Einführung

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Einführung
Aktuelle Rechtsprechung zum Kinderschutz
Einführung
Hätte ich den Vortrag vor rund einem halben Jahr gehalten, dann hätte ich einen der
aufwühlenden Fälle der amtsgerichtlichen Praxis plakativ an den Anfang gestellt wie
z.B. den der Mutter, die ihre schlampige 9-jährige Tochter mit dem heißen
Bügeleisen maßregelte, so dass diese Brandverletzungen an den Oberschenkeln
davontrug oder auch den Fall des zu dicken, da über 130 kg schweren 12-jährigen
Mädchens mit erheblichen gesundheitlichen Problemen o.ä.
Am OLG, wo ich mittlerweile dauerhaft tätig bin, bietet sich ein etwas anderes Bild:
Man blickt auf die wenigen Kinderschutzfälle vor allem auch aus formaler Sicht im
Hinblick auf die evtl. Verfahrensmängel der ersten Instanz (wie z.B. fehlende
Kindesanhörung) oder – was m.E. sehr ärgerlich und verfahrenshemmend ist – auf
die Befangenheitsanträge der Eltern gegen die sorgerechtsentziehenden Kollegen
der 1. Instanz. Dahinter tritt oft die Brisanz des Falles in der Sache zurück.
Eine Recherche der obergerichtlichen Rechtsprechung ist zunächst überraschend:
Das OLG Stuttgart hat in den letzten 2 Jahren nichts veröffentlicht zu § 1666 BGB,
das OLG Karlsruhe nur zu 2 formalen Fragen im Bereich des Kinderschutzes, einmal
zum Verfahrenskostenhilfeantrag eines nicht sorgeberechtigten Vaters und zur
Beschwerdebefugnis von Pflegeeltern gegen die Vormundauswahl.
Dafür existieren jede Menge Kinderschutzentscheidungen des OLG Brandenburg,
was den Schluss auf ein dortiges gesellschaftliches Phänomen oder Problem
zuließe. Dazu muss man jedoch wissen, dass dieses OLG im Familienrecht fast alles
veröffentlicht….
Schaut man sich die aktuellen Entscheidungen des EuGH, BVerfG bzw. BGH in dem
Bereich an, könnte man fast den Eindruck gewinnen, der verfassungsrechtlich
garantierte Schutz des Elternrechts stünde hinsichtlich des Kinderschutzes deutlich
im Vordergrund. Dazu jedoch später.
Im Einzelnen möchte ich jetzt kurz auf die Kasuistik, die entsprechenden
Sorgerechtsmaßnahmen, verfahrensrechtliche Aspekte und das Elternrecht
eingehen.
1. Kasuistik/ Fallgruppen
a) Hochstreitige Eltern
Grundsätzlich gilt im Verhältnis von § 1666 BGB zu § 1671 BGB das
Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip d.h. wenn durch eine streitige
Sorgerechtsentscheidung nach § 1671 BGB die Gefahr für das Kindeswohl
abgewandt werden kann, kommen Maßnahmen nach § 1666 BGB nicht in
Betracht. Häufig ist es aber gerade andersherum, d.h. der § 1671 BGB
„kapituliert“ vor dem § 1666 BGB (vgl. § 1671 Abs. 4 BGB), und der Elternstreit
führt zu einer solchen Kindeswohlgefährdung, dass Sorgerechtsmaßnahmen im
Sinne des § 1666 Abs. 3 BGB notwendig werden. Das sind in der Regel die
Fälle, in denen der Verfahrensbeistand als Ausweg aus der hochstreitigen
Elternsituation eine partielle Fremdunterbringung (Internat o.ä.) vorschlägt.
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Das OLG Brandenburg1 hält jedoch die Entziehung des Sorgerechts nicht schon
dann für gerechtfertigt, wenn die Eltern nur weiterhin nicht in der Lage sind,
miteinander zu kommunizieren und kooperieren. Gravierende Kommunikationsund Kooperationsdefizite können jedoch die Aufhebung der gemeinsamen
elterlichen Sorge und mit Unterstützung einer Familienhilfe die Übertragung der
vollen oder partiellen Alleinsorge auf einen Elternteil erforderlich machen.
b) Problematischer Umgang mit medizinischen Maßnahmen
Dazu gehören z.B. die Beschneidungsfälle, auf jeden Fall bei Mädchen und wenn
die Beschneidung von Jungen nicht die Voraussetzungen des seit rund einem
Jahr in Kraft getretenen § 1631 d BGB erfüllt.
