Schwerpunktkolloquium »Einführung in den Schwerpunkt

Transcrição

Schwerpunktkolloquium »Einführung in den Schwerpunkt
Schwerpunktkolloquium
»Einführung in die Rechtsgeschichte«
Sommersemester 2015
Anika Auer
Geschichte des Strafprozesses.
Vom Strengbeweis zur freien
Beweiswürdigung
I. Einführung
Coram iudice et in alto mari sumus in
manu Dei
»Vor Gericht und auf hoher See sind wir in
Gottes Hand«
(Römisches Sprichwort)
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
I. Einführung
§ 244 Abs. 2 StPO
(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die
Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen
und Beweismittel zu erstrecken, die für die
Entscheidung von Bedeutung sind.
§ 261 StPO
[Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung]
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet
das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der
Verhandlung geschöpften Überzeugung.
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
II. Forschungsstand
Rechtshistorische Gesamtdarstellungen zur Strafrechtsgeschichte
(Auswahl)
 Schmidt, Eberhard : Einführung in die Geschichte der deutschen
Strafrechtspflege (Jurisprudenz in Einzeldarstellungen), Göttingen
1947.
 3. Aufl., 2., unveränderter Nachdruck, Göttingen 1995.
 Rüping, Hinrich : Grundriß der Strafrechtsgeschichte (Schriftenreihe
der Juristischen Schulung, Band 73), München 1981.
 Rüping, Hinrich/Jerouschek, Günter: Grundriss der Strafrechtsgeschichte
(Schriftenreihe der Juristischen Schulung, Band 73), 6. Aufl., München
2011.
 Ignor, Alexander : Geschichte des Strafprozesses in Deutschland
1532-1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des
Vormärz (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen
der Görres-Gesellschaft, neue Folge, Band 97), Paderborn u.a. 2002.
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
II. Forschungsstand
Lexikonartikel zur Strafrechtsgeschichte (Auswahl)
 Kaufmann, Ekkehard: Art. Strafe, Strafrecht, in:
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band IV,
hrsg. v. Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann, Dieter
Werkmüller. 1. Auflage, Berlin 1990, Sp. 2012-2029.
 Kaufmann, Ekkehard: Art. Straßprozess I (bis zur Carolina), in:
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band IV,
hrsg. v. Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann, Dieter
Werkmüller. 1. Auflage, Berlin 1990, Sp. 2030-2034.
 Sellert, Wolfgang: Art. Strafprozeß II (gemeiner, reformierter),
in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band IV,
hrsg. v. Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann, Dieter
Werkmüller. 1. Auflage, Berlin 1990, Sp. 2035-2039.
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
II. Forschungsstand
Folgende Lexikonartikel (Auswahl) zur Strafrechtsgeschichte sind
im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte über die
Campuslizenz online zugänglich
(http://www.hrgdigital.de/homepage.html)
 Jerouschek, Günter: Art. Akkusationsprozess
 Krey, Alexander: Art. Inquisitionsprozess
 Lingelbach, Gerhard: Art. Feuerbach
 Ogris, Werner: Art. Bahrprobe
 Schild, Wolfgang: Art. Gottesurteile
 Schild, Wolfgang: Art. Confessio est regina probationum
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
III. Grundlagen Strafrechtsgeschichte
Öffentliche (staatliche) Strafe bildete sich erst
allmählich heraus
Aspekte des Schadensersatzes (heutiges Zivilrecht)
und der reinen Geltungsbestätigung der Norm
(heutiges Strafrecht) waren ursprünglich nicht
deutlich voneinander getrennt
Als früheste Vorläufer der öffentlichen Strafe
können gelten
sakrale Strafen (z.B. Gottesfrevel)
 Römisches Recht: anfangs sakrale Strafen, später
Trennung von ius (Recht) und fas (Religion)
gesellschaftliche Reaktionen auf den Frieden
störendes Unrecht
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
IV. Mittelalter
Mittelalter
 Neben Kapitularien (= in einzelne Kapitel unterteilte
Herrschererlasse) gelten Leges (=
Rechtsaufzeichnungen germanischer Stämme) als
wichtigste Rechtsquelle des Frühmittelalters
 Signifikant für die Leges ist der Versuch, Fehden
einzudämmen und Bußen als Alternative zur Fehde
einzurichten
 Das Kompositionssystem (von lat. compositio = Buße)
gewann zunehmend an Bedeutung
 Die Bußen waren sehr hoch, um zum Verzicht auf
Selbsthilfe (Fehde) zu überzeugen
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
IV. Mittelalter
Beispiel 1:
Pactus Legis Alamannorum, (613/623), Auszug:
XI.
