger Jahren.592 Die anschließenden Berufschancen der neuen Bildungsschichten waren
ebenfalls exzeptionell gut. Die Entnazifizierung und die Kaderpolitik hatten für ungewöhnlich
viele leere Posten gesorgt, die unter „normalen“ Umständen nie oder nur erschwert zu erobern
gewesen wären. Dafür verlangten die neuen Machthaber Anpassung, Fleiß und Disziplin.
Darüber hinaus forderten sie die mentale Überwindung der Enttraditionalisierung, d.h. die
Abkehr von alten Autoritäten und ihren nunmehr geächteten Werten.593 Einer umfassenderen
Beurteilung des erreichten Bildungsniveaus der Neuaufsteiger enthalte ich mich an dieser
Stelle.594
Weiterbildungsmaßnahmen räumte die Kaderpolitik frühzeitig einen hohen Stellenwert
ein, der bis Ende der fünfziger Jahre und darüber hinaus weiter zunahm. Er fand seinen
Ausdruck in einem zunehmend verzweigteren System von Weiterbildungsinstitutionen und –
kursen.595 Im Blickpunkt standen grundsätzlich fachliche und politische Inhalte. Beides war
vielfach ohnehin nicht voneinander zu trennen, wenn es um eine „volksnahe“ Arbeit ging, die
die Vorgaben der SED zur Erlangung des Sozialismus anstrebte.596 Eine Zielgruppe für
Schulungen stellten natürlich die relativ hastig eingestellten „neuen“ Verwaltungskräfte dar,
die hier und da einfach noch größere Wissenslücken besaßen. Ihre manchmal nur
oberflächliche Ausbildung zog eine schlechtere Leistungsfähigkeit des gesamten Apparates
nach sich.597 Ältere Spezialisten hatten zwar fachlich weit weniger Bedarf an Fortbildungen.
Doch auch sie sollten sich Grundkenntnisse in Marxismus-Leninismus aneignen.598 Nicht
zuletzt schienen sich durch eine solche Konfrontation das individuelle ideologische
Entwicklungspotenzial und die politische Anpassungsbereitschaft abzuzeichnen. Auf der
anderen Seite standen die Dienststellen vor dem Dilemma, dass sie für Weiterbildungskurse
dringend benötigte Kader mehrere Wochen und Monate abstellen sollten. Bei der dünnen
Personaldecke in den fünfziger Jahren stellte das den Verwaltungsbetrieb vor ernsthafte
Probleme. Deshalb gingen oft nur die entbehrlicheren Mitarbeiter zu Schulungen. Die
Leistungsträger mussten hingegen am Arbeitsplatz verbleiben, sollten sich in ihrer Freizeit
fortbilden oder wurden erst mit etlichen Verzögerungen für eine Schulungsmaßnahme
freigegeben.
Welche Ausmaße nahmen die Weiterbildungsprogramme in der staatlichen Verwaltung
an? Im gesamten öffentlichen Dienst der SBZ hatte 1949 erst etwas mehr als ein Prozent der
Angestellten eine fachliche Weiterbildung belegt.599 Wir dürfen annehmen, dass sich die
592
593
594
595
596
597
598
599
Hofmann / Rink, Mütter, S. 209.
Hofmann / Rink, Mütter, S. 218.
Wie auch immer der Ausbildungsgrad einzuschätzen ist: Für die neue Intelligenz war Bildung nach wie vor
ein
bedeutendes
innergesellschaftliches
Unterscheidungsmerkmal.
Dazu
trugen
die
Einkommensegalisierung, der Mangel an Konsumgütern und das bei Altkommunisten ohnehin verachtete
Statusheischen mittels materieller Dinge maßgeblich bei, siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S. 63; Zur
Einschätzung der beruflichen Qualifikation der neuen Kader im DDR-Regierungsapparat vgl. Kapitel
„Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am Arbeitsplatz“.
1948 fehlten nach Aussage der HV Finanzen noch Schulen für die Fortbildung der alten Verwaltungskräfte,
die bei Kriegsende übernommen wurden. Unmittelbar nach der Staatsgründung wurden dann eigene
Schulungsabteilungen aus den Personalabteilungen ausgegliedert, was die Bedeutung der Weiterbildung
unterstrich. Zu den Verwaltungsschulen gehörten z.B. die Deutsche Verwaltungsakademie in Forst Zinna,
aber auch solche auf niedrigerer Ebene. Eine nicht unwichtige Rolle bei Fortbildungsmaßnahmen kam den
Universitäten zu. Neben der SED führten auch die kleinen Blockparteien Schulungen durch, siehe: DN 1,
2080/1, Bl. 124; Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 387, 402; Boyer, Kader, S. 29, 32-34; Glaeßner,
Herrschaft, S. 256 ff., 301 ff.
In diesem Zusammenhang schreibt Gert-Joachim Glaeßner, die fachliche Qualifikation habe ab Ende der
1950er Jahre an Bedeutung gewonnen und „eine am ökonomischen Kalkül orientierte Leitung“ habe „per
se als politische Leitung“ im NÖS gegolten, siehe: Glaeßner, Herrschaft, S. 220, 226; Zimmermann,
Überlegungen, S. 335 f.
Wenzke, Wege, S. 247.
Glaeßner, Herrschaft, S. 123.
Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 221.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
131
Deutsche Wirtschaftskommission nicht sonderlich davon abhob. Bereits 1952-1953 hatten
circa 16% aller Regierungsangestellten nach dem Ende des NS-Regimes mindestens drei
Monate lang an Lehrgängen oder am Fernstudium der Verwaltungsgrundschule, der
Landesverwaltungsschule oder der Deutschen Verwaltungsakademie „Walter Ulbricht“
teilgenommen. Außerdem besuchten sie Schulen der Parteien, der Massenorganisationen und
in der UdSSR oder beteiligten sich am Fernstudium der SED-Parteihochschule. Im gleichen
Zeitraum hatten 10-16% aller Verwaltungskader nach 1945 ein Staatsexamen an einer
Hochschule abgelegt, die Fachwirtschafts- und Ingenieur-Schule besucht oder Lehrgänge der
Regierungsdienststellen der DDR und der Länder von ebenfalls mindestens einem Vierteljahr
Dauer absolviert.600 Diese Zahlen belegen eine recht beachtliche Steigerung der
Fortbildungsmaßnahmen in den Ministerien nach Gründung der DDR. Darüber hinaus gaben
sie dem MdI Auskunft darüber, wie viele Mitarbeiter im Sinne der Machtelite ausgebildet
wurden und in welchen Bereichen und Positionen sie arbeiteten. Auch bei fachlichen
Schulungen konnten die Personalverantwortlichen – trotz aller Ausnahmen – mehrheitlich
davon ausgehen, dass die Kader von politisch zuverlässigen Dozenten „erzogen“ wurden. Auf
die ideologischen Schulungen durch den SED-Parteiapparat traf das allemal zu. Ziel war die
Schaffung des politisch bewussten, sein fachliches Können ganz in den Dienst der Partei und
des Sozialismus stellenden Verwaltungskaders.
Der utopisch wirkende Glaube an die Beeinflussbarkeit der Menschen unterschätzte
jedoch die gewachsenen Milieukräfte. Die politischen Schulungsinhalte gingen in großem Stil
an der Lebenswirklichkeit und Biografie der Rezipienten vorbei. Die „Erziehungsdiktatur“
mit ihren vorgegebenen Erklärungsmustern für Geschichte, Wirtschaft und Soziales ließ
keinen Platz für variierende Ansichten, gesamtgesellschaftlich und individuell. Die SED
strebte eine Gehirnwäsche an, die sie selbst als Erkenntnisarbeit zur uniformen Verbreitung
des eigenen, einzig richtigen Weltbildes mit wissenschaftlichem bzw. Unfehlbarkeitsanspruch
betrachtete. Dabei gewinnt man bei der Lektüre der Quellen den Eindruck, dass die
ideologisch geprägten Schulungsinhalte bei der eher unpolitischen Masse ziemlich unbeliebt
waren. Sie empfand den Unterricht in Marxismus-Leninismus offenbar als störend, weil er sie
von den „wichtigen“ fachlichen Aufgaben abhielt, während die SED die Verbindung von
beidem propagierte. Der Erfolg der Weiterbildungsbemühungen ist unklar und in anderen
Zusammenhängen bislang kaum erforscht. Im militärischen Sektor scheinen die Schulungen
ihre Ziele verfehlt zu haben. Ein hoher politischer Bewusstseinsstand, eine innige
Freundschaft zur Sowjetunion oder ein Hass auf Imperialismus und Kapitalismus stellten sich
dort nicht wie beabsichtigt ein.601 Ähnliches ist für den DDR-Regierungsapparat und die
ehemaligen Nationalsozialisten in ihm zu vermuten. Letztlich ist es jedoch nicht überprüfbar,
inwiefern die Kader ihre Aufgaben vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Zahlen zu
Absolventen von Weiterbildungsmaßnahmen danach fachlich besser oder klassenbewusster
erledigten als zuvor.602 Darüber hinaus beeinträchtigte die hohe Fluktuation den Erfolg der
fachlichen Schulungsmaßnahmen, weil die Geschulten an ihren neuen Arbeitsplätzen
eventuell wieder neu eingearbeitet werden mussten.603
Aufgrund der zuletzt genannten Gründe und wegen des Ende der vierziger Jahre
besonders großen Fachkräftemangels möchte ich die These wagen, dass länger andauernde
Weiterbildungsmaßnahmen en bloc für die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in
der Deutschen Wirtschaftskommission praktisch keine Rolle spielten. Sie waren fachlich von
vornherein meist besser gebildet als ihre Kollegen, die es nötiger hatten. Nur bei etwa einem
600
601
602
603
Einzelheiten zur statistischen Erfassung von Weiterbildungsmaßnahmen durch das MdI siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 221 f.
Nach Rüdiger Wenzke hat eine „permanente, oft plumpe politische Indoktrinierung“ stattgefunden, siehe:
Wenzke, Wege, S. 260.
Zimmermann, Überlegungen, S. 337.
Zimmermann, Überlegungen, S. 333.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
132
halben Dutzend Angehörigen des NS-Samples ließen sich fachorientierte Lehrgänge, Studien
und weitere berufsqualifizierende Abschlüsse in der SBZ/DDR nachweisen. Man könnte auch
sagen, die untersuchten NS-Belasteten waren so gut gebildet, dass sie fachliche Fortbildungen
nicht zwingend brauchten, um eine attraktive Arbeit zu erhalten. In ihrer fachlichen
Zuverlässigkeit lag unzweifelhaft ein Vorteil, den die Dienststelle zu schätzen wusste. Allein
bei der ideologischen Qualifizierung gab es aufgrund der NS-Vergangenheit einen Grund,
ehemalige Nationalsozialisten zügiger und intensiver zu schulen als andere. Die Teilnahme an
entsprechenden Schulungen ist auch für einige der untersuchten NS-Belasteten belegt. Sie
konnte sich aber nur dann wirklich lohnen, wenn die früheren NSDAP-Mitglieder nicht schon
vorab als Übergangskader galten, die sowieso bald ausscheiden. Säuberungsvorstellungen der
Kaderverantwortlichen sowie ein oft fortgeschrittenes Alter, das ein Entwicklungspotenzial
nur begrenzt vermuten ließ, bewirkten deshalb, dass das Pendel zu Ungunsten vieler
„Altlasten“ ausschlug. Im Lauf der fünfziger Jahre planten die Kaderabteilungen dann
vermutlich immer mehr der neu eingestellten sowie der mittel- und langfristig bleibenden NSBelasteten aufgrund wachsenden Vertrauens für Fortbildungsmaßnahmen ein. Wer dabei
politisch kooperierte, empfahl sich natürlich ganz besonders für eine fachliche Schulung, und
umgekehrt. Die SED sah die Teilnahme an den regelmäßig abgehaltenen politischen
Kurzvorträgen und Diskussionsrunden zwar ebenso gerne wie längere Schulungsmaßnahmen
in den von ihnen kontrollierten Lehranstalten. Doch für das eine wie das andere lassen sich
mangels Quellendichte, insbesondere auch zu Schulungen nach dem Ausscheiden aus dem
zentralen Staatsapparat, keine klaren Aussagen über Resonanz und Erfolg treffen.604
Als Fazit lässt sich metaphorisch festhalten: Wer nicht schlau genug war, die Rätsel
der Sphinx zu lösen, wurde gefressen. Nur ein überdurchschnittliches Fachwissen, das eine
profunde Schul- und Berufsausbildung voraussetzt, bewahrte den Großteil der NS-Belasteten
im zentralen Staatsapparat vor den Fängen der Kadersäuberung und verhinderte den damit
verbundenen sozialen Abstieg. Anderen ehemaligen Nationalsozialisten ermöglichte ihr
Wissen überhaupt erst, in solche Bereiche der öffentlichen Verwaltung (wieder) aufzusteigen.
Der große Mangel an qualifizierten Fachkräften und die schleppend anlaufende Entstehung
einer neuen Intelligenz ließ ihrer Zugehörigkeit zur DDR-Bildungselite zumindest zeitweilig
auch die Wiedereingliederung in gesellschaftlich bedeutendere Positionen folgen.
2.1.5
Soziale Stellung: statistische Auswertung des
1933-1945 überwiegend ausgeübten Berufes
Die „soziale Stellung“ war die Schwester der „sozialen Herkunft“. Beide basierten im
Wesentlichen auf der gleichen Einteilung der Bevölkerung in verschiedene Berufs- und
Gesellschaftsschichten auf Grundlage des Marxismus-Leninismus. Im Gegensatz zur sozialen
Herkunft, die maßgeblich auf dem Beruf des Vaters fußte, bezog sich die soziale Stellung auf
den Beruf des Kaders selbst. Wegen der ansonsten weitgehenden Deckungsgleichheit erübrigt
sich eine gesonderte Erörterung der ideologischen und kaderpolitischen Bedeutung dieses
Merkmals samt seiner einzelnen Unterkategorien. Es sei hier auf das Kapitel „Soziale
Herkunft“ verwiesen. Im Folgenden konzentriere ich mich stattdessen auf die Statistikfunde
604
Ein in der DDR nachträglich absolviertes Abitur oder ein Hochschulabschluss kam im NS-Sample
vereinzelt vor, blieb aber die Ausnahme. Fortbildungen vor Eintritt in die DWK habe ich nicht
berücksichtigt. Beispiele (Wilhelm W., Hans Forsbach, Marianne H., Abteilungsleiter im Ministerium für
Verkehr Kurt Weber) und Quellenangaben, auch zu politischen Weiterbildungskursen, die die NSBelasteten belegten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 223 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
133
zum Personalkörper der zentralen Staatsverwaltung. Das Interesse gilt dabei besonders dem
Zeitraum 1933-1945, und zwar aus quellentechnischen Gründen und darüber hinaus um die
Frage zu ergründen, an welcher Karrierestation die NS-Belasteten vor der Entnazifizierung
und dem Eintritt in die Staatsverwaltung standen. Die Ergebnisse setze ich dann in Relation
zu Erhebungen über die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen
Wirtschaftskommission.
Das MdI änderte die Erhebungsrubriken für die „Soziale Stellung” etliche Male, ähnlich
wie bei der „Sozialen Herkunft”.605 Deutlich kommt das Bestreben zum Ausdruck, die
ideologischen Vorgaben besser umzusetzen und zum Beispiel Vertreter des Kapitals und der
Bourgeoisie kenntlich zu machen. Die häufigen Kategorieänderungen deuten aber auch an,
dass die Personalverantwortlichen Probleme hatten, ihre Kader eindeutig einer der Rubriken
zuzuordnen.606 Schließlich stellen diese ständigen Wechsel im Zählmodus einen Historiker
vor die praktisch unlösbare Aufgabe, ohne Rückgriff auf Primärdaten Kontinuitätslinien zu
ziehen. Deshalb beziehen sich die folgenden Angaben zum Personalkörper der DDRMinisterien überwiegend auf den Zeitraum bis Ende 1953.
Wie sah unter diesen Voraussetzungen in der Ära des Nationalsozialismus die soziale
Stellung des Gesamtpersonals der DDR-Regierung aus? Die aufgefundenen Zahlen zeigen,
dass 1950-1953 diejenigen Kader, die in der Hitler-Diktatur als „Angestellte” tätig waren, mit
Abstand die größte Gruppe darstellten.607 Ihr Anteil schwankte zwischen 49 und 56%, das
waren also rund die Hälfte aller Verwaltungskader. Dann schlossen sich mit 22-30%
diejenigen an, die während des NS-Regimes Schüler oder Studenten waren. Hierin spiegelt
sich nicht zuletzt die Jugendförderung im Rahmen der SED-Personalpolitik wider. Erst an
dritter Stelle folgten die „Arbeiter” mit 11-17%. Eine Dominanz des Proletariats lässt sich
also bestenfalls bei der sozialen Herkunft, d.h. dem Vatersberuf der Regierungskader,
feststellen, nicht aber bei den Kadern selbst! Dabei sind die definitorischen Unschärfen des
Begriffes „Arbeiter” in Erinnerung zu rufen. Des Weiteren ist zu bedenken, dass sich die
Quellen auf der damaligen Einschätzung der Personalabteilungen gründen und allein deren
Meinungsbild wiedergeben. Doch selbst dann müssen wir feststellen, dass der Idealtypus des
Industriearbeiters im DDR-Staatsapparat nur eine Randfigur war.
Die Gruppe der Beamten nahm sich bei 2-4% noch deutlich marginaler aus. Dabei
verteilten sie sich allerdings höchst unterschiedlich auf die einzelnen Verwaltungszweige. Das
Ministerium für Post und Fernmeldewesen führte mit zeitweilig über 40% ehemaligen
Beamten die Rangliste unangefochten an. Mit weitem Abstand folgten das Ministerium für
Verkehr bzw. das für Eisenbahnwesen mit 16% bzw. 23%. Diese Zahlen erklären sich
natürlich durch den hohen Beamtenanteil bei der Reichspost und Reichsbahn. Auch andere
alte Beamtendomänen wie die Justiz und das Finanzressort vermeldeten erhöhte Werte.608 Der
605
606
607
608
Einzelheiten zu den durch die DWK und das MdI erhobenen Berufsgruppen siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 225 f.
Grundlage einer Klassifizierung sollte stets die marxistisch-leninistische Lehre von den Klassen sein. Die
Ansichten darüber, was das für die konkrete Personalpolitik bedeutete, gingen allerdings manchmal weit
auseinander. Ein Personalleiter aus dem Ministerium der Finanzen machte beispielsweise eine
Aufgliederung bei der sozialen Herkunft und der „klassenmäßigen Zugehörigkeit”, die er an die
Personalleiter der Finanzämter leitete. Das ZK und das MdI fanden sie schlicht unsinnig. Die Vorlage
beinhaltete unter anderem den Hinweis, dass ehemalige NSDAP-Mitglieder, die häufig Beamte gewesen
sind und nach 1945 einige Jahre „Arbeiter” waren, trotzdem nicht zur Arbeiterklasse zählen können. Nach
welcher Zeit ein Klassenwechsel nach Meinung der SED-Machtelite möglich war, bleibt unklar.
Quellenangaben, auch zu Selbstauskünften bei Günther Kromrey und Harald Schaumburg, siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 226.
Angaben über Statistikquellen zum Gesamtpersonal der DDR-Regierungsdienststellen sowie zu
verschiedenen Berufsgruppen darin (bzw. in den Ländern) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 f.; eine
grafische Auswertung siehe: ebd., (Abb. 36).
Details zur Verteilung derjenigen Mitarbeiter der DDR-Regierung, die 1933-1945 der sozialen Stellung
nach Beamte waren, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 227.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
134
hohe Anteil von NSDAP-Mitgliedern im Berufsbeamtentum begünstigte, dass sich in
denjenigen Dienststellen, die zahlreiche ehemalige Beamte beschäftigten, teilweise auch
überdurchschnittlich viele ehemalige Pgs. anzutreffen waren. Die Verteilung ehemaliger
NSDAP-Mitglieder wird noch erörtert.609
Einen ähnlich niedrigen Anteil am Gesamtpersonal der DDR-Regierung verzeichneten
mit ca. 2% diejenigen Mitarbeiter, die 1933-1945 „akademische Berufe” ausübten.610 Dabei
ist unklar, was das MdI genau unter akademischen Berufen verstand. Ein
Hochschulabsolvent, der in der Verwaltung oder in einer Firma arbeitete, zählte offenkundig
nicht hierzu, sonst müsste der Prozentwert angesichts der nachweisbaren Bildungsabschlüsse
des Gesamtpersonals höher liegen. Es handelte sich wahrscheinlich um unmittelbar in
wissenschaftlichen Einrichtungen tätige Personen, die der Lehre oder Forschung nachgingen
– egal ob als Beamte, Angestellte oder mit einem anderen Status. Zu beachten sind ferner
einige Änderungen der Erhebungsparameter: Bis Ende 1951 gehörten zu den Schülern und
Studenten noch die Lehrlinge. Es ist nicht bekannt, ob dies lediglich eine verbale Korrektur
war und inhaltlich alles unverändert blieb oder ob von da an die Lehrlinge beispielsweise den
„Angestellten” und „Arbeitern” zugeschlagen wurden. Das würde die prozentualen
Steigerungen dieser beiden Kategorien in der unmittelbaren Folgezeit erklären. Bei den
Arbeitern kam noch hinzu, dass ab Anfang 1952 ausdrücklich auch die „Landarbeiter” mit
eingeschlossen waren. War das wiederum nur eine sprachliche Konkretisierung oder zählte
sie das MdI zuvor zu den „Bauern” oder den „Angestellten”? Oder handelte es sich um
Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner ohne festen Arbeitsplatz, die eigentlich eher zu den
Arbeitslosen oder „Freiberuflern” gehörten? Auch das sind ungeklärte Fragen, die insgesamt
aber wohl nur graduelle Abweichungen in den Personalstatistiken nach sich zogen.
Wie erwähnt fallen einige Gruppen zur „Sozialen Stellung“ recht klein aus. Dazu
gehörten auch die Bauern, die ja ideologisch eigentlich ein überaus wertvolles
Gesellschaftssegment repräsentierten. Doch kaum ein Bauer verließ seinen Hof, den er einmal
übernehmen sollte oder den er nicht an andere abgeben konnte.611 Insofern gab es kaum
Unterschiede zur „Sozialen Herkunft“. Der gesamte öffentliche Dienst in Ostdeutschland
setzte sich beim Merkmal „Soziale Stellung“ durchaus mit anderen Schwerpunkten
zusammen, die zu erklären eine eigene Untersuchung wohl lohnen würde.612 Nicht
unerheblich zur Beurteilung der genannten Größenordnungen im DDR-Regierungsapparat ist
darüber hinaus ein Blick auf die Geschlechterverteilung. Denn hier sind Indizien für
traditionelle berufliche Rollenverteilungen erkennbar, so für die Männerdominanz im
öffentlichen Dienst und in Berufen, die eine höhere Bildung erforderten. In den Gruppen
„Beamte”, „Akademische Berufe”, aber auch bei den „Arbeitern” fanden sich demnach etwa
zehnmal mehr Männer als Frauen. Bei „Angestellte” und „Schüler, Lehrlinge, Studenten” war
das Verhältnis ungefähr ausgeglichen. Die genannten Frauenquoten korrelieren mit der an
anderer Stelle bereits skizzierten hohen Männerquote und dem überdurchschnittlichen
Bildungsniveau des NS-Samples.613
Sehen wir uns die Verteilung der Beamten und Akademiker auf die jeweiligen
Hierarchie-Ebenen der DDR-Regierung 1950-1953 an, so registrieren wir ein zu erwartendes
Bild:614 Die ehemaligen Beamten stellten an den leitenden und mittleren Funktionen zunächst
ca. 6% und am Ende, zusammen mit dem Fachpersonal, 3-4%. Dabei ist den Quellen zu
entnehmen, dass besonders viele ehemalige Beamte die Position eines Hauptreferenten in der
oberen Mittelschicht der Verwaltungshierarchie einnahmen. Gleichzeitig lag der
609
610
611
612
613
614
Siehe Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche: Verwaltungszweige“.
Angaben über Statistikquellen zu den DDR-Regierungsdienststellen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
227; zu Ungarn vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 225.
Vgl. Wenzke, Wege, S. 251, 257.
Einzelheiten hierzu siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 228.
Siehe Kapitel „Frauen“ sowie „Bildung und Weiterbildung“.
Diagramme hierzu samt Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 ff. (Abb. 40 und 41), 229.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
135
Beamtenanteil bei den übrigen Funktionen nur bei 2-3% und bei den technischen um 1%. Für
die einfacheren Tätigkeiten gab es genügend andere Kräfte, so dass die
Personalverantwortlichen dort nicht auf die eher ungeliebten alten Beamten zurückgreifen
mussten. Bei den Positionen, die ein höheres Niveau an Bildung und Berufsqualifizierung
erforderten, war das anders. Analog verhielt es sich bei den „akademischen Berufen”: Sie
stellten an den Leitungskadern 8-11% und auf der Referentenebene 4-6%. Bei den
technischen Kräften und den übrigen Verwaltungsangestellten hingegen lagen sie bei Null.
In den restlichen Kategorien der sozialen Stellung modifizierte sich der Grundsatz „je
höher die Position, umso gebildeter die Fachkraft” etwas. Nehmen wir zum Beispiel die
„Arbeiter”:615 Anfang der fünfziger Jahre stellten sie 60-74% der technischen Kräfte und 69% der als „Fachkräfte” bezeichneten Kader. Soweit passt das Bild also zu den Erörterungen
über Beamte und „akademische Berufe“. Doch schauen wir uns die sonstigen Positionshöhen
etwas genauer an: Bei den mit eher einfachen Tätigkeiten befassten Sachbearbeitern,
Sekretärinnen, Stenotypistinnen etc. („übrige Angestellte“) rangierte der Arbeiteranteil mit
11-15% unter dem auf der mittleren Referentenebene, der von 12 auf bis zu 19% stieg. Bei
den Leitungskadern wuchs der Arbeitersatz sogar von 13 auf maximal 25%. Drei Gründe
scheinen mir hierfür maßgeblich gewesen zu sein: Erstens die sehr geringe Frauenquote bei
dem als „Arbeiter” eingestuften Personal. Sie führte bei der weiblich dominierten unteren
Verwaltungsebene zu einem kleinen Prozentsatz an Arbeitern. Zweitens war die ideologisch
begründete Bevorzugung von Proletariern für machtpolitisch wichtige Leitungsposten
bedeutsam. Drittens kam die stärkere Arbeiterpräsenz in der SED, deren Mitglieder
überdurchschnittlich oft leitende Funktionen wahrnahmen, zum Ausdruck. Alles in allem ist
aber zu betonen, dass das Arbeiterelement – von den Hausmeistern, Putzfrauen etc. abgesehen
– selbst in den lenkenden Stellen eine Minderheit war.
Hinsichtlich der „Angestellten” tauchen erneut Abgrenzungsprobleme auf. Hat das
Ministerium des Innern zum Beispiel einen Handwerker, der in einem kleinen Industriebetrieb
angestellt war, in diese Gruppe eingeordnet oder bei den „Arbeitern”? – wir wissen es nicht.
Ein „Angestellter”, der nicht direkt im produzierenden Gewerbe tätig war, sondern einer
Dienstleistung nachging, also vor allem am Schreibtisch verwaltete, war offensichtlich kein
„Arbeiter der Stirn”. Da „Angestellte” und „Schüler” ein Konglomerat aus verschiedenen
Berufen und sozialen Schichten bzw. aus unterschiedlich gebildeten Personen darstellten,
erscheint ihre Verteilung auf die jeweiligen Positionshöhen nur bedingt aussagekräftig zu
sein, zumal sich ein etwas uneinheitliches Bild ergibt.616
Spezifische Angaben zur Kontinuität von Personen, die im Weimarer Staatsapparat,
im so bezeichneten „faschistischen“ des NS-Regimes und anschließend in den DDRRegierungsdienststellen tätig waren, lassen entsprechende Erhebungen des MdI zu.617
Eindeutig ist, dass die Innenbehörde dazu sowohl Beamte als auch einen Teil der ihrer
sozialen Stellung nach als „Angestellte“ bezeichneten Kader zählte. Etwas unklar ist, wie weit
der in den Quellen auftauchende Begriff „Staatsapparat“ gefasst wurde. Verstand die HA
Personal darunter auch einfache Beamte der Reichspost und Reichsbahn oder nur die im
engeren Sinne in den Reichsministerien beschäftigten Mitarbeiter? Wie auch immer: Die weit
verbreitete Annahme, dass nach dem Zweiten Weltkrieg viele Fachkräfte aus der Weimarer
Republik reaktiviert wurden, die nicht mit dem NS-Staat in Berührung gekommen waren,
stimmte spätestens Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr. Weniger als ein Prozent aller
Regierungsangestellten hatte bereits vor 1933 in der Verwaltung gearbeitet und war noch vor
615
616
617
Eine grafische Darstellung und die entsprechende Erläuterung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 f.
(Abb. 37), 229.
Diagramme und Erläuterungen dazu siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 ff. (Abb. 38 und 39), 230;
vgl. die HVA-Offiziere: Im Juni 1951 galten 84,3% vor dem Eintritt in die VP als Arbeiter. Andererseits
war der Bauernanteil minimal, in: Wenzke, Wege, S. 251, 257.
Ein Diagramm samt Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 226 ff. (Abb. 42), 230 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
136
der Etablierung der NS-Diktatur ausgeschieden. Demgegenüber waren 1954-1956 mit
abnehmender Tendenz 4-9% der Kader im nationalsozialistischen Staatsapparat einer
Beschäftigung nachgegangen. Dabei ballten sich diese Kader in den Domänen der
öffentlichen Verwaltung Verkehr, Finanzen und Post.618
Es ist hierbei zu berücksichtigen, dass gleichzeitig das Personal in den DDRMinisterien anwuchs, die im Weimarer und NS-Staatsapparat tätigen Kader altersbedingt ein
schrumpfendes Rekrutierungsreservoir darstellten und zunehmend neu ausgebildete junge
Kräfte zur Verfügung standen. Letztere sollten den Kaderabteilungen selbstverständlich auch
bei ihren Bemühungen zugute kommen, nicht mehr „erziehbare“ und „reaktionäre“ alte
Beamte aus dem Apparat herauszusäubern und zu ersetzen. Aus genau diesen Gründen lag der
Anteil der einst im NS-Staatsapparat Beschäftigten Mitte der fünfziger Jahre bereits sehr viel
niedriger als noch wenige Jahre zuvor. Zwar liegen keine direkten Vergleichswerte zur DWK
vor, die über einen längeren Zeitraum erhoben wurden.619 Doch es gibt eine einzigartige
Quelle über ehemalige Mitarbeiter von Reichsdienststellen, die in der Deutschen
Wirtschaftskommission eine Anstellung fanden. Danach stellten im Dezember 1948
diejenigen, die nach Einschätzung der Kaderverantwortlichen 1933-1945 leitende Funktionen
in Reichsdienststellen eingenommen hatten, fünf Prozent des DWK-Personals und diejenigen
in ehemals nicht leitender Stellung 34%. Zusammen zählten sie also deutlich mehr als die im
NS-Staatsapparat beschäftigten Mitarbeiter, die mindestens ab 1954 in der DDR-Regierung
tätig waren, auch in absoluten Zahlen.620 Ein wesentlicher Teil des DWK-Personals brachte
wertvolle Berufserfahrungen aus der staatlichen Verwaltung in die Wirtschaftskommission
ein. Ohne diese ehemaligen Mitarbeiter von Reichsministerien etc. wäre der zentrale
Behördenapparat in der SBZ mit Sicherheit zusammengebrochen. Bei ihrer Verteilung
innerhalb der DWK zeigen sich darüber hinaus Überschneidungen mit solchen Ressorts, in
denen sich auch frühere NSDAP-Mitglieder konzentrierten, wie noch darzustellen sein
wird.621
Sehen wir uns jetzt die Zahlen zur Präsenz der Angestellten, die im NS-Staatsapparat
tätig waren, auf den jeweiligen Hierarchie-Ebenen der DDR-Regierung an:622 Die genannte
Personengruppe war 1954-1956 auf allen Positionshöhen relativ gleichmäßig vertreten.
Anfangs mit 6-10%, dann fallend auf 2-4%. Zwar war für die kaderpolitische
Gesamtbewertung vor allem auch das konkrete Aufgabenfeld von großer Bedeutung. Doch
sofern die Berufstätigkeit im NS-Staatsapparat einen Makel darstellte, fiel er offenbar nicht
schwerer ins Gewicht als eine NSDAP-Mitgliedschaft. Darauf deutet jedenfalls hin, dass
dieses Merkmal auch bei den technischen Kräften anzutreffen war, bei denen ja noch am
618
619
620
621
622
Im „Weimarer und im NS-Staatsapparat” waren abnehmend 3-1% aller Regierungsangestellten früher
einmal tätig. Einzelheiten zu den einst im NS-Staatsapparat Beschäftigten, insbesondere deren
Konzentrationen, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 230 f.
Vgl. ehemalige Verwaltungsbeschäftigte unter den Angehörigen des öffentlichen Dienstes der SBZ, in:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 231.
In absoluten Zahlen: 280 ehemals in Reichsdienststellen leitende Mitarbeiter und 1887 ebenda nicht
leitende. Details der Auflistung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), Anhang 3; Quellenangaben siehe: ebd., S.
1014.
Ehemals leitende Reichsdienststellenangehörige im Personal der jeweiligen DWK-Hauptverwaltungen gab
es am meisten in der HV Finanzen mit 13%, der HV Land- und Forstwirtschaft mit 12% und der HV
Gesundheitswesen mit 7%. Am wenigsten kamen sie in der HV Materialversorgung, HV Arbeit und
Sozialfürsorge, HV Energie und den Sekretariaten mit je ca. einem Prozent vor. Beim Anteil einstmals
nicht leitender Reichsdienststellenangehöriger im Verwaltungspersonal ragte das Statistische Zentralamt
mit 72% heraus. Es folgten die HV Verkehr mit 59% und die HV Finanzen mit 34%. Den geringsten
Prozentsatz vermeldeten die HV Energie mit 5%, die HV Materialversorgung sowie die HV Steine und
Erden mit je 9%, außerdem der Ausschuß zum Schutze des Volkseigentums mit 15%. Quellenangaben
siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 231 f.; siehe auch Kapitel „Horizontale Arbeitsbereiche:
Verwaltungszweige“.
Die zugrundeliegenden Zahlen waren in der Vorlage teils schlecht lesbar. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005),
S. 232.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
137
ehesten politisch unbelastete Alternativkräfte zur Verfügung standen. Da die NSStaatsbediensteten aber auch auf dieser unteren Ebene in relativ gleichem Maße anzutreffen
waren wie in den anderen Positionshöhen, schließe ich daraus, dass aus einer Tätigkeit in der
staatlichen Verwaltung des NS-Regimes in der DDR-Regierung kein größeres
Karrierehindernis erwuchs. Die originär politischen Merkmale wie die Zugehörigkeit zur
NSDAP und der in ihr zur Schau gestellte Aktivengrad war eindeutig kompromittierender.
Inwiefern die erwähnten „NS-Staatsverwalter“ bereits im Nationalsozialismus leitende,
mittlere usw. Funktionen eingenommen hatten, ist unbekannt. Lediglich zu den ehemals
leitenden Angehörigen von Reichsdienststellen ist belegt, dass sie zu 19% in der Deutschen
Wirtschaftskommission erneut leitende Funktionen besetzten. Der größte Teil jedoch, nämlich
61%, arbeitete auf der mittleren Ebene. 15% von ihnen waren auf unteren Posten und 5% in
sonstigen zu finden.623 Die Referentenebene scheint also in den Augen der Kaderabteilungen
diejenige gewesen zu sein, auf der sich das fachliche Know-how dieser „zweiten Reihe“ der
NS-Funktionseliten am besten nutzen ließ. Gleichzeitig war ihre Autonomie am Arbeitsplatz
begrenzt. Sie wurde in erhöhtem Maße angeleitet und kontrolliert, konnte Selbiges aber nur in
Bezug auf relativ wenige „Untergebene“ tun. So blieb das politische Risiko überschaubar, das
aus einer Beschäftigung von Menschen herrührte, die ein etwas größeres „Rädchen im
Uhrwerk“ des NS-Regimes dargestellt hatten. Daneben schafften es einige jedoch, in der
DWK wieder mit Führungsaufgaben betraut zu werden, während andere mit ungewohnt
niederen Tätigkeiten befasst wurden. Es liegt die Vermutung nahe, dass Erstere in politischideologischer Hinsicht besonders häufig kaderpolitische Ausgleichsmomente vorweisen
konnten, während Letztere wohl eher zu den allein des fachlichen Könnens willen
vorübergehend geduldeten Mitarbeitern rechneten.
Wie sah vor dem bis hierher erläuterten Hintergrund die „Soziale Stellung“ bzw. der
1933-1945 überwiegend ausgeübte Beruf der untersuchten NS-Belasteten in der Deutschen
Wirtschaftskommission aus? Um eine Antwort darauf zu finden, gehe ich zunächst auf die
verschiedenen Arbeitssektoren ein und unterscheide dabei die Gebiete Medien, Wissenschaft,
Politik, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft.624 Bei 116 von 154 untersuchten NSDAP-,
SA- und SS-Mitgliedern schien eine Klassifizierung machbar zu sein.625 Zwei Bereiche
dominierten dabei ganz klar – die private Wirtschaft (47) und die öffentliche Verwaltung (60).
Bei neun Personen war die Zuordnung eines Arbeitgebers nicht möglich, wobei allerdings die
Berufsbezeichnungen ebenso fast alle auf administrative oder ökonomische Tätigkeiten
hindeuten.
Die überwiegend in der freien Wirtschaft Angesiedelten teilten sich anscheinend etwa
gleichmäßig in eine technisch orientierte und eine kaufmännisch-verwaltende Gruppe auf.
Eine solche Unterteilung ist manchmal etwas problematisch, da zum Beispiel bei technischen
Leitern und Betriebsdirektoren verwaltende und produktionsbezogene Arbeiten eng
beieinander lagen. Darüber hinaus stiegen so manche der NS-Belasteten während der HitlerDiktatur in höhere Positionen auf. Bei ihnen ist eine Schwerpunktverlagerung von rein
manuellen Tätigkeiten in Richtung anleitende und koordinierende Funktionen zu vermuten,
wobei nicht klar ist, welche Art von Arbeit sie überwiegend verrichteten. Ein paar Pgs.
gehörten in der Wirtschaft Firmen an, denen nach 1945 mehr als anderen eine politische
Mitverantwortung an der Stärkung der NS-Diktatur zugeschrieben wurde. Das betraf zum
Beispiel den Krupp-Konzern oder die Deutsche Bank.
623
624
625
DO 1 / 26.0, 17098, XXXI / 49/4/1, DWK, Namentliche Aufstellung der Angestellten der DWK, die
zwischen 1933-1945 in Reichsdienststellen in leitender Stellung tätig waren, undatiert [31.12.1948];
Kuhlemann, Kader (2005), S. 232.
Vgl. entsprechende Karrieren von Personen in Westdeutschland, die während des NS-Regimes den
Bereichen Presse, Wirtschaft, Justiz und Medizin angehörten, in: Freimüller, Mediziner; Miquel, Juristen;
Weiß, Journalisten; Schanetzky, Unternehmer.
Gezählt wurde die zeitlich am längsten andauernde Beschäftigung in verschiedenen Berufssektoren. Siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 233.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
138
Zur öffentlichen Verwaltung gehörten vor allem die Reichspost, Reichsbahn, die Justizund Finanzverwaltung. Ferner zählte die Forstverwaltung dazu, sofern es den Staatsdienst
betraf. Hinzu kamen noch Stadtverwaltungen sowie sonstige kommunale, Landes- und
Reichsbehörden. Zum Teil waren die NS-Belasteten während der NS-Diktatur bereits in
Berliner Reichsministerien und anderen zentralen Verwaltungsbehörden tätig. Darunter fielen
auch solche brisanten wie das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion. Hier gab
es also einige Überschneidungen mit dem schon skizzierten Kreis der ehemaligen
Reichsdienststellenangehörigen bzw. der Mitarbeiter des NS-Staatsapparates.
Generell haben nur wenige NS-Belastete 1933 bis 1945 zwei oder sogar drei
unterschiedliche Berufssektoren durchlaufen. Unter den „Privatwirtschaftlichen” und den
Verwaltungsmitarbeitern betraf das jeweils kaum ein Dutzend Personen, und wenn, dann
meist im jeweils anderen dieser beiden Bereiche. Nur ganz wenige waren eine Zeit lang
hauptberuflich in der Wissenschaft oder in den Medien tätig, wobei man darüber streiten
kann, ob das erste nicht in den meisten Fällen ebenfalls dem öffentlichen Sektor
(Universitäten etc.) zuzuschlagen ist und das zweite der Privatwirtschaft (Verlage etc.). Kein
einziger war hauptamtlich in der Politik berufstätig, d.h. bei einer primär politisch
ausgerichteten NS-Organisation (wenn wir eine eher unbedeutende Anstellung bei der DAF
einmal außer Acht lassen). Das überrascht nicht weiter, denn die dergestalt besonders
diskreditierten Nationalsozialisten hatten praktisch keine Chance, in den zentralen
Staatsapparat der SBZ/DDR zu gelangen. Bei der Bestimmung der belegten Berufssektoren
habe ich Zeiten der Schul- und Berufsbildung, der Arbeitslosigkeit sowie des abgeleisteten
Militärdienstes und der Kriegsgefangenschaft nicht berücksichtigt. Denn sie unterbrachen den
eigentlichen Berufsweg oder gingen ihm voraus, anstatt ihn fortzusetzen. Dabei konnten die
genannten Gründe eine Berufskarriere gleich für mehrere Jahre aufhalten, weshalb sie für sich
betrachtet schon größere Lebensabschnitte in Anspruch nahmen.
Was die Aufteilung des NS-Samples in die Kategorien des Innenministeriums in
puncto „Soziale Stellung 1933-1945” anbelangt, ist eine genaue Untergliederung kaum
möglich. Denn in vielen Fällen steht zwar ein öffentlicher Arbeitgeber fest. Jedoch nicht, ob
ein Angestellten- oder Beamtenverhältnis existierte bzw. wann genau ein Übergang von
einem zum anderen stattfand. Es ist zu vermuten, etwa aufgrund der mehrfach
nachgewiesenen verwaltungsinternen Ausbildungsetappen und Laufbahnen, dass die in der
öffentlichen Verwaltung Beschäftigten zu einem größeren Teil aus Beamten bestanden. Die
der freien Wirtschaft zugeordneten werden im Wesentlichen Angestellte gewesen sein.
Selbständige bildeten eindeutig die Ausnahme. Nur rund ein Dutzend NS-Belastete waren
zeitlich während der NS-Diktatur überwiegend mit Schule, Lehre und Studium beschäftigt,
wobei sich eine Lehrlingsphase auch schon als Teil einer Berufstätigkeit werten lässt. Im
Großen und Ganzen hat es sich bei den ehemaligen Nationalsozialisten also um Beamte und
Angestellte gehandelt. Es verwundert kaum, dass nur etwa ein halbes Dutzend ehemalige Pgs.
als Bauern gearbeitet hatten und nicht ein einziger in die Kategorie „Arbeiter” passte. Bei den
Landwirten sprach, wie schon mehrfach erwähnt, unter anderem die Verantwortung des
heimischen Hofes gegen einen Fortgang in die Verwaltung. Bei den anderen hat, von seltenen
Gelegenheitsarbeiten zu Beginn einer Berufskarriere abgesehen, niemand als „Arbeiter” sein
Geld verdient. Da nicht bekannt ist, wie das MdI die Gruppe „Akademische Berufe” definiert
hat, ist schließlich unklar, wie viele NS-Belastete die HA Personal hierzu gerechnet hätte.
Immerhin hatten ja viele von ihnen ein Hochschulstudium absolviert. Da jedoch keiner die
längste Zeit über im „Dritten Reich” an einer wissenschaftlichen Einrichtung tätig war,
müsste die Zahl so gesehen bei Null gelegen haben.626
Die untersuchten Ex-Nationalsozialisten arbeiteten also vor Eintritt in die DWK bis
auf wenige Ausnahmen überwiegend als Angestellte und Beamte in der Wirtschaft und der
öffentlichen Verwaltung. Fast keiner war Bauer und niemand Arbeiter. Die anfangs
626
Siehe in diesem Zusammenhang den Fall Günther Kromrey, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 235.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
139
erhebliche Präsenz ehemaliger NS-Staatsbediensteter im zentralen Regierungsapparat nahm
im Laufe der fünfziger Jahre deutlich ab.
2.1.6
Berufliche Karriereverläufe
Nach der Schilderung der Schul- und Berufsbildung als erster Karrierestation ist es
angebracht, nicht nur auf die unmittelbar vor Eintritt in die DWK eingenommene soziale
Stellung einzugehen, sondern auch auf die gesamte Abfolge beruflicher Erwerbstätigkeiten im
Lebenslauf.627 Denn dadurch lässt sich die Berufserfahrung besser einschätzen. Sie war in der
Kaderpolitik als Teil der Fachkompetenz sowie den in dieser Arbeit skizzierten
demografischen, sozialen und politischen Merkmalen eminent wichtig für das Erklimmen
einer Karriereleiter.628 Berufliche Karrieren in totalitären Herrschaftssystemen sind dabei
natürlich nicht losgelöst von politischen Anpassungen und Aktivitäten zu betrachten, die noch
zu erörtern sind.629
Karriereverläufe erteilen des Weiteren Auskunft über den Vorgang der Elitenzirkulation
unter den Bedingungen eines Systemwechsels. Nach Hilke Rebenstorf geben sie Aufschluss
über die integrative Kraft von Gesellschaften. Unter elitetheoretischen Aspekten sind
Laufbahnen Merkmale horizontaler Integration, d.h. sie liegen in der Zusammenarbeit der
Eliten untereinander begründet. Diese Kooperation lässt normalerweise auf eine „common
language” schließen, die unter anderem aufgrund ähnlicher Sozialisation entsteht und
Gemeinsamkeit stiftet. Karrieretypologien verweisen in diesem Zusammenhang auf den Grad
der sozialen Abschließung oder Offenheit bei Rekrutierungen. In diesem Zusammenhang
stellte die postenvergebende Machtelite in der SBZ/DDR angesichts ihres Wunsches,
möglichst nur Kader mit ganz bestimmten Lebensläufen einzustellen, ideelle
Selektionskriterien auf, die aber von Funktionalitätserwägungen durchkreuzt wurden. Dieses
Spannungsfeld zog Karrierebrüche genauso wie Karrierefortsetzungen und -sprünge nach
sich.
Eine „Karriere“ wird dabei allgemein als sukzessiver Aufstieg verstanden. Sie ist an die
Vorstellung geknüpft, durch einen stufenweisen Aufstieg in einer oft hierarchischen
Rangordnung eine immer einflussreichere, prestigeträchtigere und statushöhere Position
einzunehmen. Damit ist meist auch ein wachsendes Einkommen verbunden. Karrieren
verlaufen nicht völlig verschieden, sondern weisen Muster von Positionssequenzen auf, die
von verschiedenen Individuen stets in vergleichbarer Weise wiederholt werden.630 Nicht in
allen Sektoren herrschen jedoch gleiche Karrierebedingungen. Sie sind abhängig vom
jeweiligen Angebot an Arbeitskräften und den spezifischen Anforderungen des
Arbeitgebers.631 In der Wirtschaft etwa existierten andere Rekrutierungsmuster, Vernetzungen
und politische Kontrollmöglichkeiten als im staatlichen Bereich.632 In der DWK / DDRRegierung gab es mehr Auflagen, die mit der Stellenvergabe verbunden und stärker von
Misstrauen geprägt waren.
627
628
629
630
631
632
Allgemein zu Arbeit und Lebenslauf siehe: Kohli, Arbeit.
Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 195.
Schneider, Funktionselite, S. 71; siehe Abschnitt „Politische Orientierungen“.
Herzog, Karrieren, S. 45; Schneider, Funktionselite, S. 19.
Neben der horizontalen Integration gibt die vertikale Aufschluss über die Verbindung der Führungsschicht
zur Basis. Die Beachtung rechtlich sanktionierter Vorgaben wie z.B. in der Medizin spielte für die
Kaderpolitik im Staatsapparat eine untergeordnete Rolle, siehe: Rebenstorf, Karrieren, S. 157-159.
Auch gab es in der Wirtschaft keine mit Höhe der Position zunehmende Erwartung, öffentliche
Loyalitätsbekundungen abzugeben, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 197, 205.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
140
Verschiedene Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass die Motive der DDRDienstklasse, die Karriereleiter zu erklimmen, sich denen in anderen Gesellschaftssystemen
sehr ähnelten. Sie waren durchdrungen von der Entfaltung der Persönlichkeit im Beruf, der
Erlangung sozialen Prestiges, der Existenzsicherung für sich und die Familie. Wie Peter
Hübner es ausdrückt, ließe sich behaupten, „daß die meisten Vertreter der neuen
Funktionseliten in der DDR unter anderen Umständen und Verhältnissen ebenfalls Karrieren
angestrebt hätten”.633 Der Wille zum Aufstieg an sich war neben Parteilichkeit und
Fachkompetenz Voraussetzung dafür.634 Um aufzusteigen war eine möglichst von Aktivität
geprägte Anpassung an die gegebenen Verhältnisse nötig, wenngleich es auch Überzeugte
und Indoktrinierte gab, die aus politisch-idealistischen Gründen Karriere machen wollten.
Ehemalige NSDAP-Mitglieder haben in diesem Zusammenhang mit Sicherheit keine
Ausnahme dargestellt. Stets gab es auch Handlungsspielräume und Alternativen, die Frage
war nur, in welchem Maße und zu welchem Preis. Unterhalb der Schwelle einer
Totalverweigerung durch physische Flucht standen beispielsweise Kündigungsdrohungen
seitens begehrter Fachleute oder der freiwillig in Kauf genommene Karriereknick aufgrund
politischer Opposition.
Sehen wir uns die gesamten Karriereverläufe der untersuchten NS-Belasteten an, was
bei über 40 Personen annähernd möglich ist und mitunter die Zeitspanne vom Kaiserreich bis
zur DDR oder Bundesrepublik umfasst, machen wir einige nicht unbedeutende
Entdeckungen.635 Das betrifft vor allem die verschiedenen Berufssektoren. Wir behalten die
Aufteilung in öffentliche Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Politik aus dem
vorhergehenden Kapitel bei. Es fällt auf, dass nur eine Handvoll Personen nie den Bereich der
öffentlichen Verwaltung verließ. Die meisten anderen hatten im Lebenslauf zwei bis vier
Wechsel vorzuweisen.636 In ganz überwiegendem Maße fanden sie von der öffentlichen
Verwaltung zur Wirtschaft statt oder umgekehrt von der Wirtschaft zur Verwaltung, und das
manchmal eben mehrfach. „Wirtschaft” schließt hier die staatlichen Betriebe in der SBZ/DDR
ein. Zur öffentlichen Verwaltung gehören ebenso die der Zentralebene untergeordneten
Verwaltungsdienststellen. Wenngleich ein paar ehemalige Nationalsozialisten auch in
Wirtschaftsunternehmen forschten und Produkte weiterentwickelten, waren in der
Wissenschaft doch nur einige wenige hauptberuflich beschäftigt, und zwar in der Regel zu
Beginn oder am Ende einer Karriere. Gleiches galt in noch geringerem Umfang für den
Medienbereich. Selten war auch ein hauptamtliches Engagement in der Politik. Es fand
entweder vor 1933 statt oder nach 1945, in Deutschland nie während des NS-Regimes und
immer im Rahmen sozialismusfreundlicher Gruppierungen.637
Personen, die im Laufe ihres beruflichen (und gesellschaftlichen) Werdegangs in
mehreren Institutionen aktiv waren, verfügten über mehr Bekanntschaften und Beziehungen
als solche, die ihren ursprünglichen Berufssektor nie oder nur selten verlassen haben. Ein
Wechsel verlieh zudem Kenntnis über die jeweiligen „Sektorsprachen”.638 Solche Kontakte
und Fertigkeiten konnten dann im späteren Arbeitsgebiet von großem Nutzen sein.
Vorbehaltlich genauerer Untersuchungen ist zu vermuten, dass die bürgerlichen Fachkräfte
633
634
635
636
637
638
Hübner, Einleitung, S. 34.
Vgl. Schneider, Funktionselite, S. 111.
Quellenangaben zum NS-Sample in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 237.
Einen ganz besonders wechselhaften Lebenslauf mit zahlreichen beruflichen Stationen weist der ehemalige
NSDAP-Angehörige Otto Ka. auf, Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 237 f.
Bei rund einem Dutzend Angehörigen des NS-Samples war vor oder nach 1945 eine Berufstätigkeit als
Lehrer bzw. an Bildungs- und Forschungseinrichtungen nachweisbar. Diese Arbeit entsprach meist ihrer
beruflichen Fachrichtung, in geringerem Maße einer politischen Orientierung im Sinne der Linksparteien.
Sie unterstreicht daneben den überdurchschnittlich hohen Bildungsgrad der untersuchten NSDAP-, SA- und
SS-Mitglieder. Einzelheiten (u.a. zu Kurt Ritter, Egon Wagenknecht, Karl-Heinz Gerstner), auch zu deren
Publikationen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 238.
Sauer / Schnapp, Elitenintegration, S. 268.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
141
den Proletariern und Altkommunisten in der „Sprache der Verwaltung“ haushoch überlegen
waren. Demgegenüber hatten Letztere Vorteile aufgrund ihrer Erfahrungen im linken
Politikspektrum. Die Kenntnisse, Wertvorstellungen und Verhaltensmuster der alten
Verwaltungsmitarbeiter sowie generell der alten bürgerlichen Fachkräfte waren auf der
anderen Seite aufgrund der neuen ideologischen Vorgaben der kommunistischen Machtelite
in weiten Teilen entwertet. Die bisherigen sozialen Rollen behinderten sogar eine Anpassung
an die neuen Verhältnisse.639
Die vorstehenden Feststellungen leiten zu der interessanten Frage über, inwiefern die
politischen Systemwechsel Auswirkungen auf den Beruf gehabt haben. Die Machtergreifung
Hitlers 1933 bedeutete nur für relativ wenige einen Karriereeinschnitt, darunter die lokal
weithin bekannten Altlinken. Sie hatten im Nationalsozialismus Mühe, eine ihren Fähigkeiten
entsprechende Arbeit zu finden, hielten sich aber meist in der Privatwirtschaft über Wasser.
Teilweise verließen sie den öffentlichen Dienst oder wurden in eine weniger wichtige
Dienststelle bzw. Position versetzt. Ein gewisser sozialer Abstieg oder eine Blockierung des
weiteren Aufstiegs ist nicht zu übersehen. Zeiten der Erwerbslosigkeit blieben aber auch bei
dieser Gruppe die Ausnahme, was wohl schon damals wenigstens zum Teil ihren beruflichen
Qualifikationen zu verdanken war. Doch eine echte Karrierehemmung erlitt wie gesagt nur
eine kleine Minderheit der NS-Belasteten. Der Großteil setzte die in der Kaiserzeit oder
Weimarer Republik begonnene Berufskarriere im Nationalsozialismus fort – bis dato ohne
erkennbare Hindernisse, oft in derselben Institution. Berufliche Veränderungen nach 1933,
wie der Wechsel des Arbeitgebers, haben bei dieser Mehrheit keinen erkennbaren politischen
Hintergrund. Die in der SBZ/DDR vielfach beteuerte innere Gegnerschaft zur NS-Diktatur hat
sich bei den ehemaligen Mitgliedern der NSDAP etc. also kaum nachteilig auf den Beruf
ausgewirkt. Inwiefern Behauptungen zutrafen, aus politischen Gründen bei Beförderungen
und Gehaltserhöhungen übergangen worden zu sein, ist kaum nachzuprüfen. Auf der anderen
Seite traten so manche Angehörige des NS-Samples erst während des „Dritten Reiches” in
den öffentlichen Dienst ein, mit Erfüllung aller Voraussetzungen, die zumindest äußerlich in
Sachen politischer Anpassung und Kooperationswilligkeit gefordert wurden. Auch externe
unpolitische Einflüsse scheinen nur vereinzelt zu Karriereaussetzern geführt zu haben. Die
vorangegangene Weltwirtschaftskrise etwa bewirkte bei einigen wenigen zeitweilige
Arbeitslosigkeit oder Übergangsbeschäftigungen. Diese weitreichende Immunität führe ich
erneut auf das gute fachliche Niveau der bis dahin schon Berufstätigen und auf die
kündigungssichere Stellung der Beamten zurück.
Eine einschneidende Wirkung auf den Berufsverlauf zeigten da schon eher die beiden
Weltkriege. Zeiten der Kriegsgefangenschaft tauchten bei denjenigen, die im Ersten
Weltkrieg dienten, im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg kaum auf. Allgemein unterbrachen
der Krieg und die Gefangennahme im Zweiten Weltkrieg gleichwohl viele
Berufsausbildungen und Berufskarrieren, oft für mehrere Jahre. Manche NS-Belastete kehrten
im Zweiten Weltkrieg zwischendurch für eine begrenzte Zeit ins Zivil- und Berufsleben
zurück, um dann erneut an die Front zu marschieren. In der Wehrmacht selbst übten die
eingezogenen NSDAP-Mitglieder vom beruflichen Standpunkt aus gesehen eine fachfremde
Tätigkeit aus.640 Am ehesten ließe sich noch bei ein paar Wehrmachtsbeamten ein Bezug zu
deren Verwaltungsberufen herstellen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten, soweit erkennbar,
noch fast alle von ihnen unmittelbar ihre alten Berufe wieder aufnehmen können, manchmal
lediglich in anderen Betrieben oder Dienststellen. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg
sah das etwas anders aus. Zwar konnten einige Kriegsgefangene, die eigentlich unter die
Entnazifizierungsrichtlinien fielen, durch ihre späte Heimkehr einer Säuberung und
beruflichen Einschränkungen entgehen. Doch die übrigen erfuhren durch die Entnazifizierung
639
640
Kuhlemann, Teufel; vgl. in diesem Zusammenhang die Wende 1989/90, in: Glaeßner, Regimewechsel, S.
859.
Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 196.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
142
eine echte Zäsur – wenn auch, zumindest im Falle der hier untersuchten NS-Belasteten, nur
von vorübergehender Dauer und fast immer ohne anhaltenden Karriereabstieg.
Die Pgs., die sich bis zum Kriegsende im öffentlichen Dienst befanden, mussten
irgendwann nach 1945 zwar nicht in allen Fällen, aber recht häufig ihren Platz räumen.
Signifikant ist, dass die „Herausgesäuberten“ anschließend überwiegend in der Wirtschaft
unterkamen, hin und wieder auch als Selbständige. Und genauso kennzeichnend ist, dass sie
in den Jahren bis 1948/49 in den öffentlichen Dienst zurückkehrten. Manche ExNationalsozialisten arbeiteten nach Kriegsende zunächst in einer Kommunal- oder
Landesbehörde, ein paar traten in den Dienst der sowjetischen Besatzungsmacht.641 Relativ
häufig kamen sie aber direkt in den Zentralverwaltungen oder der Deutschen
Wirtschaftskommission unter. Hier setzten sich Kontinuitätslinien für einen Teil der
untersuchten NS-Belasteten fort, die manchmal zehn, zwanzig Jahre und länger in
preußischen und Reichsministerien sowie in Reichs-, Landes- und kommunalen Dienststellen
gearbeitet hatten.642
Denjenigen NSDAP-Mitgliedern, die bis 1945 in der Wirtschaft ihr Auskommen
gefunden hatten, blieb ein Wechsel in den Staatsdienst der SBZ sowieso fast immer bis zum
Ende der Entnazifizierungsperiode versperrt.643 Nicht davon betroffen waren vor allem einige
leitende DWK-Funktionäre, die als alte KPD- oder SPD-Anhänger einen politisch
überdurchschnittlich günstigen Lebenslauf im Sinne der SED vorweisen konnten. Sie
arbeiteten während des NS-Regimes meistens in der Wirtschaft, wurden dabei oft von der
Gestapo behindert und wechselten dann nach der deutschen Kapitulation rasch in den
politisch weitaus sensibleren Sektor der öffentlichen Verwaltung über. Ihr mehr oder weniger
positives politisches Renommee half ihnen bei diesem Karrieresprung. So gab es also ein paar
ehemalige Nationalsozialisten, die die Entnazifizierung ohne merkliche Einschränkungen
überstanden. Inwiefern dies bei einigen letztlich dem fachlichen Können zu verdanken war,
sei hier dahingestellt.
Für die meisten NS-Belasteten zog die Entnazifizierung eine temporäre
Karriereunterbrechung nach sich, teilweise bereits die zweite nach derjenigen durch Militär
und Kriegsgefangenschaft. Ob nun im Rahmen der alten Dienststelle oder in der Wirtschaft:
Viele waren gezwungen, als Hilfsarbeiter, Holzfäller, angelernte Handwerker usw.
körperliche Arbeit zu verrichten. Davon unbenommen mussten ehemalige Pgs. offiziell
angeordnete Sonderarbeitseinsätze leisten, etwa bei der Schuttbeseitigung bombenzerstörter
Häuser. Unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen stellten Aufräumaktionen in
ihren alten Behörden ohnehin die einzige Beschäftigung dar. Diese einfachen, manuellen
Tätigkeiten entsprachen natürlich überhaupt nicht ihrer fachlichen Qualifikation. Der
Strafcharakter der Entnazifizierung verlangte dies jedoch. Andere NS-Belastete wurden
innerhalb der Bürokratie herabgestuft und nahmen eingeschränkte oder andersartige
Aufgabengebiete wahr. Ob es nun einigen im Ausweichberuf in der freien Wirtschaft gar
nicht so schlecht oder angesichts der schlechten Versorgungslage sogar besser als in der
641
642
643
Nach 1945 arbeiteten einige der untersuchten NS-Belasteten zum Beispiel zunächst bei einem Landrat,
einer Landkreis- oder Stadtverwaltung (in Berlin beim Magistrat bzw. Bezirksamt), bei einem städtischen
Amt, einer Landesbildstelle oder einem Landesamt für Wirtschaft. Weitere Exempel (Werner Pi., Werner
B., Gerhard F., Walter R.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 240.
Darunter befanden sich vor 1945 im Einzelfall auch besonders diskreditierte Einrichtungen wie das
Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion oder das Reichsamt für Wehrwirtschaft. Einige NSBelastete waren in mehreren Institutionen tätig; eine Auflistung der betroffenen Dienststellen siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 241.
Manche der untersuchten Ex-Nationalsozialisten arbeiteten vor 1945 in so bekannten Unternehmen wie
AEG, Deutsche Bank, Steyr Daimler Puch, Raab-Karcher-Thyssen, Röchling Völklingen bzw. RöchlingBuderus, Shell, Bayer (Sprengstoffwerke), Krupp, Rhenania Ossag Mineralölwerke, Siemens bzw.
Siemens-Schuckert-Werke, Klöckner-Humboldt Deutz, Buna-Werke, Rheinmetall-Borsig, IG
Farbenindustrie (der Chemiekonzern ging 1925 hervor aus der Fusion von BASF, Bayer, Hoechst, Agfa
u.a.). Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 241 f.; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 275.
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Verwaltung ging, ist unbekannt. Ebenso unklar bleibt, inwiefern einige der offiziell mit
niederen Aufgaben betrauten Pgs. insgeheim nicht doch ihrer alten Arbeit nachgingen – im
Einverständnis mit den Vorgesetzten vor Ort, weil sie ein Interesse an größtmöglicher
Effektivität besaßen und die Entnazifizierung vielleicht ohnehin nicht als gerechtfertigt
ansahen. Das dieses Phänomen der faktisch doch nicht durchgeführten oder abgemilderten
Herabstufung generell existierte, ist bekannt.644 Ein Indiz hierfür ist auch die vereinzelt
auftretende Beschäftigung als freier Mitarbeiter, der die gleichen Aufgaben wie vor der
Entnazifizierung erledigte, aber den man nicht in ein festes Angestelltenverhältnis
übernehmen musste.645 Nur selten gerieten die Angehörigen des NS-Samples – wie überhaupt
in ihrem gesamten Berufsverlauf – in vorübergehende Arbeitslosigkeit oder machten
Fortbildungen, um die Zeit der beruflichen Restriktionen zu überbrücken.
Lenken wir den Fokus der Betrachtung jetzt auf Beginn und Ende der Tätigkeit in der
Deutschen Wirtschaftskommission, also auf die Fluktuation der ehemaligen
Nationalsozialisten. Das Angestelltenverhältnis in der DWK und den DDRRegierungsdienststellen war in vielen Fällen von kurzer Dauer. Einstellungsdaten ließen sich
bei 131 von 154 Personen ermitteln. Davon wurden mindestens 66 bereits vor dem 1. April
1948 eingestellt. Ein nicht unerheblicher Teil der NS-Belasteten arbeitete also bereits in den
Zentralverwaltungen, während die Entnazifizierung noch in vollem Gange war.646 Ohne
Zwischenstation in der Arbeitslosigkeit, Kriegsgefangenschaft oder in anderen
Berufszweigen, darunter auch die Politik und Wissenschaft, stieß allerdings nur eine
Minderheit zu den Zentralverwaltungen oder zur DWK.
Wenn wir die Frage beleuchten, wo die Rekrutierungen der Kader stattfanden, so ist
festzuhalten, dass eine erste Gruppe so gut wie ohne Unterbrechung direkt aus den
entsprechenden Reichsministerien etc. übernommen wurde.647 Dabei hatten die
Abwicklungsstellen der Reichsbehörden geeignetes Personal für den neuen Staatsapparat
ausselektiert. Eine zweite Gruppe NS-Belastete wechselte aus nachgeordneten Dienststellen,
aus Behörden der SBZ-Länder und des Berliner Magistrats, aus den Kommunen und diversen
Berufsverbänden in den zentralen Staatsapparat. Wahrscheinlich vermittelten die genannten
Behörden in diesen Fällen häufig das Personal bzw. die Zentralebene hielt besonders in diesen
Bereichen Ausschau nach geeigneten Kadern. Eine dritte Gruppe arbeitete unmittelbar vor
Eintritt in die Zentralverwaltungen / DWK in der Wirtschaft. Es waren dies sowohl die
„originär” in der Wirtschaft beschäftigten648 als auch die im NS-Regime öffentlich
bediensteten Personen, die entnazifizierungsbedingt ein bis drei Jahre lang für verschiedene
Betriebe tätig waren. Gerade die zwangsweise in die Wirtschaft abgedrifteten
Verwaltungsfachleute wurden von sich aus bei den Behördennachfolgern vorstellig. Die
Verwaltung nahm sie dann im Zuge einer erfolgreichen Entnazifizierung wieder bei sich auf.
Im Gegensatz zu denen, die sozusagen am Behördenschreibtisch groß geworden sind,
liegen die Motive für die ursprünglich in der Wirtschaft verwurzelten Kader, in die
Nachkriegsverwaltung einzutreten, nicht so eindeutig auf der Hand. Denn tendenziell erzielte
man in den Unternehmen bessere Einkommen als in der staatlichen Verwaltung, wo, in
späterer Zeit von einigen Prämien und Zusatzrenten abgesehen, geringe
644
645
646
647
648
Siehe Kapitel „Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien“.
Vgl. den Fall Erich T. aus der ZV Post und Fernmeldewesen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 242.
Vereinzelt nennen die Quellen das Datum der „Einstellung” in die DWK, obwohl die Betreffenden bereits
vor der Reorganisation Anfang 1948 einer der Zentralverwaltungen angehörten. Es ist daher gut möglich,
daß noch der eine oder andere mehr bereits 1945-1947 zur zentralen ostdeutschen Staatsverwaltung stieß.
Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 242. Zum Pg.-Anteil in den Zentralverwaltungen vgl.: DY 30 / IV,
2/13/2, Bl. 158-167, [ZS? Abteilung Personalpolitik?,] Bericht über die parteipolitische Zusammensetzung
der Verwaltungskader in den 13 Zentralverwaltungen und der zentralen Kommission für Sequester, vom
07.08.1946 (Abschrift).
Ein Beispiel (Otto Kl.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 243. Vgl. Rautenberg, Eliten, S. 196.
Siehe Josef Schaefers, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 243.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
144
Einkommensunterschiede kaum Anreize für vermehrte Arbeitsleistungen boten.649 Außerdem
war man in den Betrieben weit weniger politischen Unterwerfungszwängen ausgesetzt. Das
wirft die Frage auf, ob die Betreffenden wirklich in den öffentlichen Dienst strebten oder
eigentlich woanders tätig werden wollten, aber durch den Faktor Zufall und andere nicht mehr
belegbare Gründe dann doch in den Zentralverwaltungen und der DWK landeten. Gerade für
untere Verwaltungsangestellte dürften schon die Lebensmittelpakete, die „Pajoks“,
regelmäßige warme Mahlzeiten oder die privilegierte medizinische Versorgung im
Regierungskrankenhaus eine nicht zu unterschätzende Ermunterung zur Arbeitsaufnahme
dargestellt haben.650 Für alle Verwaltungskader spielte mit zunehmender Positionshöhe
sicherlich auch das Informations- und Entscheidungsprivileg eine Rolle. Dazu gehörte das
vielleicht mit Stolz genährte Gefühl, zu einer kleinen Gruppe zu gehören, die schneller als
andere Nachrichten über das Schicksal des Landes erhielt und anders als der Großteil der
Bevölkerung in einem übergeordneten Lenkungsorgan tätig war.651
Sofern Entlassungsdaten bekannt wurden, schieden von den 154 untersuchten
Mitgliedern der NSDAP etc. 30 schon vor dem Juni / Juli 1949 aus. Etwa 22 weitere, die in
West-Berlin wohnhaft waren, verließen den zentralen Staatsapparat 1949 im Zuge der WAktion.652 Nur bei 43 NS-Belasteten in der DWK war eine Weiterbeschäftigung in einer
DDR-Regierungsdienststelle nachweisbar. Sie endete jedoch meistens bereits in den fünfziger
Jahren, häufig gleich zu Beginn der Dekade. Im Einzelfall konnte sie aber auch bis in die
achtziger Jahre reichen.653 Die Verweildauer im zentralen Staatsapparat war also recht kurz
und betrug meist nur wenige Jahre. Sofern die Beschäftigung in der DWK / DDR-Regierung
nicht das Ende der beruflichen Laufbahn markierte, wechselten die ehemaligen
Nationalsozialisten im Anschluss an diese Zeit scheinbar fast ausnahmslos in die volkseigene
Wirtschaft, in nachgeordnete Dienststellen und in die Wissenschaft (Universität etc.) über.654
Es waren dies bei den Personalverantwortlichen beliebte Bereiche, um weiterhin Nutzen aus
einem Kader zu ziehen, der für eine politisch sensiblere Institution nicht mehr geeignet
erschien. Teilweise haben aber sicher auch persönliche Gründe eine wichtige Rolle im
Vorfeld eines Arbeitsplatzwechsels gespielt. Für die in den Westen umgezogenen NSBelasteten liegen zu wenige Informationen vor, um allgemein gültige Aussagen zu machen.655
Im Vergleich zur späten DDR lässt sich generell ein verengtes Rekrutierungsfeld feststellen.
Außerdem ist im frisch aufgebauten zentralen Staatsapparat noch eine hohe Fluktuation von
politisch wie im Falle der ehemaligen Pgs. in letzter Konsequenz oft ungenehmen Kräften zu
konstatieren, zu denen weitere fachlich schwache Kader hinzukamen.656 Von einer
649
650
651
652
653
654
655
656
Roß, Eliten, S. 184.
Zimmermann, Überlegungen, S. 340-342; zu Privilegien der Angehörigen der Dienstklasse siehe auch:
Herz, Dienstklasse, S. 235.
Zimmermann, Überlegungen, S. 340-342.
Siehe Kapitel „Westkontakte“.
Hans Naake arbeitete im MPF bis 1987, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 244.
Der Betrieb war in der DDR laut Hartmut Zimmermann „der entscheidende Ort sozialer Kommunikation
und Einbettung”, siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 332; vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26.
Beispiele (Konstantin Pritzel, Bernd Veen) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 244.
Ende der achtziger Jahre besaß die staatliche Verwaltung den vergleichsweise höchsten Anteil an Personen
mit Berufserfahrungen in anderen Gesellschaftsbereichen. Die SED bediente sich mit zunehmender
Durchdringung fast aller Lebensbereiche eben vermehrt auch solcher Kader, die aus Sparten stammten, die
kurz nach 1945 politisch als noch zu kontaminiert galten. Die Wirtschaft hingegen zeigte ein
eigenständiges Rekrutierungsmuster. Wenn Mobilität stattfand, dann aus dem Wirtschaftsbereich in die
staatliche und politische Verwaltung, nicht umgekehrt. Das spricht dafür, dass die Kaderabteilungen bis
zuletzt gerne praxiserfahrene und basisnahe Kräfte aus der Produktion in die Verwaltung geholt haben.