Die erste obergerichtliche Entscheidung nach der Einführung dieser Vorschrift
stammt vom OLG Hamm2, das detaillierte Vorgaben zu einer Beschneidung im
Sinne des § 1631 d BGB macht (Anhörung des Kindes auch bei dessen nicht
festgestellter
Einwilligungsfähigkeit!).
Danach
ist
die
Frage
der
Kindeswohlgefährdung grundsätzlich auch im Rahmen des § 1631 d BGB am
Maßstab des § 1666 BGB zu beantworten, wobei rein medizinischgesundheitliche Bedenken insoweit nicht maßgeblich sein sollen, da § 1631 d
BGB gerade eine medizinisch nicht indizierte Beschneidung unter bestimmten
Voraussetzungen erlaubt.
Das KG3 Berlin hat zur Abwehr einer Gefährdung eines 11-jährigen Kindes
angesichts von dessen möglicher Transsexualität den Entzug der
Gesundheitssorge und die Übertragung auf einen Ergänzungspfleger für
notwendig gehalten, da die Eltern keine Einigkeit über die Art der ärztlichen
Behandlung erzielen konnten und damit jegliche medizinische Unterstützung des
Kindes blockierten.
Das OLG Sachsen-Anhalt4 hat in einem Schadensersatzprozess festgestellt,
dass die Ärzte nicht rechtswidrig handeln, wenn sie dem Familiengericht zur
Kenntnis bringen und Maßnahmen nach § 1666 BGB anregen, soweit Eltern die
Fortsetzung einer Chemotherapie eines Kindes, die über Leben und Tod
entscheiden kann, verweigern. Wenn dann das Familiengericht das Sorgerecht
einschränkt, kann dies den Ärzten gegenüber keinen Anspruch auf Ausgleich
immaterieller Nachteile wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
begründen.
Nach dem OLG Frankfurt5 kann die Feststellung, es liege eine
Kindeswohlgefährdung vor, nicht allein schon daraus hergeleitet werden, dass
Vorsorgeuntersuchungen nicht durchgeführt werden bzw. keine entsprechende
Meldung nach dem Hessischen Kinderschutzgesetz (an das hessische
Kindervorsorgezentrum) erfolgt ist. Dieser Umstand gibt zwar Anlass zu einem
sog. Gefahrerforschungsauftrag des Jugendamts, rechtfertigt allein aber nicht die
1
FamRZ 2012, 1312, vgl. auch die Rechtsprechungsübersicht bei Wanitzek FN 19
FamRZ 2013, 1818
3
FamRZ 2012, 1071
4
Urteil vom 12.9.2013-1U7/12-juris
5
MDR 2013, 1405
2
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Feststellung, dass im konkreten Einzelfall eine Gefährdung auch tatsächlich
vorliegt.
Veröffentlichte Entscheidungen zum Kinderschutzgesetz Baden Württemberg
vom 3.3.2009 sind mir nicht bekannt.
Ansonsten gehören zu dieser Fallgruppe u.a. auch die „Münchhausen-by-proxyFälle“, die aufgrund einer entsprechenden Sensibilisierung der Ärzte/des
Jugendamtes mittlerweile wieder seltener sind.
c) Nicht bedürfnisgerechte Beschulung / Schulverweigerer
Im Rahmen des § 1666 BGB dürften dazu (noch) nicht die Fälle gehören, in
denen Kinder aufgrund einer Überschätzung der nicht verbindlichen
Grundschulempfehlung nicht bedürfnisgerecht beschult werden, wohl aber
solche, in denen Kinder durch eine elterliche Ablehnung des Förderschulbedarfs
hoffnungslos überfordert in einer Regelschule sind.