1) Wenn jemand einem anderen den Fuß abhaut, zahle er 40
Schillinge.
2) Und wenn er gelähmt wird, zahle man 20 Schillinge
3) Und wenn er außerhalb des Hofes gehen oder auf seinem Felde
mit einer Stelze gehen kann, zahle man 25 Schillinge oder schwöre
mit 12 zur Hälfte Ausgewählten
4) Wenn jemand einem anderen die große Zehe abhaut, zahle er 6
Schillinge
5) Wenn das erste Glied abgehauen wird, zahle man 3 Schillinge
6) Wenn es einem Liten geschieht, zahle man 4 Schillinge
7) Wenn einem Sklaven, zahle man 3 Schillinge
8) Wenn eine andere Zehe abgehauen wird, zahle man 3 Schillinge
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
IV. Mittelalter
Gottesurteile im Mittelalter
Nicht eindeutig beweisbare Anklagen konnten durch
Gottesurteile/Ordalien (lat. iudicium Dei/ordalium)
geklärt werden
Bei einigen Gottesurteilen (z. B. Kaltwasserprobe
oder Zweikampf) wurde der Ausgang unmittelbar
nach Vollzug festgestellt
War der Ausgang der Proben nicht sogleich sichtbar,
wurde die Wunde versiegelt
War der Heilungsprozess nach gesetzter Frist gut
verlaufen, galt der Angeklagte als unschuldig,
ansonsten als überführt
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
IV. Mittelalter
Gottesurteile (iudicium Dei)








Zweikampf (iudicium pugnae)
Kreuzordal (iudicium crucis)
Kaltwasserprobe (iudicium aquae frigidae)
Abendmahlprobe (iudicium offae)
Pflugschargang (iudicium vomerum ignitorum)
Kesselfang (iudicium aquae ferventis/calidae)
Eisentragen (iudicium ferri igniti)
Bahrprobe (iudicium feretri)
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
IV. Mittelalter
Aus der Stiftsbibliothek Lambach (12. Jh.)
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
IV. Mittelalter
Akkusationsverfahren
 accusatio = Anklage, Beschuldigung
 Setzt das Vorliegen einer Parteiklage für die
Einleitung eines gerichtlichen Prozesses
 Beweismittel: Eid, Gottesurteil
Inquisitionsverfahren
 inquisitio = Untersuchung
 Setzt keine Parteiklage voraus, sondern wird
von Amts wegen (ex officio) eingeleitet
 Folter > Instrument des Verfahrens zur
Wahrheitsfindung
 Keine Verurteilung ohne Geständnis
 confessio est regina probationum
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
Strafprozess in der Frühen Neuzeit
Beispiel 2: Von einem wunderbaren Mordhandel
Ettiswil
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
Von einem wunderbaren Mordhandel
(Textauszug aus: Die Berner Chronik des Valerius Anshelm, hrsg. v.
Historischen Verein des Kanton Bern. Bd. 2. Bern 1886, S. 393)
Diss jars im Hoemonat hat Hans Spiess, ein krieger, huorer, spiler,
brasser, in Lucerngebiet, in Etiswiler kilcheri uf einem hof gesessen, sin
fromme husfrowen Margret am bet erstoekt und si, als selb gestorben,
nach voriger gwonheit, fruee verlassen.