Darüber hinaus zeigt sich darin vom Standpunkt der ideologischen Treue aus eine Zufriedenheit der
Personalverantwortlichen mit ihrem Regierungsapparat, aber auch eine gewisse fachliche
„Professionalisierung“ des Mitarbeiterstabes, weil anders als in der frühen DDR kaum noch politisch oder
fachlich „minderwertige“ Angestellte vorhanden waren, die es in die machtpolitisch weniger wichtige
Wirtschaft abzuschieben galt, siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 206.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
145
Abschottung der Dienstklasse kann also zu diesem Zeitpunkt wegen des hohen Maßes an
kurzfristigem Kaderaustausch und der recht heterogenen Personalzusammensetzung keine
Rede sein.657
Was die Positionshöhen im gesamten Karriereverlauf betrifft, ist es schwierig,
Aussagen zum beruflichen Auf- oder Abstieg zu treffen. Denn die Positionshöhen in den
einzelnen Berufssektoren sind nur schwer miteinander vergleichbar. Auch deshalb, weil
„Karriere” aus so verschiedenen Komponenten wie Zuständigkeiten, Gehaltshöhe und
Prestige besteht. Manche NS-Belastete erzielten in der SBZ/DDR und speziell im
Regierungsapparat soviel Einfluss und Ansehen wie zu keinem anderen Zeitpunkt ihrer
Laufbahn. Für einige davon endete das Berufsleben in der zentralen Staatsverwaltung auf dem
Höhepunkt der Karriereleiter. Für andere stellte sich im Vergleich zur NS-Ära in
Ostdeutschland zwar auch mal mehr, mal weniger ein Aufstieg ein. Sie verbrachten dann aber
nach dem Ausscheiden aus der Zentralregierung den Schluss der Berufszeit in einer weniger
wichtigen Einrichtung, wenngleich dort mitunter in einer Spitzenposition. Wieder andere
konnten nie mehr den vor 1945 erreichten Status zurückerlangen oder verharrten auf der
Stelle.
Um sektorspezifische Positionsabfolgen oder einzelne Postenbezeichnungen besser
interpretieren zu können, erscheint ein abstrahierender Rahmen notwendig. Trotz etlicher
Überlieferungslücken in diesem Punkt ist die Frage, welchen Einfluss ehemalige
Nationalsozialisten vor und nach 1945 in ihren jeweiligen Institutionen ausübten, im
Wesentlichen in Abhängigkeit von den dabei eingenommenen Funktionen zu sehen. Denn die
Individuen selbst verfügten über keine originären Machtmittel, sondern nur in
Zusammenhang mit der zeitlich begrenzten Besetzung bestimmter Posten. Den höchsten Rang
in der Positionshierarchie nahm demnach die Elite ein. Darunter fielen Inhaber von
Spitzenpositionen der nationalen und regionalen Ebene. Ihr folgte die Subelite, zu der
Leitungskräfte bestimmter Bereiche einer Einrichtung gehörten, die nicht als Repräsentanten
der gesamten Institution in Erscheinung traten, sowie oberste Vertreter von Institutionen auf
kommunaler Ebene. Unter dieser Stufe lagen die Professionen. Darunter waren Positionen zu
verstehen, die einen höheren Bildungsgrad, in der Regel einen Universitätsabschluss,
voraussetzten. Es musste sich dabei aber nicht unbedingt um Leitungsfunktionen handeln.
Schließlich folgte die Kategorie der Subprofessionen, die eine geringere Qualifikation
erforderte. Am Ende der Skala waren diejenigen Personen platziert, die zum jeweiligen
Betrachtungszeitpunkt noch keine Erwerbsposition eingenommen hatten.658 Das sind alles
sehr positionsorientierte Begriffe. Je nach Maßstab zählten ja beispielsweise auch
Professoren, promovierte Akademiker oder andere Studierte zur „Bildungselite“ des Landes.
Hier wird jedoch das Augenmerk auf die institutionsinterne Hierarchie gerichtet, innerhalb
des öffentlichen Dienstes bzw. Staatsapparates wie außerhalb.
Nach einer anderen Definition werden Personen, die leitende Positionen besetzen oder
Funktionen ausüben, die eine akademische Ausbildung erfordern, der Dienstklasse
zugerechnet. Unter die Obere Dienstklasse fallen demnach Professionelle (z.B. Anwälte,
Ärzte) mit mehr als einem Mitarbeiter, Selbständige mit mehr als 10 Mitarbeitern, Beamte,
Richter und Angestellte im höheren Dienst (vom Regierungsrat aufwärts) und entsprechende
Positionen im DDR-Staatsapparat sowie Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben. Zur
Unteren Dienstklasse zählen Professionelle, die allein oder mit einem Mitarbeiter arbeiten,
Beamte, Angestellte etc. im mittleren und gehobenen Dienst (vom Inspektor bis einschließlich
657
658
Vgl. Mayer / Blossfeld, Konstruktion, S. 298 f.; zur allmählich abnehmenden Karrieremobilität vgl. die
SED-Bezirkssekretäre, in: Welsh, Kaderpolitik, S. 128.
Die Quellenlage ließ den Reputationsansatz (Benennung der einflussreichsten Personen durch Experten)
oder den Entscheidungsansatz (Elitenauswahl durch Untersuchung von Entscheidungsverfahren) nicht in
Betracht kommen. Auf eine explizite Unterteilung in eine obere Subelite und eine untere wird verzichtet.
Zur Einteilung der Positionshöhen vgl. Welzel, Rekrutierung, S. 216.; vgl. Bürklin, Elitestudie, S. 18.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
146
Oberamtmann / Oberamtsrat) und entsprechende Positionen im DDR-Staatsapparat,
Angestellte mit schwierigen Aufgaben nach allgemeiner Anweisung in selbständiger
Erfüllung sowie Angestellte mit eigenverantwortlicher Tätigkeit oder begrenzten
Führungsaufgaben. Zur Nichtdienstklasse rechnen nicht erwerbstätige Personen, alle
selbständigen Landwirte und DDR-Genossenschaftsbauern, kleine Selbständige, alle Arbeiter,
Beamte etc. im einfachen Dienst, Industrie- und Werkmeister sowie Angestellte mit einfacher
Tätigkeit.659
Welche Ergebnisse lassen sich bei einer Anwendung dieser Kriterien auf die
untersuchten Ex-Nationalsozialisten in der DWK feststellen? Gewertet wurde der jeweilige
Karrierehöhepunkt, einerseits vor und andererseits nach 1945. Wegen der oft auftauchenden
Schwierigkeit, aufgrund von bloßen Berufsbezeichnungen Rückschlüsse auf den Grad der
eigenverantwortlichen Arbeit und Entscheidungsbefugnisse zu ziehen, sind die nachfolgenden
Angaben als Näherungswerte zu verstehen. Man kann im Einzelfall darüber streiten, ob eine
Zuordnung zur einen oder zur nächstliegenden Nachbargruppe einleuchtender ist. Für die Zeit
vor 1945 lassen sich jedenfalls nach meiner Einschätzung 20-30% zur Subelite zählen, 3045% zu den Professionen und ein Drittel bis die Hälfte zu den Subprofessionen. Niemand
gehörte zur Elite der obersten Entscheidungsträger des NS-Regimes.660
Tendenziell zeigt sich, dass mit Blick auf die weitere berufliche Laufbahn ein großer
Karrieresprung oder -fall über zwei dieser Segmente nur selten vorkam. Ebenso wenig gab es
nach Ende des Zweiten Weltkriegs Aufstiege in die oberste Führungsriege der neue Elite.
Eine Ausnahme stellte zum Beispiel Arthur Werner dar, der im Rahmen der DWK eine
Leitungsfunktion inne hatte. Der kurzzeitig der NSDAP angehörende Architekt leitete bis
1941 eine technische Privatschule, bevor er im Mai 1945 Oberbürgermeister von Berlin
wurde.661 Normalerweise fanden Auf- und Abstiege nur in die unmittelbar am nächsten
liegenden Gruppen statt. Darüber hinaus hielten viele NS-Belastete im Postfaschismus ihr
Positionsniveau oder erreichten es zum erneuten Male, trotz temporärer Zäsuren durch Krieg,
Gefangenschaft und Entnazifizierung. Von den alten Subeliten im NS-Sample gehörten über
die Hälfte in der SBZ/DDR erneut zur Subelite. Von den alten Professionen rechneten
weniger als die Hälfte wiederum zu den Professionen. Von den alten Subprofessionen zählten
zwei Drittel auch zu den neuen Subprofessionen. Die langfristig moderat ausfallenden oder
sogar ausbleibenden Karriereschwankungen sprechen einerseits für die Bedeutung der
Fachqualifikation, die eine entsprechende Arbeitsposition nach sich zog. Sie verhinderte in
der Regel einen dauerhaften Auf- oder Abstieg bzw. eine länger währende Beschäftigung auf
einem Posten, für den man beruflich unter- oder überqualifiziert war. Dies ist natürlich vor
dem Hintergrund einer als tolerierbar eingestuften politischen Belastung zu sehen. Die NSVergangenheit trug insbesondere dazu bei, dass zu groß ausfallende Aufstiege, wie bei
659
660
661
Herz, Dienstklasse, S. 233 f.; vgl. Schnapp, Zusammensetzung, S. 72 f., dort auch weitere
Literaturangaben.
Bei 85 der 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK schien eine Klassifizierung
möglich zu sein. Bei ihnen liegen die beruflichen Karrierestationen bis zum Eintritt in die Deutsche
Wirtschaftskommission meist relativ lückenlos vor, während leider häufig Informationen für die Zeit nach
dem Ausscheiden aus der zentralen Staatsverwaltung fehlen. Dieses Überlieferungsdefizit erscheint jedoch
für eine ungefähre Abstrahierung akzeptabel, da viele aufgrund ihres relativ hohen Alters ohnehin nur noch
wenige Jahre bis zum Austritt aus dem Erwerbsleben vor sich hatten. Betrachten wir die ehemaligen
Beamten im NS-Sample für sich, so nahm sich das Verhältnis von höherem Dienst zu gehobenem Dienst
etwa 2:3 aus, während Angehörige des mittleren und einfachen Dienstes unter den NS-Belasteten praktisch
fehlten. Weitere Erläuterungen, Quellenangaben und ein Vergleich mit der DVV in: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 246 f.
Den größten Sprung, über zwei Segmente von der Profession zur Elite hinweg, machte der ehemalige SAAngehörige und spätere Staatssekretär Paul Straßenberger. Darüber hinaus ist hier Alfred Wunderlich zu
nennen. Die Biografien der beiden werden ausführlich dargestellt in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 843869, 918-967. Quellenangaben zu Arthur Werner in: ebd., S. 247.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
147
Angestellten mit fachlichen Schwächen, aber politisch und sozial günstigen Kadermerkmalen,
weitgehend ausblieben.
Betrachten wir die alten Subeliten für sich alleine, so stiegen nach 1945 fast so viele
von ihnen anhaltend in ein niedrigeres Positionssegment, wie andere Subeliten sich auf dieser
Höhe behaupten konnten. Bei den Professionen verhielt es sich umgekehrt: Es stiegen nach
Kriegsende ungefähr so viele in eine höhere Ebene auf, wie andererseits Professionen als
solche verharrten. Ein Personenaustausch fand also wechselseitig in erhöhtem Maße zwischen
Subeliten und Professionen statt, nicht zwischen Subeliten und Eliten. In weit geringerer Zahl
kamen alte Professionen in der SBZ/DDR nicht mehr über Stellen hinaus, die vom Profil her
zu den Subprofessionen zu zählen sind. Diese Gruppe der „Absteiger“ nahm sich auch kleiner
aus als andererseits die der alten Subprofessionen, die sich nach 1945 positionell verbessern
konnte. Sehen wir uns die Gruppe der bis zum Ende der NS-Ära als Subprofessionen tätigen
Ex-Nationalsozialisten an, so ist festzustellen, dass ein knappes Drittel von ihnen in der
SBZ/DDR ein höheres Segment erklomm. Diese Aufsteiger gelangten in die Gruppe der
neuen Professionen und einige sogar in die der Subeliten. Insgesamt gab es also ein größeres
Kontingent an ehemaligen Subprofessionen, die in ein höheres Segment überwechselten. Auf
der anderen Seite fiel kaum ein früher besser gestellter NS-Belasteter anhaltend auf dieses
untere Niveau zurück.662
Bei der Klassifizierung nach den Dienstklassenbegriffen gelten die bereits erwähnten
Identifizierungsprobleme. Dennoch erscheint es mir möglich, für die Zeit bis 1945 über 40%
der überlieferten Fälle im NS-Sample zur oberen Dienstklasse zu zählen. Ungefähr 40%
rechne ich zur unteren Dienstklasse und etwa 15% zur Nichtdienstklasse. Etwa zwei Drittel
der alten oberen Dienstklasse konnte ihre Gruppenzugehörigkeit in der SBZ/DDR halten oder
wiedererlangen. Noch ein wenig höher lag die Quote der langfristig stabilen Karrieren in der
unteren Dienstklasse. Auch in der Nichtdienstklasse verharrten gut die Hälfte in diesem
Positionssegment. Was die Schichtwechsel anbelangt, so rutschte ungefähr ein Drittel der
alten oberen Dienstklasse nach dem Zweiten Weltkrieg recht schnell in die untere
Dienstklasse ab und verblieb dort. Von den Angehörigen der einstigen unteren Dienstklasse
wechselte im Gegenzug ein zahlenmäßig geringerer Teil in die obere Dienstklasse, kaum
jemand fiel jedoch in die Nichtdienstklasse zurück. Aus der Nichtdienstklasse wiederum
stiegen einige nach 1945 sowohl in die untere als auch in die obere Dienstklasse auf.663 Diese
Ergebnisse entsprechen den vorstehenden Ausführungen. Mit geringen Abweichungen treffen
sie auch bei den Karriereentwicklungen derjenigen DWK-Mitarbeiter zu, die 1933-1945 in
Reichsdienststellen nach Einschätzung der Wirtschaftskommission in leitender Stellung tätig
waren. Im Übrigen zählten „nur“ sechzehn Prozent der untersuchten NS-Belasteten zu diesen
leitenden Reichsdienststellenangehörigen, da solche kombinierten Belastungsmerkmale
kaderpolitisch ziemlich schwer auszugleichen waren.664
662
663
664
Zur Variation zwischen den einzelnen Sektoren und Hierachie-Ebenen bei Erhalt, Verlust und
Transformation der Macht politischer und ökonomischer Eliten siehe: Roß, Eliten, S. 189; nach 1945
versuchten auch alte industrielle Eliten, eine führende Position zu halten, siehe: Schulz, Elitenwandel, S.
113; vgl. DDR-Bürgermeister, die sich nach 1989/90 im Amt behaupten konnten. Entscheidend für die
Kontinuität war das „Sozialkapital“ (Qualifizierung, Erfahrung etc.), in: Roß, Eliten, S. 186.
Bei 87 der 154 untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK schien eine Klassifizierung
machbar zu sein. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 248.
Die Betreffenden gehörten in der NS-Ära dem gehobenen oder höheren Dienst an und damit gemäß den
erwähnten Klassifizierungsrastern sowohl der unteren als auch der oberen Dienstklasse. Es handelte sich
dabei um Subeliten und Professionen. Nur selten kamen alte Eliten vor, wie sie hier definiert wurden. Die
wenigen entsprechenden Fälle waren wohl auch nur aufgrund einer fehlenden Zugehörigkeit zur NSDAP
möglich, da andernfalls die Belastung durch Politik und Beruf zu groß ausgefallen wäre. In der Deutschen
Wirtschaftskommission nahmen die einst leitenden Reichsdienststellenangehörigen wiederum leitende,
aber auch mittlere und übrige (d.h. untere) Verwaltungsposten ein. Dabei gab es sowohl Kontinuitäten als
auch Auf- und Abstiege: Einige behielten zum Beispiel die Funktion eines Referenten bei, andere
Referenten stiegen zum Sachbearbeiter ab, wieder andere avancierten zum Abteilungsleiter. Auf den
Jens Kuhlemann – Braune Kader
148
Die Befunde belegen, dass im Kreis der ehemaligen Nationalsozialisten Vertreter der
zweiten und dritten Reihe der NS-Dienstklasse anzutreffen waren.665 Sie konnten sich in der
DWK behaupten oder wechselten untereinander die Plätze. Die erste Phalanx fehlte, weil sie
sich in der NS-Diktatur politisch zu sehr kompromittiert hatte. Außerdem sucht man auch
nach den vierten, fünften bzw. letzten Reihen vergeblich, weil sie fachlich nicht in dem Maße
gebildet und erfahren waren, dass sie nicht relativ leicht durch NS-unbelastete Kräfte zu
ersetzen waren. Demgegenüber wiesen die Angehörigen der Subelite der NS-Ära zwei
begünstigende Merkmale auf. Einerseits waren diese Leitungspositionen nicht so exponiert,
um ihre Inhaber genauso zu diskreditieren wie die über ihnen stehende Elite. Von der
Hauptlast der Verantwortung schienen sie also befreit. Andererseits verfügten diese Subeliten
über Leitungs- und Berufserfahrungen, die für das Funktionieren der staatlichen Verwaltung
in der SBZ von großer Bedeutung waren. In abgeschwächter Form traf beides auch auf die
alten Professionen und Subprofessionen zu.666
Obwohl ganz klar bestimmte phänomenologische Häufungen erkennbar sind, tue ich
mich etwas schwer damit, vor dem Hintergrund all dieser Ergebnisse von „standardisierten
Karriereverläufen“ zu sprechen. Denn zum einen trafen die betreffenden Personen ihre ersten
Berufsentscheidungen zu einer Zeit, als sie die Veränderungen des gesellschaftlichen
Rahmens 1933 und 1945 noch gar nicht absehen konnten. „Standard“ ist also nur ein
rückblickend verwendbarer Begriff. Zum anderen bewirkten Personalsäuberung und -mangel
in der Umbruchphase der SBZ und frühen DDR, dass sich ältere Standards mit neueren
überkreuzten und nebeneinander existierten. Neue Einstellungskriterien setzten dabei
traditionelle Berufsvoraussetzungen teilweise außer Kraft, oft auf Kosten der fachlichen
Qualität. Zur Sicherung eines Mindestmaßes an effizienten Verwaltungsabläufen verharrte die
„alte“ Intelligenz, meist als Übergangselite, in reduzierter und selektierter Form, während die
„neue“, in der Verwaltung oft völlig fachfremd, unerfahren und überfordert, sich erst ganz
allmählich formierte. Dabei schafften einige wenige Ex-Nationalsozialisten den Sprung von
der einen zur anderen Seite, indem sie politisch überzeugt und engagiert wirkten und sich so
in Verbindung mit ihrem Fachwissen dauerhaft, d.h. bis zum Karriereschluss, einen Platz in
den DDR-Regierungsdienststellen sichern konnten.667 Es gab also unter den Kadern bis in die
fünfziger Jahre hinein eine größere Bandbreite an Lebenslauftypen als in späteren Zeiten, als
die Konsolidierung der DDR und die Abriegelung der innerdeutschen Grenze Karrieren
665
666
667
anderen Hierarchie-Ebenen verhielt es sich ähnlich. Was die Überschneidung von ehemaligen NSDAP-,
SA- und SS-Mitgliedern in der Deutschen Wirtschaftskommission betrifft, zählten 9% (25 von 280) der
leitenden Reichsdienststellenangehörigen zum NS-Sample, siehe: DO 1 / 26.0, 17098, XXXI / 49/4/1,
DWK, Namentliche Aufstellung der Angestellten der DWK, die zwischen 1933-1945 in
Reichsdienststellen in leitender Stellung tätig waren, undatiert [31.12.1948]; siehe auch die entsprechende
Zahlenstatistik in: Kuhlemann, Kader (2005), Anhang 3.
Ähnlich verhielt es sich auch bei den Wendeereignissen um 1989, wenngleich die NS-Belasteten bzw.
Vertreter der Funktionseliten keinen Druck auf die Spitzenfunktionäre ausübten, um den Wechsel zu
befördern, vgl.: Beyme, Regime Transition, S. 413; vgl. Wirtschaftseliten in der BRD, wo jüngere
Unternehmensvorstände nach 1945 von der Entnazifizierung, die höhere Posten freimachte, profitierten und
in die erste Reihe rückten. Dabei dominierte die „Hauskarriere” innerhalb ein und desselben Unternehmens,
in: Schanetzky, Unternehmer, S. 92.
Mit Blick auf die Zäsur des Jahres 1945 schließe ich mich der Auffassung Christian Welzels an, dass es
nicht sogleich gegen die These der Elitenreproduktion spricht, wenn die Spitzen eines abgelösten Regimes
später nicht mehr auf exakt dem gleichen Positionsniveau anzutreffen sind. Die Reproduktion der
Dienstklasse fand jedoch quantitativ und qualitativ nur in begrenztem Maße statt, siehe: Welzel,
Rekrutierung, S. 216 f.
Boyer, Kaderpolitik, S. 27; vgl. die Professoren, die im Nationalsozialismus in einer Geisteswissenschaft
habilitierten und durch Säuberungen auf ein Viertel ihres an sich zu erwartenden Anteils geschrumpft
waren. Es gab keine nennenswerte Reintegration. Genügend unbelastete Alternativkräfte konnten nur durch
Verzicht auf herkömmliche Curricula in die frei gewordenen Stellen gelangen; vgl. ferner die sogenannten
Volksrichter, die in mehrmonatigen Schnellkursen ausgebildet wurden, in: Jessen, Elitewechsel, S. 37 f.;
Haferkamp / Wudtke, Richterausbildung.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
149
zunehmend vereinheitlichten, plan- und berechenbarer machten.668 Die Erwartung
umfassender Fachqualitäten rangierte bei der SED anfangs noch hinter dem Anspruch,
politisch erst einmal die Macht zu sichern und einen ideologisch „sauberen“ Apparat zu
schaffen. Junge Leute bekamen dadurch enorme Aufstiegschancen angesichts zahlreicher
freigewordener Stellen und ihres Nimbus der politischen Formbarkeit.669
Auch die wenigen jüngeren Pgs. in der Deutschen Wirtschaftskommission profitierten
davon. Die meisten NS-Belasteten hingegen hatten altersbedingt schon die Hälfte oder noch
mehr ihres Berufslebens hinter sich. Für sie bedeutete die zentrale Staatsverwaltung
annähernd oder gänzlich das Karriereende. Dennoch stellten selbst relativ wenige Jahre bis
zum offiziellen Ruhestand keine kurze Dauer dar, angesichts völlig unzureichender sozialer
Sicherungssysteme im Fall der Arbeitslosigkeit. Für sie war der Anpassungsdruck am
größten. Gleichzeitig spielte die Dankbarkeit über eine neue Berufschance für die Bindung
zum SED-Regime in dieser Kohorte eine geringere Rolle.670 Trotzdem bedeutete eine
Beschäftigung in der DWK / DDR-Regierung nach den Jahren der Entnazifizierung,
gesellschaftlichen Ausgrenzung und Berufsbeschränkung natürlich für viele eine soziale
Aufstiegserfahrung.671 Die Aussicht auf eine wichtigere gesellschaftliche Position bzw. den
damit verbundenen Status war meines Erachtens ein wichtiger Grund für die Karriereplanung
der untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder.
Den Blick auf die gesamten Karriereverläufe gerichtet, gehörten die NS-Belasteten
aufgrund ihrer Bildung und der politischen Säuberungsvorgaben den Subeliten, Professionen
und Subprofessionen an. Weitaus weniger und hinsichtlich der NS-Ära überhaupt nicht traf
dies auf Eliten zu. Die Arbeitssektoren bestanden hauptsächlich in der Wirtschaft und der
Verwaltung, wobei es häufig Wechsel von einem zum anderen gab. Große Karrieresprünge
fanden nur selten statt. Andererseits waren Karriereunterbrechungen, wie sie vor allem durch
den Krieg und die Entnazifizierung vorkamen, von vorübergehender Dauer.
2.1.7
Wendepunkte im beruflichen Werdegang
Dieses Kapitel befasst sich mit der Frage, wie und warum berufliche Veränderungen in den
Lebensläufen der ehemaligen Nationalsozialisten zustande kamen (oder eben nicht). Welche
Motive hegten die NS-Belasteten beziehungsweise ihre Arbeitgeber, wenn ein Wechsel des
Arbeitsplatzes stattfand? Wie gestaltete sich die Umsetzung: zwangsweise oder
einvernehmlich? Dabei ist von herausgehobenem Interesse, welche Bedeutung diese
Wendepunkte und ihre Darstellung für die Wiedereingliederung ehemaliger
Nationalsozialisten in der SBZ/DDR und in der zentralen Staatsverwaltung hatten.
Vor dem Hintergrund anderer Kapitel wie denen zur Arbeitsweise oder zum
Karriereverlauf lassen sich einige Antworten hierauf bereits erschließen.672 Demnach trugen
zum Beispiel besondere Fähigkeiten und überdurchschnittlicher Einsatz in der politisch
668
669
670
671
672
Zum sozialen Abstieg durch einen Ausstieg aus dem System der Kaderlaufbahn und der dadurch
begrenzten Berufsalternativen siehe: Zimmermann, Überlegungen, S. 332.
So der Tenor in dem Workshop „Wertorientierungen und Lebensstile des Führungspersonals in Politik,
Kultur und Wirtschaft der SBZ/DDR” am 13.06.1997 im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam,
darüber hinaus ebenda auf der Tagung über „Berufskarrieren” am 08.06.1998; Welsh, Kaderpolitik, S. 129;
vgl. Welsh, Eliten, S. 140.
Plato, Entnazifizierung, S. 13 f.; Boyer, Kader, S. 9.
Hübner, Einleitung, S. 19.
Siehe Kapitel „Berufliche Karriereverläufe“ und „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am
Arbeitsplatz“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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erwünschten Richtung am Arbeitsplatz sowie die persönliche Bekanntschaft mit anderen
Personen und Institutionen zum Aufstieg bei. Darüber hinaus spielten für die Kader familiäre
und gesundheitliche Gründe stets ebenso eine Rolle wie finanzielle Anreize.673 Schließlich
kamen bessere Arbeitsbedingungen hinzu, mehr Einfluss und Kompetenzgewinn sowie eine
größere Entfaltung der persönlichen Vorlieben bei den konkret ausgeführten Tätigkeiten.
Auch die „Zugeständnisse“ wie die hohe Politisierung und Disziplinierung im Staatsapparat
und der SBZ/DDR im Allgemeinen sind zu berücksichtigen. Man ertrug sie oder irgendwann
eben nicht mehr. Dabei gewannen die eigenen Wünsche der Kader bei der Nennung von
Veränderungsgründen erst allmählich an Bedeutung. Anfangs wurden beispielsweise noch
viele SED-Mitglieder durch Parteiaufträge zur Übernahme bestimmter Funktionen
verpflichtet. Eine Prioritätensetzung auf private und subjektive Gesichtspunkte zu Lasten
eines sozialistischen Gesellschaftsaufbau war verpönt.674
Neben dem vorhandenen Entscheidungsspielraum gab es natürlich auch Situationen, die
keine Wahl ließen, wie der zwangsweise Berufswechsel im Zuge einer Einberufung zur
Wehrmacht oder der Entnazifizierung.675 Hinzu kamen politische Säuberungen mit
beruflichen Konsequenzen im Nationalsozialismus oder später im Rahmen der W-Aktion, der
SED-Mitgliederüberprüfung sowie der Personalbereinigungen unter dem Deckmantel einer
Reorganisation der Verwaltung wie bei Gründung der Zentralverwaltungen / der DWK, ihrer
Überführung in die DDR-Regierungsdienststellen und der Personaleinsparmaßnahmen
1948/49. In diesem Zusammenhang erfolgten Bereinigungen von politisch zur SED
nonkonform stehenden Kadern und Biografiefälschern.676
Aus Sicht der Personalverantwortlichen war dabei im kaderpolitischen Gesamtraster der
fachliche und politische Nutzen abzuwägen. Während die Ergebnisse und Begründungen
solcher Prozesse für die SED-dominierten Personalkontrolleure qualitativ recht gut belegt
sind, fehlen zu den Handlungsabsichten der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in
der Deutschen Wirtschaftskommission meistens eindeutige Aussagen. Um nicht allzu sehr in
Spekulation zu verfallen, sollen an dieser Stelle vor allem solche Quellen im Mittelpunkt
stehen, die wortwörtlich auf die anfangs genannten Fragen eingehen. Selbst dann ist
insbesondere für die NS-Belasteten zu hinterfragen, ob sie immer die authentischen Gründe
angaben.
Wenn
zum Beispiel die
Arbeitsüberlastung
oder
die strengen
Überwachungsanforderungen und politischen Anpassungszwänge im ostdeutschen
Staatsapparat der eigentliche Grund für einen Veränderungswunsch waren, werden die
Betreffenden dies sicher nicht der SED gegenüber geäußert haben. Mangelnde
Opferbereitschaft oder Unverständnis über die Gefahrenwahrnehmung der Partei konnte zum
Karrierenachteil mutieren. Familiäre, private Gründe oder der Wunsch, in die Produktion zu
gehen, erschienen da unverdächtiger.677 Dabei konnten diese Motive natürlich auch der
Wahrheit entsprechen oder wenigstens zum Teil und in Kombination mit anderen, oft
ungenannten Ursachen. Darüber hinaus schrieb in der SBZ/DDR mit Blick auf die Zeit vor
1945 niemand, dass er in eine bestimmte Position berufen wurde, weil er als politisch
zuverlässig galt oder weil NSDAP und SA ihm unmittelbar dabei halfen.678 Ein solches
Zugeständnis hätte in der DDR erhebliche Schwierigkeiten heraufbeschwören können. Wir
673
674
675
676
677
678
Ein Ausschieden aus der zentralen Staatsverwaltung wegen Arbeitsunfähigkeit bzw. Krankheit ist im NSSample selten nachweisbar. Beispiele hierzu bzw. entsprechende Absichten (Georg S., Kurt Ritter) siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 252; Roß, Eliten, S. 184.
Zimmermann, Überlegungen, S. 328.
Zur Entlassung von Ferdinand Beer durch die DVLF und deren Wiedereinstellungsabsicht siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 253.
Beispiele (Herta Ludwig, Klaus K., August H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 253.
Beispiele (Herta Ludwig, Otto Schä.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 253.
Siehe den Fall Helmut Wikary im Kapitel »Die „Genötigten und Gedrängten“: Einschüchterung und
Zwang, Versorgung und Karriere«.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
151
müssen daher alle Überlieferungen expliziter Äußerungen mit einer gesunden Skepsis
betrachten, ohne pauschal in Misstrauen zu verfallen.
Ein politisch unverfänglicher Veränderungsgrund war der rein fachlich begründete
berufliche Aufstieg. Als Voraussetzung für eine positionelle Besserstellung wurde demnach
die Sachqualifikation angeführt. Angeblich war ihr eine Karrierestufe zu verdanken und nicht
dem Parteibuch, auch wenn Letzteres dann oft als zusätzliche Bedingung im Raum stand. Der
DWK-Hauptabteilungsleiter Ferdinand Beer schrieb rückblickend über seine Zeit bei der
Fürst Schwarzenberg´schen Forstverwaltung, der er von 1927-1939 zuletzt als Leiter
angehörte: »Außer meiner rein dienstlichen Tätigkeit wurde ich auf Grund meiner
Spezialkenntnisse auf dem Gebiete der Bodenkunde, der Botanik und des Waldbaus in
verschiedene staatliche Kommissionen der tschechoslowakischen Versuchsanstalten berufen
und habe über diese Fächer verschiedentlich in deutschen und tschechischen Fachzeitungen
Aufsätze veröffentlicht, als auch an den tschechischen technischen Hochschulen in Prag und
Brünn Vorträge gehalten.«679
Über seinen Wechsel zum Reichsnährstand berichtete der ehemalige Pg.: »Der
Privatforstdienst behagte mir nicht mehr. Ich bewarb mich nach der Besetzung des
Sudetenlandes beim Reichsnährstand als Forstmeister und bekam auch eine Zusage.
Daraufhin habe ich meine Stellung beim Fürsten Schwarzenberg gekündigt.«680 Beer arbeitete
dann in verschiedenen Forstämtern bzw. –abteilungen des Reichsnährstandes. Er lenkte die
Versorgung der Industrie. Zuletzt wurde der Forstexperte 1943 bis Mai 1945 im
Reichsforstamt Berlin bzw. bei der Reichsstelle Forst und Holz eingesetzt, wohin er
wiederum aufgrund seiner Spezialkenntnisse berufen worden sei.681 Neben den
Fachqualifikationen nannte Beer also als weiteren Veränderungsgrund, dass ihm seine – sehr
gut bezahlte – Stelle in der freien Wirtschaft nicht mehr gefiel. Was genau ihn daran störte
und was er sich vom Reichsdienst versprach, bleibt unklar. Auch eine Sachbearbeiterin der
Personalabteilung der ZV Land- und Forstwirtschaft stutzte. Sie kannte Beer laut Ermittler
zwar nur oberflächlich, schilderte das ehemalige NSDAP-Mitglied jedoch »als einen
aalglatten Menschen, über dessen Motive hinsichtlich seiner Überwechselung aus den
Schwarzenberg´schen Diensten 1940 nach Berlin sie keine Erklärung gefunden hatte.«682
Eindeutige Beweise dafür, dass der Sudetendeutsche aus nationaler oder
nationalsozialistischer Begeisterung handelte, fanden sich jedoch nicht, so dass ihm bereits in
der SBZ/DDR in diesem Punkt nichts Nachteiliges anzuhängen war.
Manche Regierungskader machten also gar keinen Hehl daraus, dass sie bereits im NSRegime begehrte Fachleute waren und ihnen deshalb bestimmte Positionen angetragen
wurden. In diesem Zusammenhang schilderte Harald Schaumburg anlässlich der SEDMitgliederüberprüfung 1951 seine Beschäftigungsaufnahme beim Reichsministerium für
Ernährung und Landwirtschaft. Er diente gerade als Soldat bei der Wehrmacht, als man ein
verlockendes Angebot an ihn richtete: »Während des Krieges erhielt ich über einen
Bekannt[en] die Anfrage, ob ich zur Dienstleitung im Reichsernährungsministerium bereit
sein würde. Das Ministerium würde die u.k.-Stellun[g] betreiben. Ich sagte zu. Ich hatte
damals gerade gefürchtet [sic] (Okt[ober] 1940) und hoffte auf diese Weise, in der Heimat
bleiben zu können. Im Sept[ember] 1940 wurde ich von der Truppe entlassen. Meine
679
680
681
682
ZB II 3056, A. 12, Bl. 4, Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946; DY 30 /
IV, 2/11/171, Bl. 147 f., Protokoll der Sonderkommission, [SED-Mitgliederüberprüfung 1951,] Lebenslauf,
vom 25.02.1951 (Abschrift).
An anderer Stelle hieß es »Im Jahre 1939 leitete die nach der Besetzung des Sudetenlandes neu errichtete
Landesbauernschaft in Reichenberg mit mir Verhandlungen ein und berief mich als Forstmeister des
Reichsnährstandes ein.« Siehe: ZB II 3056, A. 12, Entnazifizierungskommission beim Magistrat von GroßBerlin, Allgemeine Kommission, Protokoll der Hauptverhandlung, vom 21.10.1947, S. 1 f.; ebd., Bl. 4,
Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946.
ZB II 3056, A. 12, Bl. 5, Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946.
ZB II 3056, A. 12, Bl. 22, [Verfasser unleserlich,] Ermittlungsbericht, vom 16.09.1947.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
152
Einberufung ins Ministerium wurde s[einer] Z[ei]t v[on] Ministerialdirektor H[...] betrieben,
der mich im Assessroexamen [sic] geprüft und offenbar einen guten Eindruck über meine
juristische Qualifikation erhalten hatte.« Im Januar 1941 trat Schaumburg schließlich in das
Reichsministerium ein. Er war dort in der Kreditabteilung.683 Der erste konkrete Impuls
entsprang demnach persönlichen Kontakten. Dabei waren laut Schaumburg fachliche Gründe
für das Arbeitsangebot ausschlaggebend. Dafür, dass die Beziehungen eine größere Rolle
spielten als die fachlichen Aspekte, gibt es keine Hinweise. Mit dem Ziel, nicht an die Front
zu müssen, ließ sich theoretisch darüber hinaus ein kriegsnegierender Hintergrund andeuten,
auch wenn es schlicht um den „Egoismus“ des nackten Überlebens gegangen sein sollte.
Dokumente aus dem einzigartigen Quellenfund der Personalakte Schaumburgs beim
Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft decken sich vor allem mit dem
Argument der fachlichen Qualitäten. Interne Schreiben zwischen Mitarbeitern innerhalb des
Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft sowie dieser Behörde mit anderen
Reichsministerien heben die besonderen Berufserfahrungen und Spezialkenntnisse hervor. So
hieß es zum Beispiel: »Bei der Begründung der UK-Stellung wird darauf hinzuweisen sein,
daß Schaumburg für einen wichtigen Auftrag im Ministerium gebraucht wird, für den er auf
Grund seiner bisherigen Tätigkeit und Vorbildung als besonders geeignet erscheint, und für
den eine andere Kraft nicht zur Verfügung steht.«684 Die Singularität seines Expertentums
fand hinreichende Betonung. Ob es tatsächlich keinerlei Alternative zu ihm gab, sei
dahingestellt. Denn es ist zu berücksichtigen, dass eine andere Begründung eines Antrages auf
zivile Unabkömmlichkeit als die in der zitierten Form wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Und
hätte sich das Ministerium so sehr für ihn eingesetzt, wenn es nicht gleichzeitig von der
politischen Zuverlässigkeit des Kandidaten ausgegangen wäre? Diese Frage bleibt offen. Wie
auch immer – wenig später konnte Schaumburg seine Tätigkeit als Hilfsreferent aufnehmen.
Als der ehemalige NSDAP-Angehörige dann einige Zeit im Reichsministerium gearbeitet
hatte, versuchten seine Vorgesetzten ihn zu befördern und stärker an den Verwaltungsapparat
zu binden: »Er ist wegen der auf diesem Gebiete [des landwirtschaftlichen Kreditwesens]
gesammelten Erfahrungen für die Zwecke des Kreditreferats als besonders geeignet
anzusehen. Da er sich in sein Arbeitsgebiet sehr rasch eingearbeitet hat und mir eine
ausserordentlich wertvolle Hilfe bedeutet, beabsichtige ich, ihn in das Beamtenverhältnis zu
übernehmen.«685 Des Weiteren hieß es über den Juristen: »Er hat sich sehr schnell
eingearbeitet und seine Aufgaben getreu und zuverlässig erledigt. Er ist für das Ministerium
eine ausserordentlich wertvolle Hilfe. Seine endgültige Übernahme in das Beamtenverhältnis
unter Ernennung zum Regierungsrat ist im dienstlichen Interesse dringend erwünscht.«686 Die
Einsetzung als Regierungsrat, zum wiederholten Male unter Hinweis auf gute
Arbeitsleistungen, fand auch tatsächlich statt. Trotzdem zog ihn die Wehrmacht im März
1942 erneut ein und Schaumburg musste die Behörde wieder verlassen.
Kaderpolitisch noch vorteilhafter als herausragende Sachkenntnisse waren Widerstandsund Verfolgungsaspekte, die berufliche Veränderungen nach sich zogen.687 So wurde Günther
Kromrey bereits 1932 wegen prosozialistischer Streikleitung bei der Firma Steatit-Magnesia
683
684
685
686
687
DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 53, Schaumburg, Lebenslauf, [geschrieben anlässlich der SEDMitgliederüberprüfung 1951], undatiert [1951].
R 3601 (PA) 309, Bl. 3 RS (nach anderer Zählung Bl. 6 RS), Der Reichsminister für Ernährung und
Landwirtschaft, Abteilung IV, an Abteilung I, vom 11.10.1940.
R 3601 (PA) 309, Bl. 9 f. (nach anderer Zählung Bl. 12 f.), Der Reichsminister für Ernährung und
Landwirtschaft, an den Reichsminister der Finanzen, vom 24.07.1941 (Entwurf); ebd., Der Reichsminister
der Finanzen, an den Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, vom 31.07.1941.
R 3601 (PA) 309, Bl. 16 (nach anderer Zählung Bl. 20), Der Reichsminister für Ernährung und
Landwirtschaft, an den Reichsminister des Innern und den Reichsminister der Finanzen, vom 04.10.1941.
Siehe Kapitel „Nationalsozialisten als Opfer des NS-Regimes“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
153
gemaßregelt und entlassen.688 Anschließend war der Altkommunist für die sowjetische
Handelsvertretung tätig, aus der er 1936 wegen Einschränkung des Mitarbeiterstabes wieder
ausschied. Im Zeugnis stand jedoch, der promovierte Naturwissenschaftler sei „auf eigenen
Wunsch” gegangen, angeblich damit er es leichter hatte, eine neue Stelle zu bekommen.689
Nach seinem Ausscheiden bei der Handelsvertretung fand der Chemophysiker wegen des
bolschewistischen Ex-Arbeitgebers im NS-Regime, wie er schrieb, „erwartungsgemäß“
zunächst keine neue Anstellung. Kromrey hatte zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben
die Absicht, in einen Groß- oder Rüstungsbetrieb zu gelangen, wo die »Notwendigkeit der
politischen Arbeit gegeben war. (´Die Betriebe sollen unsere Festungen sein.´ Lenin.)«690 Im
Jahr 1937 arbeitete er dann einige Monate in einem Forschungslaboratorium. Dort habe der
spätere DWK-Abteilungsleiter ebenfalls versucht, den Widerstand gegen die Behandlung der
Angestellten durch die Firmenleitung zu organisieren, und wurde, wie er es darstellte, »wegen
Aufwiegelung der Belegschaft« erneut gekündigt.691 Danach habe Kromrey vorübergehend
eine Stelle im Labor eines Antifaschisten gefunden, die ihm Freunde vermittelten.692
Beim „Stellennachweis für Chemiker“ sei ihm schließlich allein auf die Angabe hin, in
der sowjetischen Handelsvertretung gearbeitet zu haben, eröffnet worden, dass er in
Deutschland nie wieder eine Arbeit in seinem Fach erhalten würde.693 Eine triste Perspektive
für den leidenschaftlichen Entwicklungsingenieur und eine harte Probe für seinen
marxistischen Idealismus. Der Versuch einer Kontaktaufnahme mit Niels Bohr in Dänemark
habe beruflich keine Ergebnisse gebracht. Nach eigener Aussage hatte Kromrey aber auch gar
nicht vor, ins Ausland zu gehen: »Viele, die sich in meiner damaligen Situation befanden,
sind im Ausland geblieben. Die Sicherheit des Auslandes wog ihnen mehr als die
Ungewissheit des Emigrantenschicksales. Für mich stand fest, in Deutschland zu bleiben, da
Antifaschisten benötigt würden. Und zwar Antifaschisten, die in Betrieben arbeiteten.«694 Der
ehemalige KPD-Angehörige bezog seinen Beharrungswillen also ausdrücklich auf die
Absicht, in Betrieben, an der proletarischen Basis, regimefeindlich zu wirken: »In richtiger
Voraussicht der Dinge, die kommen würden, sagte PJATNITZKI bereits im Jahre 1932: .....
die Arbeit im Betriebe gewänne aber eine außerordentliche Bedeutung in Verbindung mit dem
herannahenden imperialistischen Kriege. Unter diesem Umstande werde die Arbeit im
Betriebe mehr als sonst zur wichtigsten und fast zur einzigsten Möglichkeit, mit der
Arbeitermasse im Betriebe in Verbindung zu bleiben. Es sei heute schwer im Betriebe
politisch zu arbeiten. Die revolutionären Arbeiter flögen aus den Betrieben heraus. Die
Aufgabe bestehe nun darin, unter allen Umständen, um jeden Preis, mit allen Mitteln, wenn
notwendig unter falscher Flagge, ganz gleich wie, in die Betriebe einzudringen, um dort
kommunistische Arbeit zu leisten.«695
Die Kaderabteilung der SED-Parteizentrale monierte zwar, dass sich Kromrey
ausgerechnet auf den „Trotzkisten Pjatnitzky” berief.696 Doch die Argumentationsstrategie
kommt klar zum Ausdruck. Die Berufung auf ideologische Vorgaben lieferte die
688
689
690
691
692
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694
695
696
Siehe auch Kapitel „Parteizugehörigkeit, gesellschaftliches Engagement und politische Einstellungen vor
1933“. Einzelheiten zu Kromrey siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 256 f.
ZB II 3532, A. 20, [Entnazifizierungskommission Berlin-Mitte,] Verhandlungsprotokoll vom 23.August
1946, vom 23.08.1946; ebd., Kromrey, Fragebogen [zwecks Entnazifizierung], vom 16.07.1946; ebd.,
Handelsvertretung der UdSSR in Deutschland, Personalabteilung, Schweizer, Zeugnis, vom 13.08.1936
(Abschrift).
DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 5, Kromrey, Bericht, undatiert.
Zu allen weiteren Ausführungen über Kromreys Berufsphase 1933-1945 siehe auch das Kapitel „Aktiver
Widerstand“.
DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 22 f., Kromrey, Lebenslauf, undatiert [1951] (Abschrift).
ZB II 3532, A. 20, Kromrey, Lebenslauf [angefertigt anlässlich des Entnazifizierungsverfahrens], undatiert
[1946].
Ebd.
Ebd.
DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 62, [SED,] Kaderabteilung, betr.: Kromrey, vom 21.12.1949.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
154
Rechtfertigung für „äußerliche“ Zugeständnisse in Form einer Mitarbeit beim
Reichsluftschutzbund und einer Zugehörigkeit zur NSDAP. Beides ergab sich nämlich als
Zeichen der Loyalität zum NS-Regime aus einer Anstellung bei Siemens697 im Jahr 1938, so
jedenfalls Kromrey. Zuvor hatte die Gestapo erreicht, dass der Altkommunist schon nach
sechs Wochen zur fristlosen Entlassung kam und das Röhrenwerk vorübergehend wieder
verlassen musste. Kromrey aber wollte unbedingt in dieser Firma bleiben und trat unter
anderem der NSDAP bei, ihm zufolge nicht aus „profanen“ wirtschaftlichen Gründen,
sondern um weiterhin subversiv agieren zu können. Die Behinderungen durch die Geheime
Staatspolizei nahmen aber trotzdem kein Ende, wie der spätere DWK-Verwaltungsfunktionär
schilderte: »Seitens der Gestapo wurde während des Krieges al[le] 3...4 Monate versucht,
mich wieder aus dem Betriebe zu entfernen. Der Firmenleitung gelang es aber jedesmal, mich
zu decken.« An anderer Stelle ergänzte er: »Im Jahre 1941 wurde mir von der Firma Siemens
gesagt, dass ich nach Wien versetzt werden sollte, doch wurde in der Zwischenzeit immer
wieder durch die Gestapo von der Firma Siemens verlangt, dass ich aus dem Betrieb heraus
müsste. Auf Grund meiner Fachkenntnisse ist es dem Leiter von Siemens gelungen, mich doch
zu halten.« Nach Zerstörung des Berliner Werkes wurde Kromrey im April 1944 schließlich
doch noch nach Wien geschickt.698 Die politisch motivierte Verfolgung durch die
Nationalsozialisten einerseits und der eigene Wille zur betrieblichen Widerstandsarbeit
innerhalb des Deutschen Reiches andererseits bestimmten etliche stattfindende und
ausbleibende Arbeitsplatzwechsel. Hinzu kamen die Unterstützung durch Regimegegner
sowie unpolitische Aspekte wie eine offenbar betriebswirtschaftlich begründete
Stellenreduzierung, der kriegsbedingte Ausfall der Produktionsstätte oder Kromreys fachliche
Qualitäten als Chemophysiker.
Ein paar frühere NSDAP- und SA-Mitglieder in der Wirtschaftskommission gaben
darüber hinaus an, aus politischen Gründen während der NS-Diktatur beruflich benachteiligt
worden zu sein. Sie wurden demnach aus dem öffentlichen Dienst gedrängt, bei
Beförderungen übergangen oder hätten nur in Nebensachgebieten arbeiten dürfen.699 Ein
ehemaliger SA-Angehöriger und DWK-Referent behauptete zum Beispiel, bis 1945 „nur“ als
Stahlwerksassistent und kommissarischer Betriebsleiter fungiert zu haben, weil der
„Nazikreisleiter” wegen eines angeblichen SA-Ausschlusses gegen eine Beschäftigung als
richtiger Betriebsleiter war. Allgemein ließen sich solche Fälle mal mehr, vor allem durch
Zeugen, und mal weniger beweisen.700 Ein anderer DWK-Referent sagte beispielsweise aus,
nach einem NSDAP-Ausschluss im Jahre 1941 habe er mit Berufsbehinderungen zu tun
gehabt und sei von der Gestapo überwacht worden. Laut NSDAP-Mitgliederkartei fand der
Parteiausschluss tatsächlich statt. Ohne Zugriff auf entsprechende Belege hegte das
Ministerium für Staatssicherheit jedoch Zweifel an dieser Version, da der ehemalige Pg. bis
Kriegsende „einflußreiche Funktionen in verschiedenen Konzernen inne“ hatte und
„ausgezeichnete Beurteilungen“ erhielt. Es vermutete sogar, dass die Gestapo ihn angeworben
hatte. Erst 1964 stellte das MfS bei Überprüfung einer Personalakte des Betreffenden aus der
Zeit vor 1945 fest, dass die Behauptung des späteren Abteilungsleiter im Ministerium für
Industrie, von der Gestapo überwacht worden zu sein, der Wahrheit entsprach. Dies geschah
in der NS-Ära vertraulich und ohne relevante Ergebnisse. Der Abwehrbeauftragte der
697
698
699
700
Kromrey formulierte: »Im Jahre 1938 erhielt ich die Aufforderung bei der Firma Siemens einzutreten«,
siehe: ZB II 3532, A. 20, Kromrey, Lebenslauf [angefertigt anläßlich des Entnazifizierungsverfahrens],
undatiert [1946].
ZB II 3532, A. 20, Kromrey, Lebenslauf [angefertigt anläßlich des Entnazifizierungsverfahrens], undatiert
[1946].
Zu den Umständen, die 1935/36 zur Beendigung der Tätigkeit Kurt Ritters als ordentlicher Professor
führten, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 259; Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1006; Černý, DDR,
S. 373 f.; siehe auch Kapitel „Nationalsozialisten als Opfer des NS-Regimes“.
Das genannte Exempel betraf Gerhard H., hierzu und zu weiteren Beispielen (Alfred Kr., Ernst Kaemmel)
siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 259.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
155
Gestapo, SS-Brigadeführer Rasch, habe 1944 schriftlich eingeschätzt, dass der Observierte
nur aus Mangel an Alternativen eingestellt wurde.701
Auf der anderen Seite gab es NS-Belastete, die beruflich „anrüchige“ Posten
eingenommen hatten und direkt hierauf bezogen keine besonderen Entlastungsargumente
vorlegen konnten. Unter ihnen befanden sich ehemalige Beamte, die ihren Dienst im Zweiten
Weltkrieg in okkupierten Gebieten versahen, außerdem solche, die ebenda als Mitarbeiter
deutscher Wirtschaftsunternehmen an der Ausplünderung von Rohstoffen beteiligt waren.
Wie es genau zu dieser Aufgabenerteilung kam, ist leider nicht konkret belegt. Beamte waren
grundsätzlich weisungsgebunden, wurden manchmal zur Strafe versetzt, hin und wieder
entdeckten sie darin aber wohl auch einen Karrieresprung. In der Wirtschaft sah es vermutlich
nicht viel anders aus.702 Meist verhielt es sich so, dass der vor 1933 wahrgenommene
Arbeitsbereich nach der Machtergreifung Hitlers unter der Ägide der Nationalsozialisten
einfach fortgeführt und den neuen Verhältnissen angepasst wurde.703
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 modifizierten sich die spezifischen
Zeitumstände der Ursachen eines Arbeitsplatzwechsels. Da ist zum Beispiel die Demontage
zu nennen. Im Rahmen der Reparationsleistungen an die UdSSR wurden dadurch zahlreiche
Betriebe stillgelegt. Von den daraus resultierenden Entlassungen waren auch einige der
ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK tangiert.704 Wesentlich einschneidender für den
beruflichen Werdegang und im NS-Sample weitaus verbreiteter waren jedoch Karrierezäsuren
aufgrund der Entnazifizierung. Nach dem Dienst bei der Wehrmacht zwang die politische
Säuberung weiterhin oder erneut zahlreiche NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder zum Verlassen
des angestammten Arbeitsplatzes. Viele von ihnen fielen dadurch nicht nur in ein
ökonomisches Loch.705 Nicht wenige empfanden dies darüber hinaus als Schock und
besondere Erniedrigung.706 So ein Pg. und SA-Angehöriger, der 1918-1945 im
Reichspostzentralamt Berlin-Tempelhof arbeitete, wo er wegen seiner NSDAP-Zugehörigkeit
entlassen wurde. Der spätere (Haupt-)Sachbearbeiter in der DWK und im DDRPostministerium schilderte 1947 den Vorgang seines abrupten Ausscheidens minutiös: »Am
7.6.1945 während meiner Tätigkeit bei Aufräumungsarbeiten in der Auslandsstelle des
Reichspostzentralamts, Abteilung Grünau, erhielt ich vormittags 11 Uhr von einer Beamtin
mündlich die Aufforderung, sofort meinen Ausweis abzugeben und die Diensträume für immer
zu verlassen. So endete meine 38 jährige Postdienstzeit, während der ich mir nichts habe zu
Schulden kommen lassen; lediglich meine Mitgliedschaft zur NSDAP war der Grund der
Entlassung.« Im Anschluss lernte er bei einer Berliner Firma als Maurer und nahm bis 1947
an Wiederaufbauarbeiten teil.707 Offenkundig konnte oder wollte der ehemalige Beamte die
Erfordernis der personellen Bereinigung nicht akzeptieren, zumindest nicht in seinem Falle.
Er glaubte von sich, stets nur seine Pflicht getan zu haben. Das dies eine legitime Kündigung
nach sich ziehen sollte, war für ihn kaum begreiflich.
Auch Ferdinand Beer musste seinen Platz in der ZV Land- und Forstwirtschaft wegen
einer NSDAP-Mitgliedschaft vorübergehend frei machen. Was folgte war eine Karrierezäsur,
eine Warteschleife, in der der Forstexperte notgedrungen zu einem Stundenlohn von 73
Pfennigen als Waldarbeiter in einem Forstamt tätig war. Schon kurze Zeit später nutzte die
Zentralverwaltung erneut seine Fähigkeiten mit Hilfe des Kunstgriffes, ihn als freiberuflichen
701
702
703
704
705
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707
Das MfS konnte die erwähnte Personalakte über Franz Woytt wohl nicht eher heranziehen, weil sie
vermutlich erst in den sechziger Jahren zur Verfügung stand. Weitere Details siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 260.
Siehe Franz Woytt, Heinz König, Werner Wa., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 260.
Ein Beispiel (Erich K.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 260 f.
Siehe Franz Woytt, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 261.
Ein Beispiel (Gerhard H.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 261.
Vgl. Frei, Karrieren, S. 315.
Details zu Arthur G. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 261.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
156
Mitarbeiter für Redaktions- und Sonderaufgaben zu beschäftigen.708 Am Ende beschäftigte sie
bzw. die DWK den ehemaligen Pg. schließlich wieder als normalen Angestellten. Dabei hatte
der Präsident der Deutschen Verwaltung für Land- und Forstwirtschaft Edwin Hoernle die
Entnazifizierungskommission 1946 um Beschleunigung des Entnazifizierungsverfahrens
gebeten – in der Hoffnung, den Spezialisten dann umso früher fest in den Staatsapparat
einzubauen.709 Der Schwerpunkt der Begründung für die Beschäftigung Beers als freier
Mitarbeiter sowie in der Zentralverwaltung als fest angestellter Fachreferent für Forstkulturen
und Waldarbeiterfragen war diesmal keine fachliche, sondern eine politische: »Seine
Berufung erfolgte, weil er sowohl von der SMA Karlshorst als auch von der Verwaltung für
Land- und Forstwirtschaft als politisch einwandfrei bestätigt wurde.«710 In der HV
Wirtschaftsplanung der DWK sollte der Spezialist dann die Hauptabteilung Forstwirtschaft
leiten. Seine politische Wandlung und Zuverlässigkeit versuchte er mehrfach zu
dokumentieren. Beer trat der SED bei. Er berichtete in einem Brief an Walter Ulbricht, an
einer Untersuchung gegen einen leitenden Funktionär der Forstverwaltung in Brandenburg
beteiligt gewesen zu sein, der daraufhin des Dienstes enthoben wurde: »Inzwischen hatte [der
Forstkader] [...] offenbar in Erfahrung gebracht, dass ich in irgend einer Form an der
Untersuchung gegen ihn beteiligt sei und hat mich der verschiedensten Verfehlungen
beschuldigt, u[nter] a[nderem] dass ich Trinkschulden gemacht hätte, dass ich ein aktiver
Nazi gewesen wäre und andere, die er direkt an den Gen[ossen] Rau geschickt hat. Ich sollte
sofort entlassen werden. Da aber inzwischen die personalpolitische Abteilung im Z[entral-]
S[ekretariat der SED] meiner Berufung als stellv[ertretender] H[aupt-] A[bteilungs-]
L[eiter] zugestimmt hatte und auch von der SMA in Karlshorst die Zustimmung vorlag, wurde
meine Bestätigung gefordert, die aber bis heute nicht erfolgt ist.« Die Bestätigung verzögerte
sich aufgrund politischer Vorbehalte des DWK-Vorsitzenden Heinrich Rau. Sie wurde am
Ende schließlich doch erteilt.711 Offenbar war der ins Visier geratene Brandenburger
Mitarbeiter aber sehr wohl in der Lage, durch diverse Beschuldigungen den zügigen
beruflichen Wiederaufstieg Beers ernsthaft zu gefährden. Der Darstellung des
Forstfachmannes nach war er Opfer eines Komplottes geworden, einer Intrige, die ein
überführter „Schädling“ angezettelt hatte. So sei auch der Vorwurf einer aktiven Betätigung
im Sinne des NS-Regimes unzutreffend und kein Hinderungsgrund für eine Beförderung
gewesen.
Wie schon angeklungen betonten die Beteiligten manchmal ausdrücklich, eine Arbeit
unter Billigung der sowjetischen Besatzungsbehörden aufgenommen zu haben.712 Das sollte
implizit einer politischen Unbedenklichkeitsbescheinigung gleichkommen. Karlshorst
verlangte für eine dauerhafte Beschäftigung eine erfolgreich verlaufende Entnazifizierung.713
708
709
710
711
712
713
Nach Beendigung seiner Tätigkeit als Waldarbeiter war Beer auch an der Erstellung einer Enzyklopädie der
Deutschen Forstwirtschaft für die Sowjetische Militäradministration beteiligt. Ferner hieß es: »In dem PgArbeitseinsatz ist er nicht eingereiht, sondern seit [dem 1.] Okt[ober] [19]46 als freier journalistischer
Mitarbeiter im Deutschen Zentralverlag GmbH. [Verlagsanstalt der Deutschen Zentralverwaltungen in der
sowjetischen Besatzungszone], Berlin [...] tätig.«. Dies ist damit in Zusammenhang zu sehen, dass Beer
Gründer, Redakteur, später Chefredakteur der Zeitschrift „Forstwirtschaft – Holzwirtschaft“ war. Der
ehemalige Pg. beschaffte Manuskripte und bearbeitete sie bis zur Druckreife. Außerdem wurde er für die
Bearbeitung von Sonderaufträgen im Zentral-Forstamt der DVLF herangezogen. Quellenangaben siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 262.
Beer wurde aber erst am 21.10.1947 zu seinen Gunsten entnazifiziert, siehe: ZB II 3056, A. 12, Bl. 3,
Deutsche Verwaltung der Land- und Forstwirtschaft, Der Präsident, an die Entnazifizierungskommission
der Stadt Berlin, vom [?.]06.1946.
ZB II 3056, A. 12, Bl. 20, Deutsche Verwaltung der Land- und Forstwirtschaft, Bescheinigung, vom
07.01.1947.
Näheres zu Raus Haltung siehe Kapitel „Diskriminierung und Ächtung“; BStU, AU 5 / 52, Band 6, Bl. 14
f., Beer, an Zentralsekretariat der SED, Ulbricht, vom 23.10.1948.
Ein Beispiel (Ernst Kaemmel) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263.
So verfuhr die SMA 1946 bei mehreren Pgs. in der ZV Statistik, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
157
Einen Automatismus gab es natürlich nicht. Die Entnazifizierung brachte daher manchmal
trotzdem einen Stellenverlust mit sich.714 Dessen ungeachtet gelangten einige NS-Belastete
auf derart direktem Weg aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft oder Internierung in die
zentrale Staatsverwaltung, dass teils wahrscheinlich, teils unzweifelhaft eine Rekrutierung
und Personalvermittlung durch die Sowjets stattfand.715 Manchmal scheint eine Vermittlung
aber nicht immer geplant gewesen zu sein oder funktioniert zu haben.716
Daneben betrieben auch die deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten sofort bei
Kriegsende eine Kaderpolitik, die im Einklang mit der SMAD stand. Einen Pg., der nicht
entnazifiziert wurde, konnten aber auch sie selbst bei grundsätzlichem Wohlwollen nicht
immer halten. So schrieb die SED im sächsischen Bannewitz über den DWK-Abteilungsleiter
Hans Forsbach: »Er war der erste Bürgermeister in Bannewitz nach dem Zusammenbruch. Er
wurde damals ohne Widerspruch nach dem Vorschlag des Genossen Adolf B[...] gewählt.«
Aufgrund des Zuspruches der KPD oder SPD gelangte der schon vor 1933 in der
Arbeiterbewegung organisierte Forsbach in eine verantwortliche Position. Anschließend sei er
von einem anderen Genossen beim Landratsamt Dresden eingestellt worden. Von dort habe
der ehemalige Pg. »sich freiwillig zurückgezogen«, so die SED-Ortsgruppe. Forsbach selbst
schrieb, sein Hauptaufgabengebiet beim Landratsamt sei durch Umstrukturierung
weggefallen, deswegen »ersuchte ich um meine Beurlaubung für 4-6 Monate, um mich auf
das Doktorexamen vorbereiten zu können. Da eine Beurlaubung nicht erfolgen konnte, bat ich
im Einvernehmen mit der Kreisleitung um meine Entlassung, der auch stattgegeben
wurde.«717 Diese Darstellung widerspricht aber dem Umstand, dass Forsbach aufgrund der
Entnazifizierungsdirektive 24 aus der Lokalverwaltung entlassen wurde.718 Es liegt nahe, dass
die politischen Freunde in der SED eine geschönte Erklärung für den Arbeitsplatzwechsel
angaben, damit der spätere DWK-Funktionär es bei der sich anschließenden beruflichen
Laufbahn leichter hatte. Gleiches taten bei anderen Pgs. offenbar auch lokale AntifaAusschüsse in Form diverser Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die für eine
Beschäftigungsaufnahme wichtig sein konnten.719
Eine genauere Betrachtung der Rekrutierungsabläufe soll im Weiteren Aufschluss
darüber geben, was das auslösende Moment für einen Eintritt in die Zentralverwaltungen / die
Deutsche Wirtschaftskommission bzw. in den öffentlichen Dienst der SBZ war. Diejenigen
NS-Belasteten, die schon vor 1945 in einer Reichsbehörde gearbeitet hatten, waren einigen
ehemaligen Kollegen, die im neuen Staatsapparat zu Personalverantwortlichen avancierten,
persönlich bekannt und fanden in ihnen Förderer. Teilweise kannten Verwaltungskader
bestimmte Kandidaten auch aus anderen Institutionen, aus der Wirtschaft oder vom
Studium.720 Eine tatsächliche Einstellung vollzog sich dann natürlich nur mit Billigung der
714
715
716
717
718
719
720
Siehe das Beispiel Walter E., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263.
Beispiele (Karl-Heinz Gerstner, Erwin Melms, Luitpold Steidle) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 263;
Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 22 f.
Hans Naake bewarb sich nach seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Jahr 1947 zuerst
bei der „Senatspost”, wurde aber wegen Personalüberhangs nicht eingestellt, siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 264.
DC 1 / 2601, Forsbach, Lebenslauf, vom 16.12.1946.
Die ZKK schrieb: »Forsbach wurde auf Grund der Direktive 24 von der Landesregierung Sachsen, wo er
als Regierungsangestellter tätig war, entlassen.« Unklar ist, ob sich die ZKK auf die Entlassung beim
Landratsamt bezog oder auf die bei der HV Landeseigenen Betriebe, siehe: DC 1 / 2601, [ZKK,]
Zusammenfassender Bericht, an Matern, vom 18.03.1950; ebd., [ZKK, Lange] an DVdI, Fischer, vom
30.10.1948; vgl. den Fall Bernd Veen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 264.
Es half ehemaligen NSDAP-Mitgliedern sehr, wenn sozusagen der politische Gegner eine positive
Stellungnahme über sie abgab, die einer Rehabilitierung oder Entnazifizierung gleichkam. Dadurch schien
die NS-Belastung automatisch geringer auszufallen, die demokratische Reife bewiesen zu sein und einer
beruflichen Behinderung die Begründung zu fehlen. Siehe das Beispiel Ferdinand Beer, in: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 264.
Siehe Eberhard H., Gerhard Henke, Erich T., Rudolf Ha., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 265.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
158
sowjetischen Besatzungsmacht und der deutschen Kaderverantwortlichen. Die Sowjets
leiteten ein Beschäftigungsverhältnis manchmal auch schon vor den deutschen Stellen ein.
Der Leitungskader Ferdinand Beer berichtete zum Beispiel über seine Anstellung bei der ZV
Land- und Forstwirtschaft Folgendes: »Bereits Mitte Mai [1945] versuchte ich mich der
Roten Armee mit einem Exposé über die noch in der russischen Besatzungszone im Walde
lagernden Nutzholzvorräte zur Verfügung zu stellen. Meine Bemühungen hatten erst nach der
Errichtung einer Industrieabteilung bei der Russischen Militäradministration in Karlshorst
Erfolg. Der Vorstand der Industrieabteilung Alexandrow veranlaßte, obwohl ich ihm
mitgeteilt hatte, daß ich Mitglied der Nazipartei war, die Übergabe meines Exposés an den
Präsidenten der deutschen Verwaltung für Industrie Skrzipzcinski, der mich an Präsident
Hoernle [von der ZV Land- und Forstwirtschaft] verwies, worauf ich Ende August im
Zentralforstamt zunächst als Arbeiter und ab 1. September als Forstmeister-Referent
angestellt wurde.«721 Beer meldete sich also unverzüglich nach Beendigung der
Kampfhandlungen mit einem fachbezogenen Schreiben, das seine Kooperationswilligkeit
unter Beweis stellte und seine Arbeit auch finanziell gewinnbringend erscheinen ließ. Der
Berufung durch einen General der SMAD folgte dann die Befürwortung des Leiters der
Zentralverwaltung.722
Die Sowjets versuchten darüber hinaus, die Quelle des Personalstroms, der in den
Aufbau der funktionalen Nachkriegseliten münden sollte, direkt in ihren Kriegsgefangenenund Umerziehungslagern beginnen zu lassen. Der spätere (Haupt-)Abteilungsleiter in der
DWK und im Postministerium Rudolf Lang erhielt während seiner Zeit in der Frontschule
bzw. Antifa-Schule eine Anfrage, ob er eine Tätigkeit bei einer Zeitung oder in der
Verwaltung vorzieht. Er entschied sich für die Verwaltung.723 Lang wurde dann mit
Zustimmung der sowjetischen Behörden am 1. September 1945 Leiter der Abteilung Post
beim Magistrat Berlin. Ihm unterstanden sämtliche Postämter der Stadt. Hierzu Robert
Dewey, damals beim Magistrat Personalchef der Abteilung für Post und Fernmeldewesen:
»Der damalige Betrieb bei Post- und Fernmeldewesen lag selbstverständlich im argen. [...]
Damals bestand für Stadtrat Köhler die Notwendigkeit, sich der Mitarbeit solcher Leute zu
versichern, die technisch befähigt schienen. Es war der damaligen Personalleitung bekannt,
dass Dr. L[ang] Pg und in der SA war. Es war massgebend, dass L[ang] sich am Bund
“Freies Deutschland” beteiligt hat. Es war eine Frage der Entwicklung, ob es genügen
würde. L[ang] hat sehr gute Arbeit geleistet.«724 Die politische Neuausrichtung führte den
begehrten Fachmann trotz NS-Vergangenheit also geradewegs in eine verantwortliche
Verwaltungsposition und – entnazifizierungsbedingt mit gewissen Umwegen – dann auch in
die DWK. Er stand zwar unter Beobachtung, bewährte sich aber.725 Der Parteiapparat der
KPD/SED vermittelte natürlich ebenfalls Kader in die Staatsverwaltung.726 Unbenommen
davon sah sich der zentrale Regierungsapparat auch nach Personal um, das in anderen
öffentlichen oder seiner Aufsicht unterstehenden Dienststellen arbeitete.727 Es kam zu
entsprechenden Versetzungen.728
721
722
723
724
725
726
727
728
ZB II 3056, A. 12, Bl. 6, Beer, an die Zentrale der Entnazifizierungskommission, vom 21.05.1946.
Der Zuspruch auf solch hoher Ebene bewahrte allerdings nicht vor der Überprüfung des Lebenslaufes und
der Entnazifizierung. So musste Beer zwischenzeitig das Zentralforstamt verlassen und sein Geld als
Waldarbeiter verdienen, bevor er dann wieder zurückkehren durfte, siehe: ZB II 3056, A. 12,
Entnazifizierungskommission beim Magistrat von Groß-Berlin, Allgemeine Kommission, Protokoll der
Hauptverhandlung, vom 21.10.1947, S. 2.
ZJ 53, A. 6, Curt B[...],Eidesstattliche Erklärung, vom 23.07.1946.
ZJ 53, A. 6, Entnazifizierungskommission beim Magistrat der Stadt Berlin, Allgemeine Kommission,
Protokoll der [1.] Hauptverhandlung am 16. Januar 1947, vom 21.01.1947.
Zu Langs Internierung 1946 und Entlassung im Zuge der Entnazifizierung siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 266.
So geschehen 1945 bei Günther Kromrey, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 266.
Beispiele (Walter Pi., Arthur G.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 266.
Siehe Werner Wa., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 266.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
159
Die Parteileitung oder die oberen Verantwortlichen innerhalb der Deutschen
Wirtschaftskommission verpflanzten Kader vereinzelt gegen den Willen des
Verwaltungszweiges, in dem ein Einsatz vorgesehen war. Ein Beispiel ist der ehemalige Pg.
und DWK-Hauptabteilungsleiter Ernst Schinn, der trotz des Widerspruches der HV
Leichtindustrie und der Betriebsgruppe in die Deutsche Wirtschaftskommission eingestellt
wurde. Fritz Selbmann, Mitglied des Sekretariats der DWK, setzte sich sehr für ihn ein.729
Unterschiedliche Meinungen einzelner Kaderverantwortlicher über Art und Dauer der
Integrierbarkeit von Kadern bzw. NS-Belasteten kamen häufiger vor.730
Bereits erwähnt wurde, dass ehemalige Nationalsozialisten auf persönliche
Bekanntschaften zurückgreifen konnten, um ihre Berufskarriere voranzutreiben. Inwiefern
handelte es sich dabei um (nationalsozialistisch gesinnte) Freunde, Patrone oder
„Seilschaften“? Die Bedeutung der Kontakte innerhalb und außerhalb des
Institutionengefüges sollte zwar nicht überschätzt werden und bedarf auch noch genauerer
Erforschung.731 Doch für die konkrete Arbeit als Verwaltungskader konnten sie nur nützlich
sein. Manche NS-Belastete pflegten auch Kontakte zu diversen Berufs- und
Interessenverbänden, und zwar in Ost wie West.732 An dieser Stelle sollen Hilfeleistungen aus
Anlass einer Bewerbung, etwa als Bürge oder durch direkte Stellenvermittlung im Blickpunkt
stehen, außerdem solche im Apparat selbst, mittels Beförderungen oder Zuweisung
bestimmter Arbeitsgebiete.
Eine Patronatsbeziehung ist dabei gegeben, wenn „eine personalisierte wechselseitige
Beziehung besteht, diese Beziehung dauerhaft sowie breit angelegt ist und affektive Elemente
enthält zum Zwecke einer anhänglichen Bindung des Patrons an den Protegé”. Man kann statt
einer Patron-Protegé-Beziehung auch von „informellen Gruppen” sprechen, die aufgrund
früherer gemeinsamer Erfahrungen (Universität, Arbeitsstelle, Herkunft etc.) entstehen. Sie
haben ähnliche Ansichten über Ziele, Aufgaben, Arbeitsstil und –methode und besitzen eine
vergleichbare Identität dienstlicher Interessen (z.B. die gleiche Ergebenheit gegenüber einer
dienstlichen Autorität). Der Charakter und psychologische Typ der Mitglieder informeller
Gruppen ähneln einander und weisen mitunter auch Gemeinsamkeiten bei außerdienstlichen
Interessen wie der Freizeitgestaltung auf.733 Beziehungen als soziales Kapital im Sinne
Bourdieus waren allgemein gesehen sowohl in der NS-Ära als auch in der SBZ/DDR für die
Erlangung bestimmter Ressourcen von größerer Bedeutung als politische Lippenbekenntnisse
und Unterwerfungsgesten.734 Gleichzeitig sorgten nicht zuletzt die strengen
Kaderkontrollmechanismen dafür, dass im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten Patronage in
der DDR in relativ geringem Maße in Vetternwirtschaft ausartete.735 Von Interesse ist
natürlich auch die Frage, ob frühere Pgs. selbst in die Lage kamen, Posten an andere NSBelastete zu vergeben oder in diese Richtung zu wirken vermochten. Wenn ja, aus welchen
Motiven heraus taten sie dies? Um der Freundschaft willen, wegen der fachlichen Effizienz
oder – der Albtraum der SED – um sich aus politischen Gründen mit anderen Faschisten zu
vernetzen und Sabotage zu verüben?
729
730
731
732
733
734
735
Der Personalleiter der HV Leichtindustrie hatte seiner Ansicht nach zu weitgehende Gehalts- und
Versorgungsforderungen von Schinn kritisiert, außerdem mangelnden Kontakt zur SED und Verbindungen
zur Wirtschaft, Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 267.