Das OLG Köln6 hat in einem Fall den Eltern das Schulregelungsrecht entzogen,
da sie sich weigerten, ihre 11-jährige Tochter eine öffentliche Schule, eine
Ersatzschule oder eine anerkannte Ergänzungsschule besuchen zu lassen.
Ebenfalls eine Kindeswohlgefährdung mit erfolgter Sorgerechtsentziehung sah
das OLG Hamm7 in einem Fall, in dem die 13-jährige Tochter seit 2 Jahren nicht
mehr zur Schule gegangen ist, unbekannten Aufenthalts war und die Mutter das
Auffinden des Kindes durch ihr Verhalten verhinderte.
d) Psychisch kranke / behinderte Eltern
Erstere halte ich aufgrund ihrer Dunkelziffer und schwierigen Enttarnung für die
schwierigste Fallgruppe. In der Regel dürften wir da hinsichtlich der
Erziehungseignung der Eltern8 auf die Einholung eines
psychiatrischen
Sachverständigengutachtens angewiesen sein.
e) Fanatische Weltanschauungsgruppen / Sekten
Auch hier ist die Kindeswohlgefährdung z.B. im Falle der sog. „Gehirnwäsche“
durch Scientologyseminare nicht immer offensichtlich.
f)
Kulturell / religiös bedingte Gefährdungen / Zwangsheirat
In dieser Fallgruppe offenbaren sich zwar relativ schnell die – häufig körperlichen
– Gefährdungssymptome aufgrund von Züchtigungen oder anderen
problematischen Erziehungsmethoden, jedoch fehlt in der Regel (wie auch im
Fall e) jegliche Gefährdungseinsicht oder das Unrechtsbewusstsein (man denke
z.B.
an
manche
afrikanische
Kulturen
mit
noch
archaischen
Züchtigungsmethoden!)
6
FamRZ 2013, 1230
FamRZ 2013, 708
8
Vgl. OLG Brandenburg, B. v. 17.12.2012 -3 UF 84/12-juris bei erhebl. psych. Erkrankungen einer Mutter
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g) Verbringung eines Kindes gegen seinen Willen ins Ausland / Krisengebiet
Dazu als Bsp. ein Fall des AG Stuttgart, in dem ein syrischer Vater seine 15- und
11-jährigen Töchter zum Erhalt einer angemessenen Erziehung im Jahr 2012 in
die bürgerkriegsgeplagte syrische Stadt Homs brachte, aus der die eine Tochter
nur unter größten diplomatischen Anstrengungen wieder nach Deutschland
verbracht werden konnte, nachdem dem Vater des Aufenthaltsbestimmungsrecht
entzogen war.
2. Sorgerechtsmaßnahmen
a) Verhältnismäßigkeitsprinzip
Nach einer Entscheidung des OLG Koblenz9 sind vorrangige Maßnahmen nach §
1666 a BGB öffentliche Hilfen nach den §§ 11 bis 40 SGB VIII. Das Gericht kann
gegenüber den Eltern anordnen, solche Hilfen in Anspruch zu nehmen, wenn sie
sich im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als milderes Mittel
darstellen. Dabei hat das Jugendamt grundsätzlich in eigener Verantwortung die
Eignung öffentlicher Hilfen zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung zu beurteilen
und anzubieten .Dabei ist dem Familiengericht das staatliche Wächteramt aus
Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auferlegt.
Als Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist auch der teilweise Entzug des
Aufenthaltsbestimmungsrechts durch das OLG Koblenz10 anzusehen, der diesen
auf die Tage des Schulbesuches beschränkt, um das Kind einerseits im Internat
unterzubringen und andererseits nicht dauernd von seiner Familie zu trennen.
Dagegen reicht nach einer Entscheidung des OLG Brandenburg 11 die bloße
Befürchtung, die positive Entwicklung eines Jugendlichen könne Rückschritte
erleiden, zur Rechtfertigung eines Eingriffs in das Sorgerecht nicht aus, so dass
der Junge mittlerweile wieder bei seiner Mutter lebt (nach div. verschiedenen
Fremdunterbringungen).