Doch so was uf in der argwon so gross, dass er gfangen zuo Willisow
vast hart gestrekt, doch ab keiner marter nuet verjach, und aber von
grosse wegen des argwons do ward mit recht erkoent, dass man das
wib, so da 20 tag zuo Ettiswil im kilchhof was gelegen, soelte
ussgraben, uf ein bar legen, und in beschorn und nackend darüber
fueeren, und sin rechte hand uf si legen und einen gelerten eid bi Got
und allen heiligen schweren, dass er an disem tod kein schuld hätte.
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
Von einem wunderbaren Mordhandel
(Textauszug aus: Die Berner Chronik des Valerius Anshelm, hrsg. v.
Historischen Verein des Kanton Bern. Bd. 2. Bern 1886, S. 393)
Und also, do diss eilend, grusam ansehen was zuogericht, dass er si
mocht sehen: ie naeher er hinzuogieng, ie me si wie worgend zuom
mund uss ein schum usswarf; und da er gar hinzukam und solt
schweren, da entfärbt si sich and fieng an ze blueeten, dass durch d'bar
niderran, doviel er nider uf sine kny, bekant öffentlich sin mord und
begert gnad.
Do ward si wider in herd, und er nach verdienst mit recht ufs rad
gelegt, starb da willig und ruewend. Mord, wie man spricht, blibt nit
verborgen, noch ungerochen; wan das bluot Abels schrigt vom ertlich
uf zuo Got.
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
Tat/Indizien:
Margarethe Spieß wird tot
in ihrem Bett aufgefunden
Gerücht:
Frau wurde erstickt
Tatverdächtigt:
Hans Spieß (Ehemann)
Festnahme:
Kein Geständnis
Folter:
Kein Geständnis
Buchmalerei in der Luzerner Chronik des
Diebold Schilling. Luzern, Bürgerbibliothek (1513)
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
 Nach ausbleibendem Geständnis
wird eine Bahrprobe durchgeführt
 Der Angeklagte gesteht und wird
verurteilt
 Strafvollzug: spiegelnde Strafe des
Räderns vor den Stadttoren
Buchmalerei in der Luzerner Chronik des
Diebold Schilling. Luzern, Bürgerbibliothek (1513)
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
Strafprozess in der Frühen Neuzeit
 Mit der Rezeption des römischen Rechts (= Wiederentdeckung
und Anpassung an die gegenwärtigen Verhältnisse) beginnt
zunehmend die wissenschaftliche Durchbildung des Strafrechts
 Das römische Recht („Kaiserrecht“) erhält zunehmend Geltung im
Heiligen Römischen Reich deutscher Nation (z.B. Gründung des
Reichskammergerichts 1495), wird aber europaweit an den
Universitäten gelehrt (Entstehung des Juristenstandes)
 Zwischen
ca.
1450
und
1550
entstehen
mehrere
Halsgerichtsordnungen
 Halsgericht bezeichnet Gerichte, die ursprünglich für Verbrechen
zuständig waren, für die an Leib und Leben gehende Strafen verhängt
wurden (Hohe Gerichtsbarkeit)
 Der Begriff bezeichnete sowohl die Gerichtsgewalt an sich, als auch
das Gericht selbst
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
 Die Constitutio Criminalis Bambergensis (CCB)
ist ein im Jahr 1507 im Fürstbistum Bamberg
angefertigtes Strafprozess- und
Strafgesetzbuch
 Verfasser: Johann von Schwarzenberg (ca.
1463/65-1528)
 Aufgrund ihrer hohen Qualität wurde die CCB
zum Vorbild für die Kodifikationen
 Aufgrund ihrer hohen Qualität wurde die CCB
1516 fast unverändert in Brandenburg-Ansbach
und Brandenburg-Kulmbach übernommen (z.B.