Das geschah innerhalb der DWK / DDR-Regierung, zwischen dem MdI und den anderen Fachressorts
sowie zwischen Ministerien und dem zentralen SED-Parteiapparat. Beispiele für solche
Meinungsverschiedenheiten (Martin Br., Erwin P.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 267.
Bauerkämper, Elite, S. 28.
Siehe Kurt V., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 267.
Schneider, Funktionselite, S. 140 f.
Bourdieu, Kapital; Frei, Karrieren, S. 8.
Welsh, Kaderpolitik, S. 112.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
160
Die Einstellungen einiger NS-Belasteter konnten sich auf die Unterstützung wichtiger
Institutionen sowie höchster DWK- und SED-Funktionäre stützen.736 Manche Behörden
versuchten darüber hinaus, ihre NS-belasteten Fachleute vor Säuberungsmaßnahmen und vor
Bestrafungen oder beruflichen Auflagen zu schützen. So berichtete die ZKK über einen
DWK-Haumeister, es »wurde im April 1946 der Versuch unternommen, Kl[...] gegen einen
Antifaschisten auszutauschen. Die damalige ZV Post- und Fernmeldewesen lehnte unter dem
3. April [19]46 diesen Austausch ab mit dem Hinweis, dass er als nomineller Pg. nach der
Anordnung der Alliierten Kommandantur, Befehl 101a, nicht zu entlassen sei. Die Verwaltung
bemühte sich sogar, Kl[...] vom sogenannten Sondereinsatz der Pg´s zu befreien, was ihr
auch nach umfangreicher Korrespondenz gelang.«737 Andere Personalabteilungen
befürworteten die Wiedereinstellung von Mitarbeitern, die aufgrund der Entnazifizierung
gekündigt waren. Dabei kritisierte die SED Personalleiter, wenn sie eine zu „weiche” Haltung
gegenüber Ex-Nationalsozialisten einnahmen. Sie setzten sich dadurch dem Verdacht aus,
sich von interessierten Kreisen „schieben” zu lassen.738 Nichtsdestotrotz kam es vor, dass eine
Behörde ehemalige Pgs., die sie eigentlich bereits entlassen hatte, von sich aus oder gemäß
sowjetischer Order als Hilfsreferenten, freie Mitarbeiter, Zeitangestellte, auf Honorarbasis etc.
weiterbeschäftigte, also in untergeordneter Stellung oder außerhalb eines festen
Anstellungsverhältnisses, um ihre Kenntnisse weiter nutzen zu können. Teilweise gelangten
frühere NSDAP-Mitglieder auf diesem Weg nach kürzerer behelfsmäßiger Unterbrechung
wieder in ein normales Angestelltenverhältnis.739 Nur selten ist explizit belegt, dass DDRStaatsorgane dabei den Vorwurf erhoben, günstige Referenzen seien das Resultat sich
einander deckender Personen.740
In einem anderen Fall schaffte es der ehemalige SA-Angehörige Willi Hintze als DWKLeitungskader, seine Sekretärin, die bereits bis 1945 bei der Ostdeutschen
Erfassungsgesellschaft für ihn gearbeitet hatte, in gleicher Funktion in die Deutsche
Wirtschaftskommission zu holen. Das fiel der Zentralen Kontrollkommission sogleich auf.
Sie sah darin unausgesprochen ein Indiz für eine mögliche Zusammenarbeit politisch
zweifelhafter Personen, das bei Vorliegen weiterer Vorwürfe dann der Verdachtserhärtung
dienen konnte.741 Bei den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK ist nur im Einzelfall
belegt, dass sie in aller Deutlichkeit Fürsprache für einen anderen NS-Belasteten einlegten. So
beschäftigte die HV Handel und Versorgung auf Veranlassung des Hauptabteilungsleiter in
der DWK und SPK Kurt Ritter einen HJ-Funktionsträger, ohne Zustimmung des
Betriebsrates. Entgegen dessen Widerstand konnte Ritter die Fortsetzung des
Arbeitsverhältnisses durchsetzen, »indem er bei Entfernung des [HJ-Angehörigen] M. jede
Verantwortung für die fristgemässe Erledigung der Arbeiten seiner Abteilung ablehnte«. Das
frühere NSDAP-Mitglied konnte es sich in seiner Position sogar leisten, indirekt mit
736
737
738
739
740
741
Anstellungen erfolgten beispielsweise auf Wunsch eines HV-Leiters, auf Empfehlung des FDGB oder auf
die des DWK-Vorsitzenden Heinrich Rau. Ein anderer wurde vom DWK-Sekretariatsmitglied Hermann
Kastner aus Dresden „mitgebracht“. Hans Forsbach kam angeblich im Oktober 1947 auf Veranlassung von
Fritz Selbmann zur DWK. Bernd Veen wurde angeblich von Edwin Hoernle in den Staatsapparat berufen.
Bei Einstellung in die DWK im Juli 1948 ist keine personalpolitische Überprüfung durchgeführt worden,
weil das Zentralsekretariat der SED auf Grund dort vorliegender Personalunterlagen eine Beschäftigung
empfohlen hatte. Auf Veranlassung des ZS kam Veen aus Westdeutschland nach Berlin. Zu Kurt Ritter
steht im Protokoll der SED-Mitgliederüberprüfung 1951: »Auf die Frage nach den Ursachen zu seinem
Parteieintritt teilt Gen[osse] R[itter] mit, dass er 1945 durch den Gen[ossen] Handke, den jetzigen
Minister für Aussenhandel und innerdeutschen Handel zur Deutschen Zentralverwaltung für Handel und
Versorgung herangezogen wurde.« Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 268.
DC 1 / 2582, XXVII/1/6, [ZKK,] Kurzcharakteristik Otto Kl[...], undatiert.
DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 80.
Ein Beispiel aus einer nachgeordneten Dienststelle, dem Deutschen Amt für Maß und Gewicht (DAMG) in
Weida, siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 269.
So etwas konstatierte die ZKK 1948 mit Blick auf Hans Forsbach, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 269.
Vgl. einen ähnlichen Versuch von Günther Kromrey, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 270.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
161
Effizienzverlust zu drohen, um diese Arbeitskraft zu sichern. Als der ehemalige Hitlerjunge
1950 wegen Spionage und Sabotage verhaftet wurde, stellte sich für die Ermittler jedoch die
Frage, warum sich ein Pg. ausgerechnet für einen anderen NS-Belasteten so auffällig
eingesetzt hatte, der ein Gegner der neuen Ordnung zu sein schien.742 Letztlich bleibt das
Motiv Ritters offen. Es mögen zwischenmenschlich-soziale, fachliche oder politische Gründe
gewesen sein. Bei letzteren können es theoretisch solche gewesen sein, die die NSVergangenheit oder eine Nähe zur SED in den Mittelpunkt rückten oder ein anderes Spektrum
bedienten. Für eine organisierte „Nazi-Kamarilla“ in der DWK und DDR-Regierung gibt es
jedenfalls keine Beweise. Entsprechende Andeutungen in der bisherigen Forschung stellen in
der Tat nichts anderes als ein Phantomthema dar.743
Im Juni / Juli 1949 mussten alle DWK-Hauptverwaltungen gegenüber der HA
Personalfragen und Schulung schließlich Mitteilung darüber machen, welche ehemaligen
Mitglieder der NSDAP, SA und SS sie beschäftigten und wie ihre Beibehaltung zu begründen
war. Bei vielen teilten die Personalabteilungen mit, dass sie sie zumindest noch
vorübergehend brauchten, dass eine Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses dringend
erforderlich oder sehr erwünscht sei. Der Fachkräftemangel stand hier im Vordergrund ebenso
wie die kaderpolitische Qualität der ehemaligen Nationalsozialisten. Bei einigen hieß es, sie
seien für die Verwaltung „tragbar“, Alternativkräfte nicht vorhanden oder sie selbst nicht
entbehrlich, solange kein Ersatz greifbar war. Bei anderen gab es „keine Bedenken“ gegen
eine Weiterbeschäftigung. Wieder bei anderen lag eine Belassung „im dringenden Interesse“,
wurde nachdrücklich befürwortet bzw. es wurde großer Wert auf ein anhaltendes
Arbeitsverhältnis gelegt. Wer zur Veränderung vorgemerkt oder sogar bereits entlassen war,
konnte dank des Spezialistenmangels manchmal noch ein paar Monate oder Jahre in der
Staatsverwaltung bleiben bzw. die Kündigung wurde verschoben oder bis auf weiteres
zurückgenommen.744 Das geschah auch noch in der Folgezeit in den DDRRegierungsdienststellen.745
Die Gründe des Ausscheidens aus der DWK / DDR-Regierung sind neben den
Umständen der Beschäftigungsaufnahme und des Verbleibs in der Verwaltung natürlich
ebenfalls von Interesse. Warum kam es zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wohin
gingen die NS-Belasteten im Anschluss daran? Ein gutes Beispiel bietet hier einmal mehr der
ehemalige Pg. und Verwaltungsfunktionär Günther Kromrey. Wie der schon in der Weimarer
Republik der KPD angehörende Kader schrieb, war er in der Deutschen
Wirtschaftskommission mit einer fachlich weitgehend unbekannten Materie befasst: »Mir
wurde bewiesen, daß nur ich die Gewähr böte, darauf aufzupassen, daß kein Material in
unrechte Hände käme. Eine zwar ehrenvolle Aufgabe, aber keine die Kenntnisse
ausschöpfende Verwendung. [...] Meine bisherigen Stellungen in der DWK und DZVI zeigen,
daß für meine Kenntnisse an solchen Stellen anscheinend nicht der richtige Bedarf vorliegt.
Ich erwäge daher, wiederum in mein zweites Fachgebiet neben der Planung, in die
742
743
744
745
DC 1 / 2548, V/1/30; ebd., V/1/32.
Minister Luitpold Steidle hatte den Behörden seine NSDAP-Zugehörigkeit verschwiegen. Sein
Stellvertreter Günter Farchmin war ebenfalls Lebenslauffälscher. Denn eine Namenliste des Ministeriums
für Gesundheitswesen weist ihn als „vor 1945“ parteilos aus. Darüber hinaus wurde seine NSDAPZugehörigkeit im Rahmen der SED-Mitgliederüberprüfung ebenfalls nicht erwähnt. Dabei gehörte
Farchmin der NSDAP ab dem 20.4.1944 an. Ob die beiden Genannten von der NS-Vergangenheit des
anderen etwas wussten, ist sehr unwahrscheinlich. Eine bewusste Förderung eines Pgs. durch einen anderen
ist daher auszuschließen. Dennoch merkt Olaf Kappelt in seinem Braunbuch an, dass es angesichts einer
ohnehin gegebenen Ansammlung von ehemaligen Nationalsozialisten im DDR-Gesundheitsministerium
nicht verwundern könne, dass sich Steidle mit Farchmin zeitweilig noch ein ehemaliges NSDAP-Mitglied
als stellvertretenden Minister hielt, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 270 f. (dort auch Quellenangaben);
Nationalsozialisten (1958), S. 16; Kappelt, Braunbuch, S. 30, 186.
Siehe Beispiele (Woytt, Hennig, Beer, Schaefers, Melms, Cramer, Naake, Stübner und vor allem Friedrich
Z.) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 271.
Siehe Konstantin Pritzel, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 271.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
162
Physikalische Chemie insbesondere die Entwicklung von Röhrenwerkstoffen zurückzugehen.
Ich beabsichtige daher, mich um die Stellung eines Laboratoriumsingenieurs in OSW, dem
Entwicklungsbetrieb für Röhren, zu bewerben.«746 Die HV Wirtschaftsplanung hatte seine
Anregung bereits im Dezember 1948 aufgegriffen: »Da er nicht genügend systematisch
arbeitet, sonst aber über viel praktische Erfahrung speziell im Labor verfügt«, schlug die
Hauptverwaltung vor, Kromrey in einen Betrieb zu versetzen.747 Der SED-Landesverband
Berlin wiederum setzte sich bei der SED-Betriebsgruppe der DWK dafür ein, dass Kromrey
zum Hauptamt Wirtschaftsplanung beim Magistrat Groß-Berlin als Leiter der Gruppe
Plankontrolle versetzt wird.748
Kromrey blieb aber noch eine Zeit lang im Regierungsapparat und wurde Leiter der
Abteilung Messen und Ausstellungen. Seinen Veränderungswunsch gab er jedoch nicht auf.
Dieser gewann sogar eine neue Qualität, als der Altkommunist mit dem Ausschluss aus der
SED belegt wurde oder zumindest im Vorfeld desselben bereits bei seiner Dienststelle
aneckte. Kromrey wurde 1951 daher nur noch mit einem begrenzten Aufgabenfeld betraut. In
einem Schreiben an einen Mitarbeiter der Kaderabteilung im ZK der SED gab der ehemalige
NSDAP-Angehörige in diesem Zusammenhang ein Gespräch mit demselben wieder: »Ich
sagte, daß ich es nicht liebe, müheloses Einkommen zu beziehen, so wie es derzeit bei mir
geworden ist. Denn einerseits wurde mir gesagt, ich sei noch Angestellter des Ministerium[s]
für Außenhandel, andererseits aber verfügte G[...], ich dürfe auf meinem alten Arbeitsplatz
nicht mehr arbeiten. Da die Frage meiner „Bestätigung“ einige Schwierigkeiten zu machen
scheint, habe ich mich inzwischen nach der „Marktlage“ umgeschaut. Unser wichtigstes
Werk für Röhrenentwicklung, HF-OSW, hat ernste Roh- und Werkstoff-Schwierigkeiten. [...]
Der Leiter der Röhrenentwicklung war hoch erfreut, daß – nach etlichen Absetzbewegungen
[in den Westen] – noch Menschen da sind, die auf diesem seltenen Gebiete
Spezialerfahrungen haben. Einen Physikochemiker mit Röhrenpraxis, das wäre was sie
bräuchten. Es war von beiden Seiten nur ein orientierendes Gespräch. [...] Ich bin die
Bürotätigkeit leid geworden. Hier in der Entwicklung – und das ist meine Stärke – könnte ich
mehr nützen. Um so mehr als dies eine doppelte politische Aufgabe ist: die Überzeugung der
Menschen und die Entwicklung der Sache, beides Fragen des 5-Jahr-Planes. In Anbetracht
der „Bestätigungsschwierigkeiten“ mache ich, um der arbeitslosen, der schrecklichen Zeit ein
baldiges Ende zu bereiten, den Vorschlag, jener Beschäftigung bei HF-OSW zuzustimmen. Ich
möchte nicht [...] monatelang nichts tun und [...] Geld beziehen. [...] Als ich HF-OSW einige
Anregungen gab über Werkstoffentwicklung, gewann man – ich bin fünf Jahre raus –
zusehends Vertrauen. Schaffen, Entwickeln, am liebsten am Objekt, das liegt mir. Aber keine
Gesetze und Verfügungen. Solltet Ihr entscheiden, daß ich doch in die Verwaltung gehe, nun
dann sehe ich die Notwendigkeit ein. Und ich werde die Aufgabe bewältigen, wenn ich etwas
mehr Unterstützung und weniger Widerstände habe als bei den Messen. Aber erwäget das
oben gesagte.«749
Kromreys großer Arbeitswille kommt deutlich zum Ausdruck, nicht zuletzt aus
politischer Überzeugung. Selbst in der (inoffiziellen) Arbeitslosigkeit verfasste er
politökonomische Abhandlungen. Die SED ging aber auf Konfrontationskurs zu ihm, was den
letzten Ausschlag für sein Ausscheiden aus dem Regierungsapparat gegeben haben dürfte.750
Kromrey verzagte nicht, ergriff selbst die Initiative und sah sich nach einem alternativen
746
747
748
749
750
DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 69, Kromrey, Lebenslauf, vom 21.11.1949.
Siehe einen ähnlichen Fall (Hans Mat.), in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 272.
Das Zentralsekretariat der SED sollte sich mit dem Vorschlag befassen, siehe: DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl.
76, SED, LV Groß-Berlin, Abt. Personalpolitik, an Sekretariat der Betriebsgruppe der SED in der DWK,
Arnold, vom 02.04.1949; ebd., Bl. 77, Aktennotiz, vom 14.05.1949.
Vgl. die Parallele bei Heinrich von B., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 273 (dort auch Quellenangaben).
Ein anderer Fall eines beruflichen Karriereknicks aufgrund Ausscheidens aus der SED ist Helmut Wikary,
persönlicher Referent des Verkehrsministers Hans Reingruber. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
273.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
163
Arbeitsplatz in der Produktion um, wohin es ihn schon länger zog. Seine Fachkenntnisse
schienen ihm dabei im erwähnten Industriewerk rasch Türen zu öffnen. Er wollte einfach
nicht oder nicht mehr in der Verwaltung arbeiten.751 Dabei vermochte der frühere Pg. die
Schreibtischarbeit anscheinend auch nicht besonders gut auszufüllen. Es klingt in den zitierten
Zeilen an, dass die Arbeitsbedingungen in den zentralen Staatsorganen für ihn nicht die besten
waren, wahrscheinlich aus organisatorischen Gründen und weniger aus politischen oder im
engeren Sinne fachlichen. Letzteres kam wegen der überdurchschnittlichen Berufsausbildung
und –erfahrung der NS-Belasteten in der DWK ohnehin relativ selten vor.752 Kromrey
brauchte für seinen beruflichen Veränderungswunsch aber selbstverständlich die Billigung
der SED. Der Naturwissenschaftler erhoffte sich mit seinem Schreiben eine entsprechende
Befürwortung. Er unterwarf sich jedoch der Parteidisziplin und hätte angeblich auch einen
anderslautenden Auftrag getreulich ausgeführt.
Tatsächlich klopfte das Ministerium für Post und Fernmeldewesen an und wollte
Kromrey als Abteilungsleiter für den Bereich Funk übernehmen. Der Personalleiter des
Postressorts schrieb: »Auf Grund seiner umfangreichen Kenntnisse auf diesem Gebiete und
der positiven Beurteilung seiner Gesamthaltung wird seine Versetzung vom Ministerium für
Aussenhandel (wo er keineswegs nach seinem fachlichen Wissen eingesetzt ist), zum MPF auf
das wärmste begrüsst. Seine Bestätigung zur Übernahme der ihm zugedachten Aufgabe ab
1.6.1951 wird von hier aus in jeder Hinsicht befürwortet.«753 Auch wenn sich hier deutliche
Unterschiede bei der Einschätzung der politischen Zuverlässigkeit des Kaders andeuten, war
ein Ringen unter den einzelnen Dienststellen um gute Fachleute keine Seltenheit. Der
Wechsel ins Postministerium klappte jedoch nicht, »da seine Verwendung in der Industrie
zweckmässiger« gewesen sei.754 Generell stand Kromreys Einsatz im Staatsapparat 1951 zur
Disposition. Er wurde als „der Spezialist” für Senderöhren beschäftigt, da er nicht sofort
durch einen anderen Fachmann zu ersetzen war. Es wurde aber angemahnt, dass man seiner
Arbeit „Aufmerksamkeit“ widmen müsse, offenbar weil der in besonderem Maße gebildete
Marxist und ehemalige Pg. der Machtelite politisch suspekt erschien.755 Kromrey wurde
schließlich in das Berliner Glühlampenwerk, einen volkseigenen Betrieb, versetzt.756
Der zentrale SED-Apparat spielte also bei der vorstehenden Personalie eine
bestimmende Rolle. Selbst bei Kadern der Referentenebene fällte das ZK der SED
personenbezogene Entscheidungen zur beruflichen Weiterverwendung und ordnete zum
Beispiel Versetzungen aus der DDR-Regierung in die volkseigene Wirtschaft an.757
Allgemein fanden punktuelle und permanente Personalbereinigungen aus politischen Gründen
im gesamten Untersuchungszeitraum in großem Umfang statt. Es galt, nicht von der SEDLinie überzeugte Mitarbeiter umzusetzen, potenzielle Saboteure und Spione zu entfernen und
bereits aktive auszuschalten. Davon waren natürlich auch ehemalige Pgs. betroffen, oftmals in
Form von beruflichen Einschränkungen und Entlassungen.758 Verhaftungen zogen vielfach
ein Ende der Beschäftigung in den Regierungsdienststellen nach sich.759 Sie fanden häufig
unter Vorwurf der Agententätigkeit zugunsten des Klassenfeindes im Westen statt. Bei
Nichtbestätigung dieser Mutmaßung bzw. bei ausbleibender oder moderater Bestrafung war
751
752
753
754
755
756
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758
759
Hierzu siehe ein weiteres Beispiel (Gerhard H.) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 273.
Zu fachlichen Schwächen (Martin Bierbass) und ideologischen (Heinz Fengler) hinsichtlich von
Leitungspositionen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 273 f.
DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 19 RS, Ministerium für Post und Fernmeldewesen, Personalabteilung,
Fischbach, Kurzbiographie, vom 12.05.1951.
DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 26, Rauhut, Aktennotiz, vom 03.09.1951.
DY 30 / IV, 2/11/V 990, Bl. 27, Joos, Aktennotiz, vom 20.08.1951.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 274.
Ein Beispiel (Kurt D.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 274.
Im Zusammenhang mit einem Ausschluss aus der SED, der anlässlich der Mitgliederüberprüfung erging,
wurde Konstantin Pritzel 1951 fristlos aus dem Ministerium für Gesundheitswesen entlassen.
Quellenangabe siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 275.
Beispiele (Harald Schaumburg, Ferdinand Beer) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 275.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
164
allerdings unter bestimmten Umständen auch eine Weiterarbeit in der SBZ/DDR möglich.
Allgemein stand aber ein Kader, sobald er nach Westdeutschland oder West-Berlin flüchtete
und damit von sich aus den Arbeitsplatz verließ, im Verdacht ein Spion zu sein, der sich,
womöglich noch mit vertraulichen Materialien, zu seinen Auftraggebern absetzt. Insgesamt ist
für elf Personen des NS-Samples belegt, dass sie 1949 oder in den fünfziger Jahren in den
Westen übersiedelten.760
Manchmal kamen Ermittler aber auch zu anderen oder vielfältigen Ursachen für die
abrupte Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses, wie sie eine Übersiedlung in den
Westen bedeutete. Neben politischen Gründen deuten sich dann auch beschränkte berufliche
Aufstiegsmöglichkeiten, finanzielle Gründe sowie Meinungsverschiedenheiten über Art und
Umfang der auszuführenden Arbeiten an, die wesentlich zur Entscheidung, in die
Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln, beitrugen.761 Gleichwohl handelte es sich um
unerlaubte Ausreisen aus der DDR. In diesem Zusammenhang liegen mit Blick auf ehemalige
Nationalsozialisten auch vereinzelt Hinweise auf andere Delikte vor, die Partei und Staat als
kriminell ansahen und die zur Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses beitrugen.762
Als Ergebnis dieses Kapitels ist zu konstatieren, dass zu den untersuchten NSBelasteten und Zeitabschnitten eine Vielzahl von Gründen für berufliche Veränderungen zu
nennen sind. Fachliche und arbeitsorganisatorische Stärken und Schwächen, die
Arbeitsbedingungen vor Ort, einflussreiche Gegner und Befürworter (darunter keine „NaziPatrone“), Aufstiegswille, Privates und persönliche Vorlieben sowie externe Ursachen wie der
Krieg, die Entnazifizierung und Säuberungen gehören dazu. Bei der Darstellung von
Karrierewendungen im Nationalsozialismus wurden nach 1945 darüber hinaus politisch
vorteilhafte Biografieanteile wie Widerstands- und Opferaspekte betont. Das Bekenntnis zu
Opportunismus und Karrierestreben unter der Ägide des NS-Regimes entfiel in der SBZ/DDR
weitgehend, obwohl es mit Sicherheit genauso wie nach dem Ende der Zweiten Weltkriegs
von Bedeutung war. Des Weiteren spielten nach 1945 Vorbehalte gegen ehemalige NSDAPMitglieder und die Frage der politischen Loyalität zur neuen Machtelite eine entscheidende
Rolle. Hierzu gab es unter den Kaderverantwortlichen oft divergierende Ansichten. Inwiefern
die Quellen immer die tatsächlichen Veränderungsgründe nennen oder von
Anpassungsmechanismen überformt sind, muss vielfach offen bleiben. Ein Gemisch
verschiedenster Aspekte ist jedoch unverkennbar.
2.1.8
Berufsethos, Arbeitsmethoden und
Erfolg am Arbeitsplatz
Bislang behandelten elitenhistorische DDR-Forschungen nicht die Frage, inwiefern die
Abgrenzung zum Nationalsozialismus das konkrete Handeln der Kader am Arbeitsplatz
bestimmte. Wie stark ausgeprägt war die ausdrückliche Bezugnahme der Mitarbeiter auf
historische Erfahrungen bei ihrer Art, Entscheidungen zu treffen, zu rechtfertigen und
760
761
762
Insgesamt siedelten folgende Angehörige des NS-Samples in den Westen über: Konstantin Pritzel, Hans
Forsbach, Willi Hintze, (wahrscheinlich) Rudolf Lang, Bernd Veen, Hans W., Kurt D., Friedrich L., Alfred
Kr., Herbert So., Friedrich Z.; teilweise befanden sie sich zum Zeitpunkt des Wegganges noch im zentralen
Staatsapparat, teilweise bereits in anderen Einrichtungen. Erläuterungen siehe: Kuhlemann, Kader (2005),
S. 275. Zu punktuellen politischen Säuberungsaktionen, die auch NS-Belastete berührten, siehe die Kapitel
„Westkontakte“ und „Entnazifizierung und Säuberung, Gesetze und Richtlinien“.
Siehe den ausführlich dargestellten Fall Hans Forsbach, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 275-279.
Siehe den Fall Rudolf Lang, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 277.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
165
umzusetzen? Gab es einen spezifischen antifaschistischen Arbeitsstil, den auch NS-belastete
Verwaltungsangestellte mit Leben füllten?763 Die Förderung gewünschter Arbeitsweisen
durch die Installation bestimmter Strukturen steht dabei nicht im Mittelpunkt, sondern deren
Anwendung durch die ehemaligen Pgs. Es geht also nicht darum zu beschreiben, dass es zum
Beispiel in den Ministerien Wettbewerbe um die beste Planerfüllung gab oder eine genaue
Aufgabenverteilung
mit
Fristsetzung
und
Erledigungskontrolle
oder
Verpflichtungserklärungen zur Weiterbildung. Wichtig ist allein, wie frühere
Nationalsozialisten auf diese Formen reagierten und wie sie sie ausfüllten. Eine Antwort
hierauf zu finden ist ein schwieriges Unterfangen. Denn es sind zwar eine ganze Reihe von
zeitgenössischen Beschreibungen zur Arbeitsweise bekannt. Doch es sei vorweggenommen,
dass diese keine direkten Angaben zur Motivation machen. Es bleibt also der Interpretation
überlassen, ob das Arbeitsverhalten eines Pgs. auf althergebrachte Gewohnheiten
zurückzuführen war oder auf sein politisches Engagement.764
Zunächst zu den Rahmenbedingungen: Zur Durchführung des Zweijahrplanes musste
sich nach Ansicht der SED die Verwaltungsorganisation und –arbeit ändern. Denn obwohl der
Verwaltungsapparat durch den „Demokratisierungsprozess“ personell bereits viele neue
Köpfe zählte und so gesehen einen anderen Charakter aufwies, stammten nach Meinung der
Parteiführung Strukturen und Arbeitsmethoden noch aus der Zeit vor 1933 und aus der Ära
des Nationalsozialismus: »Man klammert sich noch immer zu stark an Hergebrachtem und
fürchtet sich, ausgefahrene Gleise zu verlassen«, hieß in einer Analyse der SED-Führung.765
Ulbrichts Forderung auf dem 2. Parteitag, aus Demokraten Fachleute und aus Fachleuten
Demokraten zu machen, kam nur mühsam voran. Der Mangel an Spezialisten, die die
politische Linie der SED verfolgten, förderte noch die Tendenz, fachliche Qualität beim
Personal durch Quantität zu ersetzen. Die staatliche Verwaltung blähte sich mit Angestellten
auf, die in erster Linie den gewünschten „antifaschistischen Willen“ mitbrachten oder bereit
waren, diesen ohne tiefgründiges politisches Bewusstsein umzusetzen. In der Folge arbeitete
der Apparat in hohem Maße ineffektiv. Er produzierte zum Beispiel statt eigener Gestaltung
Unmengen an Berichterstattungen über die Arbeit anderer. Der Bürokratismus erfreute sich so
auch nach Abschaffung des Berufsbeamtentums einer ungebrochenen Kontinuität.766
Besonders bei ehemaligen Beamten fürchteten die neuen Machthaber, dass sie eine
ausufernde Bürokratie im Arbeitsstil früherer Behörden erneut verankern könnten.767 Das Bild
vom unpolitischen Beamten, dem die Form im Grunde wichtiger war als der Inhalt seiner
Handlungen, war den Verfechtern einer revolutionären Umwälzung ein Graus.
Nichtsdestoweniger schuf die Regierung unter der Federführung der „Arbeiteravantgarde“
teilweise eben auch selbst wahre Papierfluten. Dieser Umstand resultierte nicht zuletzt aus
einer gewissen Regelungswut und einer schlechten Abstimmung der zentralen Leitungen.768
Trotzdem versuchten die Machthaber, das Übel bei der Wurzel zu packen und jeglichen
Bürokratismus zu bekämpfen, das heißt zunächst solchen, dem keine respektablen Ergebnisse
763
764
765
766
767
768
Danyel, Macht, S. 74.
Nachfolgende Beschreibungen der in der DWK angestellten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder beziehen
sich zum ganz überwiegenden Teil auf die Beschäftigungszeit in der Wirtschaftskommission und in den
DDR-Ministerien, teilweise aber auch auf andere Dienststellen und Betriebe vor und nach Eintritt in den
Staatsapparat, einschließlich derer vor 1945. Entsprechende, meist kurz gehaltene Informationen waren zu
mehr als hundert Personen des untersuchten NS-Samples zu ermitteln. Fälle nennenswerter Unterschiede
zwischen den diversen Beurteilungen habe ich extra ausgewiesen. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 281.
DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 30-32, [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert.
Welsh, Wandel, S. 85.
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium des Innern, Personalabteilung, Vierteljährliche Berichterstattung [zum
31.03.1950], S. 6.
Ein nicht unerheblicher Teil der Bürokratie ist auf die Vielzahl der Befehle und Anweisungen der SMAD
zurückzuführen, die nach wiederholt vorgetragener Klage deutscher Stellen schlecht miteinander
koordiniert waren und so bei der Bearbeitung Zeitverzögerungen nach sich zogen, siehe: Foitzik, Inventar,
S. 43.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
166
gegenüberstanden. Entscheidungen sollten zügig und pragmatisch ergehen. Rücksicht auf
juristische Prinzipien fehlte des Öfteren völlig. Das Ziel der neuen Staatsform war das
Wichtigste und rechtfertigte manchmal sogar enorm aufwändige Verwaltungsmethoden. Von
den Beamten hingegen hatte die neue Machtelite den Eindruck, eine umständliche
Arbeitsweise zu pflegen, ohne gleichzeitig eine „fortschrittliche“ gesellschaftliche Vision zu
verfolgen. Bürokratie in diesem schlechten Sinne wurde fast automatisch mit alten
Staatsdienern in Verbindung gebracht, fast so als gäbe es einen entsprechenden Biologismus,
ein „Bürokratie-Gen“, das diesen Menschen zu eigen war. Nachhaltige Abhilfe schien nur die
Entschlackung des Personalkörpers, sprich die Entfernung der „alten Beamten“, oder die
Abwehr ihres neuerlichen Eindringens zu versprechen.
Bürokratismus galt bei SED-Funktionären darüber hinaus eigentlich als
„kleinbürgerliche Erscheinung“, getragen von Charakterzügen wie Gleichgültigkeit,
Unentschiedenheit, Untertanengeist, Herrschsucht und Wichtigtuerei. Bürokratismus war laut
SED auch Tarnung und Einfallstor für Saboteure, weil sie über Papierkrieg und verzögerte
Entscheidungen die eigentliche Aufbauarbeit lähmen konnten. Innere SED-Zirkel fürchteten
einen Rückfall in die überwunden geglaubte traditionelle „Beamten-Ideologie“ und die
Überheblichkeit der losgelöst von der Basis agierenden Bürokraten. Sie registrierten auch
offen propagierte Forderungen „reaktionärer Kreise“ der bürgerlichen Parteien, vor allem der
LDP, nach Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und Wiedereinstellung der durch
Befehl 201 aus der Verwaltung entfernten „nazistischen Elemente“. Um all diesen
Erscheinungen zu begegnen, beschloss das Zentralsekretariat die Einberufung der
Verwaltungskonferenz von Werder (Havel), die am 23./24. Juli 1948 stattfand.769
Auf der Konferenz unterstrichen führende Partei- und Staatsfunktionäre, welches
berufliche Selbstverständnis und welche Arbeitsweise sie von den Kadern erwarteten. Beides
sollte von der Verbundenheit und Zusammenarbeit der neuen Verwaltung mit der werktätigen
Bevölkerung und den Massenorganisationen durchdrungen sein. Eine Behandlung des Volkes
„von oben herab“, eine schematisch verfahrende Bürokratie, die den Menschen zur Nummer
degradierte, ein Bewusstsein, das zwischen der Chefetage und den Untergebenen unterschied
– all das sollte passé sein. Es war abzulösen durch selbstlosen Einsatz und Wettbewerb
zugunsten der breiten Masse, durch enge, kommunikative Zusammenarbeit mit Betrieben und
anderen Verwaltungen.770 Der gewünschte Arbeitsstil schloss ressortbeschränktes Denken
oder individualistisches Arbeiten aus.771 Trotz aller Mühen sollten sich die Hoffnungen der
Machtelite auf die Umsetzbarkeit des neuen Arbeitsstils am Ende nicht erfüllen. Zwar war
scharfe Kritik weit verbreitet, begünstigt durch die ständige Krisenlage in den fünfziger
Jahren. Doch die Steigerung von Effizienz und Kompetenz des Staatsapparates bei synchroner
Parteilichkeit
blieb
hinter
den
Erwartungen
zurück.
Stattdessen
waren
Verantwortungsscheu772 bei zugleich zentralistischer Fixierung auf die obersten
Entscheidungsinstanzen, fehlende schöpferische Initiative, Disziplinlosigkeit, Formalismus,
unzureichende Professionalität, sachliche Inkompetenz, verwaltungstechnische Mängel sowie
mehrfache und unnötige Arbeiten weit verbreitet. Damit in Zusammenhang stand eine geringe
Leistungsfähigkeit des gesamten Apparates, Bürgerferne, Überheblichkeit, politische
Indifferenz, Korruption und die Abzweigung von Ressourcen für Privatzwecke.773
Diese Vorgaben werfen die Frage nach der Anpassungsfähigkeit und –bereitschaft der
NS-Belasteten in der DWK auf. Die meisten von ihnen hatten in ihrer langjährigen
Berufskarriere Stationen der bürgerlichen Verwaltung und der kapitalistischen Wirtschaft
769
770
771
772
773
DY 30 / IV, 2/13/217, Bl. 30-32, [SED, Abt. Staat und Recht?, Dossier] Staat und Verwaltung, undatiert.
Boyer, Kader, S. 23, 27 f., 52.
Welsh, Kaderpolitik, S. 111.
Schon in den Zentralverwaltungen war die Angst vor der „operativen Leitung“ weit verbreitet, siehe:
Merker, Zentralverwaltungen, S. 67.
Dazu ausführlich: Boyer, Bürohelden, hier S. 255-257, 259 ff.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
167
durchlaufen. Da der berufliche Habitus in der Sozialisationsforschung als stabiles System
verinnerlichter interner Handlungsregeln und –schemata gilt, sollte zu vermuten sein, dass
manchen ein Umdenken sehr schwerfiel. Eine professionelle Rollensozialisation setzt nicht
nur bloßes Fachwissen voraus, sondern zusätzlich die Kenntnis des „kulturellen Codes“.774
Dieser kann eine identitätsstiftende Wirkung haben. Seit der Machtübernahme der
Kommunisten galt nach den oben skizzierten Mustern ein anderer Code als vor 1945. Seine
individuelle Akzeptanz bei den Kadern war eine Voraussetzung für deren dauerhaften
Verbleib im zentralen Staatsapparat. Allgemein ist jedoch festzustellen, dass es auch in
Sachen Berufsverständnis und –stil zu erheblichen Konflikten innerhalb des
Verwaltungspersonals kam. Das geht bereits aus den Auseinandersetzungen zwischen Teilen
der alten bürgerlichen Dienstklasse und den Kommunisten in den Deutschen
Zentralverwaltungen hervor.775
Der politischen Ausrichtung der täglichen Arbeit kam in diesem Zusammenhang eine
wichtige Rolle zu. Die SED agitierte gegen politikferne Verwaltungsfachmänner. Der
Angestellte neuen Typs hatte seine Arbeit als politische Aufgabe zu verstehen, anders als der
„neutrale“ Berufsbeamte.776 Ein klassisches Beamtenverständnis dokumentierte ein SSFördermitglied und DWK-Hauptreferent, der nicht in die NSDAP eintrat, rückblickend für die
NS-Ära: »Für eine politische Betätigung fehlte mir nicht nur die Zeit, auch aus
grundsätzlichen Überlegungen lehnte ich es ab, mich parteipolitisch zu organisieren. Nach
meiner Auffassung ist der Berufsbeamte ein Diener des Staates und hat für das gesamte
deutsche Volk ohne Rücksicht auf die einzelnen politischen Strömungen seine Berufspflichten
zu erfüllen. Die Erfüllung meiner staatsbürgerlichen Pflichten war geformt durch das
ständige Eintreten für die Interessen meiner Kollegenschaft, für die Einhaltung von recht und
Gerechtigkeit.« Seine politische Überzeugung sei ferner durch einen Ausgleich der
Gegensätze und das Eintreten für Recht und Freiheit geprägt gewesen.777 Der ehemalige
Beamte wollte dadurch eine politische Distanz zum Nationalsozialismus begründen. Ob ihm
diese Berufsauffassung jedoch bei den SED-Personalleitern geholfen hat, darf bezweifelt
werden.
Leitlinie für jede Handlung musste daher die Bekämpfung der alten Machtträger und
der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nach den Vorgaben der SED sein.778 Durch die
Hervorhebung der politisch „richtigen“ Linie bei der Beurteilung der Kompetenz versuchten
die Kommunisten nebenbei, das Selbstwertgefühl der fachlich oft unterlegenen neuen Kader
zu stützen.779
Bei der Betrachtung der politisch korrekten Arbeitsweise ist für die Beurteilung von
Anpassung und Loyalität, aber auch für die Wirksamkeit der Kontrollmechanismen darüber
hinaus die Frage wichtig, ob und mit welchem Erfolg die ehemaligen Nationalsozialisten
versuchten, statt marxistischer Inhalte oppositionelles oder sogar faschistisches Gedankengut
über ihre Arbeit mit Leben zu füllen. Hierzu sei angemerkt, dass SED-Funktionäre nur bei
äußerst wenigen ehemaligen Pgs. kritisierten, ihre Arbeitsweise oder –organisation weise
politisch unerwünschte Züge auf. Ein Beispiel dafür ist Luitpold Steidle, der seine kurzzeitige
NSDAP-Mitgliedschaft verheimlicht hatte. Die Abteilung Landwirtschaft im SEDZentralsekretariat warf ihm vor, als Vizepräsident der ZV Land- und Forstwirtschaft die
Selbständigkeit der wirtschaftlich stärkeren bäuerlichen Schichten gefördert zu haben.
Moniert wurde außerdem, dass er nur den alten Förstern eine Bewaffnung zur
Wildschadensbekämpfung erlaubte und nicht den neuen, nach Ansicht der SED politisch
774
775
776
777
778
779
Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 288.
Kuhlemann, Teufel.
Boyer, Bürohelden, S. 258.
So Paul K. 1948 anlässlich der Entnazifizierung, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 284.
Glaeßner, Herrschaft, S. 123.
Danyel, Macht, S. 77.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
168
zuverlässigeren. Vor allem aber fand das Zentralsekretariat Steidles Arbeitsweise bei dem
Bemühen hinderlich, „Reaktionäre“ aus dem untergeordneten Verwaltungsapparat zu
entfernen. In der DWK habe Steidle dann oft über den SED-Funktionär Edwin Hoernle
hinweg Maßnahmen eingeleitet und diesen nicht informiert. Die Abteilung Landwirtschaft im
ZS wünschte sich von Rau, auf Steidle einzuwirken, damit Hoernle künftig besser
eingebunden werde.780 Auch Greta Kuckhoff beschwerte sich bei der SED-Parteiführung,
dass sie als Stellvertreterin von Steidle mangels fehlender Zuständigkeiten Schwierigkeiten
habe, ein Gegenwicht zu ihm im Sinne der SED zu bilden. Der CDU-Angehörige verfolgte
angeblich »konsequent die Linie, mich mit formalbürokratischen Begründungen
weitmöglichst auszuschalten und mir nur solche Sachen zur Erledigung zu übergeben, in
denen die Bevölkerung ihre Unzufriedenheit« zum Ausdruck bringt. Sie gab an, einen völlig
unzureichenden Informationszugang zu haben und sich diesen geradezu illegal erschleichen
zu müssen. Kuckhoffs Fazit: »M[eines] E[rachtens] findet auch hier die sich immer mehr
zuspitzende Klassensituation ihren Ausdruck.«781
Versuchte der spätere Minister Steidle also, den Einfluss der SED zu beschneiden? Das
lässt sich bejahen, auch wenn die beschriebenen Klagen überzogen gewesen sein mögen.
Steidle verfolgte als Repräsentant der CDU eben auch Politikelemente, die dieser Partei
wichtig waren, obwohl er anscheinend nie in ernsthafte oder folgenreiche Konflikte mit den
Kommunisten geriet. Der Biografiefälscher wandte sich dabei laut Quellenlage gegen allzu
radikale Maßnahmen, wie sie die SED in ihrer Klassenkampfhysterie vielfach forderte.
Steidle sah in Jagdhorn blasenden Waidmännern keine „Konterrevolutionäre“ und wandte
sich gegen extrem rigorose Säuberungsmaßnahmen. Damit handelte er sich prompt den
Vorwurf ein, als Bürgerlicher im sich verschärfenden Klassenkampf auf der Seite der
Bourgeoisie und des Monopolkapitals zu stehen. Alles in allem gibt es aber keinen Beleg
dafür, dass Steidle inkognito früheren NS-Parteigenossen besonderen Schutz gewährte oder
gar eine Politik des Rassenhasses und Antibolschewismus betrieb. Ganz ähnlich verhielt es
sich mit Kommentaren zu zwei Kadern, deren NS-Belastung der DWK-Personalabteilung
bekannt war: Der eine habe in Ausübung seines Berufes die Privatwirtschaft gefördert. Der
andere soll laut Staatssicherheitsdienst gesellschaftlich passive Mitarbeiter durch Einstufung
in niedrigere Gehaltsstufen gegenüber politisch aktiven bevorzugt haben.782 Hieraus lassen
sich jedoch kaum politisch wirklich konträre Schwerpunktsetzungen ablesen, eher schon
gewinn- und effizienzorientierte Handlungsweisen.783
Neben solchen raren Momenten politischer Linienuntreue tauchen auch explizite
Hinweise auf einen gewissen unpolitischen Arbeitsstil mancher ehemaliger
Nationalsozialisten in der DWK und den DDR-Ministerien recht selten auf. Wenn das der Fall
war, dann bescheinigten ihnen die Kaderverantwortlichen zwar gute bis hervorragende
Fachkenntnisse, Anleitungen und Arbeitsergebnisse. Sie seien jedoch wie Technokraten ohne
politisches Herzblut an ihre Arbeit herangegangen. Über den Leitungskader Konstantin
Pritzel hieß es 1951 beispielsweise: »P[ritzel] ist im Ministerium für Gesundheitswesen
verantwortlich für Apotheken- und Arzneimittelwesen. Sein Aufgabengebiet beherrscht er
formal, sieht nur seine fachliche Arbeit und beteiligt sich wenig an der gesellschaftlichen
Arbeit im Ministerium.«784 Die „Nur-Fachleute“ scheinen bei allen Werbeversuchen der SED
780
781
782
783
784
DY 30 / IV, 2/2.027/6, Bl. 140 VS+RS, Zentralsekretariat der SED, Abteilung Landwirtschaft, Scholz,
Aktenvermerk, vom 13.09.1948 (Anlage zu ebd., Bl. 139, Zentralsekretariat der SED, Merker, an DWK,
Rau, vom 25.09.1948).
NY 4182/976, Bl. 63-65, [DWK, Sekretariat Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Handel und Versorgung,]
Kuckhoff, an die Vorsitzenden der SED, vom 13.10.1948
Über das Verhältnis zur Privatwirtschaft von Hans Forsbach und Walter F. siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 286.
Vgl. Hübner, Menschen, S. 355.
DY 30 / IV, 2/11/176, Bl. 113, Protokoll der Sonderkommission, vom 10.05.1951; weitere Beispiele
(Walter F., Alfred Kr.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 286 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
169
weitgehend geduldet worden und nicht sonderlich ins Visier der Kaderabteilungen geraten zu
sein. Man ließ sie in Ruhe, solange sie als Teil des Apparates funktionierten, schlecht zu
ersetzen waren und kaum andere negative Kadermerkmale besaßen.785 Manche NS-belasteten
Experten galten auch insofern als entwicklungsfähig, als sie ihr politisches Profil in der Arbeit
noch finden sollten.
Schließlich gibt es noch die Gruppe von NS-Belasteten, deren Tätigkeit nach Ansicht
der Kontrollorgane klar von der ideologischen Seite her bestimmt war und die den
Marxismus-Leninismus in die Praxis übertrugen: Mitarbeiter, die die fachliche mit der
politischen Arbeit verschmelzen wollten und ihre Kollegen in der Aufbauarbeit politisch
beeinflussten. Von den Pgs. ausdrücklich bewusst verfolgte, politisch positiv gefüllte
Arbeitsinhalte sind zwar nur ein wenig häufiger überliefert als die vorgenannten Arbeitsstile.
Doch bei den anderen, scheinbar rein fachlich belobigten NSDAP-Mitgliedern ist zumindest
davon auszugehen, dass sie die ihnen vorgegebene politische Linie zur vollen Zufriedenheit
beachteten – sei es aus politischer Gleichgültigkeit oder aus Überzeugung. Wie auch immer,
die Deutsche Wirtschaftskommission bescheinigte einigen ihrer Ex-Nationalsozialisten nicht
nur rein fachlich an Probleme heranzugehen, sondern sich eine fortschrittliche
gesellschaftliche Einstellung dazu erarbeitet zu haben.786 So urteilte die HA Personalfragen
und Schulung der DWK über einen Oberreferenten, er »vertritt absolut die sozialistische
Finanzpolitik der Ostzone«.787 Die HV Wirtschaftsplanung schrieb über den
Hauptabteilungsleiter Kurt Ritter, er sei ein Kader, der »in allen fachlichen Fragen politisch
richtig und in unserem Sinne entscheidet«.788 Das Ministerium für Planung gab 1949 zur
Arbeit des ehemaligen Pgs. und Leitungsfunktionärs Ferdinand Beer folgenden Kommentar
ab: »Herr Beer, der auf dem Gebiet der Forstwirtschaft ein beachtliches fachliches Wissen
und Können besitzt, hat dies in einer weitsichtigen und gleichzeitig wissenschaftlich
fundamentierten Planung unter Beweis gestellt. Gerade diese Verbindung spielt auf seinem
Gebiet eine besondere Rolle, da die Beobachtung der Plandurchführung ihn in unmittelbare
Berührung mit dem einseitig-fachlich orientierten Apparat des Forstwesens bringt. Auf dem
Gebiet der Aufforstung hat er eigene, grundlegende Gedanken entwickelt. Er ist ein fleißiger,
kollegialer und zuverlässiger Mitarbeiter. Seine Einstellung zum demokratischen Aufbau ist
positiv. Politisch ist er noch nicht stark genug; er zeigt gewisse Neigung, nur sein eigenes
Fachgebiet zu sehen.«789 Die SED wünschte also, dass die Dienstklasse bei der Anwendung
ihres Fachwissens nicht nur interministerial mit Umsicht vorging, sondern auch immer den
Sozialismus im Auge behielt. Und so manche der ehemaligen Nationalsozialisten im
Staatsapparat verhielten sich entsprechend. Sie sollten außerdem aus eigenem Antrieb heraus
nach dem Schneeballprinzip die Anleitung politisch noch unbewusster Angestellter
übernehmen. Zugleich hatten sie eigene ideologische Defizite weiter zu bekämpfen und den
Blick für ressortübergreifende polit-ökonomische Gesamtzusammenhänge zu schärfen. Der
Apparat sollte also durchaus eine „künstliche Intelligenz“ entwickeln, die bloße, per Befehl
funktionierende Maschinenteile in linientreu mitdenkende Bioelemente verwandelte.
Was die fachlichen Merkmale im engeren Sinne betraf, verfügten die meisten NSBelasteten im zentralen Staatsapparat über eine langen Berufsvorlauf. Über Jahre hinweg
hatten sie Erfahrungen gesammelt, sich mit der Materie vertraut gemacht und bei ihrer
praktischen Anwendung bewährt. Das betraf sowohl das eigentliche Spezialgebiet als auch
785
786
787
788
789
Der ZKSK-Vorsitzende Fritz Lange äußerte 1951 in der Deutschen Verwaltungsakademie Forst Zinna, dass
man von bürgerlichen Spezialisten keine mehr oder weniger erzwungenen politischen
Glaubensbekenntnisse verlangte, sondern lediglich eine „ehrliche Arbeit“ in ihrem Fach, siehe: Boyer,
Kader, S. 48.
Beispiele (Hans Forsbach, Werner B.) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 287.
Zu Gerhard B., ferner Erwin Melms, Kurt D., Werner B. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 287.
DO 1 / 26.0, 17098, [DWK,] HV Wirtschaftsplanung, Beurteilung über Kurt Ritter, vom 15.06.1949.
DO 1 / 26.0, 13310, Bl. 7, Ministerium für Planung, Zentrales Planungsamt, Wittkowski,
Dienstleistungsbericht, vom 16.12.1949.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
170
damit verbundene administrative Kenntnisse. Ihre fundierten Praxiseinblicke erhielten sie
zumeist in der Verwaltung oder in Betrieben, privatwirtschaftlichen wie volkseigenen.790 Bei
der Beschreibung der fachlichen Qualifizierung vieler in der DWK angestellter ExNationalsozialisten sprudelten die Staats- und Parteiorgane dann vor Lob nur so über.
Demnach waren sie wertvolle Mitarbeiter und gute bis exzellente Kenner ihrer Materie,
fachlich sehr befähigt und weit überdurchschnittlich qualifiziert. In ihren jeweiligen Sparten
hätten sie ein ausgezeichnetes und umfangreiches Sachwissen besessen, einen erstaunlichen
Kenntnisreichtum bewiesen und außerordentlich gute, hochqualifizierte Wissenschaftler
abgegeben. Damit verbunden war die Anerkennung einer guten bis ausgezeichneten
Auffassungsgabe sowie einer hohen Intelligenz.
Die DWK-Hauptverwaltungen befanden zum Beispiel, der ehemalige Pg. und
Hauptabteilungsleiter Kurt Ritter sei ein »vorzüglicher Versorgungsplaner, der sein
Fachgebiet vollkommen beherrscht«. Auch Hauptabteilungsleiter Rudolf Lang soll eine
überragende Fachkraft gewesen sein, die ihren Aufgabenbereich absolut im Griff hatte und
bis auf weiteres durch keine gleichwertige Kraft zu ersetzen war. Sein Verbleiben sei eine
dringende dienstliche Notwendigkeit gewesen. Die SED-Betriebsgruppe des Statistischen
Zentralamtes urteilte 1951 über ein früheres SA-Mitglied, er sei »einer der besten IndustrieStatistiker Gesamtdeutschlands«. Einem anderen Experten in der HV Kohle wurde noch Mitte
der fünfziger Jahre bescheinigt, seine Arbeiten seien »von grundlegender Bedeutung für die
Weiterentwicklung der Tagebautechnik«. Zu Konstantin Pritzel meinte die HV
Gesundheitswesen, dass es in der SBZ keinen gleichwertig qualifizierten Apotheker gab, der
ihn nur annähernd ersetzen konnte. Über einen Hauptreferenten schrieb die HV Land- und
Forstwirtschaft, er sei auf dem Gebiet der Pferdezucht eine Kapazität. In ganz Deutschland
habe es nur drei entsprechende Fachkräfte gegeben, von denen er sich als einziger in der SBZ
aufhielt. Den ehemaligen NSDAP-Angehörigen und Abteilungsleiter Bernd Veen
charakterisierte sie als ausgezeichnete Fachkraft mit schneller Auffassungsgabe und hohem
Verständnis für alle Aufgaben, die auch noch auf anderen Gebieten über besondere
Fähigkeiten verfügte.791
Aus diesen insgesamt äußerst positiven Einschätzungen lässt sich der Schluss ziehen,
dass die Ausbildung und Berufserfahrung der betreffenden NS-Belasteten den Anforderungen
des ostdeutschen Staatsapparates vollauf genügten. Man hätte ja auch denken können, dass
die ganz überwiegend im kapitalistisch geprägten Deutschland erfahrenen Lehr- und
Praxisinhalte nicht ohne weiteres mit einem sozialistischen Wirtschaftssystem kompatibel
waren. Doch nach dem Motto „Kuh bleibt Kuh“ gab es keine Notwendigkeit, aufgrund des
politischen Wandels an den rein fachlichen Inhalten im Nachhinein Änderungen
vorzunehmen. Das galt selbst für ursprünglich in besonders verdächtigen Bereichen
verwurzelte Mitarbeiter wie Ökonomen, Bankangestellte etc. Vielmehr waren alte
Ausbildungs- und Berufskenntnisse durch ideologische Erziehungseinheiten zu ergänzen. Wie
sich schon bei der politisch „korrekten“ Ausrichtung der fachlichen Arbeit beschreiben ließ,
sollte so nicht das Wirtschaften selbst, sondern seine Zielrichtung neu bestimmt werden. Das
galt vor allem in Hinblick auf die Fragen, wer begünstigt wird und wer entscheidet.
Ehemalige Pgs. und andere Personen, die nicht bereit waren, ihr Fachwissen für diesen Zweck
einzusetzen, kamen gar nicht erst in den Regierungsapparat hinein oder blieben nicht allzu
lang dort.
Konsequenterweise zog das sehr gute fachliche Wissen der früheren Nationalsozialisten
beachtliche Erfolge bei seiner Anwendung im Staatsapparat nach sich. Andere Arbeitsstellen
790
791
Zur Verbindung fachlichen und politischen Wissens (Ernst Hennig) sowie zu Bestätigungen langjähriger
Berufspraxis und –erfahrungen (u.a. Konstantin Pritzel, Rudolf Lang, Wilhelm Salzer, Franz Woytt,
Helmut A., Wilhelm W.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 288.
Die erwähnten Beispiele beziehen sich auf Kurt D., Hans Mat., Kurt V.; Quellenangaben und weitere
Beispiele (Ernst Kaemmel, Ernst Schinn, Heinz König) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 289.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
171
waren von den Arbeitsergebnissen ebenso beeindruckt. Danach haben viele NS-Belastete
überdurchschnittliche und überragende Leistungen demonstriert und sich große Verdienste
erworben. Sie zählten zu den besten, hervorragendsten Fachangestellten und lieferten
ausgezeichnete Ergebnisse. Die Pgs. hätten wertvolle Dienste geleistet und selbst schwierige
Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Ihre sehr lobenswert ausgeführte Arbeit machte
aus manchen von ihnen „unentbehrliche“ Experten. Einige seien die einzigen Fachkräfte auf
ihrem Gebiet weit und breit gewesen, was natürlich auch ihrem Ruf in den Dienststellen sehr
förderlich war.792 Eventuell ließ sich auf diese Weise nicht nur bei den Kaderleitern, sondern
auch unter den einfachen Kollegen – sofern den Mitarbeitern die NS-Vergangenheit
überhaupt bekannt war – eine individuelle Belastung durch fachliche Anerkennung
relativieren.
Zumindest teilweise dürften solche Anerkennungen auch das gleichzeitige
Vorhandensein der politisch erwünschten Arbeitsausrichtung impliziert haben. Bereits der
Präsident
des Statistischen Zentralamtes und Vizepräsident der Deutschen
Zentralfinanzverwaltung, Bruno Gleitze, kommentierte zum Beispiel die Tätigkeit eines Pgs.
und späteren DWK-Mitarbeiters mit den Worten, er habe »das in ihn gesetzte Vertrauen und
die Erwartungen voll und ganz erfüllt. Er hat unter schwierigsten Arbeitsbedingungen der
Neuordnung der demokratischen Verwaltung in dem vergangenen Jahre hervorragende
Dienste geleistet. Er wird von der Sowjetischen Finanzverwaltung als Spezialist und fleissiger
Mitarbeiter sehr geschätzt und hat deren volles Vertrauen. Dasselbe kann ich von der
Deutschen Zentralfinanzverwaltung sagen, in der [er] [...] auch unter seinen Kollegen den
besten Ruf hat.«793
Mitunter deutet sich an, dass die ehemaligen NSDAP-Mitglieder sich ihres
Stellenwertes absolut bewusst waren und sie sich sogar zu gewissen Trotzreaktionen
hinreißen ließen. Dergleichen tat ein Pg., der in der DWK als Hauptsachbearbeiter tätig war.
Schon die ZV Post und Fernmeldewesen hatte ihm bescheinigt, sehr wertvolle Dienste
geleistet und tatkräftig am Wiederaufbau mitgewirkt zu haben. Als er aufgrund seiner NSParteizugehörigkeit nach dem Krieg aus dem Postdienst entlassen wurde, soll er auf seine
Unentbehrlichkeit gepocht und gesagt haben: »Meine Zeit kommt schon noch und sie werden
mich bald wiederholen.«794 So geschah es dann auch. Doch selbst bei den übrigen NSBelasteten, die nicht über dermaßen herausragende Eigenschaften verfügten, fanden die
Personalverantwortlichen Worte der Anerkennung. Sie unterschieden sich von den bisher
genannten in ihrer Nuancierung und ließen die Superlative beiseite. Die betreffenden ExNationalsozialisten in der DWK seien jedoch immer noch gute bis passable Mitarbeiter
gewesen, die sich bewährt haben. Eine fachliche Befähigung und Eignung lag demnach vor.
Ihre Arbeitsergebnisse seien voll zufriedenstellend oder nicht zu beanstanden gewesen. Ihren
Aufgaben seien sie gerecht geworden oder hätten sie sachkundig gelöst. Eine wirklich
schlechte Meinung über fachliche Voraussetzungen und Arbeitsergebnisse tauchte mit Blick
auf die Deutsche Wirtschaftskommission so gut wie überhaupt nicht auf, eine zwiespältige
oder unschlüssige nur selten.795
792
793
794
795
Diese und ähnliche Kommentare liegen vor zu Harald Schaumburg, Kurt Ritter, Rudolf Lang, Kurt D.,
Gerhard B., Kurt V., Franz H., Alfred Kr.; Quellenangaben und weitere Beispiele (Gerhard H., Wilhelm
St.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 290. Vgl. Hübner, Einleitung, S. 11.
Gemeint war Ernst Kaemmel, siehe: ZB II 3544, A. 7, Bl. 12, Der Präsident des Statistischen Zentralamtes
und Vizepräsident der Deutschen Zentralfinanzverwaltung, Gleitze, Erklärung, vom 02.11.1946.
Das Zitat entstammt einem Ermittlungsbericht im Rahmen der Entnazifizierung 1946. Auch der ehemalige
Verwaltungsdirektor der Reichsschuldenverwaltung hatte Hellmuth T. hervorragende dienstliche
Leistungen attestiert. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 291.
Im großen und ganzen gute Kommentare ernteten Martin Bierbass, Werner Wa., Otto Kl., Hans W.;
Quellenangaben und weitere Beispiele (Werner Wilcke, Otto Ka., Gerhard H., Wilhelm Salzer) siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 291 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
172
Über Hans Forsbach schrieb zum Beispiel die Werkleitung der VEM Lokomotivbau
Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB): »Kollege Dr. Forsbach [...] verfügt über ein
sehr gutes theoretisches Wissen. Er bemüht sich nach Kräften, in der Industrieplanung festen
Fuß zu fassen. Seine Zielsetzung ist theoretisch klar, jedoch bedarf sie praktisch noch der
festen Fundamentierung und Klarheit. Seine Entwicklung ist positiv zu bewerten, sodaß in
absehbarer Zeit die Aufgaben durch ihn gelöst werden können.«796 Das bedeutet übersetzt,
dass Forsbach Schwächen in der Praxis hatte. Der Personalleiter des VEB bestätigte dieses
Defizit: »Als hemmend für seine Arbeit erweist sich aber, dass er von der Landesebene
kommend zu theoretisch an die Planaufgaben herangeht. Er bemüht sich aber, unter
laufender Anleitung des Werkleiters diese Schwäche abzustellen.«797 Der ehemalige Pg.
versuchte angeblich ständig, seine technischen Kenntnisse zu erweitern. Er habe aber eine
gewisse Zeit für die Einarbeitung gebraucht.798 Über den Erfolg seiner Arbeit in Brandenburg
liegen unterschiedliche Angaben vor. Personalleitung und BGL des Hennigsdorfer Werkes
sprachen von „spürbaren und wesentlichen Erfolgen“, die sich nach der auf Forsbach
zurückgehenden Reorganisation der Planungsabteilung schon nach kurzer Zeit gezeigt
hätten.799 Im Gegensatz dazu kommentierte der Werkdirektor nach der Übersiedlung des Pgs.
in den Westen lapidar: »Der Abgang des Koll[egen] Dr. Forsbach reist keine fühlbare
Lücke.«800 Das kann auch eine Trotzreaktion gewesen sein. Insgesamt scheint Forsbach sein
Aufgabengebiet aber tatsächlich nicht hundertprozentig beherrscht zu haben.801 Bereits als der
frühere NSDAP-Angehörige noch bei der Landesregierung tätig war, urteilte das
Brandenburger MdI über seine Arbeit am Investitionsplan für 1950: »Und es hat den
Anschein, als ob er diese Frage nicht ganz fest in der Hand hat. Auch fehlt ihm oft die
politische Beurteilung zu den einzelnen Plänen.«802 Auch in den Reihen des SEDLandesvorstandes zeigte man sich über die Wirtschaftsplanung, für die Forsbach
verantwortlich war, unzufrieden.803 Trotz solcher Ausnahmen lässt sich aber festhalten, dass
die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der DWK als gute bis hervorragende
Fachleute und einige sogar als absolute Spitzenkräfte galten.
Bei soviel Respekt gegenüber der Arbeit der ehemaligen Nationalsozialisten wird
nachvollziehbar, dass die Betreffenden bei den Kaderabteilungen erfolgreich von so manchen
Zweifeln über ihre antifaschistische Reife ablenken konnten.804 An dieser Stelle sei
angemerkt, dass die genannten Einschätzungen dermaßen gut ausfallen, dass der Verdacht
aufkommt, einige Verwaltungen könnten etwas übertrieben haben.805 Denn in Zeiten
schlimmer Personalnot fürchteten viele Personalleiter um die Arbeitsfähigkeit ihrer Behörde.
Einer Druckausübung seitens der HA Personal zwecks Entlassung politisch makelbehafteter,
fachlich aber sehr wertvoller Angestellter wäre demnach vorzubeugen gewesen. Die
Fachressorts machten den übergeordneten Kaderkontrolleuren folgerichtig die positiven
796
797
798
799
800
801
802
803
804
805
DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB), Werkleitung,
Beurteilung, vom 18.07.1951.
DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB), Personalleitung, Steinert,
an Ministerium für Maschinenbau, HV Elektrotechnik, Personalabteilung, Beurteilung, vom 11.09.1951.
DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (VEB), Personalleitung, Steinert,
Beurteilung, vom 18.07.1951.
DC 1 / 2601, VEM LEW Hennigsdorf, Betriebsgewerkschaftsleitung, Beurteilung, an die VVB des
Elektromaschinenbaues, Personaldirektion, vom 03.01.1951.
Über seine Arbeit hieß es zu diesem Zeitpunkt ferner, dass er fast den Plan für das Jahr 1953 fertiggestellt
hatte, siehe: DC 1 / 2601, VEM Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hans Beimler VEB,
Werkdirektor, an Ministerium für Maschinenbau, Leiter der HV Elektrotechnik, vom 08.11.1952.
Mehr Informationen hierzu in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 292 f.
DC 1 / 2601, MdI [Brandenburg], Beurteilung, vom 23.01.1950.
DC 1 / 2601, [Landesregierung Brandenburg, Kaderabteilung,] Protokoll der Sitzung in der Kaderabteilung
am 4. Mai 1950 betreffs Angelegenheit Dr. Forsbach.
Danyel, Macht, S. 77.
Siehe das Beispiele Erwin Melms, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 293.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
173
Aspekte einer Weiterbeschäftigung schmackhaft, um wenigstens etwas Zeit zu gewinnen. Die
Sorge, dass die HA Personal bei zu günstigen Charakteristiken eine Versetzung in eine ihr
wichtiger erscheinende Dienststelle anordnen könnte, war offenbar zweitrangig. Dabei
vertraten die Personalabteilungen der Hauptverwaltungen und Ministerien einerseits und die
HA Personalfragen der DWK bzw. des MdI oder auch die SED-Parteiführung andererseits
keine grundsätzlich verschiedenen Ansichten zur Kaderpolitik. Es ging jedoch um das Setzen
von Prioritäten, um die manchmal verschieden eingeschätzte Dringlichkeit von Säuberungen
und unterschiedliche Toleranzgrenzen. Bei den hier angesprochenen fachlichen und
arbeitstechnischen Aspekten hat es sich jedoch, wenn man die überdurchschnittlich guten
Bildungsabschlüsse, die Karriereverläufe sowie die Zeugnisse anderer Arbeitgeber, Parteiund Staatsorgane mit in Betracht zieht, wohl allenfalls um Nuancen und Überbetonungen
gehandelt. Nicht jedoch um absichtliche Verfälschungen und eindeutig widersprüchliche
Bewertungen. Mögliche Konflikte bestanden denn auch weit weniger in konträren Ansichten
zur Arbeitsweise, als vielmehr etwa in denen zur Frage politischer Merkmale.
Wie nehmen sich die genannten Qualifikationen der NS-Belasteten im Vergleich zum
Gesamtpersonal aus? Das Ministerium des Innern erhob tatsächlich Statistiken darüber, wie
die Qualifikation der Regierungsangestellten einzuschätzen sei. Ein Viertel bis ein Drittel
aller Regierungsangestellten füllte ihre Funktion nach Meinung des MdI bzw. der jeweiligen
Ministerien Mitte der fünfziger Jahre nicht voll aus. 2-5% des Gesamtpersonal sollten aus
diesem Grund ausscheiden. In der Tendenz zeigt sich über zweieinhalb Jahre zwar eine
Verbesserung. Doch ist festzustellen, dass selbst Ende 1956 noch immer ein erhebliches
Kompetenzproblem und ein gravierender Mangel an geeigneten Fachkräften existierte. Ein
Vergleich zur DWK oder zur Situation vor punktuellen Säuberungen wie der SEDMitgliederüberprüfung 1951, der weitere Fachleute zum Opfer fielen, wäre angesichts
fehlender Quellen spekulativ. Ebenso eine Antwort auf die Frage, wie die Qualifikation
gemäß anderer Kriterien als der des Ministeriums des Innern zu bewerten sei.
Nichtsdestotrotz sind die Zahlen wenigstens in Relation zu den verschiedenen Positionshöhen
zu setzen. Auf der mittleren Ebene (Referenten) und der unteren (Sachbearbeiter,
Sekretärinnen etc.) gab es kaum Abweichungen von den genannten Werten. Bei den
ungeeigneten Leitungskadern (HV-Leiter, Hauptabteilungsleiter etc.) ebenfalls nicht.
Diejenigen leitenden Mitarbeiter hingegen, die ihrem Aufgabengebiet nur eingeschränkt
gerecht wurden, lagen 2-6% unter dem Durchschnittswert. Auf der anderen Seite zählten
diejenigen Leitungskader, die ihre Funktion voll ausfüllten, 2-6% mehr als der Mittelwert.
Das MdI schätzte die leitenden Mitarbeiter also als tendenziell etwas leistungsfähiger ein als
die mittleren und übrigen Verwaltungsangestellten. Am zufriedensten waren die
Kaderverantwortlichen jedoch mit dem technischen und dem Fachpersonal. Sie setzten bei
beiden Gruppen den Prozentsatz der voll verwendungsfähigen Angestellten auf insgesamt 8992% an. Im Kreis der nur teilweise ihre Funktionen ausfüllenden Mitarbeiter verharrte der
Wert unter den technischen Kräften bei lediglich 6-8%. Beim Fachpersonal sank er von
insgesamt 14 auf 8% und rangierte damit ebenso deutlich niedriger als bei den eigentlichen
Verwaltungskadern. Bei den wegen mangelnder Qualifikation zur Veränderung vorgesehenen
Angestellten lagen die Werte für das technische und das Fachpersonal nur halb so hoch wie
der Durchschnitt.806 Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass die Kaderverantwortlichen
die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK insgesamt als qualifizierter und
leistungsfähiger beurteilten als ihre Kollegen.
Wie verhielt es sich nun mit den anderen zu Beginn des Kapitels genannten Merkmalen
„fortschrittlicher Arbeitsmethoden“, zum Beispiel mit dem Teamgeist und der Volksnähe?
Eine ganze Reihe von NS-Belasteten wurde als „kollegial“ oder „sehr kollegial“ beschrieben.
Sie hätten sich um ein gutes Verhältnis zu allen Angestellten bemüht und sich ihnen
gegenüber einwandfrei, offen, verträglich, kameradschaftlich und korrekt benommen.
806
Eine grafische Darstellung siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 294 f. (Abb. 44).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
174
Anderen wurde zumindest ein durchaus „korrektes“ Verhalten gegenüber nachgeordneten
Mitarbeitern bescheinigt. In diesem Zusammenhang wurde einigen wenigen Kadern auch
expressis verbis die Fähigkeit zur Anleitung bestätigt.807 Fast nie hingegen bescheinigte man
mangelndes Durchsetzungsvermögen, Unsicherheit oder Unentschlossenheit. Mangelnde
Kommunikationsfähigkeit wie die Vermeidung jeder Stellungnahme zu wirtschaftlichen
Problemen wurde, sofern sie bezüglich der Ex-Nationalsozialisten überhaupt Erwähnung
fand, beispielsweise mit dem Stereotyp des „alten Beamten“ in Verbindung gebracht, der für
moderne Arbeitskonzepte wie „Kritik und Selbstkritik“ nicht empfänglich war. Eher selten
wurden allerdings auch gute Verbindungen zu Betrieben, zur Partei und zu den
Massenorganisationen hervorgehoben. Ebenfalls außergewöhnlich sind Beurteilungen, die
ausdrücklich eine von den Mitarbeitern abgekapselte Arbeitsweise unterstreichen.808 Zu den
Ausnahmen gehörte Hans Forsbach, in der DWK Abteilungsleiter und später dann in einem
Industriebetrieb tätig. Über letztere Berufsphase hieß es: »Allgemein wird über Forsbach
gesagt, dass er absolut keine Verbindung zu den Arbeitern des Betriebes hatte, sondern seine
Tätigkeit nur vom Schreibtisch aus erledigt.«809 Er soll eine gewisse Arroganz ausgestrahlt
haben.
Charakterisierungen, die von Selbstüberschätzung und Hochmut gegenüber Kollegen
sprechen, weil sie zum Beispiel unter respektheischender Betonung ihrer Position als
Regierungsangestellter bestimmte Forderungen stellten, waren ebenso absolute Einzelfälle.
Wenn sie vorkamen, dann sprachen die Kaderverantwortlichen auch abwertend von
„Intellektuellen“.810 Sie stehen solchen NS-Belasteten gegenüber, die durch ihren
unprätentiösen Umgang auffielen. So schrieb das Ministerium für Industrie 1949 über ein
ehemaliges NSDAP-Mitglied: »Er besitzt nicht die bei juristischen Akademikern oft
vorhandene Überheblichkeit. Er ist im Gegenteil durch sein bescheidenes und
zurückhaltendes Wesen, durch sein kollegiales Zusammenarbeiten bei den Mitarbeitern
geschätzt.«811 Diese Worte verdeutlichen, dass bei der Frage nach Gruppenfähigkeit oder
Elitedenken natürlich auch der Konflikt zwischen Arbeitern und Intelligenz hineinspielte. Die
Fachleute stellten besondere Maßstäbe an die Qualität einer Arbeit. Wenn die weit weniger
gebildeten Proletarier dabei jedoch registrierten, dass die Experten sie aufgrund ihrer
fachlichen Fähigkeiten auch noch unverhohlen herabwürdigten, nahmen sie es ihnen übel.
Bescheidenheit und ein egalisierender Habitus standen hingegen hoch im Kurs. Wie skizziert
scheinen sich entsprechende bekannt gewordene anstößige Vorkommnisse bei den
ehemaligen Nationalsozialisten jedoch sehr in Grenzen gehalten zu haben. Auch eine
verallgemeinerbare Affinität zu autoritären Führungsstilen lässt sich aus den vorstehenden
Ausführungen nicht ableiten.812
Die politischen Vorgaben und die strikten Kontrollen werfen weiterhin die Frage auf,
inwiefern die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder als Dienstklasse die gewünschte
Kreativität am Arbeitsplatz entfalten oder gar Impulse für Reformen einleiten konnten.813 Die
Mangelwirtschaft verhalf dabei solchen Kadern zum Erfolg, die durch Organisationstalent,
Ideen und Improvisationsvermögen Versorgungslücken schließen konnten und
eigenverantwortlich komplexe Vorgänge gestalteten.814 Tatsächlich bescheinigten die
807
808
809
810
811
812
813
814
Entsprechende Beispiele sind: Heinz König, dem die ZKSK ein Bemühen um „fortschrittliche
Arbeitsmethoden“ attestierte, Kurt Ritter, Konstantin Pritzel, Wilhelm Salzer, Hans Mat., Walter F.,
Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 295.