Die überragende Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips wird insbesondere
in den Entscheidungen des BVerfG und EuGH im Hinblick auf die Wahrung der
Elternrechte herausgestellt (s.u. Ziff.3).
b) Unterbringung gem. § 1631 b BGB
Nach der BGH-Rechtsprechung12 ist eine geschlossene Unterbringung zur
Abwendung der Kindeswohlgefährdung unzulässig, wenn insbesondere eine
Heimerziehung in einer offenen Einrichtung nicht aussichtslos erscheint.
Nach dem OLG Hamm soll dagegen die Zustimmung einer drogenabhängigen
Mutter zur Fremdunterbringung nicht zur Gefährdungsabwendung ausreichen, da
sie jederzeit widerrufbar ist.13
9
FamRZ 2012,1955
FamRZ 2012, 955
11
FuR 2013,719
12
FamRZ 2012, 1556
13
FamRZ 2012, 1954
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Diese wird auch bei einem wegen PC-Spielsucht, sozialem Rückzug und
aggressiven Impulsdurchbrüchen gefährdetem Jugendlichen nicht für entbehrlich
gehalten, obwohl der Betroffenen einsichtig und bereit war, entsprechende
therapeutische Angebote wie Antiaggressionstrainings wahrzunehmen.14
c) Verbleibensanordnung gem. § 1632 Abs.4 BGB
Die Vorschrift des § 1632 Abs.4 BGB soll im Interesse des Kindeswohls
verhindern, dass das Kind zur Unzeit aus der Pflegefamilie genommen wird.
Demgegenüber ist für die leiblichen Eltern die Trennung von ihrem Kind der
stärkste vorstellbare Eingriff in das Elternrecht, der nur bei strikter Wahrung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Für ein Kind ist mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umwelt ein schwer
bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden (BVerfG FamRZ 2010, 865 ff). Das
BVerfG hat daher als Prüfungsmaßstab der Kindeswohlgefährdung durch die
Rückführung u.a. folgende Kriterien aufgestellt: Bei der Rückführung zu den
leiblichen Eltern ist die Risikogrenze für das Kind dann überschritten, wenn im
Einzelfall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass
die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern psychische oder physische
Schädigungen nach sich ziehen kann. Ein solches Risiko ist für das Kind nach
dem BVerfG nicht hinnehmbar.
Das OLG Stuttgart15 hat in einem solchen zu veröffentlichenden Fall die
Rückführung eines 4-jährigen Jungen zu seiner leiblichen Mutter nach Einholung
von 2 Sachverständigengutachten in beiden Instanzen angeordnet, da dies zwar
eine Belastung für das Kind bedeute und auch Risiken beinhalte, jedoch nicht
solche, die als Schaden im Sinne des Kindeswohls klassifiziert werden müssten.
Allerdings war das Kind nach der Geburt nicht aufgrund einer
Sorgerechtsentzugsmaßnahme, sondern auf den Wunsch der seinerzeit 17jährigen Mutter hin in die Pflegefamilie gekommen.
Nach dem OLG Saarbrücken16 ist der Kindeswille 14- und 15-jähriger Kinder für
einen Verbleib bei den Großeltern nicht ausreichend, wenn das Kindeswohl
durch eine Wegnahme aus der Familienpflege nicht gefährdet ist.
Dagegen muss bei einem 10-Jährigen, der einen eindeutigen Willen hat, in der
Pflegefamilie zu bleiben, das Elternrecht hinter die negativen psychischen Folgen
für das Kindeswohl zurücktreten.17
Hat das Familiengericht für den Bereich des Aufenthaltsbestimmungsrechts
bereits selbst eine Verbleibensanordnung getroffen und Sorgerechtsteilbereiche
entzogen, ist für eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf das
Jugendamt als Ergänzungspfleger kein Raum mehr.18
14
OLG Zweibrücken, Beschluss vom 7.6.11, 6 UF 85/11, juris
B. v. 10.5.2013, 18 UF 125/12
16
FamRZ 2013,389
17
OLG Hamm FamRZ 2012, 1401
18
OLG Zweibrücken Beschluss vom 12.11.2013, 6 UF 118/13
15
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3. Schutz der Eltern- und Pflegeelternrechte
a) nach Art.8 ERMK (Recht auf Familienleben)
Nach einer Entscheidung des EuGHMR19 war das Recht der Eltern auf
Familienleben gemäß Art. 8 EMRK verletzt worden, weil die deutschen Gerichte,
die den Eltern das Sorgerecht für ihre beiden Kinder entzogen hatten, keine
hinreichenden Gründe dafür hatten. Die Kinder hatten behauptet, von ihren
Eltern massiv geschlagen und im Hinblick auf gute Schulnoten stark unter Druck
gesetzt
worden
zu
sein.