Brandenburgische Halsgerichtsordnung,
Constitutio Criminalis Brandenburgensis)
 Die CCB diente zudem als Vorlage für die
Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (reg.
1519-1556, als Kaiser ab 1530) >> mater
Carolinae
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Frühe Neuzeit
 Die Constitutio Criminalis Carolina (CCC) wurde unter Kaiser
Karl V. 1530 auf einem Reichstag zu Augsburg beschlossen
 1532 wurde sie auf dem Reichstag in Regensburg ratifiziert
und erhielt somit Gesetzeskraft
 Die Carolina stellt das erste Straf- und Strafprozessgesetz, das
im gesamten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation
Geltung beanspruchte
 Ziel der Carolina war es, eine Vereinheitlichung des Rechts im
Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu schaffen
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Neuzeit
Julius Friedrich Malblank: Geschichte der Peinlichen
Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (1783):
»So wie man vorhin die Verbrechen immer nur vorzüglich auf der Seite
einer Gott dadurch zugefügten Beleidigung betrachtete, und dabey das
forum divinum mit dem foro humano ganz vermischte, so wie man sich
ferner bey einer ganz unumschränkten strafenden Gewalt der
Obrigkeit das Schwerd der Rache anvertraut habe, und mit einigem
mis[s]verstandenen Stellen der h[eiligen] Schrift beruhigte, so erhohlte
man sich endlich von jenem Irrthümern.
Man fing an zu erkennen, daß es weit richtiger und erhabener sey,
Gott allein die Rache der ihm zugefügten Beleidigung zu überlassen,
und daß die Verbrechen, in so ferne sie ein Gegenstand menschlicher
Strafen seyn, einzig und allein nach dem schädlichen Einflus[s], den sie
auf den Staat hatten, betrachtet und hiernach verschiedene[n] Grade
beurtheilt werden müs[s]ten.«
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Neuzeit
Paul Johann Anselm Feuerbach (1775-1833)
 Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen
Rechts, 1. Aufl. Gießen 1801, 11. Aufl., Gießen 1831 (12. Aufl.
1836 – 14. Aufl. 1847 bearbeitet von C. J. A. Mittermaier).
 nullum crimen, nulla poena sine lege
(»Keine Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz«)
 Gesetze müssen allgemein bekannt sein
 Tatbestände müssen klar formuliert sein
 Die Unrechtsfolgen (Strafmaßnahmen)
müssen von vorneherein feststehen
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Neuzeit
Feuerbach meint (in Übereinstimmung mit der
aufklärerischen Strafrechtslehre), Verbrechen
müssten im Interesse der Sicherheit der Bürger vom
Staat restlos verhindert werden -> keine Strafe ohne
Schuld, dies wird erreicht,
 wenn die Furcht vor der notwendig zu
erwartenden Strafe den verbrechensgeneigten
Täter zwinge, die Tat zu unterlassen,
 wenn ein klares Strafgesetz unmissverständlich
und furchterregend drohe,
 wenn die Missachtung der gesetzlichen Drohung,
also die Straftat, bedingungslos bestraft werde
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
V. Neuzeit
 Feuerbachs Strafgesetzbuch für Bayern von 1813 setzt nullum
crimen, nulla poena sine lege erstmals gesetzlich durch
 Die genau umschriebenen Straftatbestände und detailliert
festgelegte Strafrahmen sollten der richterlichen Willkür Einhalt gebieten
Feuerbach hatte sich bereits 1806 (Versetzung in das
Ministerialjustiz- und Polizeidepartment nach München)
für die Abschaffung der Folter eingesetzt
Im BayStGB wurde die Folter 1813 formal abgeschafft (in
Preußen bereits 1740)
Es wurde zum Vorbild einer modernen Strafgesetzgebung
(u.a. für Württemberg, Braunschweig, Sachsen, Hannover)
 Das BayStGB blieb bis 1861 in Geltung
A. Auer, Geschichte des Strafprozesses
Ende der Sitzung

Documentos relacionados