Vgl. Hübner, Menschen, S. 355.
Weitere Details zu Forsbach und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 295.
Beispiele (Heinz Fengler, Josef Schaefers, Wilhelm Salzer) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 296.
Das letzte Zitat bezieht sich auf den Angestellten Werner P., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 296 (dort
auch Quellenangaben für ein Beispiel aus einer nachgeordneten Dienststelle).
Vgl. Hübner, Menschen, S. 353.
Vgl. Hübner, Einleitung, S. 35.
Hübner, Menschen, S. 348.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
175
Kaderverantwortlichen den beschäftigten NS-Belasteten manchmal, Einfallsreichtum zu
besitzen und eigene Initiative zu entwickeln, aber auch selbständig,815 zuverlässig, pflichttreu
und verantwortungsbewusst zu handeln. Besonders gewissenhafte Arbeitsausführung war ein
weiteres Merkmal. Formalismus wurde hingegen fast nie kritisiert,816 ebenso wenig eine
Scheu vor der Übernahme von Verantwortung.817 Hinzu kamen vereinzelt Wissbegier und
eine schnelle Auffassungsgabe.818 Eine fachliche Innovationsfähigkeit liegt daher nahe.
Politische Modernisierungsanstöße gingen von den Ex-Nationalsozialisten jedoch ganz sicher
nicht aus. Hin und wieder finden sich Betonungen eines Arbeitsstils, der Gründlichkeit,
Akkuratesse und Genauigkeit besondere Wertschätzung entgegenbrachte.
In diesem Zusammenhang urteilte das Ministerium für Industrie 1949 über Josef
Schaefers: »Herr Dr. Schaefers hat in der Chemie reiche Erfahrungen und eine große
Übersicht, die wir für eine Koordinierung unserer Produktionsaufgaben brauchen. Er hat das
Verantwortungsbewußtsein, das wir von einem Mitarbeiter in seiner Stellung fordern
müssen.« Doch die Verantwortung zu übernehmen, obwohl der Apparat nur fehlerhaft
funktionierte, bereitete dem Kader keine Freude. So hielt eine SED-Prüfkommission 1951
über Schaefers fest: »Mit der Arbeit in der HV Chemie ist er nicht zufrieden, es geht ihm alles
zu langsam. Oft scheitere man an der ungenügenden Sorgfalt bei der Arbeit. Er sei aus der
Industrie höchste Ordnung gewöhnt, aber in der Verwaltung würden unvollständige
Arbeitsunterlagen geliefert, schlecht erstellte Statistiken, die dann die Arbeit erschweren.«819
Die monierte mangelnde Zuverlässigkeit kann theoretisch natürlich auch eine Entschuldigung
für Unzulänglichkeiten gewesen sein, die der ehemalige Gasschutzlehrer der SA selbst zu
verantworten hatte. Grundsätzlich war Kritik an Personen darüber hinaus geeignet,
programmatische und strukturelle Defizite, wie sie zum Beispiel in der Planwirtschaft
vorkamen, auszublenden.820 Doch mir scheinen Exaktheit und Effizienz Wesensmerkmale zu
sein, die jemandem, der wie Schaefers fast dreißig Jahre lang in der chemischen Industrie
gearbeitet hatte, sehr wohl in Fleisch und Blut übergehen konnten.
Einigen NS-Belasteten wurden zudem explizit gute anleitende, koordinierende und
organisatorische Fähigkeiten sowie Zielbewusstsein zuerkannt. Demgegenüber gab es Fälle,
bei denen die Kaderverantwortlichen ehemaligen NSDAP-Mitgliedern für die Arbeit in der
Verwaltung trotz guten Willens eine „fehlende Systematik“ attestierten.821 Die
Verwaltungsarbeit lag ihnen nicht, und sie waren als „Praktiker“ beispielsweise in der
Produktion besser aufgehoben. Bei einigen NS-Belasteten wurde darüber hinaus mehrfach ein
leichtfertiger Umgang mit vertraulichen Materialien beanstandet. Andere hätten mitunter
wochenlang bestimmte Angelegenheiten unbearbeitet gelassen, ihre Aufgaben nicht
vorbereitet und sich deswegen von ihren Vorgesetzten eine Rüge sowie einen
815
816
817
818
819
820
821
Selbständigkeit war natürlich nur innerhalb des vorgegebenen politischen und verwaltungstechnischen
Rahmens zu entwickeln. Zu individuellen Entscheidungskompetenzen siehe das Beispiel der DJV, in der
nur wenig Spielräume für Alleingänge und „quer“ verlaufende oder gar faschistoid geprägte Arbeitsinhalte
blieben, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 296 f.; vgl. Werner B., in: ebd.
So bei Bernd Veen, Erwin Melms, Werner Wilcke, Otto Kl., Kurt D., Wilhelm Salzer, Martin Bierbass.
Siehe auch Ernst Hennig und seltene Negativschilderungen (Herta Ludwig, Gerhard B.) in: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 297.
Siehe den Fall Hans Forsbach, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 297.
Siehe das Beispiel Günther Kromrey, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 297.
DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 16, Protokoll der Sonderkommission , [SED-Mitgliederüberprüfung,] vom
03.04.1951; Kuhlemann, Kader (2005), S. 298.
Die Machtelite führte mangelhafte Arbeitsergebnisse auf individuelle Fehler der Kader zurück, um die
Unfehlbarkeit des Sozialismus zu verteidigen und sich selbst gegen Kritik zu immunisieren. Dabei half ihr
eine traditionelle Staatsorientierung und Unterordnungserwartung, siehe: Bauerkämper, Kaderdiktatur, S.
60 f.
So die HV Wirtschaftsplanung über Günther Kromrey, siehe: BStU, AP 15627/56, Bl. 13, [DWK,] HV
Wirtschaftsplanung, Charakteristik, vom 02.07.1949 (Abschrift).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
176
Prämienausschluss eingehandelt.822 Als Grund für Letzteres dürfen wir im Regelfall entweder
Überlastung oder einfach Schlamperei vermuten. Wie so viele ihrer Kollegen empfanden auch
frühere Pgs. im Personalstamm etliche Sicherheitsvorschriften als zu umständlich, übertrieben
oder ihrem Zweck nach nicht nachvollziehbar. Hinzu kam die drückende Last, eine Unzahl
von Aufgaben termin-, form- und sachgerecht zu erledigen, was oft ein Ding der
Unmöglichkeit war.
Eine besonders harsche Kritik an der Arbeitsweise des ehemaligen NSDAPAngehörigen
und
Abteilungsleiters
Bernd
Veen
unterbreitete
ein
hoher
Verwaltungsfunktionär aus dem Ressort für Land- und Forstwirtschaft der Zentralen
Kontrollkommission. Er forderte die Entbindung Veens von seinen Aufgaben wegen
wiederholt auftretender Verfehlungen: »Am 20.8.49 habe ich erneut in Form einer
dienstlichen Charakteristik über V[een] zu den wiederholt aufgetretenen Fällen von
Unzuverlässigkeit, Unaufrichtigkeit und Nachlässigkeit in der Arbeit Stellung genommen,
wobei ich bereits die damals gerade bekanntgewordenen Machenschaften des V[een]
anläßlich des Kompensationsgeschäftes der Landesregierung Sachsen-Anhalt mit dem westen
(Holz- [für] forstliche Werkzeuge) hinwies und keinen Zweifel darüber ließ, daß die leichte,
oberflächliche Art des V[een], seine Wandelbarkeit in seinen Anschauungen und sein
mangelndes Klassenbewußtsein ihn für seine derzeitige Funktion nicht geeignet erscheinen
lassen.« Der Beschwerdeführer zitierte ein weiteres Schreiben von ihm, »in dem auf die
schlechte Arbeit des Gen[ossen] Veen in der Nachwuchsfrage der Forstwirtschaft
hingewiesen wurde und zum Ausdruck kam, daß in der Person des Gen[ossen] Veen nicht die
Kraft gesehen wird, die fortschrittliche Veränderungen hierin herbeiführen kann.« Eine
gleiche Einschätzung sollen diverse andere Organe und Personen vertreten haben, darunter
die Landesregierung Mecklenburg, das Landesforstamt und bestimmte Kreise im
Forstapparat.823 Bei dem erwähnten Kompensationsgeschäft ließ Veen angeblich staatliche
Gelder in Höhe von ca. 3000 DM (Ost) zu seinen Gunsten verrechnen. Außerdem habe der
ehemalige NSDAP-Angehörige als verantwortlicher Leiter einer Überprüfungskommission
ohne Zustimmung der HA Forstwirtschaft „wegen angeblich entstandener besonderer
Auslagen“ einen „Beschluß fassen lassen“, jedem Mitglied der Kommission eine zusätzliche
Vergütung von täglich 20 DM auszuzahlen. Mit einer Übersiedlung in den Westen kam Veen
einer möglichen Absetzung oder Schlimmerem zuvor.
Trotz hervorragender Fachkenntnisse kennzeichneten also nach Ansicht diverser
Funktionäre mangelnde Seriosität, Unehrlichkeit, minimales Beharrungsvermögen und
geringe Ernsthaftigkeit den persönlichen Umgang des ehemaligen Pgs. mit seinen
Mitarbeitern. Bemerkenswert ist die Verbindung all dieser Umschreibungen mit einem
fehlenden politischen Hintergrund, fast so als würden die skizzierten Verfehlungen bei
klassenbewussten Menschen nicht auftauchen können. Bei den Geldbeträgen hat es sich
offenkundig um Fälle von Korruption, Bereicherung und Kompetenzüberschreitung
gehandelt.824 Doch selbst hier ist die Frage erlaubt, ob die Begünstigten ohne ein monetäres
„Extra“ überhaupt willens gewesen wären, die Arbeit so, wie sie von den Planern erwartet
wurde, durchzuführen. Finanziell lukrativ war die Verwaltungsarbeit insbesondere für
Spitzenkräfte, die in der Wirtschaft weit mehr verdienen konnten, jedenfalls nicht. Und um
den beim letzten Beispiel gewonnenen Eindruck der kriminellen Energie wieder etwas zu
relativieren, sei ein Pg. und DWK-Referent angeführt, der der ZKK auf Grundlage der
Wirtschaftsstrafverordnung eine Frau wegen Verschiebens von seidenen Damenstrümpfen
nach West-Berlin meldete. Außerdem drückte er in einem anderen Fall von
Lebensmittelverschiebung seine Unzufriedenheit mit dem laxen Vorgehen der
822
823
824
Namentlich Franz Woytt, Wilhelm Salzer, Werner P., Walter F.; Quellenangaben und das Beispiel Alfred
Kr. siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 299.
Quellenangaben und weitere Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 299.
Siehe auch den Fall Hans Forsbach, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 300.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
177
Kriminalpolizei aus und bat um eine eingehende Untersuchung.825 Beide wohl eher
geringfügigen Vorgänge fielen dem ehemaligen NSDAP-Mitglied im Rahmen seiner
beruflichen Tätigkeit auf und veranlassten ihn als „Musterkader“ zu Denunziation und
Scharfmacherei, mit möglicherweise gefährlichen Konsequenzen für die Betroffenen.
Der zuletzt dargestellte Fall soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Personalverantwortlichen vom Verhalten der Pgs. am Arbeitsplatz in der Regel äußerst
angetan waren. Davon zeugen auch so manche Beschreibungen, die ihnen reges Interesse,
ausgesprochene Freundlichkeit, zuvorkommende Hilfsbereitschaft und einen gediegenen
Umgang bescheinigten. Hinzu kamen vereinzelt Erwähnungen von Pünktlichkeit, Ehrlichkeit
und Geschick.826 Angesichts von soviel Vertrauen und Bestätigung, die den ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern in der DWK und den DDR-Ministerien entgegenschlugen, war es nur
eine Frage der Zeit, bis sie auch einmal Verdacht erregten. Denn wer sich allzu unauffällig
gab, machte sich dadurch anscheinend schon wieder auffällig. Die Durchschaubarkeit der
Handlungen musste Bestand haben. Zumindest im Einzelfall fürchteten Kaderleiter – ganz
eins mit der hypermisstrauischen Hysterie des Stalinismus und Kalten Krieges –, dass die
Spezialisten dank ihrer geistigen Fähigkeiten unerkannt etwas im Schilde führen und Schaden
anrichten könnten. Sie hätten die Kontrollmechanismen täuschen können, so dass Vorsicht
und erhöhte Wachsamkeit angemahnt wurden. Der Verfasser einer Analyse des
Finanzministeriums urteilte über einen ehemaligen Pg. und DWK-Mitarbeiter, er sei »ein
versierter Jurist, der Gen[osse] K[...] eine wertvolle Stütze war. Seine ausserordentliche
Redeg[e]wandtheit und sein Verhandlungsgeschick machen es nur schwer möglich, ihn
intensiv zu beurteilen und einen wirklichen Kontakt zu ihm herzustellen. Er versteht es
ausgezeichnet, gewisse Dinge, die ihm nicht ganz angenehm sind, zu bagatellisieren und mit
geschickten Redensarten darüber hinwegzugehen. Er ist Mitglied des Zentralvorstandes der
Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und durch seine weit überdurchschnittliche
Intelligenz, verbunden mit den oben erwähnten Fähigkeiten, zu einem wertvollen Mitarbeiter
dort geworden. Nach unseren bisherigen Feststellungen hat er keinerlei schädliche
Tendenzen entwickelt. M[eines] E[rachtens] ist er ein Mensch, der die Situationen klar
erkennt und rein verstandesmässig sich darauf einstellt. Die Qualitäten eines
Abteilungsleiters besitzt er unbedingt, jedoch muss die Wachsamkeit in Bezug auf seine
Arbeiten von Seiten der Direktion besonders auf ih[n] gerichtet sein.«827 Eine Methode zur
Kontrolle am Arbeitsplatz war die Beiordnung von politisch einwandfreien Mitarbeitern an
die Seite verdächtiger Kader. Sie sollten die Betreffenden auf Schritt und Tritt im Auge
behalten und sicherstellen, dass deren gute Fachqualitäten bei der Anwendung die „richtige“
Linie einschlugen.828
Um die Palette der positiven Arbeitseigenschaften zu vervollständigen, sei im Weiteren
auf ein überaus verbreitetes Merkmal unter den ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK
hingewiesen: ihren außerordentlichen Fleiß. Verschiedene Staats- und Parteiorgane
beurteilten ihre Bereitschaft zur Mitarbeit fast durchweg als beeindruckend.829 Einige der
hierbei gewählten Attribute hießen „einsatzbereit, arbeitswillig, arbeitsam, rührig, energisch“.
Die NS-Belasteten hätten unermüdliche und bemerkenswerte, vorbildliche und nie
erlahmende Einsatzfreude gezeigt. Ihre Ausdauer und Energie sei erstaunlich gewesen, ihr
825
826
827
828
829
Der betreffende DWK-Mitarbeiter war Hans W., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 300.
Teilweise traten solche Charakterisierungen schon in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ auf.
So bei Wilhelm St., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 300 f.
Der betreffende Pg. war Leitungsfunktionär Ernst Kaemmel. Weitere Details zu dessen Arbeitsweise siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 301.
Ein Beispiel (Egon Wagenknecht) siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 301.
Zu Beispielen für positive Beurteilungen von NS-Belasteten in nachgeordneten Dienststellen siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 302.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
178
Eifer sehr groß.830 Soviel Aktivität darf nicht verwundern, denn Aufopferung am Arbeitsplatz
galt als Zeichen für die Unterstützung der neuen Staatsordnung. Zusätzlich demonstrierten die
Pgs. dadurch bußfertige Reue hinsichtlich der eigenen politischen Belastung. So hieß es über
ein NSDAP-Mitglied, er habe als hilfsbereiter Fachmann ersten Ranges seine Kenntnisse
rückhaltlos zur Verfügung gestellt, unermüdlich am Aufbau mitgearbeitet und damit
»bewiesen, daß er mit dem Geist des Nazismus gefühlsmäßig nicht einverstanden war«. Der
ehemalige Pg. habe sich aus einem innerem Gefühl heraus konsequent in den Dienst der
neuen Sache gestellt.831
Emsigkeit zugunsten des Sozialismus war also ein essenzielles Element der Bewährung.
Sie galt als Beleg dafür, nur ein formaler und kein überzeugter Nationalsozialist gewesen zu
sein. Denn ein „uneinsichtiger Nazi“ hätte nie mit anhaltendem Tätigkeitsdrang den
kommunistischen Todfeinden dabei Hilfe geleistet, ihre Weltordnung durchzusetzen. Die
schon während der Entnazifizierung abverlangte Bewährung in harter, körperlicher Arbeit
setzte sich also nach der Rückkehr in die Verwaltung in Form eines geradezu erwarteten
Ausmaßes an besonders tüchtigem Einsatz fort. Dem genügten die Pgs. vollauf. Allerdings
war es sowohl für die Personalverantwortlichen als auch für die NS-Belasteten selbst kein
großes Problem, Arbeitseifer und erfolgreiche Berufsausübung entweder auf eine individuelle
politische oder eine rein fachliche Motivation zurückführen, je nach Adressat und Absicht.
Keine Hinweise gibt es mit Blick auf das NS-Sample darauf, dass Fleiß und Wissensdrang als
Tarnung eines Spions erachtet wurden, der sich auf diese Weise in immer höhere und
vertraulichere Kreise vorarbeiten wollte.
Welche innere Motivation auch immer ausschlaggebend war – Tatsache ist, dass sich
sehr viele NS-Belastete nach 1945 bemühten, durch besonderen Eifer eine persönliche
Wiedergutmachung für ihre Mitverantwortung am NS-Regime zu bekunden. Sie wollten mit
pflichtbewusster Einsatzbereitschaft ihre Loyalität gegenüber einem antifaschistischen
System unter Beweis stellen. Dabei nahmen sie entweder billigend in Kauf, eine neue
Diktatur aufzubauen, oder befürworteten den Sozialismus sogar als Konsequenz der
Geschichte.832 Die Machtelite zog aus dem überdurchschnittlichen Arbeitseinsatz ehemaliger
NSDAP-Mitglieder natürlich ihre Vorteile bei der Festigung der Nachkriegsverhältnisse. Das
geschah im Angesicht einer in weiten Teilen der berufstätigen Bevölkerung nach 1945 eher
sinkenden Arbeitsmoral, die durch hohe Arbeitsnormen, Abgabeauflagen etc. bei verhaltenen
Zuwächsen und Versorgungsverbesserungen provoziert wurde. Es ist allerdings zu
berücksichtigen, dass die Arbeitswut neben ihrer Eigenschaft als bewusst politisch gedachtes
Beweismittel genauso gut dem ursprünglichen Wunsch entsprungen sein konnte, sich nach
den schlechten Erfahrungen mit dem „Dritten Reich“ in das unpolitische Berufs- und
Privatleben zurückzuziehen. Diese Motivation war schließlich auch in der westdeutschen
Bevölkerung eine verbreitete Grundstimmung. So gesehen hätte ein Berufsethos, sich in der
Arbeit selbst zu verwirklichen, ohne ständig an politische Bedingungen und eine durch ihre
Beachtung eröffnete Karriere zu denken, mithin der Stolz auf saubere, gute „deutsche“
Wertarbeit eine wichtige Rolle gespielt.833 Es gab allgemein auch die Motivation aufgrund
830
831
832
833
So bei Konstantin Pritzel, Werner Wilcke, Wilhelm Salzer, Kurt D., Franz H.; Quellenangaben und das
Beispiel Wilhelm W. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 302.
Entnommen einer Charakteristik des Brandenburger Ministeriums für Wirtschaftsplanung aus dem Jahr
1947 über den späteren DWK-Referenten Friedrich S., siehe: ZB II 4519, A. 7.
Nach Manfred Wille ließen sich die aufbauwilligen Pgs., „ohne daß der Mehrheit von ihnen es zunächst
bewußt wurde“, für die Errichtung eines stalinistischen Systems missbrauchen. Während in der Provinz der
SBZ viele noch an eine Beibehaltung freiheitlich-demokratischer Grundelemente glaubten, war in den
Deutschen Zentralverwaltungen besonders frühzeitig klar, dass die KPD/SED die Macht für sich alleine
beanspruchte und den Pluralismus immer weiter zurückdrängte, siehe: Wille, Entnazifizierung, S. 213;
Kuhlemann, Teufel.
Zu ähnlichen Feststellungen kommt Alf Lüdtke bereits in Hinblick auf Industriearbeiter, siehe: Lüdtke,
Helden, S. 189-191.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
179
einer besonderen persönlichen Beziehung zu Kollegen, die Freunde waren oder hohes
Ansehen genossen und die einander beistanden und die Bewältigung von Aufgaben
gemeinsam angingen.834 Doch selbst wer für sich im Stillen ein solches Selbstverständnis
entwickelt hatte, konnte im zentralen Staatsapparat der faktisch alles überformenden Politik
nicht aus dem Weg gehen. Nicht zuletzt die ideologisch bedingte Aufwertung der Arbeit als
Grundlage der gesellschaftlichen Verhältnisse interpretierte Tüchtigkeit und die besondere
Qualität einer Arbeit als Zeichen von Klassenbewusstsein. Und beiläufig erfüllte die
Strebsamkeit der Ex-Nationalsozialisten so ihre Bewährungsfunktion.835
In Zusammenhang mit Indizien für gute Arbeitsleistungen ist noch auf verschiedene
Formen der Belohnungen hinzuweisen. Eine Arbeitsweise, die den Vorstellungen der
Kaderverantwortlichen in besonderem Maße entsprach, honorierten diese zum Beispiel mit
der Verleihung von Titeln und Orden. Die Ehrenden belohnten auf diese Weise öffentlich
„positive“ Verhaltensmuster und manifestierten so bestimmte Werte. Außerdem waren solche
„weichen“ Herrschaftsmittel eine billige Methode, um die Geehrten stärker an sich zu binden.
Denn ihr Wert bestand vor allem in symbolischem Kapital, weniger in finanziellem, wie es
bei Geldprämien der Fall war. Kein Wunder also, dass es in der ständig devisenschwachen
DDR haufenweise Verleihungen von Orden etc. gab. Sie „erhoben“ die Geehrten in einen
Status, durch den sie sich von ihren Mitmenschen unterschieden. Hierbei vom Merkmal einer
Elitezugehörigkeit zu sprechen, erscheint wegen der fast inflationären Vergabepraxis
allerdings nur bei höheren Auszeichnungen gerechtfertigt.836 Das Prestige stieg grundsätzlich
jedoch auf jeden Fall, nach eigener und äußerer Wahrnehmung. Besondere
Verleihungszeremonien wirkten dabei als pointierte Verstärker von Ehr- und Pflichtgefühl.
Der Wert beziehungsweise das Ansehen der Auszeichnungen beruhte dabei auf dem Ansehen,
das der Aussteller genoss.837 Eine stärkere Verbundenheit kam also kaum zustande, wenn ein
gelobtes ehemaliges NSDAP-Mitglied grundsätzliche Identifikationsprobleme mit dem
ostdeutschen Herrschaftssystem hatte. Und die Reputation des offiziell ausgezeichneten Pgs.
konnte sogar abnehmen, wenn sein soziales Umfeld in diesem Vorgang einen Beleg für
dessen Übereinstimmung mit dem verhassten Kommunismus sah. Umgekehrt reagierten
Befürworter des Staates DDR natürlich positiv. Eine diesbezügliche Differenzierung hing
offenbar sehr von der Art der Belohnung ab. Hohe Orden waren anders zu beurteilen als die
fast obligatorischen für die breite Masse, Anerkennungen für überwiegend fachliche
Leistungen anders als solche mit primär politischem Charakter. Die persönliche Motivation
für eine belohnte Aktivität, zum Beispiel ideologischer Idealismus oder technokratisches
Berufsethos, war für Außenstehende allerdings oft schwer zu erkennen.
Die Ehrung durch die Machthabenden in Anlehnung an deren Wertekatalog
verdeutlichte den Ausgezeichneten und ihrer Umgebung jedenfalls, dass die Geehrten
akzeptiert wurden und sich als Teil der Gemeinschaft sogar besonders verdienstvoll
verhielten. Eine solche uneingeschränkte Bewährungsbestätigung war für ehemalige NSDAPAngehörige nach den Jahren der Isolierung umso wichtiger. In Berlin hatte es auch bei
Prämierungen während der Entnazifizierung noch Fälle von Ungleichbehandlungen gegeben.
Frühere Pgs. blieben zwar rechtlich nicht immer von besonderen Zuweisungen ausgenommen.
Die Behördenleiter drückten aber manchmal noch symbolisch ihre Abneigung gegen sie aus
und bestellten ihnen im Gegensatz zu anderen Angestellten zum Beispiel keine
Glückwünsche – eine faktische Ausgrenzung durch menschliche Missachtung.838 Im
834
835
836
837
838
Zimmermann, Überlegungen, S. 350.
Zur Arbeitsmoral ehemaliger SS-Angehöriger vgl.: Eschebach, Elemente, S. 202 f.
Vgl. Westdeutschland, wo Ordensträger immer wieder aus einer elitären Gruppe von Trägern mit viel
kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital stammten, in: Hornbostel, Vertreter, S. 199 f.
Hornbostel, Vertreter, S. 199 f.
Glückwünsche der Dienststellenleitungen an frühere Nationalsozialisten, die unter Einbeziehung vor 1945
geleisteter Dienstzeiten in einem besonders langen Beschäftigungsverhältnis, etwa bei der Post, standen,
unterblieben zumindest in einigen Ostberliner Dienststellen. So steht in einem Beschluß des
Jens Kuhlemann – Braune Kader
180
Allgemeinen durften NS-Belastete eine öffentliche Belobigung jedoch als weiteren Schritt zu
ihrer Wiedereingliederung betrachten. Sie konnten sicherer auftreten und mehr riskieren, weil
ihr „Marktwert“ sichtbar gestiegen war.839 Die Abhängigkeit, die in dem besonderen
Bewährungsverhältnis der Pgs. begründet lag, nahm also etwas ab. Zugleich verstärkte die
soziale Hervorhebung durch Privilegierung tendenziell Loyalität und Bindungskraft zu der
Ressourcen verteilenden Machtelite. Auszeichnungen wurden in den Kaderakten vermerkt
und spielten eine Rolle bei der Karriereentwicklung. Besonders die wenigen Minister,
Mitglieder des Ministerrates und Angehörigen der Ministerialverwaltung verfügten daher im
Vergleich zu anderen Kadern bald über besonders viel „symbolisches Kapital“ in Form von
Auszeichnungen.840
Für die DWK-Periode sind allerdings nur sehr wenige Verleihungen an ehemalige Pgs.
bekannt. Doch auch in der Wirtschaftskommission waren sie unter den ersten „Aktivisten“
vertreten.841 Die Ehrenbezeugungen setzten für einige der in der DWK beschäftigten
ehemaligen Nationalsozialisten dann nach der Staatsgründung erst richtig ein. Sie erhielten
eine ganze Reihe von Orden und Auszeichnungen, vereinzelt auch sehr hohe. Dazu zählten
die zum Bestarbeiter, die Medaille für ausgezeichnete Leistungen, die Verdienstmedaille der
DDR, der Nationalpreis der DDR sowie die Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, Silber
und Gold.842 Oftmals waren Orden und Auszeichnungen mit einer Geldprämie gekoppelt.
Prämien wurden aber auch isoliert verliehen, als Anreiz und Bestätigung für die Leistung
erwünschter Arbeitsergebnisse. Die Zahlungen an die Ex-Nationalsozialisten betrugen meist
200-500 DM (Ost), selten um 1000 DM. Sie erfolgten fast alle ab Ende des Jahres 1949, also
nicht in der Wirtschaftskommission. Ob der Grund dafür Überlieferungsprobleme oder
Vorbehalte gegenüber den Pgs., Geldmangel oder fehlende Verbreitung des Prämiensystems
darstellten, sei dahingestellt. Ihre Arbeitsleistung in der DWK war sicherlich mit der in den
DDR-Ministerien vergleichbar. Ebenso interessant, aber nur spekulativ zu beantworten ist die
Frage, ob die Empfänger auch ohne finanzielle Sonderzuweisungen überdurchschnittlichen
Einsatz gezeigt hätten. In Einzelfällen sind Häufungen von Prämien oder Auszeichnungen
nachweisbar. Auch die Möglichkeit, eine Wohnungszuweisung als besondere Anerkennung
zu vergeben, ist belegt. Zur Begründung wurden die schon genannten positiven
Arbeitsergebnisse und –weisen angeführt. So hieß es zum Beispiel, die bedachten NSBelasteten hätten überdurchschnittlichen, „rücksichtslosen Einsatz“ und außerordentliches
Geschick demonstriert. Darüber hinaus sollen sie vorbildliche, besondere und „weit
überdurchschnittliche Leistungen“ gezeigt haben.843 Ein Leitungsfunktionär kam wegen
839
840
841
842
843
Hauptpersonalamtes des Magistrats von Groß-Berlin: »Von der Aushändigung eines
Glückwunschschreibens ist bei der Gewährung von Treugeld an fr[ühere] Parteigenossen zweckmässig
abzusehen«. Steigerungen solcher Ungleichbehandlungen – etwa Fälle einer Aberkennung von
Auszeichnungen als Sanktionsmöglichkeit – sind im Rahmen dieser Arbeit hingegen nicht bekannt
geworden, siehe: DM 3 / 284, Magistrat von Groß-Berlin, Abteilung für Post- und Fernmeldewesen, an alle
Ämter des Bezirks u[nd] die Staatsdruckerei, betr.: Anrechnung von Dienstzeiten bei wiedereingestellten
fr[üheren] Angehörigen der NSDAP im Arbeiterverhältnis, vom 23.08.1948 (Abschrift).
Zimmermann, Überlegungen, S. 343 f.
NSDAP-Mitglied und DDR-Minister Hans Reichelt erhielt zum Beispiel den Vaterländischen
Verdienstorden in Bronze, das Banner der Arbeit (St. 1) und den Kampforden für Verdienste um Volk und
Vaterland in Silber, in: Kappelt, Braunbuch, S. 336 f.; Nationalsozialisten (1965), S. 75; Hornbostel,
Vertreter, S. 201.
Eine Statistik zur Einstellung von Aktivisten aus Produktionsbetrieben siehe in: DO 1 / 26.0, 17367,
374/51/1/1.
Details zu Auszeichnungen an Angehörige des NS-Samples (Cramer, Stübner, Salzer, Woytt, Gerstner,
Kaemmel, Ritter, Naake, Wagenknecht, Gerhard H., Ilse H., Kurt D., Hans Mat.) siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 305 f.; Kappelt, Braunbuch, S. 344.
Eine Prämienvergabe oder in wenigen Fällen ein entsprechender Vorschlag mit höchstwahrscheinlich
anschließender Verleihung war feststellbar bei Harald Schaumburg, Ferdinand Beer, Konstantin Pritzel,
Heinz Cramer, Heinz König, Franz Woytt, Alfred Kr., Gerhard H., Kurt D., Heinz Fr., Arthur G., Erich J.;
weitere Beispiele (Ernst Hennig, Kurt Ritter) und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 306.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
181
entscheidender Mitarbeit an der Planerstellung in Vorschlag.844 Ein Dolmetscher unter ihnen
erhielt schließlich einen Betrag von 200 DM, weil er Arbeiter und Intelligenz zu einem
Erfahrungsaustausch zusammenbrachte und dadurch die Produktqualität verbessert werden
konnte.845 Selbst wenn diese Beurteilungen etwas geschönt gewesen sein sollten, geben sie
doch einen Eindruck davon, dass die prämierten braunen Kader gegenüber ihren leer
ausgehenden Kollegen eine Anerkennung ihrer Arbeitsweise und -erfolge erfuhren.
Abschließend ist zu resümieren, dass die ehemaligen Nationalsozialisten in der DWK
ihrer Arbeit ganz überwiegend mit guten bis ausgezeichneten Resultaten nachgingen. Ihr
fachlicher Ruf war entsprechend. Signifikant war auch der weit verbreitete Fleiß. Beides zog
manchmal symbolische Anerkennung in Form von Prämien und Auszeichnungen nach sich.
Die ehemaligen Nationalsozialisten scheinen eher kollegial als elitär und mehr zuverlässig als
unzuverlässig gewesen zu sein. Ein besonderer Hang zum Bürokratismus findet sich in den
Quellen nicht. Demgegenüber besaßen einige gute organisatorische Fähigkeiten. Ansonsten
hat es neben Fällen von Genauigkeit und Staatstreue auch solche von Ungenauigkeit und
Korruption gegeben. Bei der Betrachtung der Charakterisierungen ist cum grano salis nicht
auszuschließen, dass sie bestimmte Eigenschaften überbetonten oder gar nicht erwähnten. Das
geschah entweder weil subjektiv variierende Bewertungsmaßstäbe galten oder weil man die
Pgs. zweckgerichtet in ein besonders gutes und in wenigen Fällen vielleicht auch schlechtes
Licht rücken wollte. Hiervon abgesehen muss weitgehend offen bleiben, inwiefern die NSBelasteten als Funktionseliten die Vorgaben der SED so modifizierten, dass sie von den
Untergebenen und den Bürgern akzeptiert wurden, in welchem Maße also innerbetrieblicher
Pragmatismus und solcher zugunsten der Bürger und nicht der Partei stattfand. Es lohnt
allerdings der Hinweis, dass eine gute Arbeit ehemaliger NSDAP-Mitglieder nicht negativ
beurteilt wurde, nur weil sie politisch belastet waren. Umgekehrt konnte dies schon eher
passieren. Als Verbindung von politischen Erfahrungen und dem Arbeitsverhalten wurde
häufiger genannt, durch eine Mitarbeit am „demokratischen“ Staatsaufbau die Konsequenz
aus der Vergangenheit gezogen zu haben. Die Verbreitung faschistoider Inhalte durch
Entscheidungen am Arbeitsplatz ist nicht nachweisbar, dafür jedoch manchmal eine politisch
neutrale Haltung oder eine ausdrücklich bewusste Umsetzung prosozialistischer Vorgaben.
Alles zusammen erhob das Gros der Ex-Nationalsozialisten im Vergleich zum
Gesamtpersonal in der zentralen Staatsverwaltung fast in den Stand einer Art
„Leistungselite“.
2.1.9
Horizontale Arbeitsbereiche:
Verwaltungszweige
Die Arbeitsbereiche, in die ehemalige Nationalsozialisten in der SBZ/DDR vordringen
konnten, indizieren das Ausmaß von Strafmaßnahmen und das Bedürfnis der neuen
Machthaber nach Sicherheit. Sie waren Ergebnis einer Abwägung, wo der Fachkräftebedarf
und die Erfordernis politisch zuverlässiger Kader besonders groß zu sein schienen. Zugleich
künden berufliche Tätigkeitsfelder von den Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten der NSBelasteten. Das betrifft horizontale Arbeitsbereiche, also die einzelnen Branchen, ebenso wie
vertikale, d.h. die jeweils eingenommenen Positionen in der Ämterhierarchie. Beides
überkreuzte sich. Deshalb besitzen manche der hier dargelegten Ausführungen auch
844
845
Zu Erwin Melms siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 306.
DO 1 / 26.0, 3715, Ministerium für Industrie, HA Metallurgie, Personalabteilung, Prämien für Mitarbeiter
der Hauptabteilung 1. Quartal 1950, vom 28.03.1950, S. 4.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
182
Gültigkeit für das nachfolgende Kapitel und umgekehrt. Die Differenzierung des zentralen
Staatsapparates in Einzelsegmente ist dabei das eine, die Betrachtung des Status´ des
gesamten Regierungsapparates als Teil der Verwaltung im Vergleich mit anderen
gesellschaftlichen Sektoren wie Politik, Wirtschaft etc. ist das andere.846 In diesem
Zusammenhang wurde außerdem bereits auf Unterschiede zwischen zentralen, regionalen und
lokalen Verwaltungsebenen hingewiesen.847
Der SMAD-Befehl 35 aus dem Jahr 1948 stellte den Nominellen die Rückkehr in die
Verwaltung gemäß ihren Fächern in Aussicht. Die Justiz- und Polizeiorgane blieben hiervon
jedoch zunächst ausgenommen.848 Das Gleichstellungsgesetz von 1949 gewährte ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern und Wehrmachtsoffizieren ebenfalls grundsätzlich den Zugang zum
öffentlichen Dienst sowie zu gesellschaftlichen Organisationen. Ausnahmen galten aber bis
zu deren Aufhebung durch das zweite Gleichstellungsgesetz 1952 weiterhin für die „innere
Verwaltung“ und die Justiz. Schon sehr bald tauchten in der Praxis Unklarheiten darüber auf,
was genau unter diesen Bezeichnungen zu verstehen war.849 Die NDP-Führung beklagte beim
Ministerium des Innern im Herbst 1950, dass es besonders in Sachsen-Anhalt Probleme bei
der Anwendung des Gesetzes gegeben habe. Dort seien in größerem Umfang sogar
Entlassungen ehemaliger NSDAP-Mitglieder erfolgt, nachdem eine besondere Kommission
jeden Einzelnen überprüfte. Dieses Gremium bewertete angeblich die politische
Vergangenheit je nach Betätigung mit einer Punktvergabe und nicht die gegenwärtige
Einstellung. Es seien Kündigungen nicht nur in der eigentlichen Staatsverwaltung, sondern
beispielsweise auch bei den Sozialversicherungskassen vorgekommen, die in diesen Fällen
zur inneren Verwaltung gezählt wurden.850 Der stellvertretende NDP-Vorsitzende Vincenz
Müller bat Innenstaatssekretär Warnke um Prüfung dieser Erscheinungen und mahnte zum
wiederholten Male eine Klarstellung der Ausnahmebereiche an, was Warnke auch zusagte.
Die NDP-Führung beschwerte sich beim Ministerium des Innern allgemein darüber, dass
ehemalige Pgs. trotz der neuen Rechtslage auf besondere Schwierigkeiten bei der
Arbeitssuche und bei anderen Tätigkeiten stießen. Das galt nach Mitteilung Müllers entgegen
anderslautender Zusagen durch MdI-Vertreter auch bei der Wiedereingliederung ehemaliger
Internierter.
Die Einstellung von früheren NSDAP-Angehörigen sei sogar in der Wirtschaft, bei
VEB und VVEAB, auf Ablehnung gestoßen. Tatsächlich gibt es Beispiele dafür, dass in der
Provinz neben Verärgerung über die Reintegrationspolitik auch schlicht Unsicherheit
existierte, das Gesetz richtig zu deuten, beziehungsweise Angst vor Bestrafung bei Fehlern.851
Das Ministerium des Innern und die SED-Führung sahen sich daraufhin einerseits genötigt,
allgemeine
Klärungen
vorzunehmen
und
manchmal
auch
bei
konkreten
846
847
848
849
850
851
Zur Zusammensetzung der zentralen Staatsorgane Ende der achtziger Jahre im Vergleich zu anderen
gesellschaftlichen Sektoren siehe: Hornbostel, Vertreter, S. 205.
Siehe Kapitel „Quantitative Ausmaße der Beschäftigung ehemaliger Mitglieder der NSDAP, SA, SS und
sonstiger NS-Organisationen“; Rössler, Aspekte, S. 142.
DP 1 / VA 980, Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration und Oberbefehlshabers
der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Nr. 35 über die Auflösung der
Entnazifizierungskommissionen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, vom 26.02.1948;
Kowalczuk, Stalin, S. 185.
Zur Auseinandersetzung der NDP mit dem MdI über Zulassungen zum Rechtspfleger und Referendar bzw.
zur Laufbahn zum Richter, Rechtsanwalt etc. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 308 f.
Die Landesversicherungsanstalt Sachsen stellte Anfang 1950 trotz der neuen rechtlichen
Rahmenbedingungen ebenfalls keine ehemaligen NSDAP-Mitglieder ein. Einzelheiten hierzu siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 309.
Das sächsische Ministerium des Innern fragte 1951 beim MdI in Berlin an, ob ehemalige NSDAPMitglieder als Betriebsarchivare in den volkseigenen Betrieben eingestellt werden durften. Dieses betonte,
dass es nicht zweckmäßig sei, den genannten Beruf ausdrücklich unter die Ausnahmebestimmungen des
Gesetzes fallen zu lassen. Es sei vielmehr individuell unter Berücksichtigung der personalpolitischen
Grundsätze zu verfahren, wobei die Betriebsleiter und Personalleiter die Verantwortung zu tragen hatten.
Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 309 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
183
Personalentscheidungen korrigierend einzugreifen.852 Sie wollten andererseits aber auch nicht
die diversen Kaderleiter von ihrer Aufgabe entbinden, die Richtlinien im Einzelfall
selbständig anzuwenden. Eine Durchsicht der von Müller an das MdI weitergeleiteten
Beispiele für berufliche Benachteiligungen, auf die sich dessen Ausführungen stützten,
brachte verschiedene Erklärungsansätze der betroffenen NS-Belasteten zutage. Teilweise
vertraten sie die Ansicht, es handele sich bei ihnen um Fälle, die unter „Befehl 2“ fielen, weil
sie sich in westlicher Kriegsgefangenschaft befunden oder Verwandtschaft im Westen hatten.
Auf diese Kaderaspekte wird an anderer Stelle noch eingegangen. In einem weiteren Beispiel
habe eine Geheimverfügung eines ungenannten Verfassers die Arbeitsaufnahme ehemaliger
NSDAP- und dann NDP-Mitglieder verhindert. Danach waren nur SED-Mitglieder
einzustellen. In einem anderen Fall scheint eine Ablehnung aufgrund eines NSDAP-Eintritts
im Jahre 1931 erfolgt zu sein. Bemerkenswert ist, dass die Personalleiter vor Ort diese
Umstände den Betreffenden mitunter in großer Offenheit mitteilten oder diese selbst
Entsprechendes von alleine vermuteten. Die NDP-Führung betrachtete alle diese
Vorkommnisse als Verstoß gegen das Gleichstellungsgesetz. Das MdI bestritt nach einer
Untersuchung, dass in den genannten Fällen Entlassungen nach „Befehl 2“ vorgekommen
seien. Die erwähnte Kommission in Sachsen-Anhalt habe allerdings sehr schematisch
gearbeitet und der persönlichen Entwicklung nach 1945 nicht die gebührende Beachtung
geschenkt.853
Auch wenn die Quellen unterschiedliche Erklärungen für die Probleme ehemaliger Pgs.
bei der Wiedereingliederung beinhalten, erscheint es mir einleuchtend, dass zwar einerseits in
einer Reihe von Fällen Personalverantwortliche die NS-Belastung weiterhin als so gravierend
betrachteten, dass sie juristische Grauzonen zu Ungunsten ehemaliger Nationalsozialisten
interpretierten oder das Gesetz praktisch ignorierten und eine Reintegration im Sinne des
Gleichstellungsgesetzes dadurch unterliefen. Auf der anderen Seite gab es aber auch
Beispiele, bei denen eben nicht ein grundsätzlicher Unwille zur Wiedereingliederung der
Nominellen der ausschlaggebende Grund für deren Ausschluss von bestimmten
Arbeitsplätzen war. Die Pgs. waren eben wie alle anderen von den Auswirkungen der
allgemeinen kaderpolitischen Maßnahmen betroffen, ob sie dies nun nachvollziehen konnten
oder nicht. Teilweise stieß ein solches Vorgehen an der Basis auf großes Unverständnis, etwa
wenn sich politisch loyal entwickelnde Berufssoldaten aufgrund ihrer militärischen
Vergangenheit den Hut nehmen mussten, aber „Reaktionäre“ – zumindest vorläufig –
verweilen durften. Auch die Arbeitsrichter rügten die Sprunghaftigkeit und mangelnde
Planbarkeit der Arbeitsverhältnisse für die Arbeitnehmer.854
Dass es mit Blick auf den zentralen Staatsapparat oder dessen einzelne
Verwaltungszweige zu ähnlichen Deutungsproblemen kam, ist nicht bekannt. Doch um sich
nicht allzu sehr mit Ausnahmebestimmungen aufzuhalten, leiten wir jetzt auf die generelle
Präsenz NS-Belasteter in vertikalen Arbeitsbereichen über. Schon vor 1948 gab es unter den
Deutschen Zentralverwaltungen solche, die wie die für Inneres und Umsiedler sowie die
Sequesterkommission besonders strenge Maßstäbe an das Personal anlegten. Ihnen standen
solche gegenüber, die nach Prüfung durch die SMAD relativ viele bürgerliche Fachleute aus
der Wirtschaft sowie Beamte und Angestellte aus den ehemaligen Reichs- und
Länderverwaltungen beschäftigten. Alte Staatsbedienstete fanden sich vor allem in den
852
853
854
Ein Beispiel aus der HV Deutsche Volkspolizei siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 310.
Das MdI stellte intern klar, dass etwa die Stelle eines Stadtrats für innere Verwaltung nicht mit einem
ehemaligen NSDAP-Mitglied besetzt werden kann. Zum „Befehl 2“ siehe Kapitel „Kriegsgefangenschaft,
Antifa-Schulung und Emigration“, zu Familienangehörigen im Westen siehe Kapitel „Westkontakte“; DO 1
/ 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 10.07.1950, S. 5 f.; ebd., [MdI, HA Personal,] Zum
Schreiben der NDP an Herrn Staatssekretär Warnke vom 1.6.1950, vom 01.07.1950, S. 2 f.
DO 1 / 26.0, 8580, NDPD, Müller, an MdI, Warnke, vom 08.09.1950 (samt Beispielen als Anlagen); ebd.,
MdI, HA Personal, Riemer, an MdI, Warnke, vom 10.10.1950; ebd., [MdI,] Warnke, an NDPD, Müller,
vom 30.10.1950.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
184
Ressorts Justiz, Finanzen, Statistik sowie Post und Fernmeldewesen. Entscheidend war
einerseits die sicherheits- und machtpolitische Relevanz des Organs, seine Bedeutung für
Planung und Kontrolle.855 Andererseits spielte aufgrund von Effizienzerwägungen die
mangelnde Alternative zu politisch eigentlich unerwünschten Spezialisten in dem jeweiligen
Fachgebiet eine Rolle.856 Eine Varianz zwischen einzelnen Branchen setzte sich innerhalb der
DWK und DDR-Regierung fort. Sie drückte sich dort anders als bei den Deutschen
Zentralverwaltungen, die scheinbar so gut wie keine anstellten, auch in Gestalt ehemaliger
NSDAP-Mitglieder aus.857 Dieses Phänomen resultierte nicht zuletzt aus dem Umstand, dass
manche Berufsgruppen vor 1945 mehr als andere nationalsozialistisch unterwandert waren
und sich während der NS-Ära unterschiedlich stark kompromittierten.858
Welche konkreten Ergebnisse liefert nun die Untersuchung der Teilbürokratien
innerhalb der zentralen Staatsverwaltung hinsichtlich der Beschäftigung früherer
Nationalsozialisten ab 1948? Interessant ist, dass Klagen über manche Hauptverwaltungen als
„Hort der Reaktion“ teilweise mit einem erhöhten Anteil ehemaliger Pgs. übereinstimmten.859
Spitzenreiter in der Deutschen Wirtschaftskommission war die Hauptverwaltung Post und
Fernmeldewesen mit bis zu zehn Prozent ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Mitverantwortlich
dafür war offenkundig der traditionell hohe Anteil an Beamten, die zur Zeit des NS-Regimes
wiederum in erheblichem Maße der NSDAP angehörten. Auch die Bereiche Energie,
Metallurgie sowie Land- und Forstwirtschaft wiesen mit zeitweilig 5-8% höhere Pg.-Werte
auf. Es folgten mit Maximalwerten von 3-5% die Hauptverwaltungen Finanzen,
Leichtindustrie und Kohle. Die genannten Gebiete waren allesamt im engeren Sinne
wirtschaftsorientiert.860 Die machtpolitisch sensibleren Verwaltungsarme hingegen waren fast
völlig frei von NSDAP-Angehörigen.861 Von drei auf zuletzt nur noch ein Prozent kam die
HV Wirtschaftsplanung. Im Kopf der DWK, den Sekretariaten, lag ihr Anteil bei einem
Prozent. Der Ausschuß zum Schutze des Volkseigentums, ein Vorläufer des Ministeriums für
Staatssicherheit, beschäftigte vorübergehend ein einziges ehemaliges NSDAP-Mitglied. In der
HV Reparationen, die für die UdSSR zwecks Kompensation von Kriegsschäden von
besonderer Bedeutung war, und in der Zentralen Kontrollkommission lag der Wert bei
Null.862
855
856
857
858
859
860
861
862
Richert, Macht, S. 260; Kuhlemann, Teufel.
In der DDR sei die Forschung laut Wolfgang Weißleder zu dem Schluss gekommen, die Kaderpolitik in
den Zentralverwaltungen habe sich zwischen einer „differenzierten Zerschlagung des alten Staatsapparates“
und einer „differenzierten Nutzung einzelner Teile der ehemaligen Beamtenschaft“ bewegt. Zitiert nach:
Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 109 f.; Kuhlemann, Teufel.
Jessen, Elitewechsel; Boyer, Kader, S. 45; vgl. Boyer, Kaderpolitik, S. 26, 28.
Welsh, Entnazifizierung, S. 72.
Vgl. Boyer, Kader, S. 43.
Vgl. Schulz, Elitenwandel, S. 120 f., 218; Danyel, Macht, S. 81; zur unterschiedlichen Säuberungsintensität
zwischen einzelnen Fachgebieten während der Entnazifizierung siehe: Welsh, Entnazifizierung, S. 72; vgl.
Boyer, Kaderpolitik, S. 26, 28.
Diese Aussage wird für Personalabteilungen, die Ressorts für Inneres, Justiz und Volksbildung, das
Ministerium für Staatssicherheit und die HVA bestätigt, siehe: DO 1/7/211, Bl. 37; DP 1 / VA 7591, Bl. 16; DR 2 / 911, Bl. 47, [DVV,] Personalabteilung, Lehmann, betr.: Liste von ehem[aligen] nazistischen
Mitarbeitern, an SMAD, Zivile Verwaltung, vom 13.07.1949; DO 1 / 26.0, 17198, Personelle
Zusammensetzung der Personalleiter der Ministerien der DDR und der angeschlossenen Dienststellen per
1. November 1950, S. 61 f.; Boyer, Kader, S. 22; Gieseke, Mitarbeiter, S. 132 f.; Vollnhals, Ministerium, S.
502; Wenzke, Wege, S. 255; Wentker, Neuordnung, S. 103; Amos, Justizverwaltung, S. 20; Jessen,
Elitewechsel, S. 40; Rössler, Justizpolitik, S. 140-143; vgl. Richert, Macht, S. 260; König, Integration, S.
391.
Im Ausschuß zum Schutze des Volkseigentums arbeitete lediglich der Oberreferent Bruno R., ein SSFördermitglied. Noch weiter ins Detail gehende Informationen über die den NS-Belasteten zugewiesenen
Unterabteilungen und Referate innerhalb der DWK-Hauptverwaltungen / Ministerien sowie zugewiesene
Aufgaben sind zwar vielfach im Rahmen dieser Arbeit bekannt geworden. Ihre Aussagekraft erschien
jedoch meist zu gering, als dass sich verallgemeinerbare Rückschlüsse daraus ziehen ließen. Siehe hierzu
das Beispiel Günther Kromrey nebst Quellenangaben, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 312.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
185
Der Trend, der für die Deutschen Zentralverwaltungen festzustellen ist, hielt also an.
Die genannten Relationen bedeuten im Ergebnis, dass die Machtelite die ExNationalsozialisten kaum oder gar nicht in solche Verwaltungszweige vordringen ließ, die
eine übergeordnete lenkende und überprüfende Funktion hatten. Das galt partiell sogar für
Minderbelastete wie HJ-Mitglieder.863 Hier wurde die Grenze des Vertrauens und Vergebens
sichtbar. Außerdem war in den „rein administrativen und ökonomischen“ Bereichen der
Mangel an Fachkräften zur Gewährleistung des gewünschten Betriebsverlaufes besonders
groß. Dort nahm sich die Bereitschaft, in Sachen politische Belastung des Personals
Kompromisse einzugehen, größer aus. Kontinuitätslinien von den DWK-Hauptverwaltungen
zu den DDR-Regierungsdienststellen zu ziehen ist nicht immer einfach, weil in den fünfziger
Jahren zahlreiche Strukturveränderungen stattfanden.864 Einige Ministerien wurden in
mehrere Behörden aufgefächert, andere zusammengelegt. Teils verschwanden welche, teils
entstanden sie neu. Doch lässt sich sagen, dass sich 1951-1958 das für die DWK konstatierte
Verhältnis im Wesentlichen fortsetzte. Dabei erreichten einige Dienststellen Höchstwerte
beim Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder von bis zu achtzehn Prozent, so vor allem in den
Bereichen Energie, Verkehr, Post und Fernmeldewesen, gefolgt von diversen
Industrieministerien.865 Solche Steigerungen im Vergleich zu den Spitzenwerten der DWKHauptverwaltungen waren Ausdruck der zunehmend toleranteren Haltung der
Personalverantwortlichen gegenüber dem Kadermerkmal „NSDAP-Mitgliedschaft“. Im Laufe
der fünfziger Jahre wuchs ihre Bereitschaft, angesichts zunehmend fundamentierter
Machtverhältnisse
bei gleichbleibenden
Aufbauzwängen
diesbezüglich
vermehrt
Zugeständnisse zu machen.
Demgegenüber wirkte sich jener Trend nur minimal oder gar nicht auf die sicherheitsund machtpolitisch besonders wichtigen sowie andere Ministerien beaufsichtigenden und
anleitenden Regierungszweige aus. In der Staatlichen Plankommission sank die Pg.-Rate von
fünf auf drei Prozent. Die Regierungskanzlei verzeichnete fast durchgängig 2-3% frühere
NSDAP-Mitglieder, das Ministerium für Volksbildung 1-4% und das Ministerium des Innern
bzw. das Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten 0,5 – 2%. Das Ministerium für
Auswärtige Angelegenheiten zählte nur 0-1% ehemalige Pgs. und stand damit in klarem
Gegensatz zum Auswärtigen Amt in Bonn, das eine Hochburg der „Ehemaligen“ darstellte.
Im Ministerium der Justiz befand sich lediglich ein NSDAP-Mitglied, nämlich Günter
Scheele, auf dessen Vita noch eingegangen wird. Das entsprach etwa einem Prozent des
Gesamtpersonals. Dazu kam zeitweilig ein zweiter Pg. außerhalb des regulären
Verwaltungspersonals. Nach Ausscheiden Scheeles im Zuge des 17. Juni 1953 gab es bis
mindestens bis 1958 keinen einzigen Pg. mehr im MdJ.866 Die Ausnahmebestimmungen des
Gleichstellungsgesetzes von 1949 für Inneres und Justiz fanden in den obersten Ministerien
863
864
865
866
Siehe die sehr strengen Ansprüche der DJV an Nachwuchskräfte, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 313.
Niedbalski, Wirtschaftskommission, S. 401.
Eine Auflistung der jeweiligen Regierungsdienststellen mit besonders hohem Pg.-Anteil im jeweiligen
Verwaltungspersonal in der Zeit von 1951 bis 1956/58 siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 313.
Angaben zu absoluten Zahlen des jeweiligen Gesamtpersonals (ohne technische Kräfte) der genannten
Dienststellen für den Zeitraum 1951 bis 1956/58 und Quellenhinweise siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
314. Die Einzelaufstellungen der jeweiligen DDR-Regierungsdienststellen, die in den Quellen den für diese
Arbeit verwendeten Zusammenfassungen beiliegen, machen keine Angaben zur ZKSK, zum MfS und
Ministerium für Nationale Verteidigung, siehe: DO 1 / 26.0, 17446, 9/58/1/1, Operativstatistik, Stand:
15.10.1958; zur Regierungskanzlei siehe auch: DO 1 / 26.0, 17348, 113/51/6/1; zu ehemaligen Mitgliedern
der NSDAP und HJ sowie Wehrmachtsoffizieren in der DVdI siehe: DO 1/7/211, Bl. 144 f., 148; zu einem
aus der SED ausgeschlossenen ehemaligen Pg. im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten siehe
ferner: DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 321 ff.; zu Pgs. in Auslandsvertretungen 1957/58 siehe: DO 1 / 26.0,
17446, 9/58/1/1; zum Bonner Auswärtigen Amt vgl.: Frei, Karrieren, S. 322; zum MdJ, Obersten Gericht
und zur Obersten Staatsanwaltschaft siehe: Rössler, Justizpolitik, S. 140-143.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
186
also (fast) rigoros Beachtung.867 Selbst nach deren Aufhebung 1952 änderte sich dort real
nichts. Diese Konsequenz zeigte sich auch in der Personalpolitik solcher Ministerien bei
öffentlichen Ämtern und nachgeordneten Organen.868
Allgemein kam es häufiger vor, dass bei denselben Bewerbern, die für den
Zentralapparat aufgrund einer NSDAP-Zugehörigkeit für Arbeitsbereiche mit wesentlichen
Entscheidungsbefugnissen als grundsätzlich ungeeignet erschienen, keine Bedenken
bestanden, sobald ihr Einsatz im Rahmen einer nachgeordneten Dienststelle oder in der
Wirtschaft erfolgte. Dort ließen sich durch Weisung der vorgesetzten Stelle eventuelle
subversive Entwicklungen leichter korrigieren.869 Eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft stellte
in den Augen des engeren SED-Zirkels eben in begrenztem Umfang ein latentes
Sicherheitsrisiko dar. Das galt umso mehr, wenn sich mehrere Pgs. an einer Stelle
konzentrierten. Selbst wenn es zahlreiche Pluspunkte auf den individuellen Kaderkonten gab,
reichte dies nicht aus, um die Befürchtung restlos aus dem Weg zu räumen, dass diejenigen,
die sich schon einmal vor 1945 dem Klassenfeind unterworfen hatten, es erneut tun könnten.
Diese Furcht war zwar nicht groß genug für das Verwehren einer generellen Zusammenarbeit
im Exekutivapparat. Doch sie war ausreichend, um bestimmte Restzonen Pg.-frei zu halten
oder sogar besonderen Wert auf Kader mit „rein sozialistischen“ Lebensläufen zu legen.870
Diejenigen Ressorts, die angesichts eines Durchschnittswertes von etwa zwei Prozent
in der DWK und 5-6% in der DDR-Regierung auffällig viele NSDAP-Mitglieder
beschäftigten, korrespondieren mit den bereits festgestellten Bildungs- und Berufswegen der
NS-Belasteten.871 Technik- und wirtschaftsorientierte Felder dominierten. Dieses Prinzip ist
auch beim Personal anderer Institutionen festzustellen.872 Den Verwaltungen für Kohle,
Energie, Aufbau oder Post und Fernmeldewesen, die ab 1950 die meisten Pgs. einstellten,
sowie etlichen anderen Organen mit hohem Bedarf an fachlich sorgfältig ausgebildeten
Kadern standen eben zu wenige Spezialisten zur Verfügung, die nicht in der NSDAP waren
und aus der Arbeiterschaft bzw. den „fortschrittlichsten Kreisen“ der Bevölkerung
stammten.873 Politisch belastete oder nicht hinreichend entwicklungsfähige Kader sollten zwar
867
868
869
870
871
872
873
Das Oberste Gericht sollte ebenfalls niemanden einstellen, der unter den Ausschlusskatalog der
Ausführungsbestimmungen zum Erlass von Sühnemaßnahmen fiel, siehe: DO 1 / 26.0, 2462, Ministerium
des Innern, Allenstein, an Zentralvereinigung der Gegenseitigen Bauernhilfe, Abteilung Personal, vom
03.01.1950; DO 1 / 26.0, 17602, Oberstes Gericht, Benjamin, Vierteljährliche Berichterstattung an die
Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern, vom 05.05.1950, S. 1 f.
Einzelheiten zu NS-Belastungen bei Richtern, Staatsanwälten, sonstigen Angehörigen des Justizdienstes
und Rechtsanwälten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 315; Wentker, Neuordnung, S. 103; Broszat,
Siegerjustiz, S. 487-489; Amos, Justizverwaltung, S. 183; vgl. ebd., S. 61.
Beispiele (Ministerium für Planung, DJV) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 315; zu nachgeordneten
Dienststellen des Staatsapparates und ehemaligen Nationalsozialisten in ihnen siehe ferner: DO 1 / 26.0,
17182, Projektierungs- und Konstruktionsbüro der Kohlenindustrie, Personalleitung, Bericht über
Konzernverbindungen und Agententätigkeit im P.K.B., vom 26.01.1950, S. 10 f.; DO 1 / 26.0 / 17183, s.v.
„OP“, betr.: Günter P[...]; ebd., s.v. „S“, betr.: Kurt S[...]; DO 1 / 26.0 / 17270, Ministerium für Verkehr,
vom 15.06.1951; Richert, Macht, S. 181 ff.
Weitere Quellen zu ehemaligen Pgs. in einzelnen Regierungsdienststellen siehe in: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 316; Richert, Macht, S. 150 ff.; vgl. ehemalige Pgs. in der Volkskammer, in: ebd.; Fricke,
Nazigrößen, S. 141; Joseph, Nazis, S. 106 f.
Siehe insbesondere die Kapitel „Quantitative Ausmaße der Beschäftigung ehemaliger Mitglieder der
NSDAP, SA, SS und sonstiger NS-Organisationen“, „Bildung und Weiterbildung“ sowie „Berufliche
Karriereverläufe“.
So in den Hochschulen bzw. bei Professoren, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 316; Jessen,
Elitewechsel, S. 37 f., 40; Jessen, Professoren, S. 226, 241.
DO 1 / 26.0, 3707, s.v. „I. Quartal 1951“, [MdI, HA Personal,] Bericht für das I. Quartal 1951, vom
12.04.1951, S. 3; DO 1 / 26.0, 17488, Ministerium für Industrie, HA Bauindustrie, Personalabteilung,
betrifft Personalstatistik [per 30.06.1950], vom 08.07.1950, S. 1; DO 1 / 26.0, 17554, s.v. „G“, Ministerium
für Gesundheitswesen, Kaderabteilung, Jahresbericht 1953 über die Kaderarbeit im Arbeitsbereich des
Ministeriums für Gesundheitswesen, vom 31.12.1953, S. 9 f.; der Fachkräftemangel kam auch ehemaligen
Offizieren und Feldwebeln der Wehrmacht zugute, siehe: DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 343.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
187
tendenziell ausgetauscht werden. Ihre guten Qualifikationen verhinderten oder verzögerten
dies jedoch oft für längere Zeit.874 Ähnliches galt für viele nachgeordnete Dienststellen in den
genannten Arbeitsgebieten und für Wirtschaftsbetriebe generell.875 Nicht zuletzt befanden
sich dort genauso wie im Zentralapparat unter den Wissenschaftlern und Technikern
zahlreiche ehemalige Beamte, die sich der Nazi-Partei nicht hatten fernhalten können.876
Wenn die Fachleute zu einem großen Teil aus ehemaligen Pgs. bestanden und gleichzeitig
nicht der SED angehörten oder der Anteil der SED-Mitglieder im restlichen Personal schwach
war, versuchten die Kaderleitungen, fachlich qualifizierte Genossen in die Ministerien oder
Abteilungen einzuschleusen, um die Relation ausgeglichener zu gestalten. Ihre
Beaufsichtigung durch politisch zuverlässige Angestellte sollte die Risiken verkleinern, die
von einer befürchteten Disposition für die Ideen des Klassenfeindes auszugehen schienen.877
Die besonders strenge Anwendung der kaderpolitischen Vorgaben in den macht- und
sicherheitspolitisch besonders wichtigen Organen wurde auch außerhalb der zentralen
Staatsverwaltung deutlich. In erster Linie galt dies für die bewaffneten Kräfte. Darunter fielen
die reguläre Polizei und die kasernierte Volkspolizei als Vorläufer der NVA sowie die
sogenannte Hauptverwaltung Ausbildung als militärisch ausgerichteter Bereich des
Ministeriums des Innern. Ehemalige NSDAP-Mitglieder waren dort insbesondere in den
Führungspositionen nur marginal vertreten. Angehörige sonstiger NS-Organisationen hatten
es ebenfalls sehr schwer, Eingang zu finden. Anfangs betraf das sogar HJ-Mitglieder, so groß
war das Bedürfnis nach „sauberem“ und politisch vertrauenswürdigem Personal.878 Nach den
Richtlinien des Ministeriums für Staatssicherheit kamen frühere NSDAP-Mitglieder für eine
hauptamtliche Beschäftigung grundsätzlich nicht in Frage, ebenso wenig Personen, die vor
1945 im Polizeidienst standen. Behördeninterne Konflikte zwischen alter und neuer
Intelligenz stellten sich hier erst gar nicht. Das MfS sollte nur einwandfreie Mitglieder der
SED und FDJ einstellen, die wegen kommunistischer Tätigkeit inhaftiert waren, möglichst
aktiv gegen den Faschismus gekämpft oder sich in sowjetischer Emigration bzw.
Kriegsgefangenschaft gut bewährt hatten. Sie sollten aktiv am Wiederaufbau teilgenommen
und sich am 17. Juni 1953 treu für die SED eingesetzt haben. Die Tschekisten hielten diese
radikalen Rekrutierungsvorgaben tatsächlich bis auf ganz seltene Ausnahmen ein.879 Ähnlich
verhielt es sich im Apparat des SED-Zentralkomitees, im Politbüro sowieso.880
874
875
876
877
878
879
Vgl. DO 1 / 26.0, 17525, Ministerium der Finanzen, Abgabenverwaltung, Personalabteilung, Arbeitsbericht
für das 4. Quartal 1951, vom 02.01.1952, S. 1.
Letzteres betraf die VVB der Hauptverwaltungen Chemie, Energie, Kohle, Leichtindustrie, Maschinenbau,
Metallurgie und Steine / Erden. Im Januar 1949 befanden sich dort unter 6946 Mitarbeitern 1682 Pgs., im
Juni 1949 waren es von 7920 dann 1683, siehe: DO 1 / 26.0, 17509, Personalstatistik der den 7
Industrieverwaltungen der DWK nachgeordneten VVB (1.1.1949 – 30.6.1949), dort auch Einzelübersichten
der jeweiligen HV; DO 1 / 26.0, 3707, MdI, HA Personal, Bericht für das II. Quartal 1951 für die
Ministerien Verkehr, Post- und Fernmeldewesen und Aufbau, vom 10.07.1951, S. 4.
So etwa beim Meteorologischen Dienst, der dem Ministerium des Innern unterstand. Hinzu kam, dass sich
dort kaum einer von ihnen nach 1945 einer „fortschrittlichen“ Organisation zuwandte, siehe: DO 1 / 26.0,
3707, s.v. „IV. Quartal 1950“, [MdI,] Berichterstattung für das IV. Quartal 1950, Nachgeordnete
Dienststellen, undatiert, S. 1; DO 1 / 26.0, 17563, s.v. „W“, Amt für Wasserwirtschaft, Personal[abteilung],
Jahresbericht 1952, vom 05.01.1953, S. 3.
So im Fahrzeugbau im Ministerium für Maschinenbau, siehe: DY 30 IV, 2/11/168, Bl. 144; Hoefs,
Kaderpolitik, S. 158.
In der Polizei sollte nach Vorstellung von Erich Mielke „absolute Reinheit“ herrschen, was vor allem durch
Entfernung ehemaliger NSDAP-Mitglieder und Berufsoffiziere zu erreichen war. Doch im August 1948
stellte die ZV Inneres fest, dass sich die angestrebten Sollzahlen nicht erreichen ließen, wenn nicht
wenigstens auf HJ-Mitglieder zurückgegriffen werden durfte. Anfang der fünfziger Jahre konnten
ehemalige Mitglieder der NSDAP und SA schließlich nach besonderer Prüfung ausnahmsweise in die
bewaffneten Formationen eintreten. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 317 f.; Wenzke,
Wege, S. 211, 217, 243, 255, 269; Wenzke, General, S. 172, 174; zu Kontinuitätslinien in der Bundeswehr
vgl.: Frei, Karrieren, S. 316.
Gieseke, Mitarbeiter, S. 132 f.; Roß, Eliten, S. 184; Vollnhals, Ministerium, S. 502; Joseph, Nazis, S. 178
ff.; Zolling / Höhne, Pullach, S. 247 ff.; Fricke, DDR-Staatssicherheit, S. 193 f.; zu Franz Gold,
Jens Kuhlemann – Braune Kader
188
Neben Unterschieden von Ressort zu Ressort wurden darüber hinaus auch noch
innerhalb der jeweiligen Dienststellen Abstufungen vorgenommen, egal auf welcher
Verwaltungsebene.881 Eine striktere Handhabung der kaderpolitischen Richtlinien betraf
natürlich die Führungsebene sowie Abteilungen mit hervorgehobener Leitungs- und
Kontrolltätigkeit oder Verschlusssachenbearbeitung. Soweit für den Zuständigkeitsbereich der
Deutschen Verwaltung des Innern ersichtlich, befanden sich zum Beispiel keine ehemaligen
NSDAP-Mitglieder im Kommissariat K 5. Diese Einheit repräsentierte schließlich die
politische Polizei und war maßgeblich an der Durchführung der personellen Entnazifizierung
beteiligt, einem Kernstück des Gesellschaftswandels in der SBZ.882 In diesem Zusammenhang
spielten Personalabteilungen eine besondere Rolle. In ihnen waren ganz besonders bewährte
Kader und Antifaschisten einzusetzen.883 Zwar ließ sich die gewünschte Kaderhygiene auch
hier nicht erzielen. Doch gelang trotzdem nur äußerst wenigen Pgs. ein solcher Sprung.884 Es
erscheint im Vergleich zu den fünfziger Jahren fast ungewöhnlich häufig, dass gleich zwei
Mitarbeiter der HV Post und Fernmeldewesen in der Deutschen Wirtschaftskommission dazu
zählten. Ihnen wird zugute gekommen sein, dass die beiden ehemaligen NSDAP-Mitglieder
der Jahrgänge 1919 und 1920 deutlich jünger waren als die meisten anderen NS-Belasteten.885
Gleiches traf auf eine noch später geborene NSDAP-Angehörige zu, die in der Deutschen
Verwaltung für Volksbildung die Funktion einer Karteiführerin in der Personalabteilung
ausübte. Zu ihrem Arbeitsgebiet gehörte die sogenannte „NSDAP-Kartei“, welche vermutlich
Schul- und Hochschullehrer etc. erfasste. Dieser Umstand war selbst in Anbetracht ihrer
Jugend äußerst ungewöhnlich.886 Trotz dieser Ausnahmen galten Personalabteilungen jedoch
grundsätzlich einfach als zu sensibel. Auch bei leitenden Angestellten war eine Zuständigkeit
für Personalfragen des Öfteren nur indirekt gegeben, etwa über die Aussprechung von
Empfehlungen.887 Für die KPD/SED war ihre weit verbreitete Zuständigkeit für
Personalfragen in den wichtigsten Verwaltungen der sowjetischen Besatzungszone von den
ersten Nachkriegstagen an der Schlüssel zur Macht. Das noch so geringe Restrisiko, dass
Anhänger einer kapitalistisch-faschistischen Ordnung Spionage und Sabotage betreiben
könnten, während Gesinnungsgenossen in der Kaderleitung sie deckten, erschien ihr einfach
unakzeptabel.888 Relativ seltene Ausnahmen finden sich für den Untersuchungszeitraum
880
881
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886
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888
Generalleutnant im MfS, Chef der HV Personenschutz, der angeblich NSDAP-Mitglied gewesen sein soll,
jedoch mit einer anderen Person verwechselt wurde und kein Pg. war, siehe: Fricke, Nazigrößen, S. 142;
Gieseke, Frage, S. 138 f.
Zu NS-Belasteten im ZK der SED bzw. unter den (Familienangehörigen von) Mitarbeitern des
Zentralkomitees siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 318; Schneider, Funktionselite, S. 90, 118; Joseph,
Nazis, S. 106 f.
Zu einzelnen Fachabteilungen auf Bezirksebene siehe: DO 1 / 26.0, 17451, IV/56, 16/57/1/1; DO 1 / 26.0,
17468, 23/55/1/1.
DO 1/7/212, besonders Bl. 80-97; vgl. die Arbeitsbereiche der Pgs. in der DVV, in: DR 2 / 950, Bl. 1-18;
zu MdI-Abteilungen siehe: DO 1 / 26.0, 17334, 83/52/8/1; daneben ist für das Wachbataillon eine
Namenliste erhalten von einigen wenigen, die selbst oder deren Familienangehörige in der NSDAP, HJ etc.
waren, erwähnt ist auch ein SS-Mitglied, siehe: DO 1 / 26.0, 19552, Namenliste politisch unzuverlässiger
Angehöriger des Wachbataillons, 1950.
Boyer, Kader, S. 22.
Am 15.12.1954 befanden sich drei NSDAP-Mitglieder in den einzelnen Kaderabteilungen. Keiner der im
Zeitraum 1954-1956 insgesamt 84-119 angestellten Kaderleiter in den DDR-Regierungsdienststellen
gehörte der NSDAP an, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 319.
Details zu Heinz Cramer und Hans Naake siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 319.
Einzelheiten zu dieser Person siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 319.