Die
Gerichte
hatten
weder
ein
Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt, noch lagen objektive Beweise vor. Später
gestanden die Kinder, gelogen zu haben.
Der EuGHMR sah zwar hinreichende Gründe dafür, dass die Kinder zunächst
durch eine einstweilige Anordnung unverzüglich aus ihrer Familie
herausgenommen wurden, um möglichen weiteren Missbrauch zu verhindern.
Für die endgültige Entziehung der elterlichen Sorge im Hauptsacheverfahren
hätten die Gerichte jedoch wegen der schwerwiegenden Auswirkungen dieser
Entscheidung gemäß § 26 FamFG von Amts wegen die erforderlichen
Ermittlungen durchführen müssen, um die Entscheidung nicht nur auf die
Aussagen der betroffenen Kinder, sondern auch auf objektive Beweise zu
stützen.
b) nach Art. 6 Abs.2 Satz 1 GG (elterl. Erziehungsrecht)
Nach einem Beschluss des BVerfG 20 wurde das Recht der Mutter auf Pflege und
Erziehung ihrer Kinder gemäß Art. 6 II S. 1 GG durch die erfolgte
Sorgerechtsentziehung verletzt. Gemäß Art. 6 III GG dürfen Kinder gegen den
Willen der Erziehungsberechtigten nur dann von der Familie getrennt werden,
wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder die Kinder aus anderen
Gründen zu verwahrlosen drohen. Das elterliche Fehlverhalten müsse dabei ein
solches Ausmaß erreichen, dass die Kinder bei Verbleib in der Familie in ihrem
körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet werden. Diese
hohen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Trennung eines Kindes von
einem Elternteil gegen dessen Willen gemäß § 1666 I BGB bzw. § 1696 BGB
seien im vorliegenden Fall nicht erfüllt und die strengen Anforderungen des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes seien nicht ausreichend beachtet worden.
Auch in einem weiteren Fall gab das BVerfG 21 der Verfassungsbeschwerde der
Eltern gegen die Sorgerechtsentziehung wegen Verletzung ihres Elternrechts
aus
Art. 6 II
S. 1
GG
statt,
weil
die
Familiengerichte
das
Verhältnismäßigkeitsprinzip missachtet hätten und statt der Vormundschaft des
Jugendamts als mildere Maßnahme die Vormundschaft der Großmutter
väterlicherseits in Betracht hätten ziehen müssen.
19
FamRZ 2013, 845; Wanitzek, Rechtspechungsübersicht zum Recht der elterl.Sorge und des Umgangs FamRZ
2013,1169
20
FamRZ 2012, 1127
21
FamRZ 2012, 938
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Aktuelle Rechtsprechung zum Kinderschutz
Demgegenüber entschied das OLG Köln22: Ergibt sich aufgrund der
festgestellten Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, dass zur Gefahrenabwehr
der Teilentzug der elterlichen Sorge und die Herausnahme aus der Familie
erforderlich ist, haben Gesichtspunkte des Schutzes der Familie und die
Beachtung des Kindeswillens in seiner individuellen Ausprägung dahinter
zurückzutreten.
Allerdings soll es nach dem OLG Hamm23 nicht zur Ausübung des staatlichen
Wächteramtes gehören, für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche
Förderung zu sorgen.
4. Verfahrensrechtliche Aspekte
a) „Nachhaltigkeit“
Gemäß § 166 Abs. 2 FamFG ist das Familiengericht in regelmäßigen Abständen
- zwischen einem und drei Jahren24 - zur Nachprüfung verpflichtet, ob die länger
dauernde Maßnahme noch erforderlich und zweckdienlich ist. Dies geschieht
über eine Wiedervorlage der Sorgerechtsakte und Sachstandsanfrage beim
zuständigen Jugendamt.