In der DWK, HV Leichtindustrie zählte keiner der dort beschäftigten ehemaligen NSDAP-Mitglieder, auch
nicht Hauptabteilungsleiter Schinn, zu denjenigen Mitarbeitern, die unmittelbar Personalangelegenheiten
bearbeiteten, siehe: DO 1 / 26.0, 17600, DWK, HV Leichtindustrie, Namenliste „Personal, das unmittelbar
Personalangelegenheiten bearbeitet“, vom 12.08.1948.
Gleiches galt für Wehrmachtsoffiziere und scheinbar auch für leitende Mitarbeiter ehemaliger
Reichsdienststellen, nicht aber für einstige Unteroffiziere, rangniedere Reichsbedienstete und Angestellte
Jens Kuhlemann – Braune Kader
189
ferner bei nachgeordneten Organen.889 Doch sobald eine kontrollierende Dienststelle oder die
SED von einer Personalabteilung erfuhren, die sich kaderpolitisch auf unerwünschte Weise
zusammensetzte, kam es auch dort vor, dass sie Kritik übten und eine Umbesetzung
veranlassten.890
Relativ unproblematisch scheint in den Ministerien demgegenüber der Zugang zu
Pressestellen oder publizistischen Arbeiten gewesen zu sein. Manche Pgs. verfassten
Fachartikel, hielten Vorträge und waren maßgeblich an der Erstellung von ressortbezogenen
Zeitschriften beteiligt. Dabei überschnitten sich fachliche Inhalte zwangsläufig mit
politischen.891 Einige NS-Belastete waren neben ihrer Arbeit in der zentralen
Staatsverwaltung außerdem wissenschaftlich aktiv, etwa als Hochschuldozenten und im
Rahmen von Forschungsaufträgen. Bei anderen war eine solche Verwendung zumindest
geplant.892 Ein paar Ex-Nationalsozialisten pflegten ganz offiziell während ihrer Tätigkeit in
der Verwaltung den Kontakt zu Wirtschaftsbetrieben und betreuten sie. Andere gehörten
speziellen Fachkommissionen an. Ihr Wissen sollte auch bei der Ausbildung von
Nachwuchskadern genutzt werden.893 All diese Formen der Nebentätigkeiten sind als
Funktionshäufung der Kader zu sehen, zusätzlich zur Übernahme von Aufgaben in politischen
Organisationen. Sie sind Beleg für die guten Fachkenntnisse der früheren Pgs., die möglichst
vielfältig abgeschöpft werden sollten. Nicht nur für die leitenden Kader unter den ehemaligen
Nationalsozialisten liegen viele Zeugnisse darüber vor, dass sie ihre Aufgabenbereiche im
Griff hatten, anders als so manch andere Funktionäre.894 Ihre „Unersetzlichkeit“ kam im
Einzelfall sogar darin zum Ausdruck, dass DDR-Regierungsdienststellen noch
Arbeitsaufträge an sie erteilten, obwohl sie bereits aus politischen Gründen den Apparat
verlassen mussten.895
Die Konzentration zahlreicher Aufgaben bei den ausgewiesenen Experten steigerte
deren Stellenwert als Funktionselite. Sie führte jedoch auch unweigerlich zu ihrer
Überlastung. Ferdinand Beer etwa war Leiter der Abteilung Forstwirtschaft in der Staatlichen
Plankommission, Dozent für Forstpolitik und Betriebswirtschaft an der Forstakademie in
Eberswalde, Leiter des dortigen Instituts für Forstpolitik und Betriebswirtschaft sowie
Chefredakteur der Zeitschrift Forstwirtschaft / Holzwirtschaft. Das ehemalige NSDAPMitglied hatte damit in Personalunion einen Großteil der wichtigsten Funktionen inne, die in
der DDR zu Beginn der fünfziger Jahre in Sachen Forstpolitik zu vergeben waren.896 Dabei
stellte die SED 1951 fest, dass Beer sich mehr und mehr von der Verwaltung weg in Richtung
Hochschule orientierte: »Hauptsächlich ist er jetzt in Eberswalde als Professor der
Humboldt-Universität tätig, dadurch gerät seine Facharbeit im Ministerium in den
Hintergrund. Es soll eine Regelung geschaffen werden, daß ein junger Genosse, der sich
entwickelt hat, ihn im Ministerium (Staatl[iche] Plankommission) allmählich ersetzt und er
889
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896
früherer Wirtschaftsverbände, siehe: DO 1 / 26.0, 17198, Personelle Zusammensetzung der Personalleiter
der Ministerien der DDR und der angeschlossenen Dienststellen per 1. November 1950, S. 61 f.
Ein früherer SD-Offizier, der „angebl[ich] Jugoslav[ien-] Referent d[er] Personalabt[eilung]“ war und
dessen sich der Staatssicherheitsdienst angenommen hatte, fand sich beim Berliner Rundfunk,
Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 320.
Vgl. einen Wehrmachtsoffizier in einer nachgeordneten Dienststelle, der durch „die Sorglosigkeit der
leitenden Funktionäre“ Hauptsachbearbeiter für Kaderfragen wurde, in: DO 1 / 26.0, 17168, Staatliches
Komitee für Körperkultur und Sport, Arbeitsbericht des I. Quartals 1954, undatiert, S. 2 f.
Beispiele (Konstantin Pritzel, Bernd Veen, Hans W., Heinz B.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 320.
Beispiele (Bernd Veen, Hans Mat.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 320 f.
Ein Beispiel (Gerhard H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 321.
Zur abwartenden Haltung einer SED-Prüfkommission zu Josef Schaefers siehe: Kuhlemann, Kader (2005),
S. 321.
So im Fall von Gerhard B., siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 321.
BStU, AU 5/52, Band 1, Bl. 22 f., [MfS,] Vermerk, vom 14.04.1951 (SPK, Verleih, Arbeitsweise der
Abteilung Forstwirtschaft in der Staatlichen Plankommission und der HA IV Forstwirtschaft im
Ministerium für Land- und Forstwirtschaft).
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sich fast ausschliesslich in Eberswalde betätigt, wobei er den Wunsch hat, in der Frage des
Holzanbaus auch weiterhin operativ tätig zu sein.«897 Die Berücksichtigung persönlicher
Aufgabenwünsche scheint allerdings nicht immer so reibungslos vonstatten gegangen zu sein,
wie sich das hier andeutet. Ein Jahr später sagte Beer nämlich Folgendes: »Man hatte mich
mit Funktionen und Funktionen überlastet, ich wollte an die Universität, aber man liess mich
nicht gehen. [...] Ich habe bei meiner Einstellung gesagt, beruft einen anderen, aber nicht
mich. Ich bin Wissenschaftler, ich wollte an die Universität. Ich war mit meinen Nerven
fertig.«898
Im Weiteren noch ein paar andere Beispiele zu den Tätigkeitsbereichen ehemaliger
Nationalsozialisten. Grundsätzlich wurden alle Kader beobachtet und je nach Bewältigung
des Aufgabengebietes und politischer Entwicklung an Ort und Stelle belassen oder nicht.899
Einen besonderen Akt der Intervention versuchte die SED hinsichtlich des Arbeitsgebietes
des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Luitpold Steidle zu unternehmen. Der CDU-Politiker war
im Sekretariat der DWK für Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Handel und Versorgung
zuständig. Seiner Aufsicht unterstanden die entsprechenden Hauptverwaltungen. Nach
Behandlung in den Abteilungen Personalpolitik und Wirtschaftspolitik sowie im Kleinen
Sekretariat sollte im Juli 1949 allerdings eine offenbar schon seit längerem beabsichtigte
„interne Aufgabenteilung“ zwischen Steidle und seiner Stellvertreterin Greta Kuckhoff
vorgenommen werden.900 Die offizielle Funktion Steidles sollte dabei nicht angetastet
werden. Im Ergebnis machte Walter Ulbricht dem stellvertretenden DWK-Vorsitzenden
Bruno Leuschner den „Vorschlag“, eine Vereinbarung mit Steidle über eine Arbeitsteilung
zwischen ihm und der SED-Funktionärin zu treffen und dies danach im Sekretariat der DWK
beschließen zu lassen. Demnach sollte Steidle Land-, Forst- und Wasserwirtschaft,
Lebensmittelindustrie und Fischwirtschaft bearbeiten, Kuckhoff demgegenüber Handel und
Versorgung, Erfassung und Aufkauf (landwirtschaftlicher Güter).901 Die konkreten Motive für
einen solchen Vorstoß sind unbekannt. Steidles Amtsführung ließ keine Konfrontation mit der
SED-Linie erkennen.902 Ob diese Vereinbarung tatsächlich noch vor der Restrukturierung im
Zuge der Staatsgründung getroffen wurde, ist aus den vorgefundenen Quellen ebenfalls nicht
ersichtlich. Selbst wenn das geschah, wurde sie mit der kurze Zeit später erfolgenden
generellen Neuverteilung der Ressorts zwar obsolet. Dieser Vorgang zeigt jedoch in aller
Deutlichkeit, dass die SED-Führung auch in Angelegenheiten repräsentativer Spitzen der
Blockparteien im Staatsapparat einen entscheidenden Einfluss ausübte. Eine
Kompetenzverringerung aufgrund der NSDAP-Zugehörigkeit erfolgte allerdings nicht, weil
der ehemalige Oberst der Wehrmacht sie zu diesem Zeitpunkt noch erfolgreich verbergen
konnte.
In seiner Zuständigkeit eingeengt und beobachtet fühlte sich Steidle aber dennoch. Nach
einem Dossier des DDR-Staatssicherheitsdienstes von 1954 habe man ihn im Auftrag Georg
Dertingers gedrängt, sein Ressort als Minister weiterzuführen. Er wollte es angeblich
aufgeben, da man ihm „zu sehr auf die Finger sah“.903 Ein Stasi-Informant berichtete im
selben Jahr über Steidle: »Von Natur ist er sehr weich und empfindlich. Es verärgerte ihn
sehr, dass er bei der Gründung der DDR nicht, wie in der DWK, das
897
898
899
900
901
902
903
DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 145, Protokoll der Sonderkommission, [SED-Mitgliederüberprüfung 1951,] vom
27.02.1951.
BStU, AU 5/52, Band 5, Bl. 40, I. große Strafkammer des Landgerichts Greifswald, Sitzungsprotokoll, vom
04.04.1952.
Ein Beispiel (Josef Schaefers) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 322.
NY 4182/976, Bl. 69, SED-Hausmitteilung, Abteilungen Personalpolitik und Wirtschaftspolitik, Vorlage,
an das Kleine Sekretariat, vom 25.07.1949; Zank, Zentralverwaltungen, S. 282; zu Arbeitsgebieten Steidles
vgl.: NY 4062/9, Bl. 25.
NY 4182/976, Bl. 71, Walter [Ulbricht], an DWK, Leuschner, vom 28.07.1949.
Zank, Zentralverwaltungen, S. 266.
BStU, MfS A 4, 449/54, Band 7, Bl. 99, [MfS,] Bericht [1954].
Jens Kuhlemann – Braune Kader
191
Landwirtschaftsministerium erhielt, sondern das Ministerium für Arbeit und Gesundheit. Es
bedurfte starker Überrednung [sic], daß er das Ministeramt annahm. Als er 1950 auf das
Gesundheitsministerium beschränkt wurde, gab es in meiner Gegenwart Weinkrämpfe, weil er
darin ein Mißtrauen gegen seine Person erblickte. Seine Unsicherheit wird noch dadurch
gesteigert, daß er für sein gegenwärtiges Fachgebiet keine Sachkenntnisse besitzt.«904 In
diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das Politbüro der SED 1950 zunächst
beabsichtigte, Steidle zum Minister für Handel bzw. für Handel und Versorgung zu machen.
Der bisherige Amtsinhaber Karl Hamann (LDPD) sollte dafür Gesundheitsminister werden.905
Warum sich dieser Personalvorschlag am Ende nicht durchsetzte, allerdings ebenso wenig der
Wunsch Steidles nach dem Landwirtschaftsressort, geht aus den Quellen nicht konkret hervor.
Offenkundig waren es jedoch Erwägungen der Blockpolitik und die Berücksichtigung aller
kleineren Parteien mit adäquaten Spitzenposten, die zu einer relativen Beliebigkeit des
Arbeitsgebietes des CDU-Repräsentanten führten. Demnach stand der Bauernpartei fast
zwangsläufig das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft zu. Dabei stellt sich die Frage,
inwiefern DDR-Spitzenpolitiker eigentlich etwas von der ihnen anvertrauten Materie
verstanden, wenn sie wie Steidle als Gesundheitsminister nie etwas mit Medizin,
Krankenpflege oder dergleichen zu tun hatten. Der ehemalige Berufssoldat selbst suchte
darüber hinaus die Gründe für seinen Ressortzuschnitt anscheinend weniger in
übergeordneten politischen Interessen als vielmehr in seiner Autobiografie. Er scheint
befürchtet zu haben, dass ihn die SED nicht als vollwertig resozialisierten Wehrmachtsoffizier
akzeptierte, dem man jedwede Aufgabe übertragen konnte. Dieser Eindruck wird Steidle alles
andere als ermutigt haben, sich den Kommunisten wegen seiner verheimlichten NSDAPZugehörigkeit doch noch anzuvertrauen. Vielleicht spiegelte das angesprochene „Misstrauen“
aber auch seine Angst wider, dass die SED-Führung in Sachen verschwiegener NSDAPZugehörigkeit einen Verdacht hegen könnte und deshalb seinen Zuständigkeitsbereich
einschränkte.
Der ehemalige Pg. Harald Schaumburg stellte in gewisser Hinsicht ein Gegenbeispiel
hierzu dar. Denn dessen Kompetenzen wurden tendenziell ausgeweitet, bei anfänglich noch
ungenutztem persönlichem Potenzial. Wenngleich die Ursachen für die einzelnen
Etappensprünge nicht immer explizit genannt werden, dürften sie generell neben fachlichen
Qualitäten auch in einem wachsenden politischen Vertrauen zu suchen sein. Zunächst bewarb
sich Schaumburg bei der ZV Handel und Versorgung als Kreditreferent in der damaligen
Abteilung „Finanzierung“. Die Einstellung erfolgte im September 1945. Er sollte die
Preisabteilung in der Zentralverwaltung aufbauen. Trotz fremder Materie gelang es ihm „mit
Unterstützung der sowjetischen Freunde“ und in enger Zusammenarbeit mit der ZV Finanzen.
Dazu schrieb der Regierungskader rückblickend: »Im Jahre 1948 war der Aufbau der
Preisabteilung soweit fortgeschritten dass ich glaubte, durch die Leitung dieser Abteilung
nicht voll ausgelastet zu sein. Ich [...] erhielt als weitere Abteilung eine Abteilung der
Lebensmittelindustrie (Referate Getreide, Zucker, Kartoffeln, Getränke). [...] Bei Ausscheiden
des Gen[ossen] Kurt Ritter, der damals in die Hauptverwaltung Wirtschaftsplanung berufen
wurde, übernahm ich dessen Hauptabteilung Planung und Statistik in der Hauptverwaltung
Handel und Versorgung. Das war am 1.2.1949. [...] Bei Bildung der DWK und Errichtung
der selbständigen Hauptverwaltung Lebensmittelindustrie schied ich am 1.6.1949 aus Handel
und Versorgung aus und übernahm bei der [HV Lebensmittel-] Industrie die neu
aufzubauende kaufmännische Abteilung und die Abteilung Genussmittelindustrie. Es war also
wieder ein doppeltes Pensum. Später tauschte ich auf Wunsch der SKK die Abteilung
Genussmittelindustrie mit der Planungsabteilung aus.«
904
905
BStU, MfS A 4, 449/54, Band 24, Bl. 585, [MfS,] Dossier Steidle [1954].
DY 30 / IV, 2/2/114, Bl. 2, 38 f., Protokoll Nr. 14 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees am
17.10.1950; DY 30 / IV, 2/2/116, Bl. 3 f., Protokoll Nr. 16 der Sitzung des Politbüros der SED vom
31.10.1950.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
192
Etwa im Februar 1950 gab Schaumburg die Leitung der kaufmännischen Abteilung im
Ministerium für Industrie, HV Lebensmittelindustrie, aus gesundheitlichen Gründen ab. Er
war schlicht überlastet. Der früherer NSDAP-Angehörige behielt jedoch ebenda die Abteilung
Planung, bis es wenige Monate später erneut zu einer Umbesetzung kam: »Im Juni 1950
verhandelte die Gen[ossin] Erna Trübenbach mit mir über meine Rückkehr zu Handel und
Versorgung und zwar sollte ich die koordinierende Planung übernehmen. Da ich in der
Zwischenzeit persönliche Differenzen mit dem Genossen Erich T[...] hatte, war ich mit dieser
Aufgabenveränderung einverstanden. Mein Ausscheiden wurde ausserdem durch Maßnahmen
des Gen[ossen] T[...] beschleunigt.« Seit Juli 1950 leitete Schaumburg dann die Abteilung
„Koordinierende Planung“ im Ministerium für Handel und Versorgung.906 Diese stand über
den Hauptabteilungen und war direkt dem Staatssekretär unterstellt.907 Die
Kaderverantwortlichen waren mit seiner Aufgabenerfüllung sehr zufrieden. Das unterstreicht,
dass die doch recht häufigen Aufgabenwechsel nicht persönlichen Defiziten geschuldet
waren, sondern im Rahmen einer allgemein hohen Personalfluktuation und -not im
Regierungsapparat anzeigten, dass der ehemalige Pg. im Gegenteil vielseitig verwendbar war.
Es bestand erheblicher Bedarf an sachverständigen Führungskräften, die immer an den jeweils
wichtigsten Stellen einzusetzen waren und oft kurzfristig umbeordert wurden, sobald sich die
Notwendigkeit eines Einsatzes woanders größer ausnahm. Die individuelle Abwägung aller
Kaderkriterien einschließlich der Einschätzung der ideellen Entwicklung ging der Zuordnung
eines bestimmten Arbeitsgebietes mit seinen spezifischen fachlichen Anforderungen und
seiner machtpolitischen Bedeutung natürlich voraus. Das Ministerium für Handel und
Versorgung urteilte: »Schaumburg ist der Fachmann für koordinierende Planung. Bereits im
Ministerium für Industrie hat er diese Aufgabe erfüllt und dank seiner Intelligenz und seines
großen fachlichen Wissens beste Erfolge gehabt.«908
Wie sich zeigt nahmen zumindest die leitenden Verwaltungskader unter den NSBelasteten auch strategische Aufgaben wie die Wirtschaftsplanung wahr. Sie konnten sich
zudem durch ein großes Maß an Schaffung und Erhalt exklusiver Informationen auszeichnen,
die inhaltlich besonders weitreichend waren. Dies setzte sich auch nach Ausscheiden aus der
zentralen Staatsverwaltung fort, wie für Hans Forsbach belegt ist. Die Landesregierung in
Potsdam urteilte über ihren Mitarbeiter, dass »der Genosse Forsbach der einzigste Genosse
im Lande Brandenburg ist, der über die Vorschläge und Unterlagen für den 5-Jahrplan
informiert ist und daran mitgearbeitet hat in einer zentralen Kommission, die sehr vertraulich
durchgeführt wurde. Darüberhinaus ist klar, dass Forsbach als Verantwortlicher für die
Wirtschaftsplanung sehr grossen Einblick in unser gesamtes Wirtschaftsgeschehen hat.«909
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die NS-Belasteten innerhalb der DWK und DDRRegierung nicht in allen Fachressorts gleichmäßig stark vertreten waren. Domänen waren die
im engeren Sinne wirtschaftsorientierten. In macht- und sicherheitspolitisch besonders
bedeutsamen Zweigen fanden sie sich hingegen wesentlich seltener. Dort galt aufgrund eines
latenten Restes an Misstrauen annähernd „zero tolerance“ gegenüber ehemaligen NSDAPMitgliedern und im Extremfall auch gegenüber allen anderen Personen, die irgendeiner NSOrganisation angehört hatten. In anderen Bereichen waren sie demgegenüber teilweise mit
verantwortlichen Aufgaben betraut und übten arbeitstechnisch einen nicht unerheblichen
Einfluss auf ihr Fachgebiet aus. Dieses Prinzip galt entsprechend für die jeweils
906
907
908
909
Schaumburg war in der HV Lebensmittelindustrie und Fischwirtschaft nach Angaben der Hauptverwaltung
Hauptabteilungsleiter, siehe: DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 53-55, Schaumburg, Lebenslauf, [geschrieben
anlässlich der SED-Mitgliederüberprüfung 1951], undatiert [1951]; DO 1 / 26.0, 17601, DWK, HV
Lebensmittelindustrie und Fischwirtschaft, Beurteilung über Harald Schaumburg, vom 01.07.1949.
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Handel und Versorgung, Abteilung I Personal, Erläuterungen zum
Bericht über das II. Quartal 1950, an MdI, HA Personal, vom 30.06.1950, S. 1.
Zitiert nach Unterlagen der ZKK, siehe: DC 1 / 2575, XX/22, ZKK, Personalauszug, vom 13.06.1952, S. 2.
DC 1 / 2601, [Landesregierung Brandenburg,] Abteilung Wirtschaftspolitik, an [Landesregierung
Brandenburg,] Kaderabteilung, vom 11.05.1950 (Abschrift).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
193
nachgeordneten Organe. Faktisch hielt die genannte Verteilung im gesamten
Untersuchungszeitraum mit kleineren Abweichungen an, unbeschadet der zeitweilig
rechtlichen Verwehrung bestimmter Arbeitsbereiche.
2.1.10
Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen
Der Positionsansatz ist ein Hilfsmittel, um den Umfang der einem Kader zur Verfügung
stehenden Macht zu umreißen. Er umgrenzt Gestaltungsfreiräume und Verantwortlichkeiten.
Dadurch ist die Höhe der jeweils erklommenen Stufe auf der Hierarchie-Leiter auch ein Indiz
für das vorhandene oder nicht vorhandene Vertrauen, das die Kaderverantwortlichen den
Betreffenden schenkten, insbesondere politisch gesehen. Andererseits konnte sie auch
Zeichen für die fachlichen Qualitäten der Person sein bzw. für den Zwang, Spezialisten an
Stellen einzusetzen, in denen sie ihre Kompetenz ausreizen konnten. Eingeschränkt wird die
Aussagekraft in puncto Einflussmöglichkeiten bestimmter Funktionsträger in der zentralen
Staatsverwaltung durch die Entscheidungsgewalt der SMAD und der SED-Führung. Um die
Aufstiegsmöglichkeiten und den Autonomiegrad der ehemaligen Nationalsozialisten in der
DWK und DDR-Regierung wenigstens grob zu beschreiben, ist der Positionsansatz jedoch
quellenbedingt noch immer der beste. Denn zum einen sind die eingenommenen Ämter gut
dokumentiert. Zum anderen stehen sonstige Herangehensweisen wie der Reputationsansatz
auf relativ tönernen Füßen, weil die NS-Vergangenheit der hier untersuchten Kader nur
wenigen im Mitarbeiterkreis oder gar in der Bevölkerung bekannt war. Es ist daher schlecht
zu beurteilen, inwiefern die politische Belastung das Ansehen dieser früheren NSDAP-, SAund SS-Mitglieder im damaligen sozialen Umfeld beeinflusste. Ein recht hohes Prestige
genossen viele von ihnen zwar beispielsweise aufgrund ihrer Bildung und fachlichen
Leistung.910 Dieser Umstand wurde aber von Außenstehenden in der Regel nicht in Bezug zur
NS-Belastung gesetzt, weil das Wissen darüber fehlte. Wo es vorhanden war, hing die
Reputation sehr von der jeweiligen Bezugsgruppe ab. SED-Mitglieder und vor allem NSOpfer sowie Altkommunisten zollten den Pgs. tendenziell weniger Achtung als ein
unpolitischer Durchschnittsbürger oder ein anderer NSDAP-Angehöriger. Man kann aber
davon ausgehen, dass ehemalige Nationalsozialisten, die es in höhere oder kompetenzreiche
Positionen schafften, auch bei der kommunistischen Wertelite und den Kaderabteilungen eine
höhere Akzeptanz, ein größeres Ansehen und Vertrauen genossen als andere NS-Belastete.
Beim Positionsansatz lege ich zugrunde, dass die DWK und DDR-Regierung zentrale
Organisationen darstellten, die es den Eliten an ihrer Spitze erlaubten, (para-)nationale Politik
regelmäßig und nachdrücklich zu beeinflussen. Beeinflussung konnte dabei natürlich nur in
einem Rahmen erfolgen, der die dominante Rolle der SMAD und der SED-Führung als
übergeordnete Planungs- und Entscheidungsinstanzen beachtete.911 Stellungnahmen des
Politbüros und Zentralkomitees oder „Bitten“ der Besatzungsmacht konnten Befehlen
gleichkommen. Der Handlungsspielraum der Leitungsebene im Staatsapparat war somit
deutlich begrenzter als in einer freiheitlichen Demokratie. Ihre Macht- und
910
911
Siehe Kapitel „Bildung und Weiterbildung“ sowie „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg am
Arbeitsplatz“.
Vorlagen der DWK für die SMAD waren auf der Fachebene vorzubereiten. Befehls- und
Verordnungsentwürfe, die häufig auf deutsche Entwürfe zurückgingen, durften erst nach Zustimmung des
DWK-Sekretariats an die SMAD weitergeleitet werden. Insbesondere Grundsatzfragen wurden mit den
zuständigen SMAD-Fachabteilungen besprochen. Das Kontrollnetz war also dicht gespannt, Handeln im
Alleingang von deutscher Seite aus im größeren Maßstab relativ schwer möglich, siehe: Foitzik, Inventar,
S. 41 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
194
Handlungsbefugnisse nahmen daher mit steigender Hierarchie nicht zwangsläufig zu.912
Gleichwohl galt das Prinzip der Einzelverantwortung, sowohl der Dienststellen als auch der
Mitarbeiter.913 Deren Initiative und Organisationstalent war gefragt, was ihre Bedeutung
hinsichtlich der Systemfunktionalität steigerte. Hierin lag aber auch ein gefährliches Risiko,
weniger für die Machthaber, die ihre Vorgaben korrekt umgesetzt sehen wollten, als vor allem
für die Kader, die im konkreten Einzelfall Richtlinien zu interpretieren und für
Fehlentwicklungen den Kopf hinzuhalten hatten. Dabei verfügten sie wegen der
Geheimhaltungspolitik und der unerwünschten horizontalen Kommunikation oft nicht über
alle relevanten Informationen.914 Entscheidungsprozesse in der SBZ/DDR waren nicht
eindeutig strukturiert. Die Möglichkeiten und die Verantwortung von Positionsinhabern
lassen sich daher nicht immer klar umreißen.915 Angestellte waren einerseits abhängig und
sollten Zielvorgaben gehorsam ausführen, andererseits selbständig und kreativ in der
Anwendung sein, um eine möglichst effektive Umsetzung zu erreichen. Daraus resultierte ein
Doppelcharakter, der sich aus einem bloßen Befehlsempfänger und einem selbständigen
Mitarbeiter zusammensetzte. Die übergeordnete politische Richtung war jedoch im Grundsatz
für alle verbindlich.916 Angeblich charakteristische Merkmale der Dienstklasse (Ausübung
von Herrschaft, autonome Gestaltung der Arbeitssituation, beaufsichtigende Tätigkeit) stoßen
hier also an ihre Grenzen.917
Unter die strategischen Führungspositionen, zur Elite im engeren Sinne, zähle ich
deshalb nur Minister, stellvertretende Minister, Staatssekretäre und vergleichbar hohe Posten.
Für diese enge Begrenzung spricht neben der internen Machtposition die sich merklich
abhebende intersektorale Vernetzung, etwa mit Parteiführungen, und der dadurch gestärkte
Zusammenhalt von Eliten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Außerdem
entfielen die repräsentativen Funktionen gegenüber der Öffentlichkeit im Wesentlichen allein
auf sie. Die genannten Kriterien trafen nur in deutlich beschränktem Maße auf andere
Leitungskader wie Hauptverwaltungs- und Hauptabteilungsleiter zu, so dass ich diese
zusammen mit den Abteilungs-, Gruppen- und Kaderleitern zur Subelite rechne. Hinzu kamen
noch die persönlichen Referenten der Minister, die deren besonderes Vertrauen genossen und
durch Kontaktpflege, Themenselektion, -vorbereitung und Beratung den Arbeitsablauf ihrer
Patrone immens beeinflussten. Ihre Position verlieh ihnen also durchaus informelle Macht.918
Das Ministerium des Innern zählte alle genannten Positionen zusammen mit weiteren
Angestellten, die der Besoldungsgruppe nach mit ihnen vergleichbar waren, zu den „leitenden
Mitarbeitern“. Auf der mittleren Ebene rangierten von oben nach unten die Hauptreferenten,
Oberreferenten und Referenten. Diese können wir zu den Professionen rechnen. Obwohl die
DWK und das MdI die Hauptreferenten bis 1952 den leitenden Funktionen zuordnete, ist eine
Zuordnung zur mittleren Ebene hinsichtlich eines Vergleichs mit den darauffolgenden Jahren
sinnvoll. In der institutionellen Hierarchie folgten dann die Hauptsachbearbeiter,
Sachbearbeiter und Hilfssachbearbeiter. Das untere Ende bildeten schließlich die
Sekretärinnen und Stenotypistinnen. Auf diese Positionen passt in ganz überwiegendem Maße
die Bezeichnung der Subprofessionen.919
912
913
914
915
916
917
918
919
Ross, Aufstieg, S. 150; vgl. Welsh, Eliten, S. 147.
Vgl. Richert, Macht, S. 159.
Zimmermann, Überlegungen, S. 349.
Hübner, Einleitung, S. 11.
Hübner, Einleitung, S. 27 f.
Herz, Dienstklasse, S. 231-233, 238.
Beispiele zu persönlichen Referenten (Wikary, Cramer, Ludwig, Gerstner) von hohen Funktionären siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 329.
Eine Auflistung von Angehörigen des NS-Samples, die in der DWK oder DDR-Regierung die Position
eines Hauptreferenten einnahmen, siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 329 f. In der SBZ standen nach
den Besoldungsrichtlinien am unteren Ende Stenotypistinnen, Boten, Pförtner. Darüber rangierten
Hilfssachbearbeiter. Dann kamen die Sekretärinnen. Es folgten die Sachbearbeiter und die weiteren
Positionen wie beschrieben. Zur Einteilungsdefinition siehe auch Einleitung und Kapitel „Berufliche
Jens Kuhlemann – Braune Kader
195
Das Personal der DDR-Regierung lässt sich auch anderweitig klassifizieren. Das
Ministerium des Innern unterschied es in leitende Mitarbeiter und sonstige. Ich benenne die
Gruppe der Leitungskräfte aufgrund ihrer teilweise umfassenden Führungsaufgaben
zusätzlich als obere Dienstklasse. Auf der anderen Seite bildete die Referentenebene die
untere Dienstklasse. Ihre Angehörigen hatten zwar kaum Führungsaufgaben, aber dennoch
schwierigere Arbeiten eigenverantwortlich zu erfüllen. Ähnlich verhielt es sich vermutlich
mit dem sogenannten „Fachpersonal“, das erst ab 1952 statistisch als solches erfasst wurde.
Dazu gehörten zum Beispiel wissenschaftliche Mitarbeiter und Juristen. Das MdI zählte es
nicht zu den eigentlichen Verwaltungsangestellten. Ihrem Tätigkeitsfeld nach stellten diese
Mitarbeiter zumeist Professionen dar und übten durch ihre Arbeit inhaltlichen Einfluss auf die
Verwaltungsabläufe aus. Da das Fachpersonal jedoch als quasi externes Arbeitskraftreservoir
vermutlich über keine formalen Entscheidungskompetenzen verfügte, erscheint eine
Zuordnung zur unteren Dienstklasse nur eingeschränkt möglich. Die Sachbearbeiterebene
zähle ich zusammen mit den Sekretärinnen und Stenotypistinnen zur Nichtdienstklasse. Denn
sie verrichteten dem Anforderungsprofil nach vergleichsweise einfache Tätigkeiten. Gleiches
gilt für die technischen Kräfte, die die Personalabteilungen ebenso wenig zu den
Verwaltungsangestellten im engeren Sinne zählten. Darunter fielen Putzfrauen, Boten,
Chauffeure, Hausmeister etc. In Betracht zu ziehen sind gewisse Übergangszonen wie die der
Hauptreferenten, die teilweise auch Führungsaufgaben wahrnahmen. Eine unflexible
Gruppeneinteilung ist daher fehl am Platze.920
Die Höhe der eingenommenen Position beeinflusst die Professionalisierung. Da die
Entscheidungskompetenzen in der institutionellen Hierarchie nach oben hin wachsen,
vergrößert sich die individuelle Durchsetzungsfähigkeit. Darüber hinaus dürfen wir
annehmen, dass mit steigendem Positionsniveau auch die Zusammenarbeit mit anderen
Sektoren des öffentlichen Lebens an Intensität gewinnt. Doch selbst wenn die Kontakte zu
anderen Organisationen häufiger werden, bedeutet dies nicht, dass gleichzeitig diejenigen
innerhalb des eigenen Sektors zunehmen.921 Angewandt auf den zentralen DDRRegierungsapparat heißt das, dass die leitenden Angestellten, Staatssekretäre und Minister
zum Beispiel mit der SKK, dem SED-Politbüro oder den Leitungen der Blockparteien und
Massenorganisationen in relativ enger Verbindung standen. Die Mitarbeiter auf den mittleren
und unteren Ebenen taten das hingegen nicht. Dies traf auch für die ehemaligen
Nationalsozialisten im Personal zu. Gleichzeitig hat ein quasi externer Austausch die
920
921
Karriereverläufe“ sowie: DO 1 / 26.0, 17452, 20/57/2/2; zu Personalleitern siehe ferner: DO 1 / 26.0,
17338, 1/51/2/2, 2/51/2/1, 3/51/2/1; Die Unterscheidung in obere und untere Subelite entfällt, da es sich bei
der DWK um eine auf (quasi-) nationaler Ebene angesiedelte Einrichtung handelte und nicht um eine
kommunale. Zur Klassifizierung siehe: Machatzke, Elitestudie, S. 35; Schneider, Verwaltung, S. 209 f.;
Boyer, Kader, S. 18.
DWK und MdI zählten Hauptreferenten bis 1952 zu den leitenden Mitarbeitern. Wie es scheint, haben
Hauptreferenten auch danach manchmal (kommissarisch) eine Abteilung geleitet, ohne die Planstelle eines
Abteilungsleiters zu besetzen. Die Beschäftigung ehemaliger Pgs. auf Honorarbasis war allgemein eine
weitere Möglichkeit, eine lose Zusammenarbeit einzugehen. Dieser Status war auf klar eingegrenzte
Arbeiten beschränkt, die für die Verwaltung dennoch von Bedeutung sein konnten. Dabei gingen die
Personalabteilungen nebenbei eine geringere Gefahr ein, dass politisch Belastete dauerhaft Gelegenheit
bekamen, sich einen größeren Überblick über die Arbeit der Dienststelle zu verschaffen. Grundsätzlich
unterstanden aber auch Honorarempfänger denselben kaderpolitischen Auswahlkriterien wie alle anderen
Beschäftigten. In diesem Zusammenhang sind darüber hinaus Mitarbeiter zu nennen, deren
Beschäftigungsverhältnis auf Einzelverträgen beruhte (z.B. bei Wilhelm Salzer ab 1952, Hans Mat. um
1955 mit Sondergehalt). Dadurch ließen sich besondere Konditionen und zusätzliche Zahlungen
aushandeln. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 330; siehe ferner eine Namenliste des Statistikressorts
über Honorarempfänger, die praktisch alle mit wissenschaftlichen Arbeiten befasst waren und ehemals der
NSDAP und / oder dem Statistischen Reichsamt angehörten, in einem Falle dem OKW, in: DE 2 / 991,
Namenliste, undatiert. Zur Einteilungsdefinition siehe Einleitung und Kapitel „Berufliche
Karriereverläufe“.
Sauer / Schnapp, Elitenintegration, S. 267 f.; Sauer, Durchsetzungsfähigkeit, S. 293.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
196
Kommunikationsdichte von Vertretern einzelner Hierarchiestufen innerhalb der jeweiligen
Verwaltungsdienststellen nur bedingt begünstigt. Zwar trafen sich Angehörige aller
Positionshöhen beispielsweise in der SED-Betriebsgruppe. Doch die Gesprächsthemen waren
limitiert. Außerdem gehörten viele Kader der SED weiterhin nicht an und blieben außen vor.
Darüber hinaus kam der Leiter einer Abteilung zwar regelmäßig mit „seinen“ Referenten
zusammen, nicht aber zwangsläufig mit denen eines anderen Abteilungsleiters. Schließlich
saßen im Ministerrat zwar die Spitzen der Regierungsdienststellen strukturell an einem Tisch.
Den „normalen“ Kadern fehlte eine solche interministerielle Begegnung mit Kollegen aus
anderen Ressorts jedoch, egal welcher Hierarchie-Ebene sie zuzurechnen waren. Die
Kontakthäufigkeit der NS-Belasteten untereinander, die sich auf sämtliche Rangstufen
verteilten, erfuhr aus den genannten Gründen kaum eine fördernde Wirkung.
Nun zu den empirischen Befunden: Zur Spitze der Deutschen Wirtschaftskommission
gehörten die Mitglieder des Sekretariats und in der DDR-Regierung die berufenen Minister
und Staatssekretäre. Bei ihnen ist die typische, mit zunehmender Positionshöhe stärker
ausgeprägte, sich vor allem auf Partei und Staatsapparat erstreckende Häufung von Ämtern
und Funktionen nachweisbar.922 Die Statistikquellen des MdI schließen sie nicht unter
leitende Angestellte mit ein. Gesonderte Auflistungen vom Beginn der fünfziger Jahre sind
nur für zwei Personalstatistiken bekannt, die eine mit Stand vom 31.12.1950, die andere
datiert vom 31.12.1951. Sie betreffen explizit und exklusiv Minister (25 bzw. 27) und
Staatssekretäre (34 bzw. 43). Zum ersten Termin soll demnach kein Minister und nur ein
Staatssekretär ehemaliges NSDAP-Mitglied gewesen sein. Da der frühere Pg. Wilhelm
Feldmann bereits im November 1950 zum Minister für Leichtindustrie berufen wurde, stimmt
die Statistik nicht. Es kann sein, dass dem Ministerium des Innern die Kadermerkmale dieser
höchsten Staatsfunktionäre nur mit zeitlicher Verzögerung oder, was die seltenen Quellen zu
diesem Personenkreis nahe legen, nur bruchstückhaft zur Kenntnis kamen. Die SEDParteiführung wird in diesen Fällen besser informiert gewesen sein. Bei dem Staatssekretär
handelte es sich um den ehemaligen DWK-Leitungskader Alfred Wunderlich. Ein Jahr später
weist die Statistik des MdI einen Minister und einen Staatssekretär als frühere Pgs. aus,
offensichtlich die beiden genannten NDP-Mitglieder.923
In den Folgejahren kamen jedoch eine ganze Reihe weiterer Pgs. hinzu,924 und zwar
mehr als die Forschung bis vor wenigen Jahren vermutete.925 Die Toleranz der SED-Führung
gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten in den Chefetagen der Ministerien nahm also im
Laufe der fünfziger Jahre deutlich zu. Ein stärkeres Effizienzbemühen angesichts ihrer sich
922
923
924
925
Siehe die umfassenden Darstellungen am Beispiel von vier Ministern bzw. Staatssekretären im Abschnitt 3
„NS-belastete hohe Staatsfunktionäre“ in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 842-967; vgl. Rautenberg, Eliten,
S. 195.
Siehe dazu ausführlich die Kapitel über Feldmann und Wunderlich in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 870888, 918-967; siehe ferner die Statistikquellen in: DO 1 / 26.0, 17341, [MdI, HA Personal,]
Personalstatistik, Stand vom 31.12.1950; DO 1 / 26.0, 17321, [MdI, HA Personal,] Personalstatistik, Stand
vom 31.12.1951.
Siehe die umfangreichen Ausführungen zu Paul Straßenberger (ehemaliges SA-Mitglied) und Werner
Winkler in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 843-869, 889-917; eine Auflistung von 17 weiteren Ministern
und anderen hohen Staatsfunktionären mit NS-Belastung siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 331 f.;
Nationalsozialisten (1958), S. 16; Stern, Nazis, S. 178; Kappelt, Braunbuch, S. 16 f.; 186; Kappelt,
Entnazifizierung, S. 145, 150 f., 154-161, 171 f.; Joseph, Nazis, S. 121-125, 130; Baumgartner / Hebig,
Handbuch, S. 694; zur Fragebogenfälschung vgl. Max Hartwig (stellv. Staatssekretär für Kirchenfragen)
und Karl-Heinz Bartsch (stellv. Minister für Landwirtschaft), in: ebd., S. 96; Danyel, SED, S. 180; Broszat
/ Weber, SBZ-Handbuch, S. 961; Joseph, Nazis, S. 129; Baumgartner / Hebig, Handbuch, S. 519; MüllerEnbergs / Wielgohs / Hoffmann, DDR, S. 688; weitere ehemalige NSDAP-Mitglieder, die als (stellv.)
DDR-Minister und in vergleichbaren Ämtern fungierten, siehe: Kappelt, Braunbuch, insbesondere S. 16 ff.;
ders, Entnazifizierung.
In einer Beilage zur Wochenzeitschrift „Das Parlament“ hieß es 1997, es habe unter den Ministern bzw.
stellvertretenden Ministern nur zwölf ehemalige NSDAP-Mitglieder gegeben, zitiert nach: Joseph, Nazis,
S. 106 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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verfestigenden Macht mag hierfür der Grund gewesen sein, ebenso die sich mit den Jahren
häufenden Gelegenheiten, sich als loyale und nützliche Kader zu beweisen. Allerdings ist zu
berücksichtigen, dass nur ein sehr kleiner Kreis von Personalverantwortlichen über die
Lebensläufe solcher Spitzenkader genauestens im Bilde war. Die meisten Kollegen,
geschweige denn die Bevölkerung hatte von deren NS-Vergangenheit keine Ahnung. Sie
wurden, um die antifaschistische Staatsdoktrin nicht in Frage zu stellen, hierüber bewusst in
Unkenntnis gelassen. Und wer davon wusste, legte wie die SED einen eigenen Maßstab an die
Glaubwürdigkeit einer Wendebiografie an und wog nach persönlichen politischen oder
moralischen Werten ab, ob eine Personalentscheidung vertretbar war.926 Die zitierten
Statistikquellen sind darüber hinaus einer von mehreren Belegen dafür, dass zumindest der
Minister für Arbeit und Gesundheitswesen, Luitpold Steidle, den Behörden seine kurzzeitige
NSDAP-Zugehörigkeit verschwieg. Der zuvor stellvertretende DWK-Vorsitzende war somit
anscheinend das einzige Sekretariatsmitglied in der Deutschen Wirtschaftskommission, das
der NSDAP angehörte, wenn auch als Biografiefälscher.927
Wie verhielt es sich nun mit der Masse des Apparates unterhalb der obersten
Führungsebene? Die Gliederung des Gesamtpersonals der DDR-Regierungsdienststellen in
einzelne Positionshöhen wurde bereits erörtert.928 Deshalb gehen wir gleich zu den
Funktionen über, die die Angehörigen des NS-Samples bekleideten.929 Die den Quellen
entnommenen Zahlen geben das Binnenverhältnis innerhalb der Gruppe der ExNationalsozialisten wieder. Würden wir das technische und Fachpersonal unberücksichtigt
lassen, so ergäben sich noch etwas höhere Prozentwerte für die reinen
Verwaltungsangestellten. Es ist klar ersichtlich, dass die untersuchten NS-Belasteten in der
Deutschen Wirtschaftskommission überdurchschnittlich oft Leitungspositionen belegten.
Allein die Hauptabteilungs- und Abteilungsleiter machten bereits dreizehn Prozent des NSSamples aus. Berücksichtigen wir ferner, dass daneben bis 1952 auch die Hauptreferenten
926
927
928
929
Bis heute werden sehr unterschiedliche Vorstellungen zur Intensität und Außenwirkung der politischen
Säuberung deutlich, auch in der Forschung. Heike Amos schrieb über die Ernennung des ehemaligen
Kriegsgerichtsrats Kurt Schumann zum Präsidenten des Obersten Gerichtes der DDR: »Unverständlich
blieb, warum das SED-Zentralsekretariat an die Spitze eines so hohen Justizamtes einen Mann stellte, dem
eine „NSDAP-Vergangenheit“ anhaftete. Die konsequente Entnazifizierung der Justiz stand dazu im
Widerspruch. Auch wenn man berücksichtigte, daß die Wahl Schumanns ein Zugeständnis an die „SEDBlockpolitik“ war und seine fast sechsjährige politische Schulung in der sowjetischen
Kriegsgefangenschaft seine politische Zuverlässigkeit garantierte, erschien diese Besetzung als zumindest
politisch sehr ungeschickt.«, siehe: Amos, Justizverwaltung, S. 126; zu Schumann siehe ferner: Fricke,
Nazigrößen, S. 142; Herbst / Ranke / Winkler, Band 3. S. 310; Černý, DDR, S. 415 f.; Nationalsozialisten
(1958), S. 35; Nationalsozialisten (1965), S. 84; Kappelt, Entnazifizierung, S. 126.
Ein DWK-Sekretariatsmitglied besaß ein Weisungsrecht. Laut Personalstatistik über Minister und
Staatssekretäre (Leiter übriger Regierungsdienststellen mit anderen Positionsbezeichnungen sind
offensichtlich miterfasst) vom 13.11.1953 war Steidle ebenfalls kein Pg. Als ehemalige NSDAP-Mitglieder
registriert waren hingegen Minister Wilhelm Feldmann, der zu dieser Zeit als Staatssekretär fungierende
Hans Reichelt, Staatssekretär Alfred Wunderlich und Staatssekretär Werner Winkler. Paul Straßenberger
wurde als früheres SA-Mitglied offenbar nicht gezählt. Theoretisch ist es denkbar, dass zwischen den
genannten Erhebungsdaten der Statistiken noch andere Pgs. als Minister oder Staatssekretäre beschäftigt
waren. Doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die genannten Funktionäre bis mindestens Ende 1953
sämtliche NSDAP-Mitglieder darstellten, die als Minister oder Staatssekretäre tätig waren, siehe: DO 1 /
26.0, 17319, 86/53/1/1, Personalstatistik über Minister und Staatssekretäre (S – E 2), vom 13.11.1953; DO
1 / 26.0, 17320, 88/53/1/1, Namenliste zu Nomenklaturfunktionären [1953]; NY 4182/976, Bl. 63-65,
[DWK, Sekretariat Land-, Forst- und Wasserwirtschaft, Handel und Versorgung,] Kuckhoff, an die
Vorsitzenden der SED, vom 13.10.1948; Stern, Nazis, S. 178.
Siehe Kapitel „Personalbestand und Fachkräftemangel“. Zum Gesamtpersonal der DWK machen die
vorgefundenen Statistikquellen keine Angaben zu Positionshöhen, Quellenangaben siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 333. Vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 222.
Berücksichtigt wurde die höchste in der DWK nachweislich erreichte Position. Zu 143 von insgesamt 154
NS-Belasteten waren Positionshöhen zu ermitteln. Erläuterungen und eine grafische Darstellung siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 f. (Abb. 45).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
198
noch zu den leitenden Angestellten zählten, so nahm sogar jeder fünfte ehemalige
Nationalsozialist in der DWK eine Leitungsfunktion ein. In den Zentralverwaltungen für
Inneres, Justiz und Volksbildung gab es ebenfalls ehemalige Pgs. in leitenden Stellungen.930
SMAD-Befehl 35 vom Februar 1948 gestattete es zwar, nominelle NSDAP-Angehörige in der
Verwaltung zu beschäftigen, jedoch nicht auf leitenden Posten.931 In diesem Sinne bekannte
sich die DWK, HA Personalfragen und Schulung im März 1949 gegenüber der NDP und in
einem behördeninternen Personalrundschreiben dazu, dass Bewerbungen ehemaliger Pgs. in
der Verwaltung zwar unter bestimmten Bedingungen Berücksichtigung finden konnten. Das
sollte aber nicht für leitende Stellungen gelten.932 Die erwähnten Zahlen sprechen eine andere
Sprache und belegen eine zweckorientierte Personalpolitik. Es gab zwar stets von
verschiedener Seite her Bemühungen, Ex-Nationalsozialisten aus Leitungsfunktionen
abzulösen oder herauszuhalten. Nicht zuletzt wegen des notorischen Fachkräftemangels ließ
sich dieser Vorsatz aber nicht einhalten.933
Die Subelite bzw. obere Dienstklasse war also relativ stark vertreten. Sie wurde aber
noch deutlich je für sich von den Professionen bzw. der unteren Dienstklasse auf der einen
Seite und den Subprofessionen bzw. der Nichtdienstklasse auf der anderen übertroffen. Denn
ungefähr zwei Drittel der ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der
Wirtschaftskommission befanden sich auf der mittleren Ebene der Referenten und am oberen
Ende der unteren Verwaltungsschicht. Zu letzterer gehörten je 25 Hauptsachbearbeiter und
Sachbearbeiter. Sie machten den Großteil des nach der Eingangsdefinition als
Nichtdienstklasse
zusammengefassten
Personalsegments
aus.
Zumindest
die
Hauptsachbearbeiter bewegten sich sozusagen an der Schwelle zu den Professionen und zur
unteren Dienstklasse. Im Gegensatz dazu fanden sich im NS-Sample nur sehr wenige Büround technischen Kräfte. Die eher einfachen und mechanischen Arbeiten, die eine relativ
geringe Berufsqualifikation erforderten und für die es hinreichend politisch unbelastete
Personalalternativen gab, musste die HA Personalfragen und Schulung eben nicht unbedingt
mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzen. Generell galt, dass eine Dienststelle
einigermaßen erleichtert war, wenn sie eine Zunahme des Pg.-Anteils in ihrem
Personalbestand durch die Hereinnahme in untere Positionen erklären konnte. Der
Rechtfertigungszwang fiel hier deutlich geringer aus als bei höheren Funktionen.934 Die
dennoch starke Repräsentation in der unteren Führungsschicht sowie auf der mittleren Ebene
und im oberen Bereich der unteren Verwaltungshierarchie spricht demgegenüber für die
930
931
932
933
934
In der DJV handelte es sich um Günter Scheele, siehe: Kapitel »Illegale Untergrundarbeit der „doppelten
Parteigenossen“: Eintritt im Auftrag der KPD und SPD« und »Erkenntnis, Abkehr und Neuorientierung«;
Rössler, Justizpolitik, S. 140-143; Amos, Justizverwaltung, S. 20; zur DVdI siehe: DO 1/7/211, Bl. 37 ff.;
zur DVV siehe: DR 2 / 952; DR 2 / 643; DR 2 / 918; DR 2 / 999; Quellenangaben zu einem Pg., der Leiter
einer nachgeordneten Dienststelle war, die dem Landwirtschaftsressort unterstellt war, siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 333 f.
DP 1 / VA 980, Befehl des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration und Oberbefehlshabers
der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Nr. 35 über die Auflösung der
Entnazifizierungskommissionen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, vom 26.02.1948;
Kowalczuk, Stalin, S. 185.
DC 15 / 754, Bl. 18 VS + RS, DWK, HA Personalfragen und Schulung, Personalrundschreiben Nr. 6/49,
vom 25.03.1949; Boyer, Kader, S. 25 f.; zur inhaltsgleichen Anordnung für den nachgeordneten Apparat
siehe: DM 3 / 284, DWK, HV Post und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung betr. Abschluß der
Entnazifizierung, (veröffentlicht im Amtsblatt Nr. 17), vom 17.04.1948; DP 1 / VA 980, DWK, HV Post
und Fernmeldewesen, Amtsblattverfügung Nr. 64/1948 betr. Abschluß der Entnazifizierung, vom
01.05.1948.
Hinsichtlich einer nachgeordneten Dienststelle hieß es intern: »Soweit noch Mitglieder der ehemaligen
NSDAP kommissarische Leitungen inne haben, soll eine Auswechselung vorgenommen werden, wenn
entsprechende Kräfte [...] zur Verfügung stehen.«, siehe: DO 1 / 26.0, 3715, Besprechungsnotiz, betr.:
Geologische Landesanstalt, vom 20.10.1948.
DO 1 / 26.0, 17602, Hauptamt Verwaltung, Personalabteilung, Vierteljährliche Berichterstattung, an MdI,
Abteilung Statistik, vom 03.07.1950, S. 3.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
199
fachlichen Qualitäten der NS-Belasteten. Gleichzeitig signalisieren sie weiterhin bestehende
politische Vorbehalte, die ihnen nicht zuletzt auch die Posten mit dem größten Ausmaß an
Kontroll- und Entscheidungsgewalt im Staatsapparat vorerst verwehrten. Eine
Disproportionalität der Elitenrekrutierung, wonach mit zunehmender Positionshöhe
kaderpolitisch günstige Merkmale häufiger auftreten, kam also bei ehemaligen
Nationalsozialisten nur partiell zum Tragen.935 Je nach Posten (und Ressort) stachen mal die
fachlichen Aspekte stärker hervor und mal die politischen. Inwiefern allgemein die geforderte
politische Zuverlässigkeit der Dienststellenleiter zu Lasten ihrer fachlichen Qualitäten ging,
sei hier dahingestellt.
Vergleichen wir die Positionshöhen der Angehörigen des NS-Samples mit denjenigen
der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in der DDR-Regierung 1950-1956, so setzte sich die
skizzierte Verteilung mehr oder weniger fort. Allerdings gab es im Binnenverhältnis einige
erhebliche Verschiebungen: Innerhalb der Gruppe der früheren Pgs. waren 1950 nur drei
Prozent mit leitenden Funktionen betraut (Hauptreferenten nicht eingerechnet). Dieser Anteil
stieg auf zuletzt 28%. Demgegenüber fiel der Anteil der mit übrigen Funktionen befassten
ehemaligen NSDAP-Mitglieder gleichzeitig von 48 auf 13%. Relativ konstant war die Gruppe
der Referenten mit 45-55% an allen beschäftigten Pgs., die der technischen Kräfte mit 4-7%
und die des Fachpersonals mit zumeist etwa 5%.936 Diese Befunde untermauern, dass die
ehemaligen Nationalsozialisten in den DDR-Regierungsdienststellen ganz besonders vom
Ausbau der leitenden und mittleren Funktionen in den fünfziger Jahren profitierten. Dadurch
gewann diese Subgruppe im Regierungspersonal weiter an Professionalisierung und Einfluss.
Ein Vergleich der Binnenstruktur des NS-Samples mit den Positionshöhen, die sämtliche
Mitarbeiter der DDR-Regierungsdienststellen einnahmen,937 scheint anhand der der DWK
zeitlich am nächsten liegenden Werte zu bestätigen, dass die ehemaligen Nationalsozialisten
mit Abstand häufiger leitende und mittlere Funktionen ausübten als ihre politisch unbelasteten
Kollegen. Wesentlich seltener nahmen die „Braunen Kader“ demgegenüber untere
Verwaltungsposten ein. Auch im technischen Personal waren sie unterrepräsentiert.
Andererseits waren die ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in solchen Stellen, die
man Anfang der fünfziger Jahre wohl zum Fachpersonal gerechnet hätte, scheinbar wieder
stärker vertreten als die NS-unbelasteten Angestellten.
Ändern wir jetzt die Bezugsgruppe und betrachten statt der Binnenstruktur des NSSamples den Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder an den jeweiligen Hierarchie-Ebenen des
DDR-Regierungsapparates 1950-1957. Dies schenkt weiteren Aufschluss darüber, mit
welchen Aufgaben sich die Pgs. im Vergleich zu ihren Kollegen beschäftigten. Die Präsenz
früherer NSDAP-Angehöriger auf der Leitungsebene entsprach dabei im öffentlichen Dienst
der SBZ ziemlich genau derjenigen im DDR-Regierungsapparat des Jahres 1950.938 Danach
waren zunächst nur 3% aller Leitungskader, von denen einige namentlich identifiziert werden
konnten, einst in der NSDAP.939 Der Anteil stieg dann jedoch in bemerkenswerter Weise auf
935
936
937
938
939
Vgl. Best, Strategien, S. 243; Hübner, Einleitung, S. 21.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 f. (Abb. 46), 335.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 132 (Abb. 5 und 6), 335.
Ein Diagramm siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 ff. (Abb. 47). Zum öffentlichen Dienst der SBZ
siehe in diesem Zusammenhang: ebd., S. 336.
Eine Auflistung von 19 Leitungskadern in den DDR-Regierungsdienststellen, die in der NSDAP und / oder
SA organisiert waren, siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 336; Kurzbiografien zu Leitungskadern im
NS-Sample siehe: ebd., Anhang 1; Joseph, Nazis, S. 18 f.; zu NS-belasteten Nomenklaturkadern siehe
ferner: DO 1 / 26.0, 17320, 88/53/1/1; BStU, AIM 701/70; BStU, AOP 159/61; siehe ferner ehemalige
NSDAP-Mitglieder in niedrigeren Positionen in der DDR-Regierung oder in untergeordneten
Verwaltungsstellen, in: DY 30 / IV, 2/11/171, Bl. 321-325; DY 30 / IV, 2/11/172, Bl. 199-203; DY 30 / IV,
2/11/175, Bl. 276-284, 621-627; DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 330-333; siehe insbesondere einen Pg. und
Verwandten von Paul Merker, der Direktor in der DHZ Zellstoff und Papier war, in: DY 30 / IV, 2/11/175,
Bl. 396-399.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
200
bis zu 10%.940 Bemerkenswert deshalb, weil der Anteil der Pgs. auf den anderen Ebenen
ansonsten eher abnahm. Und das bei einer bis Ende der fünfziger Jahre insgesamt stark
steigenden Anzahl von Leitungsposten, die vergeben wurden. Dieser Zuwachs scheint mir vor
allem ein Beleg für das wachsende Vertrauen zu sein, das die Kaderverantwortlichen den
betreffenden Ex-Nationalsozialisten entgegenbrachten. Sie übergaben ihnen mehr und mehr
Kompetenzen, weil sie sich über einen immer längeren Zeitraum bewährt und in den Augen
der Machtelite stetig an ihrer Resozialisierung gearbeitet hatten. Dieser Einflussgewinn
entsprach ihrem fachlichen Können, so dass die betreffenden Positionen ein wenig mehr mit
Leuten besetzt waren, die das nötige Wissen für diese Funktionen mitbrachten, die ihnen bis
dato vorenthalten waren. So half der vermehrte Rückgriff auf frühere Pgs., die besonders
eklatante Personalnot bei den Leitungskadern im Laufe der Zeit einigermaßen in den Griff zu
bekommen. Diese NS-Belasteten verbanden Fachwissen mit Führungsqualitäten.941
In abgeschwächter Form galt dies auch für die mittleren Funktionen. Sie wurden zwar
im gleichen Zeitraum nur relativ konstant zu circa 8% von ehemaligen NSDAP-Angehörigen
besetzt, allerdings bei einer in absoluten Zahlen gerechneten Vervierfachung der insgesamt
besetzten Referentenposten. Die übrigen Funktionen zeigen einen leichten Rückgang von 4
auf 2%. Soweit die Quellen eine Aufschlüsselung beinhalten, waren knapp die Hälfte der
unter „übrige Funktionen“ zusammengefassten Regierungsangestellten Sekretärinnen und
Stenotypistinnen. In diesem Teilsegment lag die Pg.-Quote deutlich niedriger als bei den
höher rangierenden Sachbearbeitern. Deshalb täuschen die niedrigen Werte für die „übrigen
Funktionen“ etwas über den tatsächlichen Einfluss hinweg. Den geringsten Anteil ehemaliger
NSDAP-Mitglieder zeigten die technischen Kräfte mit 1-2%. Dieser Wert ist allerdings –
ebenso wie der bei den übrigen Funktionen – vor alles in allem absolut steigenden
Mitarbeiterzahlen in diesen Personalsegmenten zu sehen. Insgesamt zeigt sich erneut, dass
tendenziell umso mehr Pgs. im Staatsapparat vorhanden waren, je anspruchsvoller die
Position fachlich war. Dafür spricht auch der 4-7%ige Anteil ehemaliger Pgs. in der kleinen
Gruppe des Fachpersonals.942
Den Blick auf andere Verwaltungsebenen gerichtet, kann man feststellen, dass sich die
beschriebenen Prinzipien auf die kommunalen Funktionsträger weitgehend übertragen
lassen.943 Auch hier lässt sich sagen, dass die bedeutendsten Positionen vergleichsweise „Pg.rein“ waren. Offenkundig gab es genug unbelastete Kader bzw. für die kommunalen
Spitzenposten wurde die Auslese unmittelbar zu Beginn der fünfziger Jahre deutlich strenger
940
941
942
943
Vgl. den „Globke-Effekt“: 1950-53 waren 60% der Abteilungsleiter im Bonner Ministerialapparat
ehemalige Pgs. 80% der Referatsleiter hatten entsprechende Kommandohöhen bereits vor 1945
eingenommen. Es fanden heftige politische Auseinandersetzungen um den öffentlichen Dienst statt. Eine
Artikelserie der Frankfurter Rundschau, die eventuell eine US-Dienststelle initiierte, erhob Vorwürfe gegen
diesen Zustand. Diese Informationen entstammen einem Vortrag von Curt Garner mit dem Titel „Zur
Sozialgeschichte des öffentlichen Dienstes in den 1950er Jahren: Sozialstruktur, geschlechtsspezifische
Zusammensetzung und die Rolle ehemaliger NSDAP-Mitglieder“, gehalten am 21.01.1997 im
Forschungskolloquium an der Universität Göttingen unter der Leitung von Bernd Weisbrod.
Zimmermann, Überlegungen, S. 324.
Zur statistischen Auswertung der Pg.-Zahlen im Fachpersonal siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333
(Abb. 47), 337 f. Zu Positionshöhen ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der DDR-Regierung siehe ferner:
DO 1 / 26.0, 17313, 65/53/3/1, Personalstatistiken zum DDR-Regierungspersonal 4. Quartal 1952 bis 3.
Quartal 1953; DO 1 / 26.0, 17334, 83/52/8/1; DO 1 / 26.0, 17463, I/55, 7/55/5/4; DO 1 / 26.0, 17099,
XL/49/3/3; DO 1 / 26.0, 17105, CLX/50, CLXI/50; DO 1 / 26.0, 17476, II/54 (29/54/5/1); siehe darüber
hinaus die Jahresberichte der Regierungsdienststellen an das MdI für 1952 und 1953 in: DO 1 / 26.0,
17563.
In diesem Zusammenhang ist auf Alexander Mallickh hinzuweisen (NSDAP, 1950-1952 persönlicher
Referent des Ministers für Leichtindustrie Feldmann, seit 1958 Mitglied im NDP-Hauptausschuss, in den
sechziger Jahren stellvertretender Oberbürgermeister von Ost-Berlin), siehe: BDC; BStU, MfS, HA IX/11,
SV 3/82, Bd. 24, Bl. 59 f.; BStU, MfS AP 12076/92, Bl. 1-33; ZB II 3915, S. 61 f.; Nationalsozialisten
(1965), S. 64; Kappelt, Braunbuch, S. 292; Kappelt, Entnazifizierung, S. 111; Baumgartner / Hebig,
Handbuch, S. 508.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
201
gehandhabt als bei weniger wichtigen Lokalfunktionen. Die Entwicklung bei der Masse der
übrigen Funktionsträger belegt nämlich, dass sich 1950 bis Anfang 1951 beinahe so etwas wie
ein „Pg.-Boom“ mit hohen Steigerungsraten innerhalb kürzester Zeit ereignete. Das könnte
eine leicht verzögerte Folge des SMAD-Befehls 201 und des Gleichstellungsgesetzes von
1949 gewesen sein, die ja früheren NSDAP-Mitgliedern das passive Wahlrecht verliehen.944
Hinsichtlich der nachgeordneten Dienststellen945 und der Wirtschaft946 scheint sich das
Muster, dass sich ehemalige NSDAP-Mitglieder am stärksten auf der unteren Leitungsebene
und in den mittleren Funktionen fanden, vorbehaltlich weiterer Einzelfalluntersuchungen
ebenfalls zu bestätigen. Hierin kamen deren fachliche Qualitäten zum Ausdruck. Während
wegen der geringeren machtpolitischen Bedeutung allgemein eine stärkere Beschäftigung NSBelasteter in Produktionsbetrieben und weniger wichtigen Verwaltungsorganen zu
verzeichnen war, blieben frühere Pgs. bei den obersten Führungspositionen weiterhin fast
völlig ausgespart. Darüber hinaus griff man augenscheinlich auch dort bei Aufgaben, für die
keine höherqualifizierten Kräfte benötigt wurden, häufiger auf politisch unbelastete Personen
zurück, da sie annähernd vergleichbare Bildungs- und Berufserfahrungen mitbrachten.
Wie bereits geschildert nahm eine ganze Reihe von NS-Belasteten allein aufgrund ihrer
Positionshöhe in der zentralen Staatsverwaltung Leitungsaufgaben wahr. In der DDRRegierung unterstanden sie der Nomenklatur des Ministeriums des Innern, das solche
Beschäftigungsverhältnisse zu prüfen und zu billigen hatte.947 So manchen erkannten die
Behörden auch von der Reputation und Autorität her eine absolut tragende Rolle zu. Über den
ehemaligen Pg. Hans Forsbach hieß es, er sei „eine gewisse Zeit die rechte Hand des II.
Vorsitzenden der DWK“ Selbmann gewesen.948 Ein in der Forstverwaltung Beschäftigter,
dem die Entlassung drohte, kommentierte den Stellenwert des früheren NSDAP-Mitglieds
Ferdinand Beer in der Forstverwaltung wie folgt: »Ich ging in meiner Not zu Beer weil er für
uns der massgeblichste Mann der DDR war, und überhaupt in allen Dingen ausschlaggebent
war. [...] Weil Beer für uns der massgebenlichste Mann war, haben ich allen seine
Anweisungen die er traf, für richtig gehalten.«949 Auch das Ministerium brachte dem
Forstexperten derart großes Vertrauen entgegen, dass es dessen Meinung nicht sonderlich
hinterfragte, sondern ihr Vertrauen schenkte und dann auch formal die Verantwortung
übernahm.950
Es kam darüber hinaus vor, dass gegen eine Verwendung von Pgs. an leitender Stelle
zwar grundsätzlich keine Bedenken bestanden.951 Ein entsprechendes Amt wurde dann aber
doch nicht überantwortet. Auf der anderen Seite gab es in der DWK ehemalige
944
945
946
947
948
949
950
951
Genaue Zahlen und Erläuterungen zu örtlichen Funktionsträgern sowie Quellenangaben siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 333 ff. (Abb. 48 und 49), 338 f.
Beispiele (ADN-Filialen, Defa, Radiosender; Hochschulen) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 339;
Jessen, Professoren, S. 226, 241; vgl. die Verwendung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere und Generäle in
Führungspositionen der KVP, in: Wenzke, General, S. 172, 174.
In der Wirtschaft waren Pgs. in Leitungspositionen zumindest in einigen Bereichen generell wesentlich
öfter vertreten als in der Verwaltung. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 339; Danyel, Macht,
S. 81; Schulz, Elitenwechsel, S. 217 f.; Schulz, Elitenwandel, S. 117-121.
Zu Beginn der fünfziger Jahre unterlagen auch Hauptreferenten wie Werner P. (Ministerium für Industrie,
HA Energie, Abteilung Allgemeine Verwaltung) und Hans Mat. (Ministerium für Industrie, HA Kohle,
technische Abteilung, zudem wissenschaftlicher Mitarbeiter) als leitende Angestellte der Nomenklatur des
MdI, Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 340; zur Struktur und Funktionsweise der
Nomenklatur siehe: Wagner, Gerüst; ders., Kadernomenklatursystem; vgl. Kurtán, Erkundungen, S. 216 ff.
DC 1 / 2601, [Landesregierung Brandenburg,] Vermerk, vom 16.02.1949; vgl. DC 15 / 322, DWK,
Sekretariat, 10. Sitzung, 5.5.1948, S. 2.
BStU, AU 5 / 52, Band 4, Bl. 15 f., [Staatssicherheitsdienst Sachsen-Anhalt,] Verhörprotokoll, vom
30.05.1951.
Ein Beispiel zum Einfluss Beers (Verordnung zur Hektarbegrenzung bei Kahlschlägen, gegen die er
verstieß und deshalb 1951 verhaftet wurde, siehe Kapitel „Agenten und Saboteure“) siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 340.
Siehe die Entnazifizierung von Werner M., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
202
Nationalsozialisten, die verantwortungsreichere Arbeiten erledigten, obwohl sie kein
adäquates Amt ausfüllten.952 Partiell war die Übernahme entsprechender Funktionen zwar
gegeben, aber nur kommissarischer und vorübergehender Natur.953 Das konnte manchmal an
nicht zur Verfügung stehenden Planstellen liegen oder an dem Bemühen, den Richtlinien zur
Nichtbeschäftigung ehemaliger Pgs. in Leitungspositionen weiterhin eine wie auch immer
geartete Beachtung zu schenken. Ressentiments mögen ebenfalls zu „gewissen
Verzögerungen“ bei der Bestätigung bestimmter Ernennungen geführt haben.954 Allgemein
waren emotionale Vorbehalte und politisch begründetes Misstrauen kaum zu leugnen. Dabei
ist nur selten überliefert, dass sich die ehemaligen NSDAP-Mitglieder über solche
Zurückstellungen offiziell beklagten.955 Manchmal stellten sich Kaderverantwortliche dabei
auf den Standpunkt, die betreffenden Ex-Nationalsozialisten sollten erst noch eine
gesellschaftliche Schulung durchlaufen, bevor sie etwa als Abteilungsleiter bestätigt werden
konnten.956 In anderen Fällen negierten sie – ausdrücklich aufgrund der persönlichen
politischen oder auch militärischen Vergangenheit – zumindest zeitweilig die Möglichkeit
einer leitenden oder politisch bedeutsameren Tätigkeit. Der Arbeitseinsatz solcher Kader sei
in der DWK dann angeblich so erfolgt, dass sie kaum irgendeinen Schaden anrichten
konnten.957 Sie wurden durch politisch zuverlässige Kräfte beobachtet und angeleitet. Man
steckte sie auch in niedrigere Ämter, die dem Fachwissen unangemessen waren. Ihr
Aktionsradius wurde aus Gründen der Sicherheit auf diese Weise stark eingegrenzt. Mal
gingen solche Maßnahmen auf Einschränkungen zurück, die im Rahmen der Entnazifizierung
verhängt wurden, mal aufgrund interner Entscheidungen ohne direkte Rechtsgrundlage.958 Im
Gegensatz zu einem Entzug bestimmter zu bearbeitender Aufgaben ist eine positionelle
Zurückstufung auf der Rangleiter, also quasi eine „Degradierung“ innerhalb des zentralen
Staatsapparates, nicht überliefert. Stattdessen kamen nach besonderen Vorkommnissen,
derentwegen sich beispielsweise die Befürchtung einer Agenten- oder Sabotagetätigkeit nicht
gänzlich aus dem Weg räumen ließ, Versetzungen in andere Verwaltungsorgane und Betriebe
samt Rückschritt in der Personalhierarchie vor.959
Es sei aber betont, dass neben solchen Sanktionen und Hinhaltungen andere ehemalige
Nationalsozialisten gute bis sehr gute Aufstiegsperspektiven besaßen.960 Sie bekamen
Aufgaben anvertraut, die die Behörden selbst als bedeutend und wichtig einstuften.961
Vereinzelt wurden sie schon sehr frühzeitig, nämlich in den Deutschen Zentralverwaltungen,
zu vertraulichen Beratungen hinzugezogen, einschließlich solcher mit Angehörigen der
SMAD, die auch politische Strategien und selten sogar skurrilerweise die Entnazifizierung
beinhalteten. Dies sind Zeichen recht großen Vertrauens, das die Betreffenden genossen. Sie
wurden in exklusive Informationen eingeweiht und übten Umgang mit vertraulicher
Materie.962 Dazu zählten auch Elemente der Planung, anleitende und kontrollierende Arbeiten.
Trotz aller strukturellen Überwachungsvorkehrungen zeichneten sie sich in ihrer Arbeit durch
ein höheres Maß an Eigenständigkeit aus.963
In der DWK nahmen also ehemalige Nationalsozialisten vor allem Positionen im
unteren Leitungssegment, auf der mittleren Ebene der Referenten und in der oberen
952
953
954
955
956
957
958
959
960
961
962
963
Beispiele (Werner Stübner, Ernst W.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341.
Siehe Bernd Veen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341.
Siehe die zurückgestellte Beförderung von Gerhard F. in der DWK, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341.
Es beklagten sich Franz Woytt und Erwin Melms, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 341 f.
So das Ministerium des Innern im September 1950 über Martin Bierbass, der seiner Nomenklatur
unterstand. Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342.
So geschehen bei Egon Wagenknecht, siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342.
Ein Beispiel (Kurt V.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342.
Siehe den Fall Hans W., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342.
Beispiele (Otto Schä., Franz H.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 342 f.
Siehe Aufgabenbereiche von Heinz Fengler, Wilhelm W., Kurt D., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 343.
Beispiele (Ernst Kaemmel, Hans W., Martin Br., Hans Naake) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 343.
Siehe Wilhelm Salzer, Johannes P., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 343 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
203
Unterschicht der Verwaltungsangestellten ein. In den obersten Führungsposten fehlten sie
wegen politischer Vorbehalte und bei den technischen Kräften aufgrund ausreichend
vorhandener unbelasteter Alternativkader. Im Laufe der fünfziger Jahre besetzten ehemalige
NSDAP-Mitglieder angesichts wachsenden Vertrauens und größerer Effizienzbemühungen
jedoch mehr und mehr verantwortliche Positionen. Die Aussage, dass „hohe und höchste
Ämter“ in der DDR nicht mit politisch belasteten Personen besetzt gewesen seien, stimmt also
nicht.964 Der sogenannte „doppelte Rangeffekt“, wonach die Machtelite umso strengere
Ansprüche an die Zuverlässigkeit des Personals stellt, je höher die Position und die
Verwaltungsebene ist, galt offenbar nur bedingt.965 Denn auch in weniger wichtigen Organen
existierte das skizzierte Muster, wenngleich bei einer insgesamt etwas toleranter
gehandhabten Kaderpolitik und daraus resultierenden höheren Pg.-Raten.
2.2
Politische Eigenschaften und
Entwicklungen unter den Bedingungen
kommunistischer Kaderpolitik
Der Verlauf ihrer politischen Orientierung war von essenzieller Bedeutung für die
Wiedereingliederung
ehemaliger
Nationalsozialisten
in
der
SBZ/DDR.
Die
Personalverantwortlichen interessierten bereits Zugehörigkeiten zu Parteien und sonstigen
Verbünden im Kaiserreich und in der Weimarer Republik.966 Für das „Dritte Reich“ galt dies
umso mehr. Beitrittsmotive und das Ausmaß des Engagements standen im Mittelpunkt.967
Neben politischen Gruppierungen im engeren Sinne war auch das Verhalten im Privatleben,
im Beruf und beim Militär968 betroffen. Hinzu kamen mögliche Anzeichen der Abkehr und
Opposition. In den Augen der Kommunisten war der Wandel weg vom Faschismus und hin
zum Sozialismus durch erkenntnisverhelfende Schulungen zu fördern. Neben Kursen in
sowjetischer Kriegsgefangenschaft spielten partei- und behördeninterne Fortbildungen eine
wichtige Rolle. Über den Eintritt in die neuen Parteien und Massenorganisationen sollte dann
eine Aktivität aus Überzeugung entfaltet werden. Zu bekämpfen waren hingegen bürgerlich,
kapitalistisch und faschistoid geprägte sowie mit dem Westen in Verbindung stehende
Personen, die möglicherweise als beauftragte Agenten und Saboteure im Sinne des
Klassenfeindes den Aufbau des Sozialismus stören sollten. Die folgenden Kapitel geben einen
Eindruck davon, inwiefern die genannten Punkte ausgefüllt wurden.
Dabei ist vorab an die jeweiligen Umstände der Vergangenheitsdarstellungen und
Bekenntnisbeschreibungen zu erinnern. Fast alle vorgefundenen Schriftstücke rühren von
Behörden und Parteistellen her oder sind an diese gerichtet. Der Zeitpunkt ihrer Erstellung
liegt nur in geringer Zahl vor 1945. Die allermeisten stammen aus der Säuberungs- und
Bewährungssituation der SBZ und frühen fünfziger Jahre. Um sich in ein gutes Licht zu
rücken, unterschlugen viele ehemalige NSDAP-Mitglieder belastende Biografieanteile oder
964
965
966
967
968
Joseph, Nazis, S. 64, 112.
Derlien, Elitezirkulation, S. 13, 15.
Siehe hierzu: Kuhlemann, Kader (2005), S. 348 ff.
Zu den Umständen des Eintritts in die NSDAP, SA und SS siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 421 ff.; zu
geschilderten Erfahrungen im Nationalsozialismus und zum politischen Engagement in NS-Organisationen,
zum Mitgliedsstatus und zur Zugehörigkeitsdauer siehe: ebd., S. 477 ff., 590 ff.
Siehe zum Thema Militärdienst das gleichnamige Kapitel in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 622 ff.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
204
relativierten sie, egal ob es der Wahrheit entsprach oder nicht. Selbst nachdem man sich
zunächst als Pg. zu erkennen gegeben hatte, erwähnten einige NS-Belastete ihre alte
Parteizugehörigkeit in weiteren Lebensläufen und Personalfragebögen nur mit äußerst
knappen Worten oder gar nicht mehr. Es scheint, als wenn sie diesen Part durch Ignorierung
so schnell wie möglich hinter sich lassen wollten.969 Die SED gab sich damit natürlich nicht
zufrieden, wenn sie das Bedürfnis verspürte, die NS-Belastung genauestens zu durchleuchten.
Politisch hilfreiche Gesichtspunkte wurden dagegen erfunden oder überbetont und erhielten in
den Schilderungen der ehemaligen NSDAP-Mitglieder breiten Raum eingeräumt.
Dieser Umgang mit Schuld ist bezeichnend. Wegen drohender Nachteile wurden
praktisch nur solche Bilder der Vergangenheit geschildert, die dem vorgegebenen Kodex der
neuen Machthaber entsprachen und nicht politisch tabu blieben.970 Der Rest war Schweigen.
Deshalb ist es damals wie heute manchmal sehr schwierig, wenn nicht sogar unlösbar,
aufzuzeigen, worin eigentlich genau eine NS-Belastung bestand und wie mit ihr angemessen
zu verfahren war.971 Es gab eben unterschiedliche Erfahrungen und Verarbeitungskonzepte
der Opfer, der Machthabenden sowie der ehemaligen Mitglieder und Stützen der NSDAP.
Darüber hinaus unterblieb in der Praxis eine differenzierte und der Wahrheit nahekommende
Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart häufig selbst dort, wo es Versuche in diese
Richtung gab.972 Oft reduzierten standardisierte Denk- und Ausdrucksmuster die Komplexität
solcher Fragen. Perspektiven und Erinnerungen wurden dabei zunehmend bestimmt durch das
Verhalten nach 1945, wenngleich eine NS-Belastung auch seit dem offiziellen Ende der
Entnazifizierung und trotz rechtlicher Gleichstellung faktisch immer noch von Gewicht
war.973
Die schriftlichen Quellen geben meistens auch nur indirekt Auskunft über mentale
Neigungen. Thesen, wonach ehemalige NSDAP-Mitglieder in der SED (und im
Staatsapparat) sowohl für die Disziplinierung der Basis als auch für die strikte Befolgung der
Anweisungen der Zentrale besonders gut geeignet waren, weil sich das Führerprinzip kaum
vom „demokratischen Zentralismus“ unterschieden habe und die Pgs. ein beachtliches und
erpressbares Rekrutierungspotenzial der Kommunisten gewesen seien, betrachte ich deshalb
mit einer gewissen Skepsis.974 Dergleichen hat sicherlich eine Rolle gespielt. Doch die in
969
970
971
972
973
974
Beispiele (Hans Forsbach, Heinz Fengler, Martin Bierbass, Wilhelm R., Helmut A.) siehe: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 345 f.
So auch Christoph Boyer in dem Workshop „Wertorientierungen und Lebensstile des Führungspersonals in
Politik, Kultur und Wirtschaft der SBZ/DDR“ am 13.06.1997 im Zentrum für Zeithistorische Forschung
Potsdam; Merkel, Leitbilder, S. 378; Lübbe, Nationalsozialismus, S. 584; Danyel, Macht, S. 71; Kocka,
Gesellschaft, S. 550; Niethammer, Erfahrungen, S. 106 f.; vgl. Lejeune, Pakt, S. 220, 250; Frei, Karrieren,
S. 10 f., 306 f., 309; Plato, Entnazifizierung, S. 8.
Danyel, Macht, S. 75 f.; Danyel, SED, S. 196; vgl. Vollnhals, Entnazifizierung, S. 20; Niethammer,
Entnazifizierung, S. 76.
Jaspers, Schuldfrage, S. 67 f., 70 f.; Weizsäcker, Mai, S. 17; Schütrumpf, Stalinismus, S. 78; Materialien,
Bd. III/1, S. 154; Meinecke, Katastrophe, S. 153 ff.; vgl. Niethammer, Entnazifizierung, S. 88 f., 269 f.,
277, 288, 300 f.; Eschebach, Elemente, S. 207 f.
Leide, Vergangenheit, S. 515; Boyer, Kader, S. 53; vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 14-16, 400 f., 404;
Frei, Karrieren, S. 10.
Die These, dass die ehemaligen Pgs. erpressbar waren und autoritäre Charakterzüge trugen, die eine zweite
Diktatur begünstigten, wird oft und gerne erhoben. In der Bonner Republik und selbst nach der
Wiedervereinigung im Rahmen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von
Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ zog man wegen des Vorkommens von „Nazi-Größen in der
DDR“ den Schluss, es habe „in der SBZ/DDR Kontinuitäten nationalsozialistischen Denkens gegeben“.
Nach Lutz Niethammer beruhte die moralische Unterstellung der HJ-Generation unter die alten Genossen
„auf dem in der HJ und im Militär ausgebildeten exekutiven Verhaltenstyp“. Berufsfunktionäre aus der
FDJ-Generation „verzichteten auf eine eigene politische Willensbildung und perfektionierten den Apparat
auf allen Ebenen“. Heutige Medien führen neonazistische Erscheinungen in der NVA pauschal unter
anderem darauf zurück, dass die Armee der DDR von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren aufgebaut wurde.
Dabei wird eine Kontinuität und Weiterreichung faschistoiden Geistes impliziert. Das MfS sammelte
personenbezogene Informationen zur NS-Zeit und nutzte sie innerhalb des eigenen Machtbereichs unter
Jens Kuhlemann – Braune Kader
205
diesem Punkt verbreitete Pauschalität erscheint mir zu undifferenziert. Einerseits haben sich
aber auch andere Deutsche, die nicht parteipolitisch organisiert waren, mental sehr gut in die
neuen obrigkeitsstaatlichen Strukturen eingepasst. Andererseits gab es in der Massenpartei
NSDAP zahlreiche im Grunde unpolitische Menschen, die sich den Zwängen der NS-Diktatur
beugten und ein politisches Bekenntnis ablegten, um daraus für die eigene Lebensgestaltung
Nutzen zu ziehen, die sich aber auch in einer freiheitlichen Demokratie zurechtgefunden
hätten (und haben) und nicht orthodox antidemokratisch waren. Es gab zwar Eigenschaften
wie unbedingte Treue und Gehorsam, Begeisterungsfähigkeit und Selbstpreisgabe, die in der
SED genauso gefragt waren wie in der NSDAP.975 Insofern blieb in der SBZ/DDR eine
Auseinandersetzung mit dem Verhalten im NS-Regime aus.976 Doch alles, was spezifisch der
NS-Ideologie zuzurechnen war wie der Rassenhass, fand praktisch keinen Raum mehr, sich
zu artikulieren, selbst wenn davon in den Köpfen noch etwas übrig gewesen sein sollte. Der
Wiedereingliederung der ehemaligen Pgs. folgte daher keine Wiedereingliederung des
nationalsozialistischen Gedankengutes.
2.2.1
NS-Belastungen verheimlichen, verdrehen,
verringern: Biografiemanipulation
Die Verheimlichung oder entstellte Wiedergabe von politisch belastenden Biografieanteilen
in der Nachkriegszeit war ein Massenphänomen.977 Begünstigt wurde es durch die
Entnazifizierung, die eine Solidarisierung der besiegten Deutschen untereinander förderte,
Unterschiede zwischen „echten“ Nationalsozialisten und „Mitläufern“ unkenntlich machte
und letztlich eine „Verschweigensgemeinschaft“ schuf. Alexander von Plato schrieb hierüber,
dass »die meisten logen, was die Vergangenheit anbelangte – auch dann, wenn man spürte,
daß der Nationalsozialismus gescheitert und zu recht niedergerungen war. Jeder wußte, daß
sich alte Nazis ihre Biographien für die neuen Zeiten zurechtbogen, ihre Zeugen für die neuen
Bedingungen fanden oder sogar Menschen vorführen konnten, die sie im Nationalsozialismus
geschützt hätten. [...] Oder man wollte aus Trotz nicht „so schnell“ seine „Wandlung vom
Saulus zum Paulus“ offenbaren.« Solche Muster haben erfahrungsgeschichtliche Arbeiten in
Ost und West ergeben.978 Dabei war eine Wiedereingliederung definitiv um so besser zu
bewerkstelligen, je schneller der eigene Wandel vonstatten ging. Seine Existenz oder sein
Tempo und Umfang wurden daher von vielen vorgetäuscht.
Lebenslauffälschungen stellten unmittelbar ab 1945 ein großes Problem für die
Personalarbeit im Regierungsapparat dar.979 Über den gesamten Untersuchungszeitraum
975
976
977
978
979
anderem, um Biografiefälscher zu überführen und zu bestrafen. Direkte Hinweise auf Erpressungen zwecks
Zusammenarbeit mit dem MfS waren im Rahmen dieser Arbeit nicht zu finden, obwohl durchaus denkbar
ist, dass der „Wiedergutmachungsdruck“ so hoch war, dass manche NS-Belastete sich auch dem
Staatssicherheitsdienst zur Verfügung stellten, siehe: Baum, Karl-Heinz: Neonazis standen in NVA
stramm. In: Frankfurter Rundschau, vom 25.09.1998, S. 7; Skiba, Beitrag; Kowalczuk, Stalin, S. 183, 186,
240; Gieseke, Frage, S. 129 f., 147 f.; Niethammer, Erfahrungen, S. 108; vgl. die Bundeswehr: Bei einem
überproportional großen Anteil der Soldaten soll sich der Geist der alten Eliten in Form konservativer und
nationalistischer Denkweisen fortgesetzt haben, in: Scholten, Offiziere, S. 161.
Kowalczuk, Stalin, S. 184.
Vgl. Kowalczuk, Stalin, S. 228, 236 ff., 240.
Sebastian Simsch läuft Gefahr, das Ausmaß der Fragebogenfälschung zu unterschätzen, wenn er andeutet,
dass die drastischen Konsequenzen bei Entdeckung einer verschwiegenen NS-Organisationszugehörigkeit
Biografiemanipulationen weitgehend verhindert hätten, siehe: Simsch, Grenzen, S. 247 f.
Plato, Entnazifizierung, S. 11, 23.
Beispiele finden sich bereits in den Deutschen Zentralverwaltungen, siehe: DO 1/7/210, Bl. 36-40.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
206
hinweg deckten die Kaderverantwortlichen Fälschungen oder Halbwahrheiten in
Personalunterlagen auf. Dies betraf grundsätzlich sämtliche Kadermerkmale: Die günstigen
wurden dabei unverhältnismäßig hervorgehoben oder erfunden, die schlechten verharmlost,
relativiert oder ganz verschwiegen. Die Menschen waren im Großen und Ganzen recht bald
darüber im Bilde, worin diese bestanden. Und sie wussten durchaus, zwischen den offiziellen
Verlautbarungen und der Realität zu unterscheiden. So befanden sich unter den
Fragebogenfälschern beispielsweise auch sehr junge Mitarbeiter, denen selbst die
Jugendamnestie keine Gewähr für eine tatsächliche Gleichberechtigung darzustellen schien.
Hinzu kam die Entnazifizierung und die allgemeine Ächtung und Bestrafung der Anhänger
des Hitler-Regimes, wodurch unauthentische Lebenslaufdarstellungen hinsichtlich der NSVergangenheit ganz besonders häufig Anwendung fanden. Da die Personalleiter in solchen
Fällen nicht wussten, wen sie vor sich hatten, darf die Anzahl der Manipulatoren und die
Schwere ihrer Vergehen zur Beantwortung der Frage, wer integrierbar war und wer nicht,
keine Beachtung finden. Dies ist lediglich bei der Behandlung von entlarvten Angestellten
von Interesse. Denn dann schlug die entdeckte Belastung zusammen mit dem Vergehen der
Verbergung im persönlichen Kaderkonto zu Buche. Im Gegensatz zur Bundesrepublik hat es
eine
gesetzliche
Amnestie
für
Fragebogenfälscher
in der
SBZ/DDR im
980
Untersuchungszeitraum nicht gegeben.
Die Beweggründe, eine Fälschung zu begehen, liegen auf der Hand. Die Betreffenden
hatten die Hoffnung, den Sanktionen zu entgehen und frei von der Last der Vergangenheit
einen Neuanfang als gleichberechtigte Bürger in Angriff zu nehmen. Sie versprachen sich
bessere Einstellungschancen und dadurch auch materielle Vorteile. Wer demgegenüber
wahrheitsgemäße Angaben zur politischen Belastung machte, dem wurde diese Ehrlichkeit oft
als Dummheit ausgelegt. Denn damit war eine Aussichtslosigkeit verbunden, in den alten
Beruf zurückzukehren. Finanzielle Not folgte.981 Hinzu kam der Verlust des sozialen
Ansehens. Auch nach offizieller Beendigung der Entnazifizierung war das Klima für die
verfemten Pgs. nicht automatisch ein besseres. Misstrauen und Distanz gegenüber den großen
und kleinen Stützen Hitlers saßen bei vielen der neuen Machthaber tief. Das Bekanntwerden
einer früheren NSDAP-Mitgliedschaft ließ bei so manchen alten Kommunisten und Opfern
des NS-Regimes meist unterschwellige Aversionen hochkommen.
Keiner der ehemaligen NSDAP-Angehörigen war vor diesem Hintergrund darauf
erpicht, trotz gesetzlicher Gleichberechtigung noch Jahre nach dem Zusammenbruch der
Hitler-Diktatur Rechtfertigungen über die eigene politische Verstrickung abgeben zu müssen.
Es ist auch nicht bekannt, dass sich ein Pg., der seine politische Belastung zur Zeit der
Entnazifizierung vertuschte, später durch die rechtliche Gleichstellung aber eigentlich keinen
Grund mehr hatte, dies zu tun, im Nachhinein freiwillig offenbarte. Die drohende Bestrafung
für ihre einmal begangene Lüge haftete diesen Menschen durchaus im Bewusstsein. Sie
wollten endlich ein ganz normales Leben führen, frei von fragenden und kritischen Blicken.
Die Pgs. mochten keine Sondergruppe mehr sein, der eine besondere Schuld zugeschrieben
wurde, sondern in der großen Masse der in Ruhe Gelassenen aufgehen. Diese Sehnsucht nach
einem Neuanfang trieb viele von ihnen dazu, ihre Lebensverläufe fälschlicherweise in ein
besseres Licht zu rücken.
Es ist ferner denkbar, dass einige ihre Taten leugneten oder verdrängten, um ihrem
abgelaufenen Lebensabschnitt einen Sinn zu geben. Neben Scham und Angst schoben manche
Fälscher auch vor, bestimmte Verlautbarungen gar nicht oder falsch verstanden zu haben, so
dass sie angeblich glaubten, entsprechende Angaben unterlassen zu dürfen. Oder sie seien
zwar über Meldepflichten im Bilde gewesen, hätten ihre eigene Belastung aber als davon
nicht tangiert eingeschätzt. Diese Motive, Staat und Partei irrezuführen, sind deutlich von
980
981
Zur Straffreiheit in der BRD siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 375.
So jedenfalls die Meinung eines vertriebenen Pgs. und Lehrers, in: National-Zeitung, Beitrag „Der PgLehrer als Neubürger“, vom 05.01.1949.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
207
jenen zu trennen, die die Kaderverantwortlichen in Staat und Partei dazu bewegten,
Biografiemanipulationen „von oben“ vorzunehmen. Letztere betrafen hochrangige
Funktionäre und richteten sich an die Öffentlichkeit. Bei Nachrufen oder sonstigen Angaben
zu solchen Personen in Zeitungen etc. ließ man eine NSDAP-Mitgliedschaft und dergleichen
in der Regel einfach ungenannt.982 Dies geschah, um die Position im innerdeutschen
Systemkampf nicht zu verschlechtern und um keine Zweifel an der eigenen antifaschistischen
Herrschaftslegitimation zu nähren.
In diesem Zusammenhang ist Arthur Werner zu nennen. Werner war vom 17. Mai 1945
bis Dezember 1946 Oberbürgermeister von Berlin, später dann in der DWK beschäftigt.983
Ulbricht und mit Sicherheit auch von Beginn an die Siegermächte wussten, dass der
ehemalige Regierungsbaumeister 1932 in die NSDAP eingetreten war, sie jedoch bereits nach
wenigen Monaten wieder verlassen hatte. Es erscheint delikat, dass der sowjetische
Stadtkommandant Bersarin nach der Befreiung vom Faschismus wissentlich einen Pg. zum
Oberhaupt der Stadt erkor. Doch Werners Ablehnung des Nationalsozialismus, die 1942 zur
Schließung der von ihm eingerichteten technischen Privatschule geführt habe, scheinen dieses
Manko glaubhaft ausgeglichen und Gewähr genug dargestellt zu haben.984 Gleichwohl haben
die wenigen Eingeweihten trotz des genannten Entlastungsaspektes die NSDAPMitgliedschaft im Rahmen der Amtsübertragung nicht publik gemacht.985 Denn erst, als
Werner sich von West-Berliner SED-Delegierten als Parteiloser für die im Dezember 1954
stattfindenden Wahlen als Kandidat nominieren ließ, berichtete der „Tagesspiegel“ im
November des Jahres, dass das Abgeordnetenhaus festgestellt habe, dass „der von den
Sowjets 1945 eingesetzte“ ehemalige Oberbürgermeister Werner „seit dem 1. Januar 1932
Mitglied der NSDAP (Nr. 855778) gewesen“ sei. So geriet das Wissen um Werners frühere
Parteizugehörigkeit zum passenden Zeitpunkt zur Delegitimierungsattacke des Westens auf
einen Unterstützer der SED.986
982
983
984
985
986
So im Fall von Luitpold Steidle. Bei Erscheinen der gleichnamigen Abhandlung in der DDR war dessen
NSDAP-Zugehörigkeit aufgrund westdeutscher Veröffentlichungen spätestens ab 1958 eigentlich bekannt.
In der Biografie bleibt sie aber unerwähnt. Aufgeführt werden hingegen sein Rang als Oberst in der
Wehrmacht, seine Funktion als Regimentskommandeur und die Zugehörigkeit zum BdO / NKFD. Diese
Details wurden zum Beispiel 1949 in Pressemeldungen noch unterschlagen, um keine politisch
unerwünschten Diskussionen über die Vergangenheit von Spitzenkadern aufkommen zu lassen, siehe:
Neues Deutschland, vom 13.10.1949, S. 3; National-Zeitung, vom 13.10.1949; Weißhuhn, Luitpold Steidle;
Siehe auch Abschnitt 3 über „NS-belastete hohe Staatsfunktionäre“. Vgl. die „von oben“ manipulierten
Biografien von Antifaschisten in: Hirschinger, Fälschung.
Werner wurde im Dezember 1948 von der HA Personalfragen und Schulung als „Leiter der Verw. Schule“
den Sekretariaten der DWK zugeordnet und als ehemaliger NSDAP-Angehöriger unter den Mitarbeitern
der Deutschen Wirtschaftskommission erfasst. Nach anderen Angaben war er Leiter der Abt. VI Kontrolle
der Erfassung und Verteilung mit landwirtschaftlichen Gütern bzw. der HA VI Kontrolle der
Versorgungswirtschaft in der HV Handel und Versorgung. Zu den Umständen seiner Beschäftigung siehe:
Heuer, Arthur Werner, S. 160 f.; Kuhlemann, Kader (2005), Anhang 1 (s.v. Werner, Arthur).
Zu den Umständen des Eintritts in die NSDAP und Werners Verhalten im Nationalsozialismus siehe:
Heuer, Arthur Werner, S. 20 f., 26.
Was die Einschätzung dieser Personalie anbelangt, muss ich mit Blick auf die Dissertation eine Korrektur
vornehmen. So habe ich mich damals auf die Angaben im SBZ-Handbuch verlassen. Darin war eine
NSDAP-Mitgliedschaft nicht erwähnt und ich ging deshalb von einer Verheimlichung derselben allein
durch Werner selbst aus, siehe: Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1055 f.; Heuer, Arthur Werner, S. 40
ff., insb. S 42 f.; [Ungenannter Autor:] Dr. Arthur Werner. In: http://www.luiseberlin.de/historie/spitze/zukap5/arthurwerner.htm (Abruf vom 21.12.2009); Kuhlemann, Kader (2005), S.
386 und Anhang 1 (s.v. Werner, Arthur).
Dass Werner kurze Zeit nach dem Eintritt in die NSDAP wieder ausgetreten war, wurde nicht erwähnt,
offenbar um die Belastung schwerer erscheinen zu lassen. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff
„Einsetzung“ zu sehen (Werners Ernennung ging ja nicht auf eine freie Wahl zurück), zumal sie vom
gegenwärtigen politischen Gegner, den „Sowjets“, vorgenommen worden sei, was suggestiv den Verdacht
der Kollaboration nährte. Die Überschrift im „Tagesspiegel“ habe darüber hinaus abfällig „SED-Werner
war Pg“ gelautet; zitiert nach: Heuer, Arthur Werner, S. 168 f.; vgl. die RIAS-Meldung von 1949 über den
damaligen Staatssekretär Alfred Wunderlich in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 945 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
208
Neben diesem Zurückhalten (bzw. gezielten Einsetzen) belastender Informationen „von
oben“ ist bekannt, dass zum Beispiel einzelne Betriebsräte ungerechterweise „Persilscheine“
ausstellten, damit bestimmte Personen wieder in die Betriebe zurückkehren konnten.987 Mit
Blick auf die Angehörigen des NS-Samples ist die Beihilfe einer öffentlichen Dienststelle zur
Biografieverfälschung – mit Ausnahme hoher Staatsfunktionäre und deren
Außenrepräsentation – sehr selten zweifelsfrei belegbar.988
Was genau wurde verborgen? Im Detail umfassten Lebenslaufverfälschungen alle
Punkte, die eine NS-Belastung ausmachten. Dazu zählte unter den Verwaltungskadern die
Totalverheimlichung einer Zugehörigkeit zur NSDAP, SA, SS oder zu anderen NSOrganisationen.989 Die Annahme eines komplett neuen Namens zur Strafvereitelung war in
diesem Zusammenhang allerdings nur sehr selten nachweisbar bzw. wurde so gut wie nie von
den Behörden aufgedeckt und aktenkundig.990 Daneben versuchten etliche Personen, die
zugegebenermaßen der Partei etc. angehörten, ihre politische Belastung zu verkleinern und
ihre NS-Vergangenheit in ein besseres Licht zu rücken. Recht viele datierten ihren
Organisationseintritt auf einen späteren Zeitpunkt, obwohl sie partiell schon vor 1933 zur
NSDAP gestoßen waren.991 Wieder andere behaupteten stock und steif, nur Anwärter der
NSDAP bzw. SA gewesen zu sein. Angeblich bekamen sie keine Mitgliedsnummer und
zahlten nie Beiträge, weshalb es sich um gar keine richtigen Mitglieder gehandelt habe.992
Dabei sollte die Anwartschaft gemäß interner Parteirichtlinien nie länger als ein Vierteljahr
dauern. Oder es sei keine satzungsgemäße Aufnahme erfolgt wegen angeblicher Formfehler
wie der ausbleibenden Aushändigung der roten NSDAP-Mitgliedskarte.993 Einige meinten, sie
seien bereits vor 1945 faktisch aus der NSDAP ausgeschieden, indem sie sich nach
Wohnungsumzügen nicht mehr bei der neuen Ortsgruppe gemeldet oder die Zahlung der
Mitgliedsbeiträge eingestellt hätten. Manchmal soll die Mitgliedschaft auch geruht haben oder
ein offizieller Austritt bzw. Ausschluss erfolgt sein, was die Quellen aber nur teilweise
bestätigen.994 Manche verschwiegen ihre ausgeübten Ämter, vor allem, wenn sie oberhalb der
untersten Stufe (Kassierer etc.) lagen und „mehr politischer als technischer Natur“ waren.
Überhaupt wollten praktisch alle sich mit Aktivitäten innerhalb der NS-Organisationen oder
zu deren Gunsten sehr zurückgehalten haben. Auskünfte über menschliche Denk- und
Verhaltensweisen sind den Quellen wesentlich schwieriger zu entlocken als Daten und
Funktionen. Doch auch hier lassen sich Fälle belegen, bei denen die aktive Mitwirkung in der
Maschinerie des Nationalsozialismus nicht immer so passiv, die Zustimmung zur NS-Politik
nicht so gering ausfiel, wie das nach Kriegsende oft vorgetragen wurde. Manchmal ist
bestimmten Personen nur ein einziger dieser Aspekte zuzuschreiben, manchmal eine
Kombination von ihnen.995 Die Einbeziehung des familiären Umfeldes in das Kaderkonto
führte auch zur Unterschlagung nationalsozialistisch geprägter Aktivitäten der
987
988
989
990
991
992
993
994
995
Plato, Entnazifizierung, S. 11.
Zum Fall Werner Wa. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 376 f.
Beispiele zur zentralen Staatsverwaltung, zu nachgeordneten Dienststellen und solchen aus den Ländern
siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 377; auch im Ministerium für Staatssicherheit gab es einige
Mitarbeiter, die ihre NS-Belastung bei der Einstellung verschwiegen hatten, siehe: Gieseke, Frage, S. 136,
141 ff.
Bei NS-Belasteten, die unter einem anderen Namen weiterlebten, entsteht insofern ein Sonderfall der
autobiografischen Forschung, als die Identität bzw. Einheit des Namens bei Figur, Autor und Erzähler
keine gemeinsame ist, vgl. Lejeune, Pakt, S. 226 ff.; zur Aufdeckung der Namensänderung von zwei NSBelasteten in der DWK und SPK samt Reaktion der Kaderverantwortlichen siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), 377.
Siehe Heinz König, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 377.
Entsprechende Beispiele (Wilhelm Salzer, Helmut Wikary, Werner B.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
378.
Stach, Unterlagen, S. 153-155.
Zu den widerlegbaren Ausführungen von Werner Wa. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 378.
Siehe Gerhard H. und Gerhard F. in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 378.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
209
Anverwandten.996 Alle Angaben betreffen nur solche NS-Belasteten, die zu irgendeinem
Zeitpunkt in der SBZ, der DDR, nach der deutschen Wiedervereinigung und durch mich
anhand schriftlicher Unterlagen als Biografiefälscher identifiziert wurden. Sie sollen an dieser
Stelle und in den nachfolgenden Kapiteln behandelt werden. Die Dunkelziffer derjenigen
Kader, deren Manipulationen bis heute unentdeckt geblieben sind, ist kaum abzuschätzen.997
Absolute Ausnahmeerscheinungen waren solche Vorkommnisse, bei denen die
Vermutung, dem Nationalsozialismus nahegestanden zu haben, nicht beschwichtigt, sondern
im Gegenteil genährt wurde. Im Einzelfall kam es also vor, dass Kader mehr oder weniger
offen mit NS-Belastungen prahlten. Beispielsweise verkehrten sie angeblich mit NS-Größen
oder erhielten als Soldat hohe Auszeichnungen, was die Personalleiter ebenfalls als politische
Belastung einstuften. Die Betreffenden dürften die damit assoziierte Nähe zur Macht, die
Einbildung der eigenen Wichtigkeit und ein persönliches Geltungsbedürfnis dazu veranlasst
haben. Egal, ob solche Behauptungen der Wahrheit entsprachen oder nicht: Eine derartige
politische Unkorrektheit zog personalpolitische Konsequenzen nach sich.998
Dies führt zu der Frage, wie viele Lebenslaufverdrehungen im Kreis der untersuchten
Ex-Nationalsozialisten oder darüber hinaus im zentralen Staatsapparat festzustellen waren.
Was ehemalige Pgs. anbelangt, müssten die Lebenslauffälscher dann zu den intern bekannten
dazugerechnet werden, um die „echte“ Pg.-Rate im Personal zu bestimmen.999 Die Anzahl der
entdeckten Verheimlichungen ist jedoch nicht mit Bestimmtheit zu beziffern. Dazu tragen
verschiedene Umstände bei. Zum einen gibt es beispielsweise bei der Nennung der
Parteimitgliedsdauer im Vergleich zur NSDAP-Mitgliederkartei manchmal nur geringfügige
Abweichungen von einigen Monaten.1000 Deshalb ist fraglich, ob überhaupt eine
Täuschungsabsicht vorlag, weil parteiorganisatorische Gründe dafür verantwortlich sein
konnten, oder ob die Betreffenden sich nach 1945 genau diese Interpretationsmöglichkeit
zunutze machten und lediglich eine graduelle Manipulation mit geringem Strafrisiko im Fall
der Entdeckung vornahmen.
Neben solcherart unterschiedlichen Perspektiven, die sich zu bestimmten Sachverhalten
einnehmen lassen, ist darüber hinaus zumindest theoretisch möglich, dass die entlastenden
Schilderungen einiger Kader der Wahrheit entsprechen, wenngleich dies oft unwahrscheinlich
ist. Nicht nachweisen lässt sich zum Beispiel, ob die NSDAP-Mitgliedskarten an die
Parteineulinge übergeben wurden, wodurch die Mitgliedschaft satzungsgemäß erst
rechtswirksam wurde. Aus den Rahmenbedingungen lassen sich jedoch gewisse Indizien
ableiten. So erscheint es unglaubwürdig, dass solche Personen oder auch Parteianwärter über
Jahre hinweg kein Parteibuch erhielten oder ebenso lang keine Beitragszahlungen leisteten,
aber dennoch als Mitglied in der NSDAP-Reichskartei geführt und nicht gestrichen
wurden.1001
Schließlich gab es noch eine Reihe relativ eindeutiger Fälle wie die
Komplettverschweigung einer Zugehörigkeit zu einer NS-Organisation oder zumindest die
Verheimlichung des Stellens eines Aufnahmeantrags.1002 In solchen Fällen blieben auch
entlastende
bzw.
günstige
politische
Begleitumstände
häufig
ungenannt.
996
997
998
999
1000
1001
1002
Siehe das Beispiel des Abteilungsleiters Günther in der Deutschen Notenbank, in: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 379.
Plato, Entnazifizierung, S. 11, 23; Häder, Sozialporträt, S. 395.
Siehe das Beispiel eines Dozenten an der DVA „Walter Ulbricht“ in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 379;
siehe auch den Fall der Fragebogenfälscherin Renate B. alias Gertrud H., in: ZB II 1052; Kammer /
Bartsch, S. 204 f.; Gieseke, Frage, S. 143.
Auch in anderen Forschungszusammenhängen wurde erkannt, dass die ausgewiesenen Pg.-Zahlen wegen
Fragebogenfälschung nicht oder nur ungefähr die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegeln, siehe: Häder,
Sozialporträt, S. 395.
Siehe Helmut Wikary, Walter F., Walter Pi., Albert K., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 380.
Zu dieser Problematik siehe auch das Kapitel „Parteianwärter, ruhende Mitglieder sowie zeitliche Anfänge
und Beendigungen der NS-Organisationszugehörigkeit“.
Siehe Konstantin Pritzel, Heinz König, Gerhard B., Paul K., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 380.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
210
Lebenslauffälschungen wurden in größerem Umfang bereits in der SBZ/DDR als
Betrugsmanöver identifiziert, nicht immer jedoch noch während der Beschäftigung im
zentralen Staatsapparat. Unter Berücksichtigung der genannten Bedingungen ließen sich für
die untersuchten NS-Belasteten in der DWK im Rahmen dieser Arbeit zu etwa jedem Dritten
Unstimmigkeiten zwischen den jeweiligen Vergangenheitsbeschreibungen finden.1003
Von welcher Schwere waren die verheimlichten Biografieanteile? Versuchten auch
„Hauptschuldige“ und „Belastete“, wie sie die Kontrollratsdirektive 38 definierte, an den
Personalprüfern vorbei im zentralen Staatsapparat der SBZ/DDR Fuß zu fassen? Die Antwort
lautet „Ja“. Es ist allerdings vorab an unterschiedliche Vorstellungen des Kontrollrates, der
Anwender in den Entnazifizierungskommissionen und heutiger Betrachter zu erinnern.1004
Auch die SED nahm im Laufe des Kalten Krieges eine zunehmend duldsamere Haltung
gegenüber bestimmten Vergehen ein, intern wie offiziell. Zur Beschreibung der Sachverhalte
ist der Blick weniger auf die bloße Weltanschauung als vor allem auf das jeweilige Handeln
unter der NS-Herrschaft zu richten. An konkreten Ämtern, die die Betreffenden in NSOrganisationen ausübten, lässt sich der Aktivismus allerdings nicht unbedingt festmachen. So
sind im NS-Sample keine Parteifunktionäre aufgetaucht, die in der NSDAP einen höheren
Rang als den des Block- oder Zellenleiters bekleidet hatten und dies später verbargen.1005
Gau-, Kreis- und scheinbar auch Ortsgruppenleiter waren dazu einfach zu bekannt.
Regierungsmitarbeiter, die einstmals in einer anderen NS-Organisation als Offizier oder
maßgeblicher Funktionär agierten, sind für den zentralen Staatsapparat gleichfalls äußerst
selten nachweisbar. Und wenn es möglich ist, dann nur für die niedrigsten Ränge.1006 In
nachgeordneten Dienststellen scheinen schwerer Belastete ein wenig häufiger vorgekommen
zu sein, so nach Aussage von Ministerien leitende SS-Funktionsträger1007 und sogar ein
Angehöriger der Waffen-SS, der Lagerführer in einem Konzentrationslager gewesen sein
soll.1008 Trotz dieser mitunter spektakulär anmutenden Beispiele hatten aber insbesondere in
den Ost-Berliner Ministerien die allermeisten entdeckten NS-Amtsträger lediglich
rangniedrige Funktionen ausgeübt, die mit einem Mannschaftsdienstgrad oder
Unteroffiziersrang vergleichbar waren. Neben dem so gut wie unausweichlichen Erkennen
ranghöherer Nationalsozialisten ließe sich daraus der Schluss ziehen, dass für diese
Amtsträger ein Engagement in der zentralen Staatsverwaltung zugunsten des Aufbaus einer
„antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ aus ideellen Gründen nicht in Frage kam. Oder
sie hofften in der Provinz auf weniger strenge Personalkontrollen. Außerdem gestalteten sich
die Aufstiegschancen in Westdeutschland allgemein erheblich besser als im Osten.
Doch erschöpfte sich das unterschlagene Engagement nicht auf übernommene
Funktionen. Die Lebenslauffälscher verheimlichten darüber hinaus eine Reihe sonstiger
Aktivitäten, die es manchmal sehr zweifelhaft erscheinen lassen, noch von Nominellen zu
reden.1009 Dabei nahm sich die bekundete Unterstützung des NS-Regimes, wie zu zeigen sein
1003
1004
1005
1006
1007
1008
1009
Kuhlemann, Kader (2005), S. 381.
Während des Kalten Krieges versuchte man im Westen, zu Propagandazwecken „Enthüllungen“
aufzubauschen, die eigentlich gar keine NS-Belastung darstellten. So bei Willi Stoph, der 1937 in einem
Fachblatt der DAF die „wahre Volksgemeinschaft beim Kommiß“ pries, siehe: Danyel, SED, S. 180 f.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 381. Siehe auch Kapitel „Politische Ämter und Funktionen 1933-1945“.
Diverse Beispiele (u.a. zu einem Kaderleiter im Ministerium für Maschinenbau) siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 381 f.
Der Hauptreferent und SED-Angehörige war darüber hinaus seit 1931 in der NSDAP, siehe: DO 1 / 26.0,
17597, Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, Namenliste [der „DAHA
Kompensation“], betr. Andreas Fritz S[…], [1950].
Die fristlose Entlassung des parteilosen Oberbuchhalters erfolgte auf Weisung des Arbeitsgerichtes, siehe:
DO 1 / 26.0, 17600, Ministerium für Handel und Versorgung, Namenliste ausgeschiedener Mitarbeiter,
betr.: HO-Gaststätte in Gotha, Kunibert S[...], undatiert [wohl 1950].
Zu einigen Fällen von Nicht-Pgs. (z.B. ein VVN-Vorsitzender und Abteilungsleiter Hofmeister,
Staatssekretariat für Materialversorgung) mit Gestapo-Kontaktaufnahme, Gewalt gegen Zwangsarbeiter,
Erpressung von Juden etc. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 382.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
211
wird, bei so einigen DWK-Mitarbeitern deutlich größer aus als von ihnen zugegeben. Man
kann allerdings darüber streiten, ob auch diejenigen Belastungen, die die Kader eingestanden,
noch als nominell anzusehen waren. Die verheimlichten Biografieanteile fallen meist auch
nicht in allen Punkten, die eine politische Aktivität ausmachten, gravierender aus als bei
denjenigen, die die Behörden kannten.1010 Dennoch wurden sie vorenthalten, weil sie einen
Rechtfertigungszwang und häufig Benachteiligungen begründeten. In ihrer Gesamtheit
ergaben solche „Kleinigkeiten“ manchmal ein Niveau, das über dem damals normalerweise
akzeptierten lag. Hin und wieder traf schließlich eine intolerable Belastung bereits auf ein
einzelnes Merkmal des politischen Werdeganges zu.
Hierzu ein Beispiel: Ein Justitiar in der DWK und verschiedenen DDRRegierungsdienststellen gab in einem Lebenslauf an, 1927-1943 beim Landgericht Berlin
gearbeitet zu haben, zuletzt als Landgerichtsrat. Ab 1943 habe er dann bei der Wehrmacht
gedient. Originalunterlagen aus der NS-Ära, die in einer Z-Akte archiviert sind, zeichnen
jedoch ein anderes Bild. Demnach war der spätere Verwaltungskader noch Ende 1944 am
Landgericht Berlin tätig und wirkte sogar an einem Todesurteil mit. Dabei wurde ein
vorbestrafter Arbeiter wegen des Diebstahls eines Fahrrades und eines Koffers verurteilt. Der
spätere DWK-Jurist nahm als beisitzender bzw. „beauftragter Richter“ an der Sitzung teil und
unterschrieb das Urteil. Die Todesstrafe wurde am 24. November 1944 vollstreckt.
Wenngleich man über den Handlungsspielraum eines einzelnen Richters streiten kann,
begründete doch bereits die Zugehörigkeit zu einer Institution, die wie das genannte Gericht
in herausragender Weise den Unrechtscharakter der NS-Diktatur mitprägte, eine persönliche
Schuld.1011
Wann genau den ostdeutschen Behörden dies zur Kenntnis gelangte, ist wie bei allen ZAkten unbekannt. Es erscheint aber ausgeschlossen, dass der Betreffende dies von Anfang an
mitgeteilt hat, weil er unter Bekanntgabe seiner schweren Belastung als „Blutrichter“ nie in
die Deutsche Wirtschaftskommission gelangt wäre. Ob es in der DDR nach Bekanntwerden
eine Anklage gegen den Juristen gab oder ob sie unterblieb, um sich nicht der Peinlichkeit
stellen zu müssen, angesichts der Kampagne gegen NS-Richter in der Bundesrepublik
zugeben zu müssen, selbst einen im Ministerium beschäftigt zu haben, ist noch zu
recherchieren.1012
Was die anderweitige Zugehörigkeit zu politisch besonders diskreditierten
Vereinigungen und Einrichtungen anbelangt, so ließen sich unter den Mitarbeitern der
Deutschen Wirtschaftskommission und DDR-Regierung einige Lebenslauffälscher ausfindig
machen, die der SS angehörten. Augenscheinlich diente einer davon mit einem
Mannschaftsdienstgrad in den Totenkopfverbänden. Eine Stenotypistin im Sekretariat
Leuschner teilte im Nachhinein mit, im „Einsatzstab Rosenberg“ und bei der Gestapo als
Sekretärin gearbeitet zu haben.1013 Ein Wachmann im Ministerium für Arbeit verschwieg,
dass er von den Vorgängen im Konzentrationslager Ravensbrück, wo er als Heizer tätig war,
1010
1011
1012
1013
Ein Beispiel siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 383.
Vgl. den Fall einer Angestellten, die für ein deutsches Gericht in der Ukraine tätig war, in: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 384.
Dem Angeklagten Walter N. wurde in diesem Zusammenhang ein Verbrechen nach § 1 des Gesetzes vom
4. September 1941 vorgeworfen. Es ist denkbar, dass Werner P. tatsächlich ab 1943 bei der Wehrmacht
war, aber für die Gerichtsverhandlung abgestellt wurde. Eine Verwechselung mit einem zweiten Juristen
am Landgericht Berlin, der den gleichen Nachnamen trug, gleichermaßen die Befähigung zum Richteramt
besaß und praktisch zur gleichen Zeit dort tätig war, erscheint extrem unwahrscheinlich. Einzelheiten zum
Gerichtsprozess siehe: ZJ 207, A. 17, Bl. 1 ff., Sond[ergericht] I [beim Landgericht Berlin], Urteil in der
Strafsache gegen Walter N[...], [November 1944] (Abschrift); Kuhlemann, Kader (2005), S. 383 f.
Zu den SS-Angehörigen, speziell zu Kurt Un., siehe Kapitel „Zugehörigkeit zur SS und sonstigen NSOrganisationen“; ZB II 1052; zu SS-Mitgliedern in nachgeordneten Dienststellen siehe auch: DO 1 / 26.0,
17597, Amt für Information, Namenliste entlassener Mitarbeiter, betr.: Haus der Kultur der Sowjetunion,
Gertrud S[...], undatiert.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
212
wusste. Erst später gab er zu, dass ihm die dort begangenen Verbrechen bekannt waren.1014
Die Familienangehörige eines Nomenklaturkaders bezichtigte diesen, an der Organisierung
der Vergasung in einem Konzentrationslager beteiligt gewesen zu sein.1015
In diesem Zusammenhang ist auch Herta Ludwig zu nennen, die in der DWK im
Sekretariat Handke als persönliche Referentin arbeitete. Sie gab in der SBZ zunächst an, sich
ab 1934 im BDM organisiert und die Mitgliedschaft nur bis 1936 „ausgeübt“ zu haben. Ihr sei
unbekannt gewesen, ob man sie weiter als Mitglied geführt habe. Diese Formel bildete
möglicherweise ein „Hintertürchen“ dergestalt, dass die promovierte Volkswirtin bei
Bekanntwerden ihrer verheimlichten NSDAP-Mitgliedschaft sagen konnte, sie sei ohne ihr
Wissen in die Partei überführt worden. Tatsächlich fand man dann heraus, dass sie Pg. war.
Wegen dieser Täuschung schied Ludwig im November 1947 vorerst aus der ZV Handel und
Versorgung aus. Zumindest die vorliegende Entlassungsbescheinigung der Zentralverwaltung
erwähnt die Fragebogenfälschung nicht. Die Verwaltungsangestellte ließ sich dann als Pg.
polizeilich registrieren. Sie gab im Januar 1948 beim zuständigen Polizeipräsidium zwecks
Entnazifizierung an, sie sei 1934-1938 im BDM gewesen und anschließend zur NSDAP
überwiesen worden, der sie 1938-1945 angehörte. Letzteres stimmt mit der NSDAPMitgliederkartei überein. Mit Einverständnis des Zentralsekretariats der SED wurde Ludwig
im Mai 1948 nach einer Prüfung des Falles erneut angestellt und verblieb bei der DWK bis
Juli 1949. Bei der Wiedereinstellung und dem ausbleibenden SED-Ausschluss kamen der
Fragebogenfälscherin ihre Jugend, die scheinbare „Nur-Mitgliedschaft“ und ihre guten
Fachkenntnisse zugute.
Doch war das wahre Ausmaß der politischen Belastung nach Enthüllung der
Parteizugehörigkeit immer noch nicht ans Tageslicht gekommen. Wäre es zur Kenntnis
gelangt, hätte dies eine Rückkehr in die zentrale Staatsverwaltung mit Sicherheit verhindert.
Ludwig war nämlich ab Dezember 1942 in einem „Ministerium“ als wissenschaftliche
Hilfsarbeiterin tätig. Bis zum Januar oder März 1945 war sie beim „SS-Hauptamt, Amt C I“
als Referentin beschäftigt. Diese Tätigkeit blieb bis auf weiteres unentdeckt.1016 Mehrere SSOrgane trugen den Begriff „Hauptamt“ im Namen. Eine genaue Zuordnung erscheint daher
schwierig.1017
Solche gravierenderen Fälle bildeten aber die Ausnahme im Kreis der
Biografietäuschungen. Es sind auch keine NS-Staatsbediensteten bekannt geworden, die im
Nationalsozialismus hohe Funktionen bekleideten und dies dann verheimlichten. Ähnlich wie
wichtige politische Amtsträger waren diese einfach zu bekannt, als dass sie sich lange Zeit
verstecken konnten. In der Staatsverwaltung der SBZ/DDR nahmen Fragebogenfälscher
1014
1015
1016
1017
Er wurde nach Bekanntwerden dieser Umstände aus der SED ausgeschlossen. In den VVN-Karteikarten
zum Konzentrationslager Ravensbrück, die sich im SAPMO / Bundesarchiv Berlin befinden, taucht der
Heizer nicht auf. Auch nach mündlicher Auskunft des über das KZ Ravensbrück forschenden Bernhard
Strebel mir gegenüber ist der Betreffende nach seinen Aufzeichnungen weder unter den Häftlingen noch
beim SS-Personal nachzuweisen. Es sei aber nicht völlig auszuschließen, dass er unter diesen war, oder es
handelte sich um einen Zivilangestellten, siehe: DY 55 / V 278/5/50; DY 30 / IV, 2/11/169, Bl. 9; DY 30 /
IV, 2/11/167, Bl. 73; DY 30 / IV, 2/11/166, Bl. 187, 326.
Der Leiter der Hauptverwaltung Gas, Reinhardt Schacht, war zudem 1933-1945 in der NSDAP. Die
erwähnte Aussage ist der einzige Hinweis. Eine anderweitige Bestätigung des Vorwurfs war nicht zu
ermitteln, siehe: BStU, AOP 159/61.
Die Aussage eines Kollegen von Ludwig aus der ZV / DWK lässt den Schluss zu, dass entweder ihre
NSDAP-Mitgliedschaft der SMA 1946 schon bekannt gewesen ist. Oder die Kaderverantwortlichen taten
später gegenüber bestimmten Mitarbeitern nur so, als hätten sie von der NSDAP-Mitgliedschaft bereits
1946 gewusst, um nicht zugeben zu müssen, eine Fragebogenfälscherin in die Zentralverwaltung eingestellt
zu haben, siehe: DO 1 / 26.0, 17565, s.v. „W-Z“, Walter W[...], Entgegnung auf die gegen mich erhobenen
Anschuldigungen, die in der Sitzung am 14. Februar [19]49 erörtert wurden, vom 24.02.1949; Kuhlemann,
Kader (2005), S. 385.
Zu „Hauptämtern“ der SS siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 386; Hofer, Nationalsozialismus, S. 385;
Kammer / Bartsch, Nationalsozialismus, S. 177-179, 200-203; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 483 f., 556;
Benz / Graml / Weiß, Enzyklopädie, S. 692-694.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
213
hingegen die ganze Bandbreite der neu geschaffenen Positionshöhen und Verwaltungszweige
ein.1018 Zu den prominentesten und hochrangigsten Vertretern zählte Luitpold Steidle, in der
DWK stellvertretender Vorsitzender und Sekretariatsmitglied sowie DDR-Minister für Arbeit
und Gesundheitswesen. Er verschwieg in der SBZ/DDR und offensichtlich schon in der
sowjetischen Kriegsgefangenschaft seine vorübergehende NSDAP-Mitgliedschaft, die 1933
einsetzte und 1934 durch Ausschluss endete.1019 Schließlich ist noch das DWKSekretariatsmitglied Erwin Lampka zu nennen, dessen verheimlichte Mitgliedschaft in
mehreren NS-Organisationen früh entdeckt wurde, der aber dennoch in Spitzenpositionen der
Staatsverwaltung verbleiben durfte.1020
Nur eine kleine Minderheit der Fragebogenfälscher fand von sich aus, wie SEDFunktionäre es nannten, „den Weg zur Partei“ und „bewies Vertrauen“, indem sie bis dato
verschwiegene Belastungen beichtete. Zwar behielten manchmal selbst solche Kader
bestimmte Details noch für sich oder verfremdeten sie.1021 Wer sich aus eigenem Antrieb der
SED offenbarte, konnte aber mit einer etwas günstigeren Ausgangsposition für einen erneuten
Resozialisierungsanlauf rechnen, etwa indem er nicht aus der Partei ausgeschlossen, sondern
nur in den Kandidatenstand zurückversetzt wurde.1022 Die Mehrheit der Manipulatoren gab
demgegenüber erst dann etwas zu und auch nur das, was angesichts von Beweisen nicht mehr
zu leugnen war. Manchmal stritten sie auch noch alles ab, wenn sie nur mündlich auf
entsprechende Sachverhalte angesprochen wurden. Spätestens bei schriftlichen Dokumenten
setzte dann aber im Wesentlichen die gleiche Relativierungsszenerie ein, wie sie bei den
behördenbekannten Ex-Nationalsozialisten zu registrieren ist und im Weiteren noch erläutert
wird. Bevor die Kaderverantwortlichen den Biografietäuschern nicht auf die Schliche kamen,
verhielten sie sich also still. Öfter machten sie anfangs nur knappe, allgemein gehaltene oder
sich widersprechende Angaben zur politischen Vergangenheit.1023 Sie verloren sich auch in
ausweichenden, phrasen- und schleierhaften Darlegungen.1024 Vereinzelt verschwiegen NSBelastete dabei Sachen, die zwar Konflikte mit dem NS-Regime belegten, aber auch in der
SBZ/DDR unvorteilhaft erschienen. Darunter fiel eine Verfolgung als Homosexueller oder
ein Parteiausschluss, der aufgrund von strafrechtlich nach wie vor zu verurteilenden
Umständen erfolgte.1025
Eine Strategie, die manche Pgs. verfolgten, war, von vornherein durch das partielle
Bekenntnis einiger „brauner Sünden“ Vertrauen in die eigene Transparenz zu schaffen. Das
half dabei, andere Belastungen weiterhin verbergen zu können. Josef Schaefers etwa teilte in
der SBZ mit, dass er 1933-1934 der SA angehörte, angeblich als Anwärter und
Gasschutzlehrer. Dabei beeindruckte er 1948 eine Überprüfungskommission der SED durch
seinen Umgang mit der eigenen Biografie. Die Kommunisten urteilten: »Schaefers ist ein
Mensch, der sofort ein offenes und klares Bild über seine Vergangenheit und Entwicklung
gibt. Er verschweigt nichts, gibt zu, dass er schon vor 1933 nationalistische Auffassungen
1018
1019
1020
1021
1022
1023
1024
1025
Siehe auch einen Mitarbeiter (keinen Pg.) der Verschlusssachen-Abteilung im MdI Sachsen-Anhalt, der
Zwangsarbeiter misshandelt hatte, in: DC 1 / 2554, IX, MdI, HA Personal, Bericht über die Personalarbeit
in der staatlichen Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1950, vom 15.01.1951,
Anlage 1, S. 1.
Steidle war zudem einziger CDU-Vertreter im DWK-Sekretariat und der einzige Christdemokrat unter den
vier stellvertretenden DWK-Vorsitzenden, siehe: DO 1 / 26.0, 17098, DWK, Sekretariate, betr.: Offiziere
der Wehrmacht, die in unserer Verwaltung beschäftigt sind, vom 21.06.1949; Zank, Zentralverwaltungen,
S. 266.
Einzelheiten zu Erwin Lampka siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 386 f.
Siehe ein entsprechendes Beispiel (Walter R.) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 387.
Siehe den Fall eines Dozenten und den eines wissenschaftlichen Mitarbeiters an der DVA, in: Kuhlemann,
Kader (2005), S. 387 f.
Siehe einen Mitarbeiter, der mit der Gestapo kollaboriert habe, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 388.
Vgl. Beispiele zu Nicht-Pgs. in: DY 30 / IV, 2/11/169, Bl. 7; DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 56.
So bei Kurt Ul. und Alfred Wunderlich, zu Letzterem siehe auch das gleichnamige Kapitel; Kuhlemann,
Kader (2005), S. 388.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
214
hatte, die aber trotzdem so kritisch den Nazis gegenüber waren, dass er nie hätte
Parteimitglied werden können. Seine SA-Anwärterzeit bis zur Röhm-Affäre war die letzte
Konzession.« Man muss heute zu der Einschätzung gelangen, dass die SED-Abordnung dem
DWK-Hauptabteilungsleiter voll auf den Leim ging. Denn Schaefers verschwieg, dass er
ausweislich der Mitgliederkartei vom 1.5.1933 bis etwa September 1934 (Ausschluss)
zusätzlich in der NSDAP war.1026
Als Beispiel dafür, wie „ertappte Sünder“ reagierten, sei der Fall eines DWKOberreferenten genannt, der anfänglich seine SA-Zugehörigkeit 1933-1937 unterschlagen
hatte. Im Jahr 1946, nach der Einstellung in die ZV Industrie, machte er diesen Umstand nach
Aussage des Leiters des DWK-Büros für Erfindungswesen selbst bekannt. Wegen seiner
dienstlichen Haltung und aktiven politischen Betätigung habe man geglaubt, ihm Vertrauen
schenken zu können, und beließ ihn in Übereinstimmung mit der Personalabteilung und der
zuständigen Abteilungsleitung der DZVI bis zur Entnazifizierung vorläufig in der
Zentralverwaltung. Im folgenden Verfahren sagte der Betreffende laut Protokoll, »dass er
sich bei Vorlage politischer Fragebogen nicht angesprochen fühlte, da jede Bindung mit der
SA bereits 1937 unterbrochen war«. Über die Gründe des Verheimlichens seiner NSBelastung, was er angeblich „in vielen bitteren und schweren Stunden“ schon tief bereut habe,
ergänzte er: »Das damalige Verschweigen war eine grosse Dummheit meinerseits [...]. Ich
fühlte mich in keiner Weise als Nationalsozialist, sondern war antinazistisch eingestellt; mein
Austritt aus der SA lag bereits 8 Jahre zurück! [...] Schon während der Nazizeit, d.h. seit
meinem Austritt 1937, habe ich es vermieden, überhaupt davon zu sprechen, dass ich einmal
Mitglied der SA war. [...] Ich hatte also praktisch während der Nazizeit schon 8 Jahre
hierüber geschwiegen. [...] Ich hatte den brennenden Wunsch, mit meiner ganzen Kraft und
meinem ganzen Können am Wiederaufbau mitzuhelfen, ohne hieran durch formale Dinge
gehindert zu sein, umsomehr als stets die ehemaligen „Pg´s“ angesprochen wurden, der ich
ja nie gewesen bin.« Seine Frau habe ihn in der allzu leichtfertigen Ansicht bestärkt, die SAMitgliedschaft als Bagatelle anzusehen. Er will außerdem die Entnazifizierungsbestimmungen
falsch verstanden und gedacht haben, dass eine Entnazifizierung erst ab dem Rang des
Scharführers notwendig sei. Doch schließlich sei er eines Besseren belehrt worden und
erstattete Meldung: »Wegen des Verschweigens hatte ich jedoch dauernd Gewissensbisse und
ich war daher bald entschlossen, einen Weg zu finden, um diese Unterlassung wieder
gutzumachen. Ich war mir auch darüber klar geworden, dass es eine Dummheit ist, auf einer
solchen Lüge ein neues Leben aufzubauen. [...] Alle beteiligten Stellen, bei denen ich mein
Vergehen melden musste, sahen davon ab, mich einer Bestrafung zuzuführen, nachdem sie
erkannten, dass ich dieses wirklich bereute, und nachdem sie meine Gründe und bisher
geleistete Mitarbeit am Wiederaufbau überprüft hatten, und um mir die von mir erbetene
Chance für eine Wiedergutmachung zu geben.«1027
In diesem Fall führte der DWK-Oberreferent also bestenfalls indirekt profane
Existenzgründe an, indem er seinen Willen betonte, sich ohne Behinderungen am Aufbau in
(einem antifaschistischen) Deutschland beteiligen zu können. Er habe somit bereits die
politisch „richtige“ Einstellung gehabt. Die Betonung egoistischer Motive vermied er. Der
Kader habe sich darüber hinaus schon vor 1945 nicht mehr als Nationalsozialist betrachtet
und zog so eine Kontinuitätslinie zur Nachkriegszeit. Hinzu seien Missverständnisse über die
Meldepflichten gekommen. Seit Erkennen derselben habe er eine Phase der Reue durchlaufen
und vertraute sich dann, wie von Staat und Partei gefordert, seinen Vorgesetzten an, allerdings
nicht ohne auf diverse Arbeitsleistungen als Teil der Bewährung in der Nachkriegszeit
hinzuweisen. Einige Entlastungszeugen stärkten ihm den Rücken und bescheinigten, nicht
vermutet zu haben, dass der Appellant in der SA war, da er nicht nazistisch aufgetreten sei,
1026
1027
Kuhlemann, Kader (2005), S. 389.
ZW 254, A. 19, Franz H[...], an die Entnazifizierungskommission für den russischen Sektor, vom
26.11.1947.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
215
vielmehr Kritik am Nationalsozialismus geübt habe und jemanden hätte denunzieren können,
was er aber nicht tat. Andere Belastungszeugen erinnerten sich im Gegensatz dazu, dass der
Betreffende als Werber der NSV im Wohngebiet teilweise hartnäckig an die Nachbarn
herangetreten sei. Seine mittlerweile getrennt von ihm lebende Ehefrau fügte hinzu: »1937 ist
er ausgetreten aus der SA. Nach dem Zusammenbruch hat er mich geschlagen, weil ich davon
gesprochen habe, dass er in der SA gewesen ist. Ich wollte nicht immer lügen. Er hatte doch
falsche Angaben in seinem Fragebogen gemacht.« Der Angesprochene hielt dem entgegen,
dass seine Ex-Frau aus persönlichen Gründen einen Hassfeldzug gegen ihn führe. Im zweiten
Anlauf wurde der Entnazifizierungsantrag schließlich unter Würdigung seiner Aufbauleistung
und des Täuschungsgeständnisses befürwortet.1028
Das Gegenteil einer Abwehrhaltung zeigt sich besonders signifikant in den stalinistisch
geprägten Bekenntnis- und Loyalitätsergüssen eines Oberreferenten und SED-Parteisekretärs
aus dem Ministerium der Finanzen, der seine NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen hatte. Er
wurde im Zuge der SED-Mitgliederüberprüfung 1951 überführt. Der ehemalige Pg.
beanspruchte für sich zwar am Rande einige mildernde Umstände, sowohl was die eigentliche
NS-Belastung anbelangte als auch den Grund ihres Verschweigens. Ansonsten gab er aber
seine „Untat“ in sich scheinbar völlig ausliefernder und selbstkasteiender Manier zu. Er
musste einen Nachtrag zum Lebenslauf einreichen, in dem der Biografiefälscher schrieb, dass
er »nicht den Mut hatte, der Partei die volle Wahrheit zu sagen. Stattdessen habe ich aus
kleinbürgerlichem Schamgefühl und Sentimentalität heraus versucht, mit diesen Dingen
meiner ideologisch unklaren und oft verwirrten Vergangenheit auf individualistische Art und
Weise fertig zu werden, was folgenden Ursprung hat: Als ich 1945/46 erstmalig Gelegenheit
hatte, das kommunistische Manifest zu lesen und den 1. Band das „Kapital“, begann es bei
mir politisch zu dämmern. Seitdem versuchte ich, meine eigenen und die Fehler meiner
Familie durch aktive politische Arbeit gut zu machen und auf diese Weise mein schlechtes
Gewissen zu beruhigen. Im Verlauf dieser Betätigung kam ich zur kommunistischen Partei.
Dies soll keinerlei Rechtfertigung für meine begangene Unehrlichkeit sein, für die mich die
Partei zur Verantwortung ziehen muss. Unabhängig von allen individuell bedingten Motiven
habe ich bisher die Partei belogen und damit kein restloses Vertrauen zur Partei gehabt. Das
ist ein entscheidender Fehler, der schwerwiegender ist, als die Dinge, die ich verschwiegen
habe. [...] Dadurch habe ich selbst die Partei gezwungen, mich als ein klassenfremdes,
kleinbürgerliches Element zu betrachten. Die Partei muss deshalb die härteste Entscheidung
gegen mich treffen, die jemals gegen mich getroffen werden kann – Entfernung aus der
Partei. Das ist eine notwendige Maßnahme im Interesse der Höherentwicklung unserer Partei
zu einer marxistisch-leninistischen Kampforganisation. Der Partei bin ich dankbar, daß sie
den Druck meiner Vergangenheit von mir genommen hat und ich dadurch ein freier Mensch
geworden bin. Ich will arbeiten und kämpfen für die Sache des Proletariats ohne Rücksicht
auf meine Person, um auf diese Weise das Vertrauen wiederzugewinnen und rückkehren zu
dürfen in die Reihen des Vortrupps der deutschen Arbeiterklasse.«1029 Das frühere NSDAPMitglied führte also an, im ideologischen Bewusstseinsstand zurückgeblieben zu sein, und
wollte angeblich auf eigene Faust Wiedergutmachung leisten. Er bekannte sich dazu,
egoistisch gehandelt zu haben, tat dies aber gleichzeitig unter derart umfassender
Bezugnahme auf das weltanschauliche Grundgerüst der SED, dass er sich als entwicklungsund resozialisierungsfähiger Kader empfahl.
Bei der Entdeckung von Fragebogenfälschern vergingen manchmal nur Wochen,
teilweise aber auch Jahre und Jahrzehnte, bis die Wahrheit ans Tageslicht kam.1030 Dies hing
davon ab, ob die falschen Angaben bereits im Zuge der Bewerbungsüberprüfung zutage traten
oder ob erst durch das Auftauchen neuer Zeugen oder bis dato noch nicht greifbarer
1028
1029
1030
Weitere Einzelheiten zu Franz H. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 390 f.
Weitere Details zu diesem Fall siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 391 f.
Gieseke, Mitarbeiter, S. 133.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
216
Dokumente eine Neubewertung anstand.1031 Es kam dabei vor, dass manche Dienststellen
unter Umgehung der normalen Kontroll- und Genehmigungsprozeduren Bewerber einstellten,
die sich dann im Nachhinein als Fragebogenfälscher herausstellten und den Apparat meist
wieder verlassen mussten. Das Bedürfnis, so rasch wie möglich den Mangel an Fachkräften
zu lindern, begünstigte also überhastete Rekrutierungen, die korrigiert werden mussten, was
wiederum die Personalfluktuation förderte.1032 Obwohl außer den unmittelbar betroffenen
Personalabteilungen
auch
andere
Dienststellen,
zum
Beispiel die
Zentrale
Kontrollkommission und das Ministerium für Staatssicherheit, zur Aufklärung beitrugen, ist
klar erkennbar, dass sich trotz aller Bemühungen die Kontrollmaßnahmen als alles andere als
perfekt herausstellten und die Informationskette nicht lückenlos war.1033
Die Behörden waren natürlich bemüht, diese Mängel nicht bekannt werden zu lassen.
Welchen Eindruck die Belastungslügner von der Effizienz der Personalprüfungen hatten, ist
unklar. Dass sie aber ein nicht geringes Risiko eingingen, musste ihnen bewusst gewesen sein.
Immer wieder kam es schließlich im Kollegenkreis zu Entlassungen und Parteiausschlüssen.
Die wahren Gründe dafür ließen sich bestimmt nicht in allen Fällen verbergen und haben sich
über Mundpropaganda weiterverbreitet. Wahrscheinlich verfuhren Lebenslauffälscher nach
dem Prinzip Hoffnung, spielten auf Zeit und bangten unablässig, damit irgendwie
durchzukommen. Besonders schwierig gestaltete sich eine Überprüfung der
Heimatvertriebenen. Ihre Angaben zur politischen Vergangenheit stellten sich häufig als
erlogen heraus. Die Behörden hielten daher auch deren eidesstattlichen Versicherungen, die
wegen fehlender Dokumente abgegeben wurden, noch mehr als bei anderen Personen nicht
automatisch für einwandfrei. Die Sachverhalte ließen sich bei „Umsiedlern“ oft nicht mehr
richtig klären.1034
Die Lebenslauffälscher haben soweit erkennbar genauso loyal oder illoyal mitgearbeitet
wie die anderen Regierungsangestellten. Es gab keine nennenswerten Unterschiede. Viele von
ihnen engagierten sich in der SED oder den politischen Massenorganisationen und erzielten
gute Ergebnisse am Arbeitsplatz. Demgegenüber finden sich gerade im Hinblick auf solche
Mitarbeiter, denen Agententätigkeit oder Sabotage vorgeworfen wurde, nur selten Hinweise
darauf, dass sie im Nachhinein auch der Biografiemanipulation überführt wurden. Die
vermeintliche Bedrohung, dass im Auftrag des Klassenfeindes unerkannte Faschisten in den
Apparat einsickern konnten, war in den Augen der Kommunisten durchaus real. Die SED
hegte dann wie auch bei Konzentrationen ehemaliger Nationalsozialisten an bestimmten
Stellen den Verdacht der faschistischen Umtriebe, der gegenseitigen Deckung und feindlichen
Zusammenrottung. Obwohl nur selten belegbar, ist zu vermuten, dass zumindest einige
Personalverantwortliche von einer NS-Belastung mancher Mitarbeiter wussten und diese
gegenüber der Partei oder anderen Kader- und Behördenleitern verheimlichten.1035 Sei es aus
1031
1032
1033
1034
1035
Bei Quellen aus der NS-Ära, die in „Z-Akten“ archiviert sind, ist unklar, ab wann genau sie den Behörden
in der SBZ/DDR zur Kenntnis gelangten. Unterlagen des BDC standen den ostdeutschen
Personalverantwortlichen außer in der anfänglichen Phase der Zusammenarbeit von sowjetischen und
amerikanischen Besatzungsbehörden nicht zur Verfügung. Kuhlemann, Kader (2005), S. 392.
Ein Beispiel aus dem Ministerium für Land- und Forstwirtschaft siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S.
392.
Gieseke, Mitarbeiter, S. 133.
Zu Flüchtlingen, die teils als „aktive Faschisten“ entlarvt wurden, sich bei Kriegsende aber als
Kommunisten ausgegeben hatten, siehe: DO 1 / 26.0, 3715, Arbeitsgericht Magdeburg, Urteil in Sachen
Otto G[...] gegen das Deutsche Amt für Maß und Gewicht, Weida, verkündet am 14.10.1949 (Abschrift);
Wille, Entnazifizierung, S. 26.
Siehe die Verheimlichung der Umstände des NSDAP-Eintritts von Günter Scheele durch Justizminister
Max Fechner im Kapitel »Die „doppelten Parteigenossen“ und ihre illegale Untergrundarbeit: Eintritt im
Auftrag der KPD und SPD«. Fechner sagte nach seiner Verhaftung infolge der „faschistischen
Konterrevolution“ am 17. Juni 1953 ferner aus, dass ihm und dem illegalen Ausschuss der SPD in BerlinNeukölln bekannt war, dass Erwin Lampka Mitglied einer nazistischen Organisation war, nach seiner
Erinnerung des NSKK. Ob Lampka auch der NSDAP angehörte, konnte Fechner nicht mit Bestimmtheit
Jens Kuhlemann – Braune Kader
217
persönlicher oder politischer Sympathie: So ließ sich verhindern, dass bestimmte Angestellte
gehen mussten oder in ihrem Aktionsradius Einschränkungen erfuhren. Wenn eine NSDAPMitgliedschaft bekannt wurde, konnte der Disput zwischen Personalabteilung und den
obersten Staatsfunktionären über die Frage der Behandlung von Biografiemanipulierern auch
offen ausbrechen.1036
Wie reagierten die Kaderverantwortlichen auf eine entdeckte Biografietäuschung? In
der Regel führten die Personalverantwortlichen nach Aufdeckung der wahren Verhältnisse
eine Aussprache mit dem Missetäter. Darin mag wie bei so vielen anderen Gelegenheiten der
Gedanke des Erzieherischen und Disziplinierenden gelegen haben. Es kam auch vor, dass die
Personalverantwortlichen bei Vorliegen erster Erkenntnisse insgeheim weitere
Untersuchungen einleiteten, die sich über mehrere Monate erstrecken konnte.1037 Eine
diskrete Beobachtung erscheint konsequent angesichts des Szenarios, wonach der
Klassenfeind sich verschwörerisch in die eigene Schaltzentrale der Macht einzuschleichen
versuchte. Unaufrichtige Angestellte machten sich verdächtig, eben aus diesen und nicht nur
aus rein persönlichen Gründen die DDR-Behörden hintergangen zu haben.
Bei entlarvten Fragebogenfälschern gab das gesamte Kaderkonto den Ausschlag für das
weitere Vorgehen der Partei und der Behörden. In der SED, wo es unter Parteiangehörigen
zahlreiche Fragebogenfälscher gab, stellten die Zurückversetzung in den Kandidatenstand, die
Streichung der Mitgliedschaft oder der Parteiausschluss die gängigen Sanktionen dar. Eher
selten fand die mildeste Form, die der Parteirüge, Anwendung.1038 Manche Sanktionen
wurden nach einiger Zeit auch wieder aufgehoben, besonders im Zuge der
„Tauwetterperiode“ nach Stalins Tod.1039 Zunächst wurde jedoch der Kampf gegen solche
Kader, die ihre wahre NS-Vergangenheit verschwiegen hatten, im Rahmen der SEDParteisäuberungen verstärkt. Eine ganze Reihe von Recherchen wurden in diesem
Zusammenhang eingezogen – mit einigem Erfolg. Die SED-Mitgliederüberprüfung wirkte
dabei bereits präventiv. Die rund 30.000 Parteiaustritte in der ersten Jahreshälfte 1951 gehen
vermutlich auch in gewissem Maße auf die Furcht vor der Entdeckung von
Fragebogenfälschungen zurück. Einige offenbarten ihre NS-Belastung auch schon im Vorfeld,
weil es ihnen das kleinere Übel zu sein schien. Andere hofften, unentdeckt zu bleiben und
wurden dann teilweise doch entlarvt. Eine ungewisse Zahl blieb weiterhin verborgen.1040
Die Partei trieb ein ungebrochenes Wissens- und Kontrollbedürfnis um. Sie verlangte
daher von ihren Mitgliedern „Ehrlichkeit“. Zu Falschdarstellungen und Verheimlichungen
von NS-Belastungen habe kein Grund vorgelegen, weil die SED allen Nominellen eine neue
Chance gegeben habe.1041 Die Frage war nur, wie groß diese Chance in Wirklichkeit ausfiel,
zumal manche verborgenen Begebenheiten aktivistischer Natur waren. Dabei gewinnen
1036
1037
1038
1039
1040
1041
sagen. Die schon skizzierte Fragebogenfälschung des Lampka wurde beim MfS im Zusammenhang mit der
Festnahme Fechners aktenkundig, da Lampka Fechner in einem Fragebogen als Person nannte, die über ihn
Auskunft erteilen konnte und dies z.B. im Rahmen der Einstellung bei der Sequesterkommission gegenüber
Bruno Leuschner auch tat, in: BStU, AU 307/55, Bd. 2, Bl. 39 f., [MfS,] Aktenvermerk, vom 02.02.1954;
ebd., Bl. 48 f., Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Fechner, vom 10.02.1954.