Die Maßnahme ist aufzuheben, falls die Gefahr für das Wohl des Kindes nicht
mehr besteht oder die Erforderlichkeit der Maßnahme entfallen ist (§ 1696 Abs.2
BGB) und ggf. eine weniger einschneidende Maßnahme ausreicht.
Bei Absehen von Maßnahmen soll das zuständige Familiengericht seine
Entscheidung in einem angemessenen Zeitabstand, in der Regel nach drei
Monaten, überprüfen (§ 166 Abs.3 FamFG). Da es sich um eine Sollvorschrift
handelt, kann mangels Anlass und in Rücksprache mit dem Jugendamt auch von
der Überprüfung abgesehen werden. Eine wiederholte Überprüfung ist nur bei
Vorliegen
konkreter Anhaltspunkte
für
eine
Verschlechterung
der
Kindeswohlsituation angezeigt.
b) Kooperation
Dazu ist zunächst auf die Kooperation auch mit den Strafgerichten in der Form
hinzuweisen, dass die Familiengerichte über die sog. Mitteilungen in Strafsachen
(„MiStra“) auf strafrechtliche Kinderschutzverfahren hingewiesen werden und
diese zum Anlass der Einleitung eines Sorgerechtsverfahrens und einer
Anhörung nehmen können (Bsp. aus der Praxis/AG Sigmaringen: Strafverfahren
wg. Ohrfeige durch eine Mutter zu Lasten eines ihrer Kinder, dann Einleitung
eines Sorgerechtsverfahrens mit Anhörung aller Geschwisterkinder zu evtl.
Züchtigungen und familiengerichtliche Auflagen).
Die Kooperation mit dem Jugendamt ist gerade im Hinblick auf eine
Rückkoppelung bei der Erfüllung von Auflagen als milderes Mittel zu
Entzugsmaßnahmen unerlässlich. Auch die Auswahl geeigneter öffentlicher
22
FamRZ 2012,1312
FamRZ 2013,1994
24
Staudinger/Coester, BGB, IV, § 1696 Rz 106
23
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Hilfen25 zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung ist ohne die Kooperation mit
dem Jugendamt und ggfls. auch Verfahrensbeistand undenkbar. Das OLG
Koblenz führt dazu weiter aus:
„Es besteht eine Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und
Jugendamt sowie die Pflicht zu einer kooperativen Zusammenarbeit. Gelingt die
vorrangige Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und Jugendamt
nicht,
besteht
zwingend
eine
Letztverantwortlichkeit
und
ein
Letztentscheidungsrecht des Familiengerichts.“
Im Übrigen muss an dieser Stelle angesichts der herausragenden Bedeutung
dieses Fachtages für die Vernetzung auf die Kooperationsnotwendigkeit nicht
weiter eingegangen werden.
5. Fazit und Schlusswort
- wenig veröffentlichte OLG-Entscheidungen zum Kinderschutz aus Baden
Württemberg
- zahlreiche Einzelfallentscheidungen in der obergerichtlichen Rechtsprechung
- große Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Auswahl der
erforderlichen Sorgerechtsmaßnahmen
- Elterngrundrechte nach BVerfG/EuGH besonders zu beachten
- Kooperation der beteiligten „Kinderschutzwächter“ unerlässlich
Aber auch….:
„Im Rahmen der §§ 1666, 1666a BGB ist stets zu beachten, dass kein Kind
Anspruch auf Idealeltern und optimale Förderung hat und sich die
staatlichen Eingriffe auf die Abwehr von Gefahren beschränken.
Für die Trennung der Kinder von den Eltern oder einem Elternteil ist es
daher nicht ausreichend, dass es andere Personen oder Einrichtungen gibt,
die zur Erziehung und Förderung besser geeignet sind. Vielmehr gehören
die Eltern und deren gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich zum
Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes.“
(OLG Hamm FamRZ 2013, 1994)
25
OLG Koblenz FamRZ 2012, 1955
Rin OLG Birgit Gensel
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