Siehe ein Beispiel aus dem Volksbildungsressort, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 394.
Siehe den Fall eines Referenten im Ministerium für Post und Fernmeldewesen, in: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 394.
Laut „Merkblatt für ausgeschlossene Mitglieder“ sollten u.a. diejenigen aus der SED ausgeschlossen
werden, die „wahrheitswidrige Angaben bei der Aufnahme über ihre politische Vergangenheit während der
Hitlerzeit machten“. Im Jahr 1948 wurden 2609 Mitglieder ausgeschlossen, davon wegen
„wahrheitswidriger Angaben zur NSDAP“ 272 (10,4%), siehe: DO 1 / 26.0, 17554, s.v. „A“, Ministerium
für Auswärtige Angelegenheiten, Personalabteilung, zur Fluktuationsstatistik – Stand 15.12.1952, vom
05.01.1953, S. 4; Stern, Porträt, S. 111-113; Kowalczuk, Stalin, S. 183; Friedrich / Hübner / Mayer / Wolf,
Entscheidungen, S. 533 f.
Siehe den Fall eines Nicht-Pgs., in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 395.
Staritz, Sozialismus, S. 157, 165; Danyel, SED, S. 184.
So Erich Honecker 1963 auf der 2. Tagung des ZK der SED, siehe: Danyel, SED, S. 178.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
218
heutige Betrachter den Eindruck, dass die seit jeher bekannten Pgs. eigentlich latent unter
dem Verdacht stehen mussten, den eigenen Wandel nur zu heucheln, weil ihre
Bewährungssituation offenkundig war. Fragebogenfälscher hingegen standen, solange sie
unerkannt blieben, nicht unter dem gleichen Druck. Ihr Verhalten bis zur Enthüllung ihrer
NS-Vergangenheit hätte daher im Grunde als ehrliches Benehmen im Rahmen der
Nachkriegsordnung durchgehen können. Doch die SED sah das anders.
In der Staatsverwaltung kam es meistens zur sofortigen Kündigung oder Versetzung in
ein untergeordnetes Organ.1042 Der Verdacht auf eine Verheimlichung konnte bereits zur
Veränderung des Arbeitsverhältnisses oder Mitgliedsstatus ausreichen.1043 Schlagende
Beweise waren nicht immer nötig. Dem Ausscheiden des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Hans
Forsbach ging beispielsweise folgende Beurteilung der Zentralen Kontrollkommission Ende
1948 voraus: »Die ZKK hält Forsbach für einen gewissenlosen Karrieristen, der es sehr gut
verstand, die antifaschistische Wachsamkeit 1945 zu täuschen, Mitglied der Partei wurde,
sich als Antifaschist aufspielte und schliesslich im Hause der DWK in entscheiden[d]er
Position landete.« Letzteres sei Forsbach im „Zusammenspiel mit seinen Freunden“
gelungen, die nicht namentlich genannt wurden. Die ZKK vertrat die Ansicht, dass es sich um
einen „Karrieristen übelster Sorte“ handelte. Konkrete Details einer Biografiefälschung
prangerte die Kontrollkommission jedoch nicht an. Es ging wohl mehr um den
Gesamteindruck. Wenige Wochen später kam dann die Versetzung zur Landesregierung
Brandenburg.1044
In umgekehrter Richtung war es praktisch kaum möglich, NSDAP-Mitglieder aus der
Provinz, die man bereits zu einem früheren Zeitpunkt der Fragebogenfälschung überführt
hatte, in den zentralen Apparat nach Ost-Berlin zu holen. Obwohl leitende Funktionäre im
Einzelfall solche Personalvorschläge machten, scheint das MdI sie, selbst wenn es sich um
gute Fachleute handelte, nicht bestätigt zu haben.1045 Allgemein war dabei neben „Karrierist“
auch „Schädling“ ein geläufiger Begriff, wenn es eine Biografiefälschung in Zusammenhang
mit anderen negativen Kadermerkmalen und Verhaltensweisen zu beanstanden galt.1046
Überhaupt zogen Kaderverantwortliche zur Begründung einer Bestrafung alle möglichen
ungünstigen fachlichen, sozialen, politischen oder auch charakterlichen Eigenschaften heran,
um mit spitzer Zunge ein abschreckendes Gesamtbild zu zeichnen, egal ob es sich um
Lebenslauftäuscher handelte oder nicht.1047
Als weitere Sanktion ist die zumindest vorläufige Belassung in der Dienststelle bei
manchmal veränderten, weniger sensiblen Aufgabengebieten bekannt.1048 Dies kam einer
Degradierung gleich. Welches Mittel Anwendung fand, war davon abhängig, welche
kaderpolitischen Pluspunkte für eine Weiterbeschäftigung sprachen. Die SED gab dabei fast
1042
1043
1044
1045
1046
1047
1048
DO 1 / 26.0, 17328, 33/52/1/1, „Aufstellung über Personen, die seit Gründung der DDR aus polit[ischen]
oder krim[inellen] Gründen entfernt werden mussten“ [1952]; DK 1 / 2046, Bl. 31 (nach anderer Zählung
Bl. 91), DWK, HV Land- und Forstwirtschaft, Personalabteilung, betr.: Kaderpolitik in den
Hauptverwaltungen der DWK, an DWK, Hauptabteilung Personalfragen und Schulung, vom 23.06.1949.
Siehe hierzu ein Beispiel in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 395.
Unwiderlegbare Beweise scheinen nicht vorgelegen zu haben, doch wird Forsbachs Curriculum Vitae
einfach zu dubios erschienen sein. Nähere Einzelheiten werden an verschiedenen Stellen in dieser Arbeit
erörtert, siehe: DC 1 / 2601, [Verfasser unklar,] Charakteristik, undatiert; ebd., [ZKK, Lange,] an die
Vorsitzende der Betriebsgruppe der DWK der SED, Wittkowski, vom 22.11.1948; ebd., [ZKK,]
Zusammenfassender Bericht, an Matern, vom 18.03.1950; zu weiteren möglichen Gründen, die zur
Entlassung Forsbachs aus der DWK führten, siehe u.a. Kapitel „Berufsethos, Arbeitsmethoden und Erfolg
am Arbeitsplatz“.
DO 1 / 26.0, 17566, Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Personalabteilung, Arbeitsbericht
über das 3. Quartal 1951, vom 30.09.1951, S. 1 f.
Siehe das Beispiel eines ehemaligen SA-Mitglieds in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 396.
Siehe u.a. die Beispiele einer Referentin der ZKK und eines Dozenten an der DVA „Walter Ulbricht“, in:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 396 f.
Ein Beispiel siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 397.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
219
allen, auch den schwer Bestraften, unter der Prämisse der politischen Erziehung eine erneute
Bewährungschance.1049 Die Möglichkeit, sie wahrzunehmen, gestaltete sich für die
Überführten je nach neuer Arbeitssituation und Verhältnis zur Partei nur unterschiedlich
schwierig. Wer seine NS-Vergangenheit verschwieg oder verfälschte, wurde wegen Anlügens
der Partei und mangelnden Vertrauens zur Rechenschaft gezogen. Anders als Karl Wilhelm
Fricke meint, spielte die Vergangenheit als solche aber durchaus ebenfalls eine Rolle.1050 Die
Ahndung strafwürdiger Vergehen fiel nur eben uneinheitlich aus, je nach politischer oder
wirtschaftlicher Verwertbarkeit der konkreten Person. Sie reichte entsprechend von
mündlichen „Standpauken“ unter vier Augen bis hin zu Schauprozessen. Regelrechte
Versprechen, überführte Fälscher später wieder in den Regierungsapparat zurückzuholen,
oder eine strafrechtliche Verurteilung derselben, waren im Rahmen dieser Arbeit anders als
beim Ministerium für Staatssicherheit nicht zu ermitteln.1051
Um eine weitere, möglichst effiziente Nutzung der Fähigkeiten entlarvter Kader zu
ermöglichen, kam es vor, dass der Umstand der Fragebogenfälschung in offiziellen
Entlassungspapieren nicht auftauchte beziehungsweise als Kündigungsgrund ein anderer
Erwähnung fand.1052 Diejenigen Dienststellen, die darüber im Bilde waren, scheinen ihre
Informationen auch mündlich nur teilweise weitergegeben zu haben. Sie warfen aber mit
Sicherheit weiterhin ein Auge auf den betreffenden Kader, nicht zuletzt wegen der Gefahr der
Westflucht des potenziellen „Schädlings“ und seiner Rückkehr in das „Lager der
Auftraggeber“.
Der innerbehördliche Versuch einer Billigung von Lebenslauftäuschungen ist zwar
vereinzelt überliefert, setzte sich aber nicht durch.1053 So erteilte die DWK-Hauptverwaltung
Verkehr an die Reichsbahndirektion Halle im Oktober 1948 eine Verfügung, wonach in
Fällen von Fragebogenfälschung in strafrechtlicher Hinsicht nichts zu veranlassen sei. Eine
solche Vorgehensweise war äußerst ungewöhnlich. Sie war sicherlich ganz nach dem
Geschmack derer, die nach einem Schlussstrich unter die unaufhörlichen Fragen nach der
eigenen NS-Vergangenheit riefen. Doch im Sinne der SED konnte sie nicht liegen. Nach
Intervention unter anderem durch die Deutsche Justizverwaltung musste diese Anordnung
deshalb rasch wieder zurückgezogen werden. Es ist bei all dem bezeichnend, dass sich die
„Pro-Pg.-Seite“ in einem Restglauben an ihre Wirksamkeit der verbliebenen Mittel der
Juristerei bediente und eine ihrer Absicht entsprechende Interpretation der Gesetzbücher
heranzog. Denn politisch hatte sie keine Handhabe. Und genauso signifikant ist die Reaktion
der Gegenseite. Denn das „Recht“ wurde solange „bearbeitet“, bis es der politisch
vorgegebenen Linie entsprach. Die ursprüngliche Verfügung zugunsten der
Fragebogenfälscher erscheint im Vergleich zur Macht der SED-Kaderpolitik deshalb wie ein
Lachs, der gegen den Strom schwimmt und am Ende doch nur im Maul des Bären landet.1054
Dass die ostdeutsche Justiz ein Instrument zur Bestätigung der politischen Vorgaben der
SED war und eine Fragebogenfälschung auch bei geänderter Gesetzeslage nicht rückwirkend
als gesetzeskonform erklärte, zeigt ein Gerichtsurteil zu einem Fall aus einer nachgeordneten
Dienststelle, dem Deutschen Amt für Maße und Gewichte (DAMG): Im Frühling 1949 wurde
1049
1050
1051
1052
1053
1054
Siehe hierzu den Fall eines noch relativ jungen Pgs. in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 397.
Materialien, Bd. III/1, S. 164.
Gieseke, Frage, S. 144 f.
Siehe das Beispiel eines leitenden Mitarbeiters der HO Sachsen, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 397 f.
Anlässlich der Personalie Franz Gold im MfS hält Jens Gieseke es für möglich, dass ihm politisch
belastende Biografieanteile verziehen wurden und man bestrebt war, diese dann in der Kaderakte zu tilgen.
Diesbezüglich konnte ich aber von Seiten der DWK und DDR-Regierung weder Versuch noch Vollzug
eindeutig nachweisen, siehe: Gieseke, Frage, S. 141; vgl. den Fall einer Kaderleiterin einer nachgeordneten
Dienststelle, die einem Angestellten die Personalakte aushändigte, damit er die bis dahin verschwiegene
SA-Zugehörigkeit nachtragen konnte, in: DO 1 / 26.0, 17171, Ministerium für Handel und Versorgung,
Quartalsbericht für das I. Quartal 1954, S. 9.
Details siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 398 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
220
der Leiter der Eichverwaltung Sachsen-Anhalt, ein Ostflüchtling, fristlos entlassen. Als Grund
wurde angegeben, es habe sich einwandfrei herausgestellt, dass er entgegen seinen bisherigen
Angaben Mitglied der NSDAP sei. Außerdem habe er sich bei der Arbeit „undemokratisch“
verhalten. Der Betroffene reichte daraufhin Klage beim Arbeitsgericht Magdeburg ein, um
seine Wiedereinstellung auf dem Rechtsweg zu erstreiten. Der Kläger war zur Zeit der
Entnazifizierung, im Oktober 1946, beim DAMG als Eichdirektor für die Eichverwaltungen
im Lande Sachsen Anhalt eingestellt worden. Das Amt hat rückblickend festgestellt, dass er
diese leitende Stellung der irreführenden Darstellung der politischen Vergangenheit
verdankte. Denn während der Entnazifizierung war eine nominelle NSDAP-Zugehörigkeit
offiziell ein Kriterium zur Einstellungsunterlassung. Mitte 1949 war es das gemäß den
Richtlinien zumindest für die Besetzung leitender Positionen immer noch. Und auch nach
Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes gab es keine Amnestierungserscheinungen, die
Jahre alte Fragebogenfälschungen gegenstandslos gemacht hätten. Auch wenn eine einfache
NSDAP-Mitgliedschaft in der DDR rechtlich kein Hinderungsgrund mehr war, um in
Leitungsfunktionen aufzusteigen, wurde ihre in den Jahren bis 1949 begangene
Verheimlichung nachträglich geahndet und als Grund für eine andauernde berufliche
Zurücksetzung herangezogen. In diesem Sinne argumentierte das DAMG: »Eine Rücknahme
der Kündigung würde dem Gedanken der politischen Säuberung widersprechen.«
Das Arbeitsgericht schloss sich dieser Meinung an und wies die Klage ab. Es fügte
hinzu, dass der Kläger keinesfalls beanspruchen konnte, besser gestellt zu werden als sonstige
NSDAP-Mitglieder, die bereits früher aufgrund der Säuberungsverordnung der Provinz
Sachsen von der Berufsausübung ausgeschlossen wurden. Es hieß, der Kläger müsse die aus
der Verordnung resultierende nachteilige Rechtsfolge gegen sich gelten lassen. Denn
unstreitig sei laut Gerichtsurteil, dass die „Grundgedanken“ der Säuberungsverordnung auch
noch am Tag der Urteilsverkündung (am 14. Oktober 1949) ihre Anwendung fanden, und
zwar gerade bei leitenden Positionen. In anderen Fällen konnten hingegen „Erleichterungen“
möglich sein – Diese Aussage erging wohl auch vor dem Hintergrund des drei Tage zuvor
verabschiedeten Gleichstellungsgesetzes. Die staatliche Verwaltung sollte also dauerhaft von
solchen ehemaligen Pgs. frei bleiben, die nicht den Weg der ehrlichen Reue und besonderen
Bewährung gegangen waren. Das Gerichtsurteil zeigt, dass es keine nachträgliche Milde
gegenüber NSDAP-Mitgliedern gab, die ihr Belastungsmerkmal verborgen hatten. Ehrlichkeit
zur SED oder den staatlichen Organen war kaderpolitisch unbefristet relevant.1055
Im Weiteren ein paar Beispiele zum Kontrast zwischen dem persönlichen Benehmen
unter der Hakenkreuzfahne und seiner Darstellung nach 1945: Hier ist ein DWKSachbearbeiter anzuführen, der zur Zeit der Machtergreifung Hitlers große finanzielle Not litt.
Im Oktober 1933 trat er der SA bei. Einen Monat später schrieb er einen Lebenslauf an die
Sturmabteilung. Der spätere Verwaltungskader beschwerte sich darin, nur wegen eines
bürokratischen Fehlers unter die Aufnahmesperre für Neumitglieder der NSDAP zu fallen, die
im selben Jahr verhängt wurde. Ohne ihn hätte er seiner Meinung nach längst Pg. sein
können. Sein Motiv sei Idealismus gewesen, obwohl er jahrelang SPD-Mitglied war. Wie er
mitteilte, habe er frühzeitig Verbindung mit der NSDAP-Ortsgruppe Berlin-Treptow
aufgenommen, »bei welcher ich mich ordnungsmäßig mehrere Male vor der Sperre im April
1933 zwecks Aufnahme gemeldet habe. Anscheinend durch ein Versehen des Büros ist meine
Aufnahme nicht erfolgt, da die an mich gerichtete Aufforderung später abgesand[t] wurde,
als ich zwecks Aufnahme erscheinen sollte. Trotz mehrerer Erinnerungen habe ich keine
Antwort erhalten. Den Beschwerdeweg an den Gau behalte ich mir vor. Ich bin Deutscher,
arisch, [...]. Trotz meiner Verirrung zur S.P.D. habe ich mich aus innerer Überzeugung und
Bewunderung unseres großen Führers der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen.
Somit glaube ich fest und habe das Vertrauen zu unserer derzeitigen Regierung, daß wir einer
1055
Eine ausführliche Behandlung dieses Falles siehe in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 399-401.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
221
wirtschaftlich besseren Zeit entgegensehen und daß auch der Wille und die Kraft des
Einzelnen wieder geachtet und geehrt wird.«1056
Offenkundig versprach er sich von einer NSDAP-Mitgliedschaft materielle Vorteile.
Seine bekundete Zustimmung zur Person Hitlers und dem NS-Regime kann theoretisch
natürlich auch ein wenig vorgeschoben gewesen sein, um sich einzuschmeicheln, zumal er als
alter Sozialdemokrat bekannt war, was in der NS-Ära eher Nachteile mit sich brachte. Ob
seine innere Haltung tatsächlich seinen Worten entsprach, ist nicht mit letzter Sicherheit zu
sagen. Bemerkenswert ist dennoch die verwendete Sprache, die einige Begriffe aus dem NSJargon aufgriff. Ziehen wir sein Verhalten in der SBZ/DDR hinzu, so handelte es sich
zumindest nach außen um einen „multiplen Wendehals“. Bei der Entnazifizierung 1947
unterschlug er nämlich die SA-Zugehörigkeit in Gänze. Darüber hinaus habe er keine
Auszeichnungen erhalten. Dabei hatte er gegenüber der SA noch davon gesprochen, aus dem
Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz und das Verwundetenabzeichen zu besitzen. Auch der
politische Kontext, in dem man Orden bekam, d.h. der eigentliche Anlass, aber auch der
Status des Verleihers, war Gegenstand von Biografiefälschungen. Denn sie legten eine aktive
Unterstützung der jeweiligen Machthaber und ihrer Ziele nahe, was später unter anderen
Rahmenbedingungen nachteilig sein konnte.
Schließlich behauptete er anlässlich der Entnazifizierung, der NSDAP vom 1.5.1938 bis
1945 angehört zu haben. Laut NSDAP-Mitgliederkartei im BDC wurde die Parteiaufnahme
aber bereits am 16. November 1937 beantragt und galt rückwirkend zum 1.5.1937. Hinweise
auf ein Ruhen der Mitgliedschaft während seiner Wehrmachtszugehörigkeit 1939-1945 gibt
es nicht. Genau diese Vermutung hegte der spätere DWK-Angestellte jedoch im
Entnazifizierungsverfahren. Außerdem gab er dort an, kein Parteibuch erhalten zu haben,
wodurch die NSDAP-Mitgliedschaft eigentlich nicht ordnungsgemäß zustande gekommen
sei. Eine Zugehörigkeit zur NSV und der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung
bestand zwar. Die zur NSKOV sei jedoch nicht aus eigener Initiative, sondern durch
Übernahme vom alten Reichsbund der Kriegsbeschädigten erfolgt. Demgegenüber soll es im
NS-Regime zu persönlichen Benachteiligungen aufgrund der politischen Betätigung in der
Weimarer Republik gekommen sein. So war der Biografiefälscher bis 1936 selbständiger
Besitzer und Gastwirt einer Trinkhalle, einem Reichsbannerlokal, dessen Räumlichkeiten er
offenbar von der Reichsbahn gepachtet hatte. Diese Pacht ging angeblich nur wegen der
früheren Zugehörigkeit zur SPD verloren. Er arbeitete dann bei der Deutschen Lufthansa als
Verwaltungsangestellter, bis er in das Militär eintrat und dort zum Oberleutnant aufstieg. Bei
der Entnazifizierung wählte er dabei die Bezeichnungen „Feldwebel und Technischer
Offizier“, um seine Karriere mit dem Hinweis zu relativieren, dass er nicht immer Offizier
war.
Der Appellant fasste gegenüber der Entnazifizierungskommission in Berlin-Treptow
resümierend Folgendes zusammen: Aus wirtschaftlicher Not »habe ich mich trotz meiner
inneren Abneigung aus Selbsterhaltungstrieb und Notwehr im Jahre 1938 zur Aufnahme in
die NSDAP bereit erklärt, ohne jemals irgendwelche Posten oder Ämter zu bekleiden.« Als
Beweis seiner inneren Gegnerschaft brachte er vor, einen im Untergrund arbeitenden KPDGenossen gedeckt und ihn vor einer Razzia gewarnt zu haben. Er sei zu vier Monaten
Gefängnis und Rangverlust verurteilt worden, weil er am 20. Juli 1944 die ihm bei der
Wehrmacht unterstehende Fernschreibstelle wegen Personalmangels abgemeldet hatte, was
ihm angeblich als Unterstützung des missglückten Aufstandes ausgelegt wurde. Wegen der
Überstürzung der Ereignisse Anfang 1945 habe ihn die Strafe aber nicht mehr erreicht. Er will
einigen Menschen davon erzählt haben. Schriftstücke darüber besaß er keine. Eintragungen
auf einer Militärkarteikarte deuten tatsächlich auf ein Disziplinarverfahren hin. Ob dies aber
1056
Die Zugehörigkeit zur SA dauerte vom 12.10.1933 bis mindestens Dezember 1934 bzw. 1935. Es handelte
sich bei der Einheit um die Nachrichten-SA, beim Rang um den eines SA-Mannes, siehe: ZB II 3577, A. 5,
Otto Ka[...], Lebenslauf, [an SA,] vom 07.11.1933.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
222
aus dem behaupteten Anlass heraus geschah, ist unklar.1057 Der ehemalige Pg. jedenfalls kam
zu dem Schluss: »Durch die vielen Ungerechtigkeiten und Maßregelungen, die ich erdulden
mußte, kann kein Mensch ernsthaft annehmen, daß ich dem Nationalsozialismus eine
Lobeshymne singen könnte und bereue aufrichtig den Tag, der mich niederzwang in die
NSDAP zu gehen [...] Daß ich mich nie als Nationalsozialist gefühlt und aufgespielt habe soll
ein Ausspruch meiner alten Bekannten und Freunde bekunden: „Der will Offizier sein? Das
ist ja ein Kommunist!“.«1058
Es sollte also das Bild eines politisch Verfolgten, aktiven Oppositionellen und eines
Freundes der Kommunisten entstehen, der sich nur aus Geldmangel genötigt sah, einen
Aufnahmeantrag bei der NSDAP zu stellen. Sofern es aus formalen Gründen überhaupt zu
einer Parteimitgliedschaft kam, habe sie vor allem wegen der Militärdienstzeit faktisch nur
kurze Zeit bestanden. Ansonsten habe sich der spätere Verwaltungskader in der NSDAP in
Wort und Tat absolut passiv verhalten. Diese Version ist durch das erwähnte Schreiben an die
SA widerlegt. Wann dieses Dokument den ostdeutschen Behörden zur Kenntnis gelangte, ist
unbekannt. Auch die manchmal dargelegte Erklärung, man sei nur zur Tarnung in die Partei
gegangen und habe dort diese oder jene Aufgabe übernommen, um als NS-Gegner keinen
Verdacht zu erregen, erscheint in diesem Fall abwegig. Dagegen spricht nicht zuletzt, dass der
Betreffende, selbst wenn es vor 1945 so gewesen sein sollte, in der SBZ/DDR nichts
dergleichen für sich in Anspruch nahm. Es sieht eher alles nach einem Musterbeispiel für
politischen Opportunismus aus.
Ebenfalls sehr markant nimmt sich die Kontrastierung im Falle eines weiteren DWKSachbearbeiters aus. Dieser berichtete 1936 der SA über seine Vergangenheit und begann mit
den Jahren um 1912 herum: »Zu dieser Zeit wurde ich Anhänger und Leser des vom
völkischen Vorkämpfer Theodor Fritsch in Leipzig herausgegebenen antisemitischen
„Hammer“ und der „Deutschen Zeitung“. [...] Wenn ich auch in der Nachkriegszeit unter
dem Zusammenbruch des Vaterlandes, im besonderen unter dem Verlust von ElsaßLothringen, dessen Schönheit und Reichtum ich persönlich kennen gelernt hatte, sehr gelitten
habe und mit dem „November-Staat“ recht unzufrieden war, so fand ich doch nirgends den
Anschluß zur aktiven Betätigung. Ich trat am 27. April 1933 dem Stahlhelm bei und bin
freudigen Herzens dem Ruf zum Übertritt zur SA[-]R[eserve] am 1. März 1934 gefolgt.«1059
Er bekannte sich also als traditioneller Anhänger antisemitischen und deutschnationalen beziehungsweise rechtskonservativen Gedankengutes. Nur der fehlende Kontakt
zu entsprechenden Gruppierungen habe ein früheres Engagement verhindert. 1935 bekam der
spätere DWK-Angestellte das SA-Sportabzeichen in Bronze verliehen. 1939 musste er jedoch
seinen Austritt aus der SA beantragen, dem im Folgejahr stattgegeben wurde. Er konnte
seinem Dienst, zu dem anfangs auch Gepäckmärsche gehörten, aus gesundheitlichen Gründen
nicht weiter nachkommen. Hierzu der Kommentar des vorgesetzten SA-Sturmführers:
»R[o]tt[en]f[ührer] G[...] ist bis vor wenigen Wochen ein stets diensteifriger und
einsatzbereiter SA M[ann] gewesen. Treue, Gehorsam – sind hervorstechende
Charaktereigenschaften des R[o]tt[en]f[ührers] G[...]. [...] Ich bedauere, das
1057
1058
1059
Auf einer Karteikarte der Wehrmacht ist unter der Rubrik „Dienstgrad“ das Wort „Hauptm[ann]“
durchgestrichen und darüber die Bezeichnung „Oberl[eutnan]t“ eingetragen. Unter „Bemerkungen“ stehen
schlecht lesbar – daher unter Vorbehalt – das Datum 16.11.44, die Worte „Stubenarrest“ und
„Verabsäumung der Aufsichtsdienstpflicht“ sowie „noch nicht bestätigt“. Anzeichen einer Degradierung
und sonstigen Bestrafung lassen sich also verifizieren, das Motiv dafür nicht, siehe: BA Aachen,
Karteikarte Otto Ka.; Kuhlemann, Kader (2005), S. 403 f.
Das Ergebnis der Entnazifizierung blieb offen, weil der Antrag wegen fehlender Zuständigkeit nicht
weiterbearbeitet wurde, siehe: ZB II 3577, A. 5, Otto Ka[...], Lebenslauf, an die
Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, vom 25.09.1946.
ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], Lebenslauf [an SA], vom 02.02.1936.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
223
Entlassungsgesuch des R[o]tt[en]f[ührers] G[...] befürworten zu müssen«.1060 Laut SAStammrolle war er ein „sehr fleißiger Soldat, guter Kamerad“ und „politisch einwandfrei“.
Die Dienstbeteiligung und Dienstauffassung sei „gut“ gewesen, die Führung „gut“ bis „sehr
gut“.1061
Die vorstehenden Dokumente lagen bei der Entnazifizierung 1947 ganz offensichtlich
noch nicht vor. Bekannt war den Mitgliedern der Kommission jedoch ein Auszug aus der
NSDAP-Zentralkartei, den die Amerikaner weitergeleitet haben müssen. Demnach gehörte
der Appellant der NSDAP vom 1.5.1937 bis 1945 an. Der Betreffende selbst bestätigte seine
NSDAP-Zugehörigkeit. Darüber hinaus teilte er mit, dass er aus dem Stahlhelm in die SA
überführt wurde und dort Rottenführer war, was einem Gefreiten bei der Wehrmacht
entsprach. Schließlich war er noch Mitglied in der NSV, im RLB, Reichskolonialbund und
RDB. Der ehemalige Nationalsozialist referierte dazu Folgendes: »Da ich 1916 – 1918
wirklicher Frontsoldat war, habe ich mit dem „Stahlhelm“, Bund der Frontsoldaten,
sympathisiert und trat diesem Bund im April 1933 bei, weil ich die NSDAP nicht unterstützen
wollte. Solange die schwarz-weiss-rote Fahne erlaubt war, habe ich diese Flagge gehisst. Als
1934 der „Stahlhelm“ aufgelöst wurde, bin ich automatisch zur SA-Reserve überführt
worden. Ich blieb hier nur einfacher Rottenführer, weil ich den SA-Dienst nur notgedrungen,
ohne Eifer und ohne Begeisterung versah. [...] Nach 2 jähriger Zugehörigkeit zur SA, als
festgestellt wurde, dass ich zu denjenigen SA-Männern gehörte, die gar nicht Parteimitglieder
waren, kam ich automatisch, am 1.5.1937, zur NSDAP.«1062 Er sei einfach zur
Parteimitgliedschaft gemeldet worden und habe sich dem ausgelösten Mechanismus nicht zu
widersetzen vermocht. Dem Drängen der SA-Führung, aus der Kirche auszutreten, oder
demjenigen älterer Pgs., schon 1932/33 in die Partei einzutreten, sei er aber nicht gefolgt. Der
Appellant gab also eine Verbundenheit zum rechten Politspektrum zu, distanzierte sich aber
von den Nationalsozialisten. Seine Darstellung, ohne Eifer und Begeisterung in der SA
gewirkt zu haben, darf angesichts der zuvor erwähnten Beurteilungen seiner Vorgesetzten als
Lüge angesehen werden.
Er habe zudem keinerlei Vorteile wegen der NSDAP-Zugehörigkeit genossen und keine
ungewöhnlichen Beförderungssprünge vollzogen. Das Reichspostministerium habe dem
Postbeamten 1937 oder 1938 mitgeteilt, ihn mit Vorrang befördern zu wollen und dass als
Voraussetzung für eine Beförderung bei der Post neben der NSDAP-Mitgliedschaft
dienstliche Befähigung und entsprechende Leistungen erforderlich seien: »Weil ich aber wohl
nicht zu den besonders eifrigen Pgs gerechnet wurde, denn ich kam ja nicht aus eigener
Initiative, sondern aus dem „Stahlhelm“ zur Partei, wurde ich erst im Juni 1939 als eine
gewisse Massenbeförderung ausgesprochen wurde, befördert«.1063 Er habe sich also politisch
passiv verhalten und sei deshalb beruflich eher noch benachteiligt worden. Dennoch fungierte
er nach Aufforderung 1942-1944 als Vertreter des NSDAP-Blockleiters, wie in den
Entnazifizierungsunterlagen zu lesen ist: »Er will aber nicht agitatorisch hervorgetreten sein
und habe auch niemand denunziert, weil er innerlich die nazistische Ideologie ablehnte. Die
Judenpogrome habe er verurteilt und er versichert, daß er daran als SA-Mann nicht
teilgenommen hat. Das Parteiprogramm der NSDAP habe er gelesen und geglaubt, daß es in
dieser Form nie durchgeführt werden würde. In seiner Parteizugehörigkeit habe er nichts
Unrechtes gesehen, da in Deutschland nur diese eine Partei zugelassen war und ein großer
Teil der Beamten als Träger des damaligen Staates dieser Partei bereits angehörten. Wenn er
1060
1061
1062
1063
ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], an SA der NSDAP, Standarte 5, vom 26.11.1939 [darauf hs. Vermerk des
Führers des SA-Sturmes 33/5, undatiert].
ZA VI 3952, A. 9, SA-Stammrolle Nr. 149, vom 01.01.1935; ebd., Der Führer des [SA-] Sturmes 61/R.28,
Ueberweisungsschein, undatiert [1935].
ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], an die Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, vom
19.09.1947.
ZA VI 3952, A. 9, Arthur G[...], an die Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, vom
19.09.1947.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
224
auch die nazistische Ideologie ablehnte, so sah er damals in der nur passiven Mitgliedschaft
kein Vergehen oder eine strafbare Handlung.«
Er sei also in gutem Glauben gewesen. Auch die mangelnden Parteialternativen als
Ergebnis der Diktaturetablierung haben keine Zweifel aufkommen lassen. Im Gegenteil habe
ihn der große Verbreitungsgrad der NSDAP in der Legitimität seines Handelns noch bestärkt.
Zum Volkssturm habe er sich freiwillig gemeldet, weil dies die Dienststelle von allen Pgs.
verlangte. Soviel mangelndes Verantwortungsbewusstsein wurde seltsam widersprüchlich
flankiert von Aussagen, sich innerlich von der NS-Politik abgegrenzt zu haben. Der
ehemalige Beamte habe sogar das Parteiprogramm gekannt. Während er dieses nicht ganz
ernst genommen habe, behauptete er, gegen Judenfeindlichkeit gewesen zu sein und sich nicht
an antisemitischen Exzessen beteiligt zu haben – und das, nachdem er sich gegenüber der SA
als klarer Feind der Juden zu erkennen gab und sie ihn als aktives Mitglied lobte! Sollte sich
bereits im „Dritten Reich“ oder spätestens in der Nachkriegszeit ein mentaler Wandel
vollzogen haben? Oder verleugnete sich der spätere DWK-Mitarbeiter selbst? Es sieht nach
Letzterem aus.
Dabei stärkten mehrere Entlastungszeugen dem Appellanten den Rücken. Einer
behauptete, dass der ehemalige Pg. in Unterhaltungen mit ihm „die nazistische Führung sehr
scharf angegriffen hat und die Sinnlosigkeit des Krieges verurteilte“. Er sei anständig und
wahrheitsliebend gewesen. Ein anderer Zeuge meinte, der Postbeamte sei nur nominelles
Parteimitglied gewesen und nicht aus Überzeugung in die NSDAP gegangen, sondern wegen
des Berufes. Ein „altes KPD-Mitglied“ äußerte, er sei sehr anständig und korrekt gewesen und
niemals aggressiv im Sinne der NSDAP hervorgetreten. Ein Zeuge, der den Appellanten seit
zwanzig Jahren kannte, gab schließlich zu Protokoll, dass er zwar von dessen Mitgliedschaft
in der NSDAP und SA wusste. Er habe aber nie beobachtet, dass der Betreffende „sich aktiv
für die Ziele des Nazismus eingesetzt habe“. Der zuletzt genannte Zeuge war Leiter eines
Konservatoriums und hatte dasjenige Symphonieorchester gegründet, in dem der spätere
DWK-Kader als Violinspieler mitwirkte und als Vorstandsmitglied fungierte. Dieses
Orchester war der Fachschaft Volksmusik in der Reichsmusikkammer angeschlossen und
hatte sich wiederholt der NSDAP in Berlin zur Verfügung gestellt. Das nährt natürlich den
Verdacht, dass der Zeuge ebenfalls der NSDAP verbunden war und den Appellanten nun mit
einer positiven Aussage deckte. Gemeinhin genossen Zeugen eigentlich um so mehr Ansehen
und Glaubwürdigkeit, je antifaschistischer sich ihre Biografie darstellte.1064
Zweifel an der Version des Lebenslauffälschers waren allerdings schon einigen
Zeitzeugen gekommen. Im Rahmen der Vorermittlung zur Entnazifizierung stellte der
Ermittlungsstab fest, der Antragsteller sei »nicht so harmlos, wie er sich gern in seinem
Antrag hinstellen möchte«. Recherchen an seiner früheren Arbeitsstätte, dem ReichspostZentralamt, hätten ergeben, dass er »ein begeisteter [sic] SA-Mann und eifriger
Propagandist« der nationalsozialistischen Ideen war. Aufgrund seiner aktiven Tätigkeit sei er
auch mit Vorrang befördert worden. Der Ermittlungsstab nannte einen vom Betriebsrat
ausfindig gemachten Belastungszeugen, der diese belastenden Aussagen vorgebracht hatte.
Als dieser Zeuge vorgeladen wurde, erschien er jedoch nicht. Daraufhin setzte man einen
zusätzlichen Verhandlungstermin an, bei dem der Zeuge einen Rückzieher machte. Zumindest
relativierte er seine Angaben, wie zu lesen ist: »[Der] Zeuge [...] hat dem Betriebsrat
gegenüber erklärt, dass er den Appellanten als einen Idealisten ansieht, der seinerzeit aus
Idealismus Mitglied der NSDAP geworden ist. Er bestreitet jedoch, jemals dem Betriebsrat
gegenüber geäussert zu haben, dass der App[ellant] ein begeisteter SA-Mann und eifriger
Propagandist der nationalsozialistischen Ideen war. Nach seiner Meinung ist der App[ellant]
vielmehr der SA beigetreten, um seine Sportinteressen in dieser Organisation wahrzunehmen.
1064
Arthur G. war 1931-1943 im Symphonie-Orchester-Verein, siehe: ZA VI 3952,
Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, Verhandlungsprotokoll, vom 18.9.1947.
A.
9,
Jens Kuhlemann – Braune Kader
225
Im übrigen kann er dem App[ellanten] nichts politisch Nachteiliges nachsagen. Er hat ihn
stets als einen äusserst gewissenhaften und anständigen Arbeitskollegen kennengelernt.«1065
Ob sich der Belastungszeuge vor einer mündlichen Vernehmung zunächst drücken
wollte, ob es eine Druckausübung auf ihn gab oder er als „Verräter“ plötzlich Angst vor
sozialer Ausgrenzung oder Schlimmerem hatte, ist unbekannt. Jedenfalls ist auch hier ein
gewisser Widerspruch ersichtlich, weil es sich zwar bei dem späteren DWK-Mitarbeiter um
einen Idealisten gehandelt habe, aber zugleich keineswegs um einen aktiven und
enthusiastischen NS-Anhänger. Es schwingt die damals verbreitete Unterscheidung in
einerseits Verbrecher mit, die das Vertrauen, die Hoffnung und die edlen Vorsätze der
Menschen missbrauchten, und andererseits „anständige Nazis“, die nichts taten, was dem
gesunden Rechtsempfinden zuwiderlief. Harmlos und sogar unpolitisch sei das Motiv des
Appellanten gewesen, in die SA einzutreten. Die ursprünglich erwähnten belastenden
Hinweise hatten keine erkennbaren Auswirkungen auf die Meinungsfindung der
Entnazifizierungskommission. Sie befürwortete den Entlastungsantrag im Oktober 1947
einstimmig. In ihrer Urteilsbegründung heißt es: »Im Jahre 1937 wurde er von der SA für die
Mitgliedschaft in der NSDAP vorgeschlagen und hat es nicht gewagt, sich dagegen zu
wehren.« Dem ehemaligen Pg. und SA-Rottenführer hätten »aktive Handlungen für den
Nazismus in der Verhandlung nicht nachgewiesen« werden können.1066 Und die Gesinnung
allein wurde nicht belangt, sondern als Recht auf den politischen Irrtum angesehen, solange
keine Hinweise auf Versuche vorlagen, auf andere aktiv propagandistisch Einfluss zu
nehmen, oder solange eine Distanzierung von damaligen Sichtweisen erkennbar war.
Zahlreiche Ex-Nationalsozialisten stellten ihre politische Vergangenheit nach 1945 in
verschiedenen Einzelheiten also günstiger dar, als sie es tatsächlich war, um Bestrafung,
Ächtung und berufliche Nachteile zu vermeiden. Dabei halfen entlastende – aber häufig
unglaubwürdige – Zeugenaussagen oder der fehlende Zugriff der Ermittler auf belastende
Zeugen und Materialien. In einem an anderer Stelle dokumentierten Fall hat sich sogar die
amerikanische Besatzungsmacht bzw. das Berlin Document Center an einer
Vergangenheitsverfälschung beteiligt, wahrscheinlich um als Gegenleistung Informationen
aus der ostdeutschen Staatsverwaltung zu erhalten.1067 Nur zum Teil deckten die Behörden in
der SBZ/DDR und die SED Manipulationen im Laufe der Zeit auf, ließen dann aber meistens
empfindliche Sanktionen wie Entlassungen, Versetzungen und Parteistrafen folgen. Sie
vertraten mit Nachdruck das Prinzip des transparenten Kaders, nicht zuletzt um sich vor
schwerer belasteten Faschisten und möglicherweise verdeckt agierenden Agenten und
Saboteuren unter ihnen zu schützen.
1065
1066
1067
ZA VI 3952, A. 9, [Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow,] Verhandlungsprotokoll vom
20.10.1947; ebd., Ermittlungsstab, Voruntersuchung, vom 28.08.1947.
ZA VI 3952, A. 9, Entnazifizierungskommission des Bezirks Treptow, Berufungsregistrierungsformular,
vom 20.10.1947.
Das BDC unterließ es 1948, belastende Unterlagen über den ehemaligen Pg. und DWKHauptsachbearbeiter Helmuth T. an die zuständige Entnazifizierungskommission weiterzuleiten. Dabei
handelte es sich nach teilweise selbst verfassten Dokumenten um einen erklärten Antisemiten, der eine
Auseinandersetzung mit dem Mitgliedschaftsamt der NSDAP über einen möglichst frühen Parteieintritt
führte. Im Ergebnis entlastete ihn die Entnazifizierungskommission und gab seiner Berufung statt.
Ausführliche Einzelheiten zu diesem aufschlussreichen Beispiel siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 408420.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
2.2.2
226
NS-belastete Verwandte und Freunde
Staatliche Stellen und die SED nahmen ein Sicherheitsrisiko nicht nur bei persönlichen,
unmittelbaren NS-Belastungen ihrer Kader wahr, sondern darüber hinaus bei mittelbaren.
Darunter sind Familienangehörige, Freunde und sonstige enge Kontaktpersonen der
Regierungsangestellten zu verstehen, die der NSDAP etc. beigetreten waren oder sich aktiv
im Nationalsozialismus betätigt hatten. Die Personalverantwortlichen fürchteten ein
faschistisch „verseuchtes“ Milieu, aus dem die Verwaltungsangestellten stammten und mit
dem sie Verbindungen unterhielten. Sie hegten den Verdacht einer nationalsozialistisch
geprägten Sozialisation, die sich anhaltend auf die Geisteshaltung auswirkte. Somit brauchte
ein Kader nicht unbedingt formal einer NS-Organisation angehört zu haben, um in den Augen
der kommunistischen Wertelite dennoch den dunklen Schatten der Vergangenheit zu tragen.
Die befürchtete politische Gesinnung musste nicht einmal durch reale Handlungen belegt
werden. Schon der bloße Verdacht, Sympathien für Faschisten und ihre Ideologie zu
empfinden, entwickelte eine personalpolitische Relevanz. Eine Art Unschuldsvermutung bis
zum Beweis des Gegenteils gab es grundsätzlich nicht. Es galt vielmehr, das Potential
auszulöschen, das eine unzumutbare Gefahr für die Sicherheit der Dienststelle und im
Weiteren für die staatliche Ordnung zu bergen schien. Im Rahmen einer kaderpolitischen
Gesamtbewertung ließen sich dem Makel, Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten geübt
zu haben oder weiterhin zu pflegen, allerdings die üblichen positiven Merkmale wie ein
überdurchschnittliches Fachwissen oder politisches Engagement im Sinne der SED
entgegenhalten.
Die mittelbare NS-Belastung erscheint heutigen Betrachtern ungerecht oder sogar
unmenschlich. Von den Handlungen politischer Repräsentanten abgesehen, die auf die
Staatsbürger zurückfallen,1068 kann nach rechtsstaatlichem Verständnis kein Individuum für
die Taten anderer Personen zur Verantwortung gezogen werden, egal in welchem
Verwandtschafts- oder Freundschaftsverhältnis er zu ihnen steht. Ein Vergleich mit der
„Sippenhaftung“ vor 1945, wonach der NS-Terrorapparat jeden in einer Familie für ihrer
Ansicht nach strafwürdige Handlungen eines anderen Familienmitglieds haftbar machte,
erscheint wegen der unterschiedlichen Zielsetzung, Härte und öffentlichen Handhabung
allerdings zu weit hergeholt.1069 Dennoch erinnert das Prinzip daran. Der Schlüssel zum
Verständnis eines solchen Menschenbildes liegt wie in der gesamten Kaderpolitik in der Idee
des Klassenkampfes, wobei sich die Gegner des Sozialismus vernetzen, politisch unbewusste
Menschen beeinflussen und Helfershelfer mit subversiven Aufträgen ausstatten. Verwandte,
die „gute“ Kadereigenschaften besaßen, konnten auf der anderen Seite natürlich auch ein
positives Licht auf einen Kader werfen. Neben der NS-Belastung waren vor allem deren
antifaschistischen Biografieanteile, der soziale Stand sowie die politische Orientierung vor
und nach der Ära Hitler relevant.1070
Die von der US-Militärregierung im Rahmen der Entnazifizierung ausgegebenen und
auch im sowjetischen Sektor von Berlin benutzten Fragebögen erkundigten sich danach, ob
die Appellanten ihre Kinder Napola, Adolf-Hitler-, NS-Führerschulen oder Militärakademien
besuchen ließen. Darüber hinaus waren von Interesse „irgendwelche Verwandte, die jemals
Amt, Rang oder einflußreiche Stellungen“ in der NSDAP, ihren Gliederungen,
angeschlossenen Verbänden oder in einer anderen Institution des NS-Staates bekleidet hatten.
Nach einfachen Mitgliedschaften ebenda wurde also nicht gefragt. Schließlich war
anzugeben, ob ein „unmittelbarer Angehöriger“ Besitz erworben hatte, der anderen Personen
1068
1069
1070
Ein Beispiel ist die Gefangennahme von Soldaten kriegführender Nationen, siehe: Jaspers, Schuldfrage, S.
90-93, 102.
Kammer / Bartsch, Nationalsozialismus, S. 194 f.
Zu kaderpolitisch negativ und positiv in Wertung kommenden Familienangehörigen siehe insbesondere
auch die Kapitel „Westkontakte“ und „Soziale Herkunft“.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
227
aus politischen Gründen oder während der deutschen Besatzungsherrschaft entzogen worden
war.1071
Etwas anders verhielt es sich bei Fragebögen, die zur Entnazifizierung in den Ländern
der SBZ verwendet wurden. Sie fragten nach jeglichen Mitgliedschaften der
Familienangehörigen in der NSDAP, den Gliederungen und angeschlossenen Verbänden
sowie nach einer Tätigkeit für sie. Gleiches geschah synchron anhand der Personalbögen in
den Deutschen Zentralverwaltungen.1072 Die unter Ägide der SED erstellten Fragebögen in
der DWK verlangten fast kongruent dazu ebenfalls Auskunft über die Zugehörigkeit von
Familienmitgliedern zur NSDAP und ihren Gliederungen. Darüber hinaus waren weiterhin in
ihnen ausgeübte Funktionen von Belang. Die Personalbögen der DDRRegierungsdienststellen führten derartige Fragen nach NS-Belastungen der Verwandten dann
nicht mehr, während sie innerhalb des SED-Apparates noch vereinzelt auftauchten.1073 Daraus
lässt sich ein Bedeutungsrückgang schließen. Erwiesen ist allerdings, dass Eltern und
Ehepartner von Kadern Ende der achtziger Jahre hinsichtlich sozialer und politischer
Merkmale wieder erfasst wurden.1074
Weitgehend unklar ist, wie Verwaltungsangestellte und insbesondere die NS-Belasteten
unter ihnen diesen Kaderaspekt wahrnahmen. War den Betreffenden zu irgendeinem
Zeitpunkt wirklich bewusst, dass die NSDAP-Mitgliedschaft eines Elternteils, des
Ehepartners, der Geschwister oder des eigenen Kindes Folgen für das persönliche
Arbeitsverhältnis im zentralen Staatsapparat nach sich ziehen konnte? Und wenn ja, trugen sie
diese Linie inhaltlich mit oder nicht? In der Bevölkerung kam es schon mal vor, dass sich
Ehepartner über eine Mithaftung empörten. Tatsächlich muss man in bestimmten Fällen
zugestehen, dass andernfalls Sanktionen im Zuge der Entnazifizierung ins Leere gelaufen
wären.1075 Auf der anderen Seite traf der Vermögensverlust eines Pgs., der seiner Arbeit durch
politische Säuberung verlustig gegangen war, zwangsläufig auch unschuldige
Familienmitglieder, die ökonomisch von ihm abhingen. Und andersherum beschlich manche
Kommunisten offenbar ein ungutes Gefühl, ehemalige Faschisten indirekt zu unterstützen,
indem man deren soziales Umfeld mit Arbeitsplätzen etc. versorgte.
Ich vermute, dass die mittelbare NS-Belastung den meisten Mitarbeitern durchaus ein
Begriff war. Schließlich war die Betonung einer kaderpolitisch wertvollen Mitarbeit von
Verwandten in einer Arbeiterpartei keine Seltenheit. Also wird andererseits auch
eingeleuchtet haben, daß mit einem Pg. als Vater nicht zu punkten war. Dieser hätte durch
seine bloße Existenz die zahlreichen Bemühungen, die eigene Fremdheit gegenüber dem
Nationalsozialismus zu untermauern, durchkreuzen können. Er gab nämlich Anlass zum
1071
1072
1073
1074
1075
Siehe einen entsprechenden Fragebogen beispielsweise in: FB 1246, A. 3, dort insbesondere die FrageNummern 27, 101 f., 120-122.
So jedenfalls verhielt es sich bei einem Fragebogen des Landes Brandenburg zum Befehl 201 und einem
der ZV Land- und Forstwirtschaft, siehe: ZA I 11040, A. 14, Bl. 2 ff., 66 ff., 75.
Über Mitgliedschaften in den der NSDAP angeschlossenen Verbände mussten die DWKVerwaltungsangestellten hingegen nur für sich selbst Angaben machen. Zu Personalfragebögen in der
DWK, DDR-Regierung und SED siehe beispielhaft: DC 20 / 8478, Bl. 14, 27, 37 f.; DY 30 / 2/11/V 463,
Bl. 47 f., 78 ff., 109, 112 ff.
Es ist unklar, ob es zur Erfassung reichte, wenn bereits ein Elternteil in der NSDAP war oder ob Vater und
Mutter Pgs. gewesen sein mussten (wahrscheinlich Ersteres). Bei über 15% der 2039 leitenden Mitarbeiter
der Ministerien und zentralen Staatsorgane, die 1945 oder danach geboren wurden, gehörten die Eltern der
NSDAP an. Es fällt auf, dass dieser Anteil in den der Macht am nächsten stehenden Verwaltungsinstitution
am höchsten lag. Bei den Räten der Bezirke und dem Außenhandel war er ähnlich hoch. In den Betrieben,
den Kombinaten und dem Binnen- bzw. Einzelhandel hingegen lag er teilweise mehr als halb so niedrig,
siehe: Roß, Eliten, S. 187 f.; Hornbostel, Vertreter, S. 204 f.
Im konkreten Fall durfte die Ehefrau eines SA-Mannes nicht dessen Betrieb weiterführen, weil dies ein
Unterlaufen von Strafmaßnahmen dargestellt hätte, die im Rahmen der Entnazifizierung verhängt wurden,
siehe: National-Zeitung, „Gewerbeentzug und Haftung der Ehefrau“, vom 10.02.1949.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
228
unausgesprochenen Vorwurf, im Geiste des NS-Regimes erzogen worden zu sein.1076 Noch
verhängnisvoller konnte es werden, wenn die Kinder eines Verwaltungskaders der NSDAP
angehörten. Denn dann bestand der Verdacht, dass der Mitarbeiter nicht nur in einem voll
verantwortungsfähigen Alter einst von der NS-Ideologie durchdrungen war, sondern ihre
Verbreitung in der eigenen Nachkommenschaft auch noch aktiv förderte oder zumindest
billigte. Die Personalverantwortlichen glaubten ja generell im Zusammenhang mit der
„sozialen Herkunft“, dass die Familie, insbesondere der Vater als Familienoberhaupt, prägend
auf Angehörige wirkt. Ein SS-Mitglied, ja selbst ein nomineller Pg. als Verlobter, Ehepartner
oder Freund ließ die Möglichkeit offen, dass der betreffende Kader freiwillig Umgang mit
Faschisten pflegte und sich zu wenig gegenüber „Stützen des Regimes“ abgrenzte, sie
möglicherweise sogar indoktrinierte. Zwischenmenschliche Gefühle oder den Umstand, dass
man in eine Familie „unfreiwillig“ hineingeboren wird, ließen Kaderverantwortliche kaum
gelten. Sie betrachteten die Meidung ehemaliger Nationalsozialisten statt dessen als
Bestandteil einer politisch einwandfreien Haltung während des NS-Regimes.
Eine reflektierende Äußerung eines Verwaltungskaders zur Frage der NSVergangenheit eines Familienangehörigen liegt von einer nationalsozialistisch wahrscheinlich
selbst unbelasteten Frau vor. Sie hatte fünf Jahre lang beim Flick-Konzern gearbeitet und
belegte 1949 einen Einjahreslehrgang bei der Deutschen Verwaltungsakademie in Forst
Zinna. Von dort schrieb sie an ihren Verwandten, einen ehemaligen Major im Generalstab der
Deutschen Wehrmacht. Derselbe kam beim Oberkommando des Heeres nach eigenen
Angaben mit der Widerstandsgruppe um Claus Graf Schenk von Stauffenberg zusammen, der
sein unmittelbarer Vorgesetzter war. In der DWK fungierte er als persönlicher Referent des
Sekretariatsmitglieds und späteren Industrieministers Fritz Selbmann. In dem erwähnten
Privatbrief der Kursteilnehmerin klagte sie ihm ihr Leid und Unverständnis über
„Holzhammermethoden“ linientreuer SED-Funktionäre, über die aggressive, hysterische
„Inquisition“ der verbohrten „Hardliner“ zur eigenen Person, zu Lebenswandel,
Parteiverbundenheit etc. Unter anderem hatte sie das „Kapitalverbrechen“ begangen nicht
anzugeben, welchen Rang ihr Vater in der SA eingenommen hatte. Trotz allem zeigte sie
grundsätzlich Verständnis für diese Frage: »Ich sah es damals noch nicht ein, was das in
meiner Kritik zu suchen hat, sehe aber heute, dass diese Erläuterungen nötig gewesen wären,
um den Genossen ein besseres Bild zu geben, um die Ursachen meiner Veranlagung usw. zu
erklären. Nun, Heinz, ich hoffe, dass auch Du über manches den Kopf schütteln wirst, ich
verstehe das alles nicht so richtig, ob das die Linie unserer Partei sein soll. Und bekannt ist
auch, wenn man einmal ein Haar in der Suppe gefunden hat, dann steht man unter
besonderer Kontrolle und Kritik.«1077 Diese Sicht der Dinge muss natürlich nicht unbedingt
verallgemeinerbar sein. Dennoch deutet sie an, dass ein großer Teil der Kader die Denk- und
Vorgehensweise der ideologisch am meisten politisierten Zirkel überzogen fand.
Leider ist eine repräsentative Darstellung, wie viele ehemalige Nationalsozialisten in
der Deutschen Wirtschaftskommission NS-belastete Familienangehörige hatten und wie viele
nicht, wegen der lückenhaften Überlieferung in diesem Punkt nicht möglich. Es fehlt vor
allem an Personalfragebögen, die ausdrücklich nach einfachen Mitgliedschaften der
Verwandten in der NSDAP und sonstigen NS-Gruppierungen fragten. Die ehrliche
1076
1077
Siehe das Beispiel eines Referenten und SED-Mitglieds im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft,
dessen Vater Träger des sogenannten Blutordens und des goldenen Parteiabzeichens der NSDAP gewesen
sein soll, in: Kuhlemann, Kader (2005), 616 f.
Der für die Wahrnehmung der gesamten Kaderpolitik überaus interessante Brief, der als privates Schreiben
eines Kaders an einen anderen zudem quellentechnisch äußerst selten ist, war an Heinz Meinicke-Kleint
gerichtet. Die Vergangenheit des ehemaligen Generalstabsoffiziers zur Zeit des NS-Regimes findet darin
keine Erwähnung. Meinicke-Kleint leitete den Brief an die DVA weiter, offenbar um eine Änderung der
kritisierten Zustände anzuregen, siehe: DO 1 / 26.0, 17183, Gerda B[...], an Meinicke-Kleint, vom
17.12.1949; ebd., Ministerium für Industrie, Meinicke-Kleint, an die Deutsche Verwaltungsakademie Forst
Zinna, Kropp, vom 12.01.1950; DC 1 / 2562, XIII / 1/6.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
229
Beantwortung und die Überprüfbarkeit durch unabhängige Quellen steht natürlich auf einem
anderen Blatt. Bei der Berliner Entnazifizierung, die die meisten der untersuchten ExNationalsozialisten durchliefen, spielte der Familienaspekt wie erwähnt keine oder scheinbar
doch eine geringere Rolle als in den fünf ostdeutschen Ländern. In Lebensläufen und anderen
Schriftstücken, die keine gezielt nachhakenden Vorgaben einzuhalten hatten, trafen die
Verfasser von sich aus normalerweise keine Aussage über den politischen Werdegang ihrer
Verwandten, es sei denn, er gereichte ihnen zum Vorteil.
So finden sich denn nur vereinzelte, meist stichwortartige Fragmente in den Quellen
zum NS-Sample.1078 Mal war der Ehepartner in der NSDAP, mal ein Bruder zusätzlich SAScharführer. Manche Kinder gehörten der Hitlerjugend an, einige Mütter und Ehefrauen der
NS-Frauenschaft oder dem Frauenwerk. Es kam vor, dass Kader betonten, keinen Kontakt
mehr zu NS-belasteten Verwandten zu haben. Oder sie entlasteten dieselben und führten
mildernde Umstände an, etwa ein trotz formaler Zugehörigkeit zu einer NS-Gruppierung
durch die NSDAP verhängtes Redeverbot. Mitunter ergaben Ermittlungen aber auch, dass
Familienmitglieder bestimmte Ämter ausgeübt hatten. Hinweise auf ranghöhere Positionen in
der Hierarchie der NSDAP, SA etc. liegen jedoch nicht vor. Davon unbenommen hätten sich
einige Verwandte aktiv für das NS-Regime eingesetzt oder unter seinem Schutz bestimmte
Vergehen begangen. In diesem Zusammenhang fiel unangenehm auf, wenn
Familienmitglieder sorgsam auf eine Hakenkreuzbeflaggung des Wohnhauses achteten.
Darüber hinaus war beispielsweise für die ZKSK erwähnenswert, dass die Ehefrau eines
ehemaligen Pgs. gegenüber einer polnischen Zwangsarbeiterin eine „lose Hand“ hatte. Wie im
Falle der untersuchten NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder fanden sich aber auch für deren
Familienangehörige Zeugen, die bestimmte Belastungsmerkmale ansprachen, während andere
sie negierten. Im Visier der Kaderwächter standen darüber hinaus solche Verwandte, die vor
1945 beruflich in preußischen oder Reichsdienststellen tätig waren. Einflussreichere
Staatsdiener waren allerdings nicht nachweisbar.
Der Staatssicherheitsdienst registrierte daneben mutmaßliche Freundschaften zwischen
Regierungskadern und eindeutig diskreditierten NS-Funktionsträgern.1079 So ging aus einem
recht jovial, fast kumpelhaft verfassten Brief eines SS-Sturmbannführers an den späteren
DWK-Hauptabteilungsleiter Ferdinand Beer hervor, dass Letzterer mehreren SS-Offizieren
bei der Organisierung von Jagdgesellschaften half. Ob dieser Kontakt rein freundschaftlichprivater Natur war oder eher dienstlichen Ursprungs und auf eine Anweisung von höherer
Stelle zurückging, ist unklar. Beer wurde für die Zuteilung von Hirschen etc. aber vermutlich
mit gewissen Aufmerksamkeiten durch Angehörige der SS bedacht.1080 Ohne Kenntnis von
dem erwähnten Schreiben zu haben, vertrat ein Kommentator im Rahmen der
Entnazifizierung über Beers Formalbelastungen und Berufstätigkeit eine, was die Begründung
betrifft, etwas weit hergeholte Einzelmeinung: »Aus dem Prüf[ungs-] Ber[icht] kann man
entnehmen, dass der App[ellant] [...] in guten Beziehungen zur Partei stand, zumal
H[ermann] Göring Schutzherr der d[eu]tsch[en] Jägerschaft und oberster Reichsforstmeister
1078
1079
1080
Aus Gründen des Datenschutzes von Familienangehörigen werden diese grundsätzlich anonymisiert.
Allgemein werden in dieser Arbeit Ausnahmen nur dann gemacht, sofern dies von wissenschaftlichem
Erkenntnisinteresse ist und es sich zugleich um Personen handelt, die gemäß dem Archivgesetz
offenkundig vor über 110 Jahren geboren wurden, oder um Personen, bei denen keine schützenswerten
Belange vorliegen. Siehe insbesondere die Quellen zu Harald Schaumburg, Ferdinand Beer, Ernst
Kaemmel, Heinz König, Heinz Fr., Kurt V., Franz H., Otto Schl., Friedrich L., Rudolf Ha., Olaf S., in:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 618.
Simon Wiesenthal soll Karl-Heinz Gerstner als „Freund hoher SS-Führer“ beschrieben haben, siehe:
Kappelt, Braunbuch, S. 117.
In dem Brief ist von einer „kleinen Sendung“ die Rede, die Beer überbracht wurde. Der SSSturmbannführer lud den Pg. am Ende zu einer Jagd in der Gegend von Wien ein: »Für Unterkunft, Fraß
und Suff wird von hier gesorgt!«. An anderer Stelle heißt es in MfS-Unterlagen, dass Beer 1951 von
jemandem, der „aktiver Nazi“ gewesen sei, eine Einladung zu einer Privatfeier erhielt, siehe: BStU, AU 5 /
52, Band 1, Bl. 77-79; ebd., Band 6, Bl. 3, Hans O[...], an Beer, vom 19.06.1944.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
230
war.«1081 Obwohl die Kontakte im konkreten Fall vielleicht wirklich gedeihlich waren,
neigten Personalverantwortliche in der SBZ/DDR manchmal einfach zu Überinterpretationen
ihrer nicht immer sehr reichhaltigen Informationsgrundlage. Um so schwerer konnte es für
NS-Belastete werden, sich gegen irrationale Vorwürfe zu verteidigen, wenn sie sich mit
allgemeinen Ressentiments vermischten.1082 Da verwundert es nicht, wenn ehemalige Pgs. in
der Wirtschaftskommission besonders herausstrichen, dass in der Familie niemand sonst
Mitglied der NSDAP gewesen sei. Verfolgte und verhaftete Opfer des NS-Regimes in ihr
fanden demgegenüber besondere Erwähnung.
Absolute Ausnahmeerscheinungen sind Vorkommnisse, bei denen Bewerber oder Kader
mit angeblich guten Beziehungen zu einst hochgestellten NS-Funktionären prahlten. Sie
beschwichtigten die Vermutung, dem Nationalsozialismus nahegestanden zu haben, also
nicht, sondern nährten sie im Gegenteil geradezu. Die allgemeine Seltenheit solcher Fälle ist
nicht überraschend. Auch mit Blick auf ehemalige NSDAP-Mitglieder im zentralen
Staatsapparat ist dergleichen nur bei einer Fragebogenfälscherin bekannt, die ihre wahre NSVergangenheit verheimlicht hatte.1083 Bekanntschaften zu Nazi-Größen brachten nach dem
Krieg objektiv keine Vorteile mehr bei der Vergabe von Ressourcen, weil die
nationalsozialistischen Machteliten nicht mehr über ihre Verteilung bestimmten und die SEDKaderpolitik solche Kontakte als nachteilig ansah. Wenn entsprechendes Renommiergehabe
trotzdem in kleinerem Kreis stattfand, so standen diese von Beobachtern als Aufschneiderei
empfundenen Äußerungen offenbar in Zusammenhang mit einem überdurchschnittlichen
Geltungsbedürfnis.1084
Was Sanktionen betraf, so gab es Ministerialkader, die in Verbindung mit dem Vorwurf,
die NS-Vergangenheit von Familienangehörigen verheimlicht zu haben, aus der SED
gestrichen oder ausgeschlossen wurden. Die NS-Belastung der Verwandten diente dabei auch
als Stützargument, um andere Vorhaltungen einer politisch zwielichtigen Natur zu
untermauern.1085 In Folge einer Parteistrafe konnte der Arbeitsplatz in den zentralen
Regierungsdienststellen verloren gehen. In politisch besonders sensible Arbeitsbereiche
hatten Personen mit NS-belasteten Familienangehörigen ohnehin geringere oder überhaupt
keine Chancen hineinzugelangen.1086 Eine genaue Bestimmung, welche Posten dies betraf und
welcher Belastungsgrad der Verwandten akzeptabel war, ist nicht möglich, weil sie
individuell vom Ergebnis der kaderpolitischen Gesamtbetrachtung abhing.
Eine mittelbare NS-Belastung stellte also einen kaderpolitischen Negativaspekt unter
mehreren anderen dar. Zu einigen Ex-Nationalsozialisten in der DWK ist belegt, daß sie
tatsächlich oder vermeintlich Verwandte und Freunde hatten, die NS-Organisationen angehört
oder sich für sie eingesetzt hatten. In den Augen der Kaderverantwortlichen war das ein
personalpolitischer Nachteil, denn es bestand die Gefahr einer besonderen Nähe zu Trägern
des NS-Regimes und zu faschistischem Gedankengut.
1081
1082
1083
1084
1085
1086
ZB II 3056, A. 12, Bl. 23, [Entnazifizierungskommission beim Magistrat von Groß-Berlin ?,]
Kurzcharakteristik, vom 22.09.1947.
Weitere Fälle siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 620.
ZB II 1052.
Zur angeblichen Bekanntschaft eines Leitungskaders der Landesregierung Mecklenburg mit Hermann
Göring siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 620.
Beispiele siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 621.
Siehe Beispiele (ZK der SED, Ehefrau eines Richters, Amt zum Schutze des Volkseigentums und
Kriminalpolizei Abt. K5 in Sachsen-Anhalt) in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 621.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
2.2.3
231
Kriegsgefangenschaft, Antifa-Schulung
und Emigration
Die Personalverantwortlichen lenkten ihren Blick bei der Suche nach Beeinflussungen durch
den Klassenfeind auch auf solche Lebensphasen, die die Kader außerhalb Deutschlands oder
in der Gewalt ausländischer Mächte verbracht hatten. Zeiten der Kriegsgefangenschaft trafen
auf einen nicht unerheblichen Teil der männlichen Verwaltungsangestellten zu. Mit Ausbruch
des Kalten Krieges stand für die SED die Frage im Raum, ob die kapitalistischen Staaten
USA, Großbritannien und Frankreich hierbei die Gelegenheit ergriffen hatten, die
Klassenauseinandersetzung nach Ende des Zweiten Weltkriegs weiterzuführen, indem sie
deutsche Kriegsgefangene instruierten und mit subversiven Aufträgen in das kommunistische
Lager schickten. In diesem Zusammenhang wirkte eine sowjetische Kriegsgefangenschaft
nach dem Ausschlussprinzip vertrauensbildend. Mehr noch: Die Teilnahme an einer
marxistisch-leninistisch geprägten Antifa-Schulung durch spezielle Polit-Instrukteure
während der Gefangenschaft stellte eine herausragende kaderpolitische Qualifikation dar.
Ähnlich wie beim Thema Kriegsgefangenschaft verhielt es sich mit politisch
motivierten Emigrationen während der NS-Diktatur. Sie zeichneten sich allerdings durch
weniger Willkür aus. Denn ein politischer Flüchtling konnte sich bis mindestens 1939 das
Land, in dem er um Asyl bat, relativ frei wählen (ob es ihm gewährt wurde, ist eine andere
Frage). Ein Soldat hingegen war durch Einsatzbefehle in seinem geografischen Aktionsradius
weitaus eingeschränkter, so dass er in die Gefangenschaft derjenigen Armee geriet, gegen die
zu kämpfen ihm aufgetragen wurde. Einem Emigranten ließ sich also eine bestimmte
politische Haltung unterstellen, weil er beispielsweise nach England auswanderte und nicht in
die UdSSR. Ein Wehrmachtsangehöriger konnte sich auf der anderen Seite nicht aussuchen,
ob er in ein amerikanisches Lager ging oder in ein sowjetisches. Darüber hinaus ergriffen
nach Meinung der SED in den Lagern der Westalliierten die Vertreter des Kapitals die
Initiative und kamen auf die deutschen Soldaten zu und nicht umgekehrt. Allerdings war auch
bei westlichen Kriegsgefangenen nach bestimmten Neigungen und Empfänglichkeiten für
Anwerbeversuche oder westliche Ideen zu recherchieren.
Insgesamt gerieten elf Millionen deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft, davon 3,3
Millionen in östliche und 7,7 Millionen in westliche.1087 Ungenügende Verpflegung,
rudimentäre ärztliche Betreuung und schlechte Unterbringung bei harter Arbeit und
ungewohnten klimatischen Verhältnissen trugen entscheidend dazu bei, dass von gut drei
Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen über eine Million ums Leben kam. In der Zeit kurz
vor und nach der Kapitulation der Wehrmacht gab es auch bei den Westalliierten Fälle von
mangelhafter Versorgung und Unterbringung.1088 Die westlichen Alliierten begannen schon
kurz nach der Kapitulation mit der Entlassung ihrer Gefangenen (mit Ausnahme verurteilter
Kriegsverbrecher), die bis Ende 1948 / Anfang 1949 in Ausführung eines Beschlusses der
Moskauer Außenministerkonferenz von 1947 ihren Abschluss fand. Die UdSSR hielt sich
nicht an diesen Beschluss und ließ sich mit der Rückführung Zeit. Sie nutzte die
Kriegsgefangenen als billige Arbeitskräfte für den Wiederaufbau. Gleichwohl entließ die
Sowjetunion den größten Teil ihrer Gefangenen am Vorabend der DDR-Gründung. Im ersten
Quartal 1948 befanden sich noch 760.000 ehemalige Wehrmachtssoldaten in russischer
1087
1088
Die Aufteilung der Kriegsgefangenen im Einzelnen: Sowjetunion 3,1 Millionen, Jugoslawien 194.000,
USA 3,8 Millionen, Großbritannien 3,7 Millionen, Frankreich 245.000. In kleinerem Umfang wurden
Kriegsgefangene im Laufe der Zeit an andere Staaten überantwortet, siehe: Overmans, Soldaten, S. 324.
Siehe die Schilderungen von Harald Schaumburg, in: Kuhlemann, Kader (2005), S. 648; Zentner /
Bedürftig, Lexikon, S. 331 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
232
Kriegsgefangenschaft. Im vierten Quartal 1949 zählte man nur noch 85.000. Erst 1955/56
kehrten die letzten von ihnen heim nach Deutschland.1089
Bezeichnend für die genannten Kadermerkmale ist, dass sie in den vorgefundenen
Quellen, die die SBZ-Behörden erstellt hatten, vor 1949 keinen direkten Niederschlag fanden.
Das gilt auch für die statistischen Erhebungen der HA Personalfragen und Schulung zu den
DWK-Mitarbeitern. Erst ab 1950, angeheizt beispielsweise durch den Rajk-Prozess in
Ungarn, dokumentierte das Ministerium des Innern die Kriegsgefangenschaft und Emigration
der Regierungsangestellten.1090 Bei diesbezüglich lückenhafter Überlieferung förderte ein
Rückgriff auf Primärdaten immerhin bei zehn der insgesamt 154 untersuchten NSDAP-, SAund SS-Mitglieder in der Wirtschaftskommission eine sowjetische Kriegsgefangenschaft
zutage. Neunzehn verbrachten demnach eine Zeit lang in westlicher, d.h. britischer und vor
allem amerikanischer Gefangenschaft.1091 Ein NS-Belasteter, der sich in sowjetischer
Kriegsgefangenschaft aufhielt, befand sich zusätzlich ein halbes Jahr in amerikanischer
Internierung.1092 Ein weiterer brachte ein halbes Jahr in sowjetischer Internierung zu, ein
anderer Pg. zwei Jahre in tschechoslowakischer. Das Verhältnis der sowjetischen zu den
westlichen Kriegsgefangenen betrug damit bei den früheren Nationalsozialisten knapp 2:4.
Diese Ost-West-Relation entsprach durchaus der Proportion im öffentlichen Dienst der SBZ.
Auch für sich genommen entsprachen der Anteil der ehemals sowjetischen Kriegsgefangenen
im Kreis der NS-Belasteten in der DWK mit 7% und derjenige der ehemals westlichen
Lagerinsassen mit 12% ungefähr den Größen im öffentlichen Dienst.1093 Sie spiegeln
außerdem in etwa die erwähnte Verteilung sämtlicher Kriegsgefangener in Ost und West
wider. Das zahlenmäßige Niveau der westlichen Kriegsgefangenen unter den ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern in der Deutschen Wirtschaftskommission blieb in den DDR-Ministerien
bis mindestens Ende 1951 konstant.1094
Was sagen uns diese Zahlen? Vorbehaltlich genauerer Untersuchungen deuten sie
zunächst einmal an, dass es in diesem Kadermerkmal bis 1949 keine markanten Unterschiede
zwischen den politisch wichtigeren und den unwichtigeren Dienststellen gab. Das
untermauert die Aussage, dass sich die Bedeutung der Kriegsgefangenschaft (und Emigration)
für die Kaderpolitik erst im Laufe der kurzen Existenzzeit der reformierten DWK 1948/1949
herausbildete. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass dem NS-Sample nur sehr wenige
1089
1090
1091
1092
1093
1094
Die USA entließen bis 1947 alle ihre Kriegsgefangenen. Großbritannien folgte bis Ende 1948 und
Frankreich bis Anfang 1949, siehe: Overmans, Soldaten, S. 322; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 331 f.;
Fischer, Lexikon, S. 77 f.
So verfügte das SED-Politbüro erst im Oktober 1949 in Zusammenhang mit dem angeblichen US-Agenten
Noel H. Field, der im Zweiten Weltkrieg Kontakt zu kommunistischen Emigranten unterhielt, und der
Hinrichtung des früheren Innenministers Laszlo Rajk die systematische Überprüfung aller früheren
Westemigranten oder ehemals in westalliierte bzw. jugoslawische Kriegsgefangenschaft geratenen
führenden SED-Funktionäre, siehe: Klein, SED-Parteikontrolltätigkeit, S. 101 f.; Weber, Geschichte, S.
200.
Laut Quellenlage befanden sich von insgesamt 154 Angehörigen des NS-Samples siebzehn Männer
nachweislich nicht in Kriegsgefangenschaft, darunter die DDR-Regierungsfunktionäre Helmut Wikary,
Wilhelm Salzer und Franz Woytt. Zu dieser Zahl sind die zehn weiblichen NS-Belasteten hinzuzurechnen.
Von denjenigen NSDAP-, SA- und SS-Angehörigen, über die die Quellen keine Aussage in puncto
Kriegsgefangenschaft treffen, hat der ganz überwiegende Teil allem Anschein nach ebenfalls nie in einem
Gefangenenlager eingesessen. Siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649.
Gemischte Kriegsgefangenschaften bzw. Internierungen waren selten. Beispiele (Heinz Fr., ferner das des
Abteilungsleiters im Ministerium für Verkehr Hans Baberg) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649. Es ist
unklar, ob in den Quellen unter ehemalige Kriegsgefangene auch frühere Internierte subsumiert wurden.
Ein solches Vorgehen erscheint eigentlich logisch.
Bei den Prozentangaben zu den Ex-Nationalsozialisten in der DWK ist natürlich in Betracht zu ziehen, dass
die absoluten Zahlen recht gering ausfallen. Details über ehemalige Kriegsgefangene im öffentlichen
Dienst der SBZ siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649.
Zum 31.12.1951 weisen die Personalstatistiken zum Gesamtpersonal der Regierungsdienststellen das
einzige Mal eine gesonderte Erfassung ehemaliger Westgefangener innerhalb der Gruppe der NSDAPAngehörigen auf. Einzelheiten siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 649 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
233
Frauen angehören. Sie hatten soweit ersichtlich zwar nicht als Wehrmachtshelferinnen
gedient. Dennoch bleiben aufgrund der hohen Männerquote im Kreis der hier unter die Lupe
genommenen früheren Nationalsozialisten viele Personen übrig, die während des Zweiten
Weltkriegs zum Militärdienst verpflichtet werden und somit auch in Gefangenschaft geraten
konnten – viel mehr als vergleichsweise im DWK-Gesamtpersonal oder im öffentlichen
Dienst der SBZ. Da jedoch gleichermaßen jeder fünfte beschäftigte NS-Belastete in der
Wirtschaftskommission als auch jeder fünfte Angestellte im gesamten öffentlichen Dienst der
SBZ irgendwann einmal Kriegsgefangener war, bedeutet das, dass die männlichen ExNationalsozialisten weniger von einer Gefangennahme betroffen waren als ihre
gleichgeschlechtlichen Kollegen. Unter Berücksichtigung einiger Überlieferungslücken führe
ich diesen Umstand zumindest zum Teil darauf zurück, dass sich unter den ehemaligen Pgs.
überdurchschnittlich viele für die Kriegswirtschaft wichtige Fachleute befanden. Diese
wurden deshalb verhältnismäßig oft „uk“-gestellt und als „unabkömmliche“ Zivilisten in der
Heimat eingesetzt. Im Ergebnis hatten manche der Ex-Nationalsozialisten nur zeitweilig oder
überhaupt keinen Dienst in der Wehrmacht geleistet und gelangten bei Kriegsende auch
seltener in Gefangenschaft.1095
Vergleichen wir die bereits genannten Zahlen zum NS-Sample und dem öffentlichen
Dienst der SBZ mit der weiteren Entwicklung im Gesamtpersonal des DDRRegierungsapparates, so fällt vor allem der ungefähr doppelt so hohe Anteil der sowjetischen
Kriegsgefangenen auf. Er lag in den Ministerien 1950-1956 relativ gleichbleibend bei etwa
11%. Dieser Umstand ist vor allem auf die sich nun niederschlagende verspätete Rückkehr
sowjetischer Kriegsgefangener zurückzuführen. Ihr quantitativer Wert bewegte sich aber
immer noch unter dem Niveau der ehemaligen Gefangenen der westalliierten Streitkräfte. Der
Anteil der in französischer, vermehrt in britischer und insbesondere amerikanischer
Kriegsgefangenschaft gehaltenen Regierungskader stieg im selben Zeitraum nämlich leicht
von 14 auf 18%. Eine Kriegsgefangenschaft im Territorium oder unter der Aufsicht anderer
Länder als der erwähnten spielte zahlenmäßig keine Rolle.1096 Bei der Betrachtung dieser
Prozentangaben ist zu bedenken, dass im gleichen Zeitraum die Beschäftigtenzahlen des
Apparates stark zunahmen. Da es bei den Westgefangenen überdies eine prozentuale
Steigerung gab, kam es also zu besonders umfangreichen Mehreinstellungen dieser
Personengruppe. Dass der Grund dafür an einer sich rasch wieder gewandelten Haltung der
Kaderverantwortlichen gelegen hat, die das Problem der westlichen Kriegsgefangenschaft
nach seinem recht plötzlichen Bedeutungsgewinn bis Mitte der fünfziger Jahre zunehmend
entspannter betrachteten, erscheint zu spekulativ und aufgrund noch zu erläuternder
Richtlinien auch widerlegt. Doch könnte das Rekrutierungspotenzial der sowjetischen
Gefangenen schnell erschöpft gewesen sein, so dass die Vergrößerung des Personalstabes nur
durch den Rückgriff auf die bislang relativ ausgegrenzten Westgefangenen möglich war und
die Personalabteilungen dadurch eine faktisch tolerantere Linie verfolgten.
Ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Diagrammen zum Anteil der
sowjetischen Kriegsgefangenen und der westlichen auf den jeweiligen Positionshöhen scheint
mir nur in Bezug auf die leitenden Mitarbeiter gegeben zu sein.1097 Denn während die
Leitungskader, die einst in den Lagern der Roten Armee zubrachten, bald bei 20%
stagnierten, konnten diejenigen, die sich den westalliierten Truppen ergeben hatten, 19501956 als einzige eine prozentuale Steigerung vorweisen, und zwar von 15 auf 28%. Dies lag
1095
1096
1097
Siehe Kapitel „Militärdienst“.
Eine grafische Darstellung samt Erläuterungen sowie Quellenangaben zu Statistiken und Namenlisten (teils
mit NSDAP-Nennung) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 f. (Abb. 61).
Entsprechende Diagramme und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 f. (Abb. 62 und
63), 652. Zu leitenden Posten (E-Stellen) und Kriegsgefangenschaft siehe ferner: DO 1 / 26.0, 17344,
76/51/3/2.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
234
neben dem „Fraueneffekt“1098 vermutlich daran, dass die SED die Westgefangenen anfangs
aus Sicherheitsgründen nur zögerlich auf einflussreichere Posten vorließ. Die
Unterrepräsentanz wurde dann Stück für Stück aufgehoben. Das ist ein weiterer Beleg für die
zunehmend weniger verkrampfte, wenngleich im Ergebnis noch lange nicht entspannt zu
nennende Haltung der kommunistischen Wertelite zur Frage der westlichen
Kriegsgefangenschaft.
Grundsätzlich erblickte die SED in allen Angestellten, die eine Zeit lang in westlicher
Kriegsgefangenschaft verbracht hatten, ein Sicherheitsrisiko. Die kommunistische Machtelite
glaubte, dass die westlichen Nationen, vor allem das Vereinigte Königreich und die USA, in
den Kriegsgefangenenlagern für den Besuch von bestimmten Schulen geworben hätten. Es
seien geeignete Personen unter den festgehaltenen deutschen Soldaten für eine
Agententätigkeit ausgesucht, entsprechend indoktriniert oder gleich zu Agenten und
Saboteuren ausgebildet und mit entsprechenden Aufträgen in die SBZ/DDR entlassen
worden.1099 In welchem Maße diese Umstände tatsächlich zutrafen, muss an dieser Stelle
offen bleiben. Doch eine Übertreibung, bedingt durch die Phobie und Panik, mit der die
Kommunisten diese Frage betrachteten, ist offenkundig. Das Risiko, das von westlichen
Kriegsgefangenen auszugehen schien, galt analog für jugoslawische. Sie hätten nach Ansicht
der SED ebenfalls mit „gefährlichem“ Gedankengut infiziert sein können. Den
Ausgangspunkt hierfür stellte das Zerwürfnis zwischen der UdSSR und Jugoslawien bzw.
Stalin und Tito dar. Es wurde hervorgerufen durch die Weigerung der Führung der
Kommunistischen Partei Jugoslawiens, der Sowjetunion weitgehende Mitsprache- und
Kontrollbefugnisse einzuräumen. Konsequenzen hieraus waren unter anderem eine
Wirtschaftsblockade und der Ausschluss des Balkanlandes aus dem sowjetisch kontrollierten
„Kominform“ im Juni 1948.1100 Abweichler innerhalb des kommunistischen Lagers galten
also als nicht minder zersetzungsfähig wie der eigentliche Klassengegner.
Einen kurzen Einblick in die Sichtweise der Kaderverantwortlichen bietet das Beispiel
eines ehemaligen NSDAP-Angehörigen und DWK-Sachbearbeiters. Die Zentrale
Kommission für Staatliche Kontrolle urteilte 1951 über seine britische Kriegsgefangenschaft:
»Er verkauft sich sofort als Söldner an die Engländer und tritt in die sogenannten
„Arbeitskompanien“ ein. Er behauptet, daß er im August 1945 entlassen wurde und dann bis
zum Dezember 1945 bei einem Bauern als landwirtschaftlicher Helfer arbeitete. Diese
Behauptung muß stark angezweifelt werden, da sich die deutschen Söldner mindestens auf 6
Monate verpflichten mußten. Allerdings wurden sie im August 1945 durch ein
Entlassungslager geschleust, erhielten aber nicht ihre Papiere. Diese verblieben in den
Händen der englischen Befehlshaber. Damit wollte man den Angeworbenen die Möglichkeit
geben, später ihre eigentliche Tätigkeit zu verschleiern. Im Jahre 1945 und noch 1946
entließen die Engländer niemanden in die sowjetisch besetzte Zone und Groß-Berlin. Aber
F[...] schrieb in seinem Lebenslauf: „....... ... bis zu meiner R ü c k f ü h r u n g in die SBZ,
1098
1099
1100
Der Anteil ehemaliger Kriegsgefangener an den Verwaltungsangestellten war auf denjenigen
Positionshöhen am stärksten, die am wenigsten Frauen verzeichneten, und umgekehrt; Details siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 651.
Sg Y 30 / 1310, Bl. 295 (nach anderer Zählung S. 288), Riemer, Erinnerungen; DO 1 / 26.0, 17602,
[Ministerium für Industrie, HA Chemie, Personalabteilung,] Vierteljährliche Berichterstattung an die
Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern der DDR, an MdI, HA Personal, vom 05.07.1950, S.
3.
Das „Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien“ wurde im September 1947 auf
Initiative Stalins gegründet und propagierte nach außen die formelle Gleichheit aller ihm angehörenden
kommunistischen Parteien. Da die jugoslawischen Kriegsgefangenen in der DWK und den DDRMinisterien quantitativ weder in Bezug auf das Gesamtpersonal noch unter den NS-Belasteten ins Gewicht
fielen, wurde auf eine gesonderte Untersuchung verzichtet, siehe: Staritz, Sozialismus, S. 156 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
235
Mitte Dezember 1945 ........ Es ist demnach anzunehmen, daß F. von seiten der Engländer
ganz offiziell in die SBZ transportiert wurde.«1101
Der spätere DWK-Mitarbeiter habe sich also mit den Briten angeblich arrangiert. Der
Bezugszeitraum begann bereits 1945, obwohl einer westlichen Kriegsgefangenschaft erst ab
etwa 1949 als Kaderkriterium Relevanz zukam. Ohne nähere Erläuterung bleibt, aus welcher
Motivation heraus der Pg. in die „Arbeitskompanien“ eintrat und welcher konkreten
Beschäftigung er dort nachging. Mehrfach verwendete die ZKSK die Bezeichnung „Söldner“,
dem es bekanntlich egal ist, wofür und für wen er kämpft, solange man ihn bezahlt. Dadurch
verlieh die Kontrollkommission dem Ganzen auch sprachlich den Charakter eines Krieges
und Kampfes, der im Auftrag höherer, finanzstarker Mächte stattfand. Voller Misstrauen
suchte der Verfasser nach Sachhinweisen für ein feindliches Treiben. Er glaubte,
Unstimmigkeiten bei den Zeitangaben auszumachen. Demnach schien das Verweilen bei
einem Landwirt in Niedersachsen der Verbergung eines längeren Aufenthaltes in der Obhut
des englischen Militärs dienen zu können. Die Sezierung des Wortes „Rückführung“ kommt
dabei in meinen Augen einer Überinterpretation ohne Beweiskraft gleich. Die ZKSK jedoch
machte darin einen weiteren Beleg für eine geplante Einschleusung des ehemaligen
Wehrmachtssoldaten im Auftrag Großbritanniens aus. Täuschung und Tarnung sollte ihrer
Meinung nach auch die zuvor angeblich erfolgte Vorenthaltung amtlicher Dokumente
bezwecken, die eine genaue Datierung der Kriegsgefangenschaft erlaubt hätten.
Da sich die vermeintlichen Agenten nicht von den „normalen“ Westgefangenen
unterscheiden ließen, ging die SED gegen sämtliche ehemaligen Insassen westalliierter Lager
vor. Auf diese Weise beugte sie jeder Eventualität vor. Die Vermeidung, Bewerber mit
diesem Merkmal einzustellen, avancierte zum Gebot klassenkämpferischer Wachsamkeit.1102
Die Entlassung oder Versetzung in nachgeordnete Dienststellen von solchen Angestellten, die
bereits im sensiblen Bereich der zentralen Staatsverwaltung arbeiteten, stellte eine weitere
vordringliche Aufgabe der Personalverantwortlichen dar.1103 Ganz besonders galt dies für
Beschäftigte, die aus Sicht der SED eine Kombination negativer Kadermerkmale aufwiesen.
Das Problem war nur, dass sich sehr viele Regierungsangestellte in westlicher
Kriegsgefangenschaft befunden hatten. Ihre sofortige und umfassende Entlassung kam nicht
in Frage.1104 Anderenfalls hätte dies den Zusammenbruch der staatlichen Verwaltung bewirkt.
Ihre Leitung hatte schon vorher extreme Mühe, alle politischen Wunschvorstellungen der
Machtelite über die Zusammensetzung der Dienstklasse zu erfüllen und gleichzeitig einen
funktionierenden Betrieb zu etablieren.
Deshalb unternahmen die Personalverantwortlichen Versuche einer Grenzziehung. Sie
legten bestimmte Zeiträume einer Kriegsgefangenschaft fest, die eine Beschäftigung noch
akzeptabel erscheinen ließen. Dies sollte die Gefahr einer Tätigkeit im Auftrag des
Klassengegners minimieren. Denn je länger der Kontakt mit den Westmächten bestand, umso
wahrscheinlicher und nachhaltiger schien eine Instruktion zur Spionage und Sabotage
1101
1102
1103
1104
Details zu Heinz Fengler sowie weitere Beispiele zu westlicher Gefangenschaft (Heinz König, Konstantin
Pritzel, Hans Lutz, Rudolf Lang) und Quellenangaben (u.a. zu Erich K., Bruno R., Kurt D., Alfred Kr., Otto
Ka., Friedrich L.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 653.
DO 1 / 26.0, 13391, [MdI, HA Personal,] Bericht, betr.: Ergebnis der Kontrolle der Arbeitsorganisation und
Arbeitsweise im Ministerium für Arbeit und Berufsausbildung und Vorschläge zur Verbesserung der
Arbeit, vom 05.09.1955, S. 6.
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Industrie, Sekretariat, Personalleitung, Vierteljährliche
Berichterstattung an die Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern der DDR, vom 17.04.1950,
S. 2.
Selbst in der ZKK war eine größere Zahl von ehemaligen westlichen Kriegsgefangenen beschäftigt, was
nach Ansicht des stellvertretenden Vorsitzenden der Kontrollkommission, Ernst Lange, wegen fehlender
Ersatzkader nicht zu vermeiden war, siehe: DY 30 / IV, 2/11/170, Bl. 14 (220).
Jens Kuhlemann – Braune Kader
236
stattgefunden zu haben.1105 Die Frage der Gefangenschaftsdauer führte zu gewissen
Überspitzungen. Manche Personalverantwortlichen wollten keine Neueinstellungen von
Personen dulden, die auch nur einen einzigen Tag in westlicher Kriegsgefangenschaft
verbracht hatten.1106 Ihre Vorgesetzten korrigierten solche Erscheinungen jedoch
frühzeitig.1107 Im Jahr 1950 waren schließlich vier Sechstel aller Regierungskader, die sich
einmal in westlicher Kriegsgefangenschaft aufgehalten hatten, weniger als sechs Monate
festgehalten worden. Darunter befanden sich viele, die dort nur wenige Tage und Wochen
zugebracht hatten. Eine Gefahr schien von solchen Kurzzeitgefangenen kaum oder überhaupt
nicht auszugehen. Lediglich knapp ein Sechstel war ein bis zwei Jahre und länger in den
Lagern der westalliierten Streitkräfte eingesperrt.1108 Auch die Befunde zum NS-Sample der
Deutschen Wirtschaftskommission belegen, dass in die zentrale Staatsverwaltung vor allem
solche Kader und ehemalige Nationalsozialisten gelangten, die sich nur relativ kurze Zeit im
Einflussbereich der Briten und Amerikaner befanden. Überwiegend betrug die westliche
Kriegsgefangenschaft der untersuchten NS-Belasteten zwischen sechs Wochen und acht
Monaten. Lediglich fünf von ihnen befanden sich dort noch nach Ablauf des Jahres 1945. Nur
einer der ehemaligen Nationalsozialisten verbrachte mit eineinhalb Jahren nachweislich
relativ lange Zeit in westlichem Arrest.1109
Entlassungen aufgrund einer westlichen Kriegsgefangenschaft betrafen grundsätzlich
alle Angestellten, ob Pg. oder nicht. Selbst aktive SED-Mitglieder fielen ihnen zum Opfer.
Allerdings scheint fast keiner der Betroffenen in der westlichen Gefangenschaft die von der
SED gefürchteten Schulungen durchlaufen zu haben. Oder die Beeinflussung durch
bürgerlich-demokratisches Gedankengut bzw. die Übereinkünfte mit den westalliierten
Behörden gelangten einfach nicht zur Kenntnis. Jedenfalls kam es aufgrund einer
Überprüfung der Westgefangenschaft und Emigration wegen der Teilnahme an Lagerkursen,
Lagerfunktionen, Tätigkeiten in ausländischen Dienststellen etc. nur in ganz wenigen Fällen
zu einer Entfernung aus den Regierungsorganen.1110 In diesem Zusammenhang bestand der
Anspruch, vorher eine individuelle Abwägung der einzelnen kaderpolitischen Merkmale
vorzunehmen. Eine Weiterbeschäftigung, selbst in leitenden Funktionen oder bei einer
westlichen Gefangenschaft von mehreren Jahren, war deshalb durchaus möglich.1111 Viele
Dienststellen betrieben jedoch eine schematische und damit relativ rigorose Säuberung. Sie
taten das offenbar, weil ihre Personalleiter nur ungern die Verantwortung für das Fortbestehen
eines entsprechenden Angestelltenverhältnisses übernehmen wollten.1112 Denn dann wären sie
– genau wie bei anderen Negativmerkmalen auch – das Risiko eingegangen, dass ihre
1105
1106
1107
1108
1109
1110
1111
1112
Der Leiter der HA Personal im MdI, Riemer, schlug dem Staatssekretär im Ministerium des Innern,
Warnke, vor, keine Einstellung vorzunehmen, wenn die westliche bzw. jugoslawische Gefangenschaft
mehr als sechs Monate betragen hatte, siehe: DO 1 / 26.0, 17289, Riemer, an Warnke, vom 07.05.1951.
DO 1 / 26.0, 17550, MdI, HA Personal, Funk, an SKK, Abteilung für Administrative Angelegenheiten,
Pusanow, vom 12.10.1951.
Neben der Auswechselung von Angestellten, die sich längere Zeit in westlicher oder jugoslawischer
Kriegsgefangenschaft befunden hatten, galt es darüber hinaus – wie bei anderen „Negativaspekten“ auch –,
eine quantitative Konzentration von Angestellten mit diesem Merkmal in einzelnen Regierungsdienststellen
oder Abteilungen zu verhindern, siehe: DO 1 / 26.0, 17488, HA Lebensmittelindustrie, Personalabteilung,
Analyse der vierteljährlichen Berichterstattung zur Personalentwicklung der HA Lebensmittelindustrie u.
Fischwirtschaft, an MdI, HA Personal, vom 04.10.1950, S. 2 f.
Einzelheiten zu absoluten Zahlen und der jeweiligen Dauer der Gefangenschaft siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 655.
Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 655.
Im ganzen Jahr 1950 betraf dies in den DDR-Ministerien nur 25 Fälle. Darunter befanden sich teilweise
auch Versetzungen in nachgeordnete Dienststellen, siehe: DC 1 / 2554, IX, MdI, HA Personal, Bericht über
die Personalarbeit in der staatlichen Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1950,
vom 15.01.1951, S. 8, 14.
DO 1 / 26.0, 17567, vom 29.11.1951.
DO 1 / 26.0, 17270, [MdI, HA Kader,] Arbeitsbesprechung der Abteilung I am 7.2.1952, vom 09.02.1952,
S. 1.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
237
Vorgesetzten die betroffenen Fälle bei einer Überprüfung anders eingeschätzt und ihnen
daraus einen Strick gedreht hätten. Etlichen Entlassenen oder auf bestimmte Funktionen und
Arbeitsgebiete beschränkten Kadern blieb der Grund für ihre beruflichen Schwierigkeiten
nicht verborgen. Auch in der Provinz kursierten Gerüchte über einen Zusammenhang
zwischen Westgefangenschaft und Personalauswechselungen.1113 Manche Betroffenen haben
sich infolgedessen bei hohen Staatsrepräsentanten beschwert und um Hilfe gebeten.1114
Ehemalige NSDAP-Mitglieder ersuchten in diesem Zusammenhang auch den Beistand der
NDP. Dabei hatte die SED sich Mühe gegeben, ihre Politik gegenüber westlichen
Kriegsgefangenen zu verheimlichen, weil sie eine Unruhe in der Bevölkerung vermeiden
wollte.1115
Eine zentrale Bedeutung für Personalveränderungen aufgrund westlicher
Kriegsgefangenschaft und auch westlicher Emigration nahm in der gesamten SBZ/DDR der
sogenannte Befehl 2 ein. Der Präsident der Zentralverwaltung für Inneres, Kurt Fischer, erließ
ihn am 14. Januar 1949. Er leitete eine mehrjährige Säuberungsaktion ein, die dem Plan nach
möglichst unbemerkt von der Öffentlichkeit und schnell abgeschlossen werden sollte.1116 Ziel
war die Schaffung eines politisch und ideologisch zuverlässigen Personalkörpers. Dennoch
sorgte die Anordnung für Unwohlsein bei den Personalverantwortlichen, weil sie auch aktive
und altgediente Kommunisten traf. Ihre oftmals undifferenzierte und rigorose Anwendung rief
bei zahlreichen Betroffenen Unverständnis und starke Verunsicherung hervor. Für viele Kader
bedeutete der Befehl 2/49 das abrupte Ende ihres sozialen Aufstiegs.1117 Den Erhalt des
Arbeitsplatzes in Relation zu „Vergehen“ zu setzen, für die man wie beim Ort der
Kriegsgefangenschaft objektiv nichts konnte, verursachte vielfach Kopfschütteln. In
Konsequenz hieraus ergingen Mitte 1949 konkretisierende Richtlinien, die auf eine
Abmilderung und beispielsweise auf die bereits erwähnten zeitlichen Begrenzungen
hinausliefen. Der Befehl Nr. 2 traf demnach nicht mehr auf Personen zu, die sich höchstens
bis zum Jahresende 1945 in westlicher Kriegsgefangenschaft befanden. Personen mit längeren
Aufenthalten konnten ausgenommen werden, wenn sie an keiner politischen Schulung
teilgenommen beziehungsweise im Lager keine Funktion gehabt hatten.1118 Trotz dieser
1113
1114
1115
1116
1117
1118
Namentlich liegen Beispiele aus der Kreisverwaltung Bitterfeld vor, siehe: DO 1 / 26.0, 8580, NDPD,
Müller, an MdI, Warnke, vom 08.09.1950, S. 2 und Anlage I; ebd., MdI, Riemer, Hausmitteilung, an
Warnke, vom 10.10.1950; ebd., MdI, Warnke, an NDPD, Müller, vom 30.10.1950.
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „K“, Klein, an Grotewohl, vom 09.07.1951; ebd., [MdI,] an Klein, vom 23.08.1951.
Westliche Kriegsgefangenschaft galt zwar schon bei Bewerbungen als Ablehnungsgrund, durfte aber nicht
offen mitgeteilt werden, siehe: Hoefs, Kaderpolitik, S. 160.
Ernst Richert nahm Anfang der sechziger Jahre noch als sicher an, dass der Befehl Nr. 2 von der SKK um
die Jahreswende 1949/50 erging. Ursprünglich beschränkte er sich auf die Grenzpolizei. Dort sollten alle
Mitarbeiter entlassen oder versetzt werden, die 1.) Westverwandte in gerader Linie hatten, 2.) in westlicher
Kriegsgefangenschaft waren, 3.) mehrere Disziplinarstrafen erhalten hatten, 4.) moralisch oder
charakterlich unzuverlässig waren oder 5.) als Umsiedler politisch unzuverlässig erschienen, siehe:
Wenzke, Wege, S. 231 ff., dort weitere Einzelheiten zur Durchführung des Befehls Nr. 2 bei der
Grenzpolizei; vgl. Richert, Macht, S. 269.
Vgl. Wenzke, Wege, S. 236, 254.
Ebenfalls ausgenommen blieben Angehörige des Strafbataillons 999, die in Westgefangenschaft geraten
waren, sowie ehemalige Widerstandskämpfer und „bewährte Antifaschisten“, die sich in westlicher
Internierung befunden, jedoch an keiner politischen Schulung teilgenommen hatten. Die von Rüdiger
Wenzke beschriebenen Durchführungsbestimmungen entsprechen einem aufgefundenen Richtlinienentwurf
zum Befehl 2/49 für die Volkspolizei. Gemäß seinem wesentlichen Inhalt fielen Personen, die nach dem
8.5.1945 „nur kurzfristig und nicht länger als bis Jahresschluss 1945“ in westlicher Kriegsgefangenschaft
waren, nicht unter Befehl 2. Wer sich länger in Gefangenschaft aufgehalten hatte, durfte an keiner
politischen Schulung teilgenommen, nicht der Lagerleitung oder Lagerpolizei angehört sowie keine
Vertrauensfunktion (Dolmetscher, Vorarbeiter etc.) eingenommen haben. Unter Befehl 2 fielen demnach
ebenfalls keine früheren politischen Häftlinge, die als Angehörige eines Strafbataillons in Gefangenschaft
gerieten, gleichgültig wie lange sie andauerte. Ausgenommen blieben außerdem anerkannte Opfer des
Faschismus, es sei denn, die Genannten hätten den erwähnten Schulungen beigewohnt. Besonders überprüft
werden sollten Dienstgrade vom Feldwebel an aufwärts, die bevorzugt aus der Kriegsgefangenschaft
Jens Kuhlemann – Braune Kader
238
Korrekturen wurden viele Entscheidungen, die aufgrund des Befehls Nr. 2 ergangen waren,
erst nach einigen Jahren wieder revidiert.
Zur Anwendung des Befehls auf die Deutsche Wirtschaftskommission und die DDRMinisterien liegen etwas widersprüchlich erscheinende Angaben vor. Denn zum einen teilte
der Leiter der HA Personal im Ministerium des Innern, Kurt Riemer, seinem Staatssekretär
Hans Warnke mit, eine Entlassung nach „Befehl 2“ sei zu keiner Zeit durchgeführt und auch
nicht als Grund angegeben worden. Ein Schreiben des MdI an die Sowjetische
Kontrollkommission spricht darüber hinaus davon, dass von deutscher Seite „niemals ein
solcher Befehl für die Verwaltung gegeben wurde, weil ja bekanntlich in der Verwaltung
nicht mit Befehlen gearbeitet wird“.1119 Demgegenüber ging Riemer in seinen Erinnerungen
rückblickend auf Schwierigkeiten ein, die explizit im Zuge des Befehls 2 auftauchten, und
führte ein Beispiel aus einem Ministerium an.1120 Mit Sicherheit können wir sagen, dass das
Kadermerkmal westliche Kriegsgefangenschaft sämtlichen Personalabteilungen in den
Regierungsdienststellen bewusst war. Es besteht daher die Möglichkeit, dass der operativ
maßgebliche Hauptabteilungsleiter Riemer zwar genauestens über den Befehl 2 im Bilde war
und de facto entsprechend handelte. Zumindest einige seiner Vorgesetzten im Innenressort
und wahrscheinlich auch die seiner Aufsicht unterstehenden Personalleiter in den Ministerien
könnten jedoch Informationsdefizite aufgewiesen haben und waren wohl nur allgemein für
das Problem der Gefangennahme durch die Westmächte sensibilisiert.1121 Anscheinend war
das Konfliktpotenzial des Befehls Nr. 2 so groß, dass nur äußerst wenige
Personalverantwortliche von ihm in Kenntnis gesetzt wurden. Vielleicht sollte der Anschein
einer größeren Flexibilität gewahrt werden.1122 Wie die Untersuchung der ehemaligen
NSDAP-, SA- und SS-Mitglieder in der Deutschen Wirtschaftskommission zeigt, entsprachen
diese Kader im Wesentlichen der Maßgabe des Befehls Nr. 2. Dabei stieß der Großteil von
ihnen bereits 1948 zur DWK. Das Problem der westlichen Kriegsgefangenschaft kam den
Kommunisten also offenbar schon vor dem Erlass des Befehls zu Bewusstsein und hielt
bereits in seinem Vorfeld Einzug in die Kaderpolitik. Es ist daher von eher zweitrangiger
Bedeutung, ob der Befehl 2 auch offiziell im zentralen Staatsapparat galt oder ob er nur
seinem Geiste nach Beachtung fand. Inwiefern eine Westgefangenschaft ausschlaggebend für
das Ausscheiden von Angehörigen des NS-Samples aus der staatlichen Verwaltung war, ließ
sich nicht nachweisen.1123 Im Jahr 1956 wurde eine westliche Kriegsgefangenschaft
schließlich für Parteifunktionäre der SED als Kriterium bei Auswahl, Einsatz und Förderung
von Kadern aufgehoben.1124 Ein paralleler Bedeutungsrückgang für Funktionseliten ist
1119
1120
1121
1122
1123
1124
entlassen wurden. Darüber hinaus solche Personen, die sich nach der Entlassung längere Zeit in den
Westzonen Deutschlands aufhielten und in Privatbetrieben oder bei der Besatzungsmacht arbeiteten. Die
jugoslawische Kriegsgefangenschaft war der westlichen gleichzustellen, wenn eine Schulung erfolgt war,
die zu einem anhaltenden Kontakt mit jugoslawischen Stellen führte, siehe: DO 1/7/136, Bl. 17 f.,
Richtlinien über die Behandlung von ehemaligen Kriegsgefangenen der Westmächte, undatiert (Entwurf,
Abschrift); vgl. Wenzke, Wege, S. 233 f.
DO 1 / 26.0, 17550, [MdI, HA Personal,] Funk, an SKK, Abteilung für Administrative Angelegenheiten,
Pusanow, vom 22.11.1951.
Sg Y 30 / 1310, Bl. 295 f. (nach anderer Zählung S. 288 f.), Riemer, Erinnerungen.
Dazu passt, dass Riemer Warnke noch 1951 lediglich den Vorschlag machte, bei Fällen von mehr als sechs
Monaten Westgefangenschaft auf Einstellungen zu verzichten, ohne auf eine bereits existierende
verbindliche Vorgabe zu verweisen, siehe: DO 1 / 26.0, 17289, Riemer, an Warnke, vom 07.05.1951.
Vgl. die Grenzpolizei, bei der die Bestimmungen, auch nachdem sich im September 1949 ein Ende der
Säuberungen gemäß Befehl 2 abzeichnete, nicht außer Kraft traten – nicht zuletzt wegen Schwierigkeiten
bei der Umsetzung, aber auch zur anhaltenden „Reinhaltung“ des Personals bei Neueinstellungen. In der
HVA erfolgte im Herbst 1950 eine erneute Überprüfung aller VP-Angehörigen mit mehr als sechs Monaten
westlicher Kriegsgefangenschaft. Betroffen waren fast 2000 Mann. Über 900 wurden entlassen und 500 zur
HVDVP versetzt, siehe: Wenzke, Wege, S. 235 f., 253 f.
Zur Überprüfung der westlichen Kriegsgefangenschaft bei Friedrich L. siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S.
658.
Gleiches galt für eine westliche Emigration, siehe: Welsh, Kaderpolitik, S. 117.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
239
anzunehmen. Doch auch in der Folgezeit spielte eine Westgefangenschaft definitiv noch eine
gewisse Rolle.
Auf der anderen Seite blieb das Merkmal der sowjetischen Kriegsgefangenschaft ein
kaderpolitischer Positivfaktor. Ein Blick auf den Anteil der sowjetischen Kriegsgefangenen
an den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in den DDR-Regierungsdienststellen verdeutlicht
das.1125 Denn Anfang der fünfziger Jahre wiesen rund zwanzig Prozent der beschäftigten Pgs.
dieses Merkmal auf. Das waren doppelt so viele wie im gesamten Mitarbeiterstab. Im
Vergleich zum NS-Sample der Wirtschaftskommission hat es also kurzfristig eine erhebliche
Steigerung gegeben. Sie war wohl zum einen auf die allgemein verzögerte Rückkehr
ehemaliger Wehrmachtsangehöriger aus der UdSSR zurückzuführen. Zum anderen galt eine
sowjetische Kriegsgefangenschaft für NS-Belastete offenkundig als ganz besonderer
kaderpolitischer Vorteil. Es wurden jedenfalls bevorzugt ehemalige NSDAP-Mitglieder mit
diesem Merkmal eingestellt. Denn diese Personen waren nie in die Hände der westalliierten
Klassenfeinde geraten und konnten laut SED weniger wahrscheinlich mit Sabotage- und
Spionageaufträgen ausgestattet worden sein. Das war insbesondere für ehemalige NSDAPAngehörige, bei denen die Gefahr einer besonderen Affinität zum Klassenfeind akuter
erschien als bei anderen, von Wichtigkeit.
Noch eine andere Beobachtung ist hierbei relevant, nämlich in Bezug auf die leitenden
Funktionäre: In den Jahren 1951-1953 stieg der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in
leitenden Positionen des DDR-Regierungsapparates von vier auf zehn Prozent. Die Pg.-Quote
auf den anderen Hierarchie-Ebenen blieb hingegen relativ konstant.1126 Da zeitgleich
innerhalb der NSDAP-Angehörigen der Anteil derjenigen Pgs., die Leitungskader und in
sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, von 36 auf 19% fiel,1127 folgt daraus, dass eine
vermehrte Einstellung von ehemaligen Pgs. in Führungspositionen stattfand, die sich nie in
russischen Lagern befunden hatten. Ein vergleichbar starker Rückgang dieses Merkmals ist
für die im Osten gefangenen NSDAP-Mitglieder auf den anderen Hierarchie-Ebenen nicht zu
verzeichnen. Man könnte deshalb die These wagen, dass eine sowjetische
Kriegsgefangenschaft für ehemalige Nationalsozialisten im Laufe weniger Jahre immer
weniger wichtig wurde, um im zentralen Staatsapparat leitende Funktionen ausüben zu
dürfen. Eine solche Annahme würde mit der bereits geäußerten Vermutung harmonieren, dass
der Makel einer westlichen Kriegsgefangenschaft parallel dazu ebenfalls unerheblicher
wurde. Beides geschah nicht, weil die Personalleiter keine Gefahr mehr in einer westlichen
Gefangenschaft und keine Vorteile mehr in einer sowjetischen gesehen hätten, sondern weil
der massive Kadermangel sie dazu zwang. Dennoch bleibt festzuhalten, dass unter den
ehemaligen NSDAP-Mitgliedern genauso wie bei den restlichen Regierungsangestellten
grundsätzlich umso mehr sowjetische Kriegsgefangene zu finden waren, je höher die
eingenommene Position im Verwaltungsapparat rangierte. Gleiches ist für die politisch
besonders bedeutsamen Dienststellen zu vermuten.1128
Die HA Personal führte genau Buch darüber, welche früheren NSDAP-Mitglieder im
Regierungsapparat sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befunden und dort Schulungen
abgelegt hatten.1129 Das Gleiche galt für ehemalige Offiziere der Wehrmacht.1130
1125
1126
1127
1128
1129
Eine grafische Darstellung und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 64), 659.
Siehe Kapitel „Vertikale Arbeitsbereiche: Positionshöhen“, ferner: Kuhlemann, Kader (2005), S. 333 ff.
(Abb. 47).
Quellenangaben und ein entsprechendes Diagramm siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 65),
659.
Vgl. die SPK, in der 1958 50% der ehemaligen Offiziere und Feldwebel in sowjetischer
Kriegsgefangenschaft waren, in: DY 30 / IV, 2/11/134, Bl. 344, Bericht über die kaderpolitische
Zusammensetzung der Staatlichen Plankommission, undatiert (Eingangsstempel: Mai 1958).
Das MdI, HA Personal schickte 1951 eine Aufstellung aller ehemaligen NSDAP-Mitglieder und
Wehrmachtsoffiziere in den Ministerien, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, auch an das ZK,
Jens Kuhlemann – Braune Kader
240
Grundsätzlich bemühten sich alle Dienststellen, Angestellte mit diesem Merkmal zu
bekommen. Denn weil sie nicht in Berührung mit dem westalliierten Klassenfeind gekommen
waren, galten sie als politisch mehr oder weniger unverdächtig. Mehr noch, es sahen sich
viele ehemalige Soldaten in der sowjetischen Gefangenschaft mit der Propaganda und der
Ideologie der Kommunisten konfrontiert. Zeitlich begünstigend oder in Wechselwirkung
hierzu hielt der Verbleib in den Lagern bei den im Osten arretierten Gefangenen wie anfangs
erwähnt vielfach länger an als bei denjenigen Soldaten, die den Westalliierten in die Hände
fielen. Die Untersuchung der NS-Belasteten in der DWK bestätigt dies. Nur wenige von ihnen
ließ die Rote Armee bereits nach ein paar Monaten wieder frei, die meisten blieben zwei bis
vier Jahre.
Allgemein lehnte die Masse der deutschen Kriegsgefangenen eine Zusammenarbeit mit
der Roten Armee ab. Sowjetische Offiziere und KPD-Funktionäre schufen jedoch nicht selten
durch politischen und moralischen Druck ein gewisses Potenzial willfähriger
Wehrmachtsoffiziere. Einige von ihnen versuchten, sich nach der Rückkehr nach Deutschland
ihren „Verpflichtungen“, bestimmte Funktionen auszufüllen, zu entziehen, zumeist durch
Westflucht.1131 Andere hingegen zeigten sich wahrhaftig aufgeschlossen und nahmen in den
Lagern eine relativ aktive politische Rolle ein. Diese führten sie in den DDRRegierungsdienststellen fort und zählten dort zu den wertvollsten und entwicklungsfähigsten
Kadern.1132 Die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesenen DWK-Mitarbeiter waren
überdurchschnittlich oft Mitglied der SED.1133 Die Personalabteilungen trauten ihnen zu,
indifferente Kollegen zu beeinflussen und für die sozialistische Idee zu gewinnen.1134 Die
Gruppe der früheren sowjetischen Kriegsgefangenen diente dabei auch als „Ausgleich“ zur
Gruppe der westlichen Gefangenen. Ihr zahlenmäßiges Verhältnis zueinander war somit ein
kaderpolitisches Unterkriterium. Denn eine politisch mit zuverlässigen Mitarbeitern
durchsetzte Verwaltung schien eine Sabotagetätigkeit frühzeitig melden und bekämpfen zu
können.
Das Mitteilungsbedürfnis der NS-Belasteten über die Zeiten ihrer Kriegsgefangenschaft
beschränkte sich in ihren offiziellen Lebensläufen meist auf Formalia wie Ort und Zeit.
Wahrscheinlich waren die psychologischen Hindernisse, gerade im Falle der Russen die
Feinde von einst und offiziellen Freunde von jetzt auch innerlich als Befreier und Partner
anzuerkennen, zu groß. Vor allem bei den sowjetischen Kriegsgefangenen unter den
ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern im zentralen Staatsapparat kam es jedoch vor,
dass sie erwähnten, im Anschluss an ihre Gefangennahme zum erstenmal über die „wahren“
Hintergründe des Krieges und des Nationalsozialismus aufgeklärt worden zu sein. Die
Begegnung mit der Ideologie der früheren Kriegsgegner habe ihnen die Augen geöffnet. Sie
schilderten eine Entwicklung ihres Bewusstseins, wie sie die Kommunisten anstrebten und
wie es kaderpolitisch von Nutzen war – sei es, dass dies aus wirklicher Überzeugung geschah,
sei es, dass die Betreffenden nur so taten, weil sie wussten, was ihnen Vorteile verschaffte.1135
Eine besondere Rolle hinsichtlich einer politischen Neupositionierung spielte das
spätere Mitglied des DWK-Sekretariats und des Ministerrates Luitpold Steidle. Als
1130
1131
1132
1133
1134
1135
Abt. Kader, siehe: DO 1 / 26.0, 17567, Aufstellung, vom 09.08.1951; ebd., [MdI, HA Personal,] an ZK der
SED, Abteilung Kader, vom 14.08.1951.
Siehe Kapitel „Militärdienst“, außerdem: Kuhlemann, Kader (2005), S. 623 ff. (Abb. 58).
Wenzke, Wege, S. 224 f.
DO 1 / 26.0, 17566, Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Personalabteilung, Bericht über die
Arbeit der Personalabteilung IV. Quartal 1951, vom 03.01.1952, S. 4.
Es gab aber auch viele Parteilose, hingegen fast keinen, der einer anderen Partei als der SED angehörte,
siehe: DO 1 / 26.0, LV / 49/3/1, DWK, [HA Personalfragen und Schulung,] Parteizugehörigkeit der in
sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesenen Mitarbeiter, vom 16.07.1949.
DO 1 / 26.0, 17602, Ministerium für Industrie, HA Chemie, Vierteljährliche Berichterstattung an die
Hauptabteilung Personal des Ministeriums des Innern der DDR, vom 20.04.1950, S. 3.
Beispiele (Hans Naake, Kurt D.) siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 661.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
241
Regimentskommandeur im Range eines Oberst geriet er im Januar 1943 in Stalingrad in
sowjetische Gefangenschaft.1136 Steidle gehörte kurzzeitig der NSDAP an, die
Parteizugehörigkeit endete mit einem Ausschluss.1137 In der SBZ/DDR und offenkundig auch
schon gegenüber der Roten Armee verschwieg er diese Umstände. Laut interner Ermittlungen
des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD war der Ritterkreuzträger bis zu seiner
Gefangennahme als „politisch nachteilig nicht bekannt“ geworden.1138 Der spätere CDUSpitzenfunktionär wurde 1943 Mitbegründer des Bundes Deutscher Offiziere und dessen
Vizepräsident1139 bzw. Mitbegründer des Nationalkomitees „Freies Deutschland“.1140 Bis
1945 agierte Steidle als Frontbeauftragter des BdO1141 bzw. des NKFD, wurde Sprecher beim
Rundfunksender „Freies Deutschland“ in Moskau und Mitarbeiter der gleichnamigen
Wochenzeitung. Er versuchte darüber hinaus wie andere NKFD-Mitglieder auch über
Flugblätter und Lautsprecher auf deutsche Soldaten an der Ostfront einzuwirken.1142 Steidle
bewegte sich also aktiv auf der höchsten Ebene der von der UdSSR aus den Kriegsgefangenen
formierten deutschen Gegenelite. Ein deutsches Gericht verurteilte ihn dafür in Abwesenheit
zum Tode.1143 Eine Mithilfe bei der psychologischen Kriegführung oder als Überläufer im
Rahmen der Kampfhandlungen begrüßte die Rote Armee natürlich ganz besonders. Jedoch
war nur eine verschwindend geringe Zahl der gefangenen Deutschen dazu bereit, die Stimme
oder gar eine Waffe gegen ihre eigenen Landsleute zu erheben. Nicht zuletzt drohte die
persönliche Ächtung als „Verräter“ und die Bestrafung der Familie im Zuge der sogenannten
Sippenhaft.
1943 gegründet riefen BdO und NKFD als Zusammenschlüsse kriegsgefangener
deutscher Soldaten Volk und Wehrmacht zum Widerstand gegen Hitler auf. Die
versammelten Offiziere hofften, in Kooperation mit der Sowjetunion für die Erhaltung eines
freien, unabhängigen Deutschen Reiches wirken zu können. Das Nationalkomitee verwendete
in Anknüpfung an alte Traditionen die preußischen bzw. kaiserlichen Farben Schwarz-WeißRot. Ziel war der Sturz Hitlers, anfangs auch eine Zusammenarbeit mit der deutschen
Armeeführung, ein Friedensabschluss und ein geordneter Rückzug der Wehrmacht ins
deutsche Kerngebiet. Nach der Konferenz von Teheran änderte sich ab 1944 die Propaganda.
Es kamen Aufrufe an das deutsche Volk gegen den Faschismus und seine Helfer sowie
Forderungen nach einer Volkserhebung hinzu, außerdem nach bedingungsloser Einstellung
der Kämpfe und Fahnenflucht. Die Agitation blieb fast wirkungslos, die politischen Ziele
wurden nicht erreicht.1144
1136
1137
1138
1139
1140
1141
1142
1143
1144
Zum genauen Tag der Gefangennahme liegen unterschiedliche Angaben vor, siehe: Kuhlemann, Kader
(2005), S. 661; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 3, 10, 31.
Kuhlemann, Kader (2005), S. 661.
Ab März 1943 hielt sich Steidle im Lager 27 auf. Ein als geheim eingestufter Brief des Chefs der Sipo und
des SD nannte ihn 1943 als Gast der Gründungskonferenz des Nationalkomitees „Freies Deutschland“. Das
Schreiben bezweifelte die Echtheit des NKFD. Es hieß, das Nationalkomitee stelle »nichts anderes als ein
von Emigranten erdachtes, inszeniertes und propagandistisch geschickt aufgezogenes Theaterstück dar.
Seine Statisten sind meist hungernde, willensberaubte deutsche Kriegsgefangene, die unter der Wucht der
genügend bekannt gewordenen bolschewistischen Propaganda- und Behandlungsmethoden, in der
Hoffnung, ihr Los zu verbessern, nach streng vorgeschriebenen Formen oder Bedingungen marionettenhaft
ihre Rolle spielen.« Siehe: SAPMO / BA Berlin, Film 5414, Bl. 52410 ff., Der Chef der Sicherheitspolizei
und des SD, betr.: „Nationalkomitee Freies Deutschland“, an das Auswärtige Amt, Abteilung Inland II,
Geiger, vom 03.08.19[43].
Černý, DDR, S. 436.
Laut Herbert Weißhuhn habe Steidle bei der Gründung des NKFD noch „unentschieden beiseite“
gestanden, siehe: Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 10 f.
Broszat / Weber, SBZ-Handbuch, S. 1036.
Nationalsozialisten (1958), S. 37; Nationalsozialisten (1965), S. 89.
Joseph, Nazis, S. 171.
Einzelheiten zur Geschichte des NKFD bzw. BdO, die sich vor allem aus deutschen Soldaten in
sowjetischer Kriegsgefangenschaft zusammensetzten und zum Widerstand gegen Hitler aufriefen, siehe:
Jens Kuhlemann – Braune Kader
242
Die Lebensumstände in den Lagern, der zwischenmenschliche Umgang, die ganz
unpolitischen, alltäglichen Dinge, Leiden und Sehnsüchte tauchen in den Quellen nicht auf.
Das galt auch für die westlichen Kriegsgefangenen unter den früheren NSDAP-Mitgliedern.
Der Grund dafür lag sicher nicht darin, dass sich solche Erfahrungen weniger intensiv in das
Gedächtnis eingebrannt hätten. Vielmehr waren sie in der SBZ/DDR politisch nicht von
Vorteil oder irrelevant, solange sich aus ihnen keine positive Annäherung an die Sowjetunion
und den Marxismus-Leninismus ableiten ließ. Es gab auch keine Klagen, etwa über schlechte
Versorgung oder die manchmal lange Zeit fern von daheim. Denn Beschwerden hätten ja so
gedeutet werden können, dass man die Ursache der Kriegsgefangenschaft, nämlich die
Teilnahme an Hitlers Vernichtungskrieg, nicht als gerechten Grund ansah, die
Sicherheitsforderungen und Aufbaubemühungen der vom Deutschen Reich angegriffenen
Länder teilweise in Form einer massenhaften Gefangennahme und somit Bestrafung deutscher
Soldaten zu befriedigen. Eine derartige politisch unkorrekte Aussage hätte das Ende einer
Karriere bedeuten können. In diesem Zusammenhang bleibt nur noch zu erwähnen, dass die
untersuchten Ex-Nationalsozialisten, die sich in westlicher Gefangenschaft befunden hatten,
auf der anderen Seite so gut wie keine Hasstiraden auf die Amerikaner, Briten etc. zu Papier
brachten. Es hätte ihnen ja theoretisch Vorteile verschaffen können, wenn sie die Begegnung
mit dem Klassenfeind negativ geschildert hätten. Das war aber nicht der Fall. Also gab es
diesbezüglich entweder keine Abscheu und keinen Konflikt, so dass es angebrachter erschien,
diesen unvorteilhaften Westkontakt mit Schweigen zu bedecken. Oder es sollte auch im Falle
einer Westgefangenschaft der Eindruck vermieden werden, dass man sich nach dem, was man
zuvor militärisch angerichtet hatte, noch in der Position glaubte, Ansprüche zu stellen.
Doch zurück zu den sowjetischen Kriegsgefangenen. Die UdSSR, flankiert von
emigrierten deutschen KPD-Funktionären, versuchte mit einigem Erfolg, aus diesem
Personenkreis Eliten zu sichten und zu formen, die in einem Nachkriegsdeutschland im Sinne
der Kommunisten handelten oder ihnen zumindest aufgeschlossen gegenüberstanden. Das
Nationalkomitee „Freies Deutschland“ stellte diesbezüglich einen wichtigen Sammelplatz dar.
Zusammen mit Teilnehmern politischer Schulungen im Rahmen der Kriegsgefangenschaft,
den sogenannten Antifa-Schülern, wurden solche Kräfte gezielt zur Wahrnehmung wichtiger
Funktionen in die SBZ/DDR vermittelt, auch in die Deutsche Wirtschaftskommission.1145
Gerade Offiziere der Wehrmacht verfügten über eine höhere Bildung und brachten
hochwertige Berufserfahrungen aus dem Zivilleben mit.
Für die untersuchten Angestellten der Deutschen Wirtschaftskommission, die den
Behörden als ehemalige Nationalsozialisten bekannt waren, ließ sich eine NKFDZugehörigkeit allerdings nur ganz selten nachweisen. Darüber hinaus absolvierten, soweit
ersichtlich ist, nur vier NS-Belastete eine Antifa-Schulung.1146 Diese eher geringfügige
Präsenz von Antifa-Schülern war offenbar im Wesentlichen der bis Ende der vierziger Jahre
spärlichen Rückführung deutscher Kriegsgefangener geschuldet und sollte sich innerhalb
kürzester Zeit ändern. Bereits 1951 hatte nämlich fast die Hälfte aller in den Ministerien
beschäftigten Pgs., die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befanden, eine AntifaSchule besucht. Das numerische Niveau der Kursabsolventen lag damit bei den ehemaligen
1145
1146
Kuhlemann, Kader (2005), S. 662 f.; Schütz, Wörterbuch, S. 443 f.; Zentner / Bedürftig, Lexikon, S. 96,
401; Weißhuhn, Luitpold Steidle, S. 10 f.
Danyel, Macht, S. 81; ders., SED, S. 184.
Es waren dies Werner Stübner, Erwin Melms, Rudolf Lang und Otto V., Quellenangaben siehe:
Kuhlemann, Kader (2005), S. 664. Es ist eine Frage wert, warum die Westalliierten nicht ähnlich zielstrebig
vorgingen und noch zu Kriegszeiten freiheitlich-demokratisch gesinnte Kräfte in ihren Gefangenenlagern
zwecks Übernahme von verantwortlichen Positionen in Deutschland in vergleichbarer Größenordnung und
Organisation zusammenführten. Möglicherweise lag der Grund eventuell darin, dass die Westalliierten erst
relativ spät, ab 1944, in größerer Zahl Gefangene machten, aus denen man hätte schöpfen können.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
243
NSDAP-Mitgliedern deutlich höher als im gesamten Regierungspersonal.1147 Innerhalb von
drei Jahren ging der Anteil der Antifa-Schüler unter sämtlichen NSDAP-Mitgliedern in den
Ministerien zwar prozentual von neun auf fünf Punkte zurück. Nur noch ein Viertel all
derjenigen Pgs., die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft waren, hatten somit in der UdSSR
eine ideologische Schulung durchlaufen. Diese Entwicklung liegt jedoch meines Erachtens im
rasanten Anwachsen der gesamten Mitarbeiterzahl der Regierungsdienststellen begründet. In
absoluten Zahlen blieb der Block der „Antifa-Pgs.“ nämlich konstant.1148
Dieser Verlauf lässt den Schluss zu, daß die Antifa-Schüler generell ein relativ kleines
Kaderreservoir darstellten und früher als ihre Kameraden nach Deutschland zurückkehrten.
Darüber hinaus waren die im zentralen Staatsapparat beschäftigten Antifa-Schüler offenbar
relativ direkt in diesen überführt worden. Geschulter Nachwuchs aus der Sowjetunion kam
anschließend kaum noch nach. Außerdem zeigten sie sich gegen die grassierende
Personalfluktuation gefeiter als ihre Kollegen. Dieser Verlauf ist auch vor dem Hintergrund
zu betrachten, dass das Sekretariat des Zentralkomitees der SED Anfang der fünfziger Jahre
anordnete, frühere NSDAP-Mitglieder, die keine marxistischen Schulen besucht hatten und in
keiner der DDR-Parteien aktiv mitarbeiteten, aus dem Staatsapparat zu entfernen.1149 Bis
dahin sollten sie beispielsweise nicht mit vertraulichen Verschlusssachen betraut sein.1150
Doch wie die überlieferten MdI-Statistiken zu Antifa-Schülern beweisen, ließ sich diese
puristische Kaderpolitik nicht durchhalten.1151 Mangels Personalalternativen kam es im
Gegenteil sogar zu einem Anstieg der Beschäftigung solcher ehemaliger NSDAPAngehöriger, die laut Verfügung zu entlassen waren.
1945 gab es in der UdSSR etwa 110 Antifa-Schulen mit vierwöchigen Lehrgängen,
circa 50 sogenannte Gebietsschulen mit dreimonatigen Lehrgängen und drei zentrale AntifaSchulen mit einer Lehrgangsdauer von einem halben Jahr. 1949 wiesen diese Einrichtungen
rund 16.000 Absolventen auf.1152 Viele Antifa-Schüler bekannten sich offen und aus ehrlicher
Überzeugung zum neuen System in Ostdeutschland, das für sie überzeugend den Kampf um
Frieden und gegen Militarismus propagierte.1153 Bei ihnen schien das Sicherheitsbedürfnis der
SED und die Unterstützung ihrer politischen Linie in besonderem Maße gewahrt zu sein. Eine
Antifa-Schulung entfaltete für die Personalabteilungen die Wirkung einer mit sehr hoher
Wahrscheinlichkeit gegebenen politischen Zuverlässigkeit. Die Vorstellung, dass Menschen
erziehbar und lenkbar seien und sie sich auf diese Weise zur Verinnerlichung der angeblichen
Gesetzmäßigkeit des Sozialismus dirigieren lassen, schlug hier vollends durch. Antifa-Schüler
wurden deshalb besonders gerne und frühzeitig in den Sicherheitsbereichen wie der
1147
1148
1149
1150
1151
1152
1153
Es ist daneben natürlich auch denkbar, dass außer der ZV Inneres auch die ZV Volksbildung besonders
viele Antifa-Schüler beschäftigte, was den Prozentsatz 1951 nach der gemeinsamen Erfassung mit den
ehemaligen DWK-Ressorts dann insgesamt anhob. Details zur statistischen Erfassung sowie eine grafische
Auswertung siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 64), 664; zu Antifa-Schülern siehe ferner:
DO 1 / 26.0, 17097, XVIII/49/3/1.
Einzelheiten zu absoluten Zahlen siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 664 f.
Diese ehemaligen NSDAP-Mitglieder waren in den Statistiken zum Regierungspersonal gesondert
auszuweisen. Daraufhin umfasste die statistische Erfassung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder und
Wehrmachtsoffiziere im Regierungspersonal von Dezember 1951 bis 1953 gesonderte Erhebungen zur
Kriegsgefangenschaft und zu Schulungen während des Aufenthaltes in sowjetischem Gewahrsam, ferner zu
Parteilosen, siehe: NY 4182 / 1091, Bl. 79, Stellungnahme des Sekretariats des ZK zu dem von der
Kaderabteilung gegebenen Bericht über die kaderpolitische Situation im Apparat der Regierung der DDR,
[1951].
DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „V“, [MdI,] Richtlinien für die Tätigkeit im Referat Personalfragen, Schulung und
Entwicklung, undatiert, 2. Seite; vgl. DO 1 / 26.0, 2476, s.v. „IJ“, Ihlau, an Pieck, vom 09.10.1951; ebd.,
[MdI,] an Ihlau, vom 01.11.1951.
Entsprechende Diagramme und Quellenangaben siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 64 und
66), 665.
Welsh, Wandel, S. 42.
Wenzek, General, S. 178 f.; Simsch, Grenzen, S. 250.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
244
Deutschen Verwaltung des Innern eingesetzt.1154 In Bezug auf die früheren NSDAPMitglieder unter ihnen schien in den Augen der SED-Wertelite das Risiko minimal zu sein,
sich Kader mit wahrhaft faschistoidem Gedankengut ins Boot zu holen. Der ausgiebige
Kontakt mit sozialistischen Ideen in den Gefangenlagern, die fruchtbare Konfrontation mit
einer Beurteilung des Nationalsozialismus im Sinne der Kommunisten war ihnen Gewähr
genug.
Der Wert einer ideologischen Umerziehung spiegelt sich auch in der Frage wieder, in
welchen Funktionen die Antifa-Schüler unter den früheren Pgs. eingesetzt wurden. Es zeigt
sich, dass vor allem leitende Posten betroffen waren, weit weniger die mittleren
Positionshöhen der Referenten und fast gar nicht die untere Verwaltungsebene. Der schon
erwähnte Frauenfaktor schlug diesbezüglich kaum zu Buche.1155 Wer also in herausragender
Weise marxistisch-leninistischer Überzeugung war, sollte erhöhten Einfluss auf
Entscheidungen und deren Umsetzung erhalten. Dabei steckte die Machtelite viel Vertrauen
in die politisch geschulten Kräfte. Die ehemaligen Nationalsozialisten stellten hierbei keine
Ausnahme dar. Auch die vier Antifa-Absolventen innerhalb des NS-Samples füllten in der
DWK oder DDR-Regierung bis auf einen sämtlich Leitungsfunktionen aus.
Einer von ihnen, NSDAP-Mitglied und später DWK-Oberreferent, wurde als Spezialist
in sowjetische Kriegsgefangenschaft überführt. Er habe sich nach eigener Aussage
verpflichtet gefühlt, den deutschen Soldaten über den Faschismus die Augen zu öffnen. Der
ehemalige Pg. habe marxistische Literatur studiert, mit einem Gefühl der „Ehrenpflicht“ am
Wiederaufbau in der Sowjetunion mitgearbeitet und sei als Bestarbeiter ausgezeichnet
worden. Er habe fast ein ganzes Jahr auf der Zentralschule verbracht und seine politischen
und theoretischen Kenntnisse vertieft, wie er schrieb zur Erlangung innerer Festigung und
Klarheit. Am Ende habe der frühere NSDAP-Angehörige den sogenannten antifaschistischen
Eid geleistet, was er gegenüber der SED einen der größten Höhepunkte seines Lebens
nannte.1156 Der zweite Pg. habe laut eigenen Angaben nach seiner Gefangennahme zunächst
drei Monate ernster innerer Auseinandersetzungen benötigt, bis er dem Nationalkomitee
„Freies Deutschland“ beitrat. Dann habe er begonnen, sich zu schulen. Der spätere DWKAngestellte habe 1947 einen 3-Monatslehrgang an der Antifa-Schule des Lagers 7150 belegt,
den er mit „gut“ abgeschlossen habe. Er habe sich mit der KPdSU (B) und der Geschichte der
Arbeiterbewegung befasst. Im Lager habe er als Organisationsleiter des Antifaschistischen
Aktivs gearbeitet. Der ehemalige NSDAP-Angehörige sei nach eigenem Bekunden fortan
konsequent für seine neu gewonnene Erkenntnis eingetreten.1157
Am Beispiel des dritten NS-belasteten Antifa-Schülers in der DWK lassen sich die
Selektion geeigneter Kandidaten unter den gefangenen deutschen Soldaten und die eigentliche
ideologische Remodulation besonders eindrücklich verdeutlichen. Rudolf Lang, bis zum
Dienst in der Wehrmacht als promovierter Jurist Oberpostrat bei der Reichspost, gehörte der
NSDAP und mehreren anderen NS-Organisationen an. Vorübergehend war er darüber hinaus
Mitglied der SA. Im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens schilderte Lang seine
Erfahrungen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft wie folgt: »Am 14.1.45 geriet ich in
Gefangenschaft. Wir kamen nach 2 Tagen in ein besonderes Lager und wurden dort von
höheren Offizieren besichtigt, die positive Fragen an uns richteten und über die Verhältnisse
in der Sowjet-Union berichteten. Es wurden zunächst bestimmte Gruppen von den anderen
etwas getrennt, z.B. die den Linksparteien angehörten, alle Abiturienten und Funker.
Einsiedel führte mit jedem einzelnen politische Gespräche. Nachdem wir uns geraume Zeit
1154
1155
1156
1157
DO 1/7/38, Bl. 80, DVdI, an SMAD, Verwaltung des Innern, Gorochow, vom 15.11.1948 (Entwurf).
Kuhlemann, Kader (2005), S. 650 ff. (Abb. 66), 666.
Es war der spätere leitende Verwaltungskader Werner Stübner. Die Angaben ergingen anlässlich der SEDMitgliederüberprüfung 1951, siehe: DY 30 / IV, 2/11/177, Bl. 375-379.
Details zu Erwin Melms, dessen Angaben ebenfalls aus Anlass der SED-Mitgliederüberprüfung 1951
ergingen, sowie ferner zum Antifa-Schüler Hans Reichelt siehe: Kuhlemann, Kader (2005), S. 666 f.
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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über die Beurteilung der Verhältnisse unterhalten hatten (das Gespräch währte 1 1/1 [sic] – 2
Stunden), fragte er mich, ob ich bereit wäre, das, was ich ihm als meine Überzeugung
geschildert hatte, auch zu verwirklichen. Ich hatte die Möglichkeit, ein Leben zu führen, das
kein Gefangenenleben ist. Er warnte mich und sagte, die in der Gefangenschaft bleiben,
haben es leichter, aber Sie haben die Möglichkeit einer geistigen Beschäftigung. Wir wurden
dann von russischen Offizieren über unseren Lebenslauf gefragt. Es schieden eine Menge
Leute aus, die Einwendungen machten. Wir anderen wurden in derselben Nacht mit einem
Kraftwagen 50 km weit in ein Dorf gefahren. Wir fanden in einem einfachen Bauernhaus 2
deutsche Antifaschisten vor. Nach einigen Tagen begann der Schulungskursus; die
Geschichte des Krieges und alle damit zusammenhängenden Themen wurden behandelt. Die
Zahl der Teilnehmer war erst 20, dann kamen 24 Mann dazu. Nach dem Lehrgang wurde der
antifaschistische Eid geleistet. Wir wurden gefragt, ob wir einsatzbereit wären. Die Einsätze
waren gegen die deutsche Wehrmacht gerichtet. Wir bekamen deutsche Uniformen angezogen
und mussten hinter die Linien gehen und zersetzend wirken.« Der Vorsitzende der
Entnazifizierungskommission meldete Zweifel an, ob Lang in einer so kurzen Zeit tatsächlich
einen echten Gesinnungswandel durchlaufen habe. Dem entgegnete Lang: »Nur derjenige,
der dasselbe mitgemacht hat, kann ermessen, welche Entwicklung ein Mensch durchmachen
kann.«1158
Eine eher außergewöhnliche Zuspitzung durch physische Teilhabe an gewagten
militärischen Aktionen. Bis es soweit kam, hätten sich deutsche Offiziere, die schon vorher
die Seiten gewechselt hatten, mit Lang und den anderen gefangenen Soldaten unterhalten. Sie
stellten vielleicht allein aufgrund ihres Ranges immer noch Respektspersonen dar und sollten
herausfinden, wer sich gemäß seiner politischen Einstellung, Bildung und Einsatzbereitschaft
als Antifa-Kandidat eignete. Es war sicherlich ein geschickter Schachzug der Roten Armee,
frühzeitig Deutsche an der Rekrutierung und Ausbildung antifaschistischer oder gar im
sozialistischen Sinne entwicklungsfähiger Landsleute zu beteiligen. Sie genossen bei jenen
mehr Vertrauen und fanden einen leichteren Zugang. Lang nannte namentlich Leutnant
Heinrich Graf von Einsiedel, einen führenden Funktionär des Nationalkomitees „Freies
Deutschland“.1159 Wer Widerspruch oder Unentschlossenheit äußerte, sei ausgeschlossen oder
je nach Neigung einer mehr oder weniger umfangreichen Schulung zugeführt worden. An
deren Ende sollte der gewünschte Bewusstseinszustand gegeben sein. Darauf folgte meist ein
ziviler Einsatz. Nur eine kleine Minderheit unter den Antifa-Schülern sei für fähig und
vertrauenswürdig gehalten worden, unter Lebensgefahr direkt im Feindgebiet zu agieren. Der
Obergefreite Lang habe zu ihr gezählt. Die skizzierte Gruppeneinteilung diente der
Klassifizierung des individuellen Potenzials, das zur Gänze auszuschöpfen war. Bei einigen
dauerte die „Umerziehung“ länger, bei anderen kürzer. „Talenten“ gab man die Möglichkeit,
sich Zeit zu nehmen und immer weiter in den Marxismus-Leninismus zu vertiefen. Der Krieg
wirkte dabei auch ohne politische Nachhilfe vielfach als „Gesinnungskatalysator“. Millionen
Deutsche bewegte die persönliche Begegnung mit dem Horror des Krieges zur Abkehr vom
Hitler-Regime, wenn auch meist bei weitem nicht so radikal wie im zitierten Fall.
Eine ganze Reihe von Zeugen bestätigten Langs Angaben anläßlich seiner
Entnazifizierung und schilderten weitere Einzelheiten seines politischen Engagements: So
äußerte ein Wehrmachtskamerad über den ehemaligen NSDAP-Angehörigen: »Nach unserer
Gefangennahme beschlossen wir gemeinsam, die erste Gelegenheit zum Kampf gegen die
Hitler-Wehrmacht wahrzunehmen. Auf seine Initiative meldeten wir uns zu einer
antifaschistischen Frontschule, die im Rahmen der Bewegung „Freies Deutschland“ bei einer
1158
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ZJ 53, A. 6, Entnazifizierungskommission beim Magistrat der Stadt Berlin, Allgemeine Kommission,
Protokoll der [1.] Hauptverhandlung am 16. Januar 1947, vom 21.01.1947.
SAPMO / BA Berlin, Film 5414, Bl. 52411, Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, betr.:
„Nationalkomitee Freies Deutschland“, an das Auswärtige Amt, Abteilung Inland II, Geiger, vom
03.08.19[43].
Jens Kuhlemann – Braune Kader
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höheren Dienststelle der Roten Armee eingerichtet war. Wir nahmen dort an einem etwa 6
Wochen dauernden politischen Kursus teil, nach dessen Abschluss die Frontschüler den
antifaschistischen Eid leisteten und zu Einsätzen herangezogen wurden, bei denen viele
Antifaschisten ihr Leben einbüssten. In der Zeit nach dem oben erwähnten Lehrgang
unternahm es Dr. Lang, die Geschichte des bei der Frontschule befindlichen
Konzentrationslagerhäftlings Walter Becker aufzuzeichnen. Die Aufzeichnung wurde in vielen
Exemplaren abgeschrieben und diente als Unterlage für die politische Aufklärung der
Bevölkerung und der Kriegsgefangenen durch die Antifaschisten. Dr. Lang entwarf
Flugblätter, die gegen die Hitler-Wehrmacht gerichtet waren.« Der spätere DWKLeitungskader sei nach März / April 1945 vorerst bei der Frontschule verblieben.1160 Das
Kommando hinter den deutschen Linien hatte also relativ bald geendet und er konnte lebend
zurückkehren. Lang betätigte sich aktiv im Nationalkomitee „Freies Deutschland“, dem er
zwischenzeitig beigetreten war.1161 Der Antifa-Schüler habe publizistische Arbeit geleistet,
um Zivilisten und Wehrmachtsangehörige zu beeinflussen. Unter anderem habe ein Flugblatt
besondere Anerkennung gefunden, in dem Lang die deutschen Soldaten an der Oderfront
wenige Kilometer vor Berlin zur Aufgabe aufrief.1162
Weitere Zeugen bestätigten, dass Lang eine intensive politische Auseinandersetzung
und ein reges Studium betrieben habe. Der ehemalige Pg. sei sogar vom Schüler zum AntifaLehrer aufgestiegen und habe vor deutschen Soldaten, die in sowjetische
Kriegsgefangenschaft geraten waren, mit großer Überzeugungskraft doziert.1163 Die
Zugehörigkeit zu diesem erlesenen Kreis belegt nach den Aktivitäten im gegnerischen
Territorium erneut ein herausragendes Zutrauen der Sowjets. Die NSDAP-Mitgliedschaft, zu
der Lang sich offen gegenüber den Antifa-Schülern bekannt habe, war ihm dabei nicht
hinderlich. Er konnte glaubhaft einen politischen Lernprozess samt innerer Neuausrichtung
vertreten. Der erwähnte antifaschistische Eid beinhaltete dabei die Unterwerfung unter die
Befehlshoheit der Roten Armee. Er appellierte an Ehre und Pflichtgefühl und sollte eine
Bindungswirkung entfalten. In diesem Zusammenhang ist auch die Überantwortung einer
journalistischen Funktion in der SBZ zu sehen, indem Lang Verwendung bei der Herausgabe
der ersten deutschen Zeitung in Mecklenburg-Vorpommern fand.1164
Ein bereits im Entnazifizierungsverfahren durchaus relevanter Aspekt war, inwiefern
mit der Abkehr vom Nationalsozialismus gleichzeitig eine mentale Hinwendung zum
Sozialismus verbunden war. Der Einsatz zugunsten der Roten Armee scheint diesbezüglich
nicht alle Fragen restlos beantwortet zu haben. Ein Frontschüler äußerte zu Langs
Lehrtätigkeit: »Was mich interessierte an ihm, war die Art, wie er versuchte, den jungen
Menschen dort, die nichts anderes als den Faschismus kannten, eine neue antifaschistische
Grundeinstellung durch seine Tätigkeit zu vermitteln.« Eine Angehörige der
Entnazifizierungskommission hakte nach: »Hat der Appellant Herr Lang eine richtige klare
sozialistische oder marxistische Schule gegeben oder hat er nur die Leute als Antifaschisten
überzeugen wollen? Zeuge: Die Frage ist nicht ganz so einfach zu beantworten, wie sie
gestellt scheint. Selbstverständlich lag in dem ganzen Schulunterricht dort eine gewisse
sozialistische Tendenz. Aber das, was übermittelt wurde, war nicht Sozialismus, sondern eine
antifaschistische Einstellung im Sinne der späteren Blockpolitik. Ich bin nicht in der Lage, mit
völliger Sicherheit zu sagen, ob das, was an sozialistischer Einstellung dort zum Ausdruck
1160
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