Staat im frühen Mittelalter?

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Staat im frühen Mittelalter?
Lelewel­Gespräche 2/2010
Bernhard Jussen
Staat im frühen Mittelalter?
Ein Diskussionsbeitrag
Wissenschaftliche Sprachen
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Für die internationale Diskussion gibt es zunächst das Problem der Wissenschaftssprachen. In Polen spricht man, soweit ich das verstehe, stets vom "Staat der Piasten", selbst frühere Herrschaftsbildungen werden "Staat" genannt. Diese Gewohnheit der polnischen Kolleginnen und Kollegen steht in auffälligem Kontrast nicht nur zu deutschsprachigen, sondern auch zu frankophonen und anglophonen Historikern. In Frankreich unterscheidet man État und état. Die Orthographie (kleines oder großes "é") markiert das Konzept. Nur État mit Majuskel­E bedeutet Staat, mit "l'état Carolingien" sagt niemand "der karolingische Staat".
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Im Englischen ist es komplizierter: Um 1900 unterschieden viele Historiker zwischen State und state. Nur State mit Majuskel­S war Staat, nicht aber state. Noch Ernst Kantorowicz versuchte in "The king's two bodies" gelegentlich, mit dieser Unterscheidung zu arbeiten. Ihn interessierte ja gerade die politische Theorie in den Jahrhunderten vor dem Staat. Für Kantorowicz war klar, dass es keinen Staat vor der Wende zum 16. Jahrhundert gebe. Heute ist diese orthographische Unterscheidung im Englischen unüblich geworden. Nur der Kontext entscheidet, was state bedeutet.
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Im Deutschen ist es zunächst einmal einfach: Das Wort Staat lässt sich nicht wie im Französischen état und im englischen state durch Orthographie oder Kontext in seiner Bedeutung verändern. Man kann das Wort nicht benutzen ohne seine neuzeitliche Bedeutung. Seit 50 Jahren benutzen deutsche Historiker das Wort "Staat" nicht mehr für das frühe und hohe Mittelalter. So verschiedene Historiker wie Rudolf Schieffer und Walther Pohl sind sich in diesem Punkt einig: Kein Staat im frühen Mittelalter. Im neuen "Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte" hat Rudolf Schieffer im Band 3 über die Karolinger das Wort "Staat" kein einziges Mal verwendet. Auch in Band 4 des "Gebhardt" über die Ottonen (Althoff/Keller) dürfte man das Wort Staat nicht finden. Nur einige einsame Streiter versuchen seit mehr als 20 Jahren, im frühen Mittelalter wenigstens eine "Staatlichkeit" zu erkennen, wenn sich schon kein "Staat" finden lässt.
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Dabei gibt es für die deutschsprachige Forschung noch ein zusätzliches Problem. Denn im Deutschen wird ohne großes Nachdenken für frühmittelalterliche politische Systeme das Wort "Reich" verwendet – so selbstverständlich wie in Polen das Wort "Staat". Dieses Wort "Reich", die geläufige Übersetzung für regnum, hat manche Ähnlichkeit mit dem Wort "Staat". Polnische Historiker erklären explizit ihre frühmittelalterliche Gesellschaft zum "Staat", deutsche Historiker vermeiden dies zwar ausdrücklich, sie importieren aber mit dem Terminus "Reich" in ihre Deutung der mittelalterlichen politischen Systeme viel von dem, was die polnischen Kollegen mit "Staat" ausdrücken. Im Deutschen ist der Terminus "Reich" (und erst recht "Staat") nicht zu benutzen ohne die Idee, dass es sich um einen abstrakten Akteur, ein institutionelles Subjekt handelt. Ein Reich ist eine Institution, innerhalb derer der König als Funktionsträger auftritt, genau wie später im Staat. Wenn deutsche Historiker also dort das Wort Reich benutzen, wo sie in den Quellen regnum lesen, dann sind sie den polnischen Kollegen relativ nahe. Ganz anders ist dies im Englischen und Französischen. Royaume und kingdom haben nicht die Bedeutung von Reich, sie bezeichnen keinen institutionellen Akteur, kein abstraktes handelndes Subjekt. Kingdom heißt "being king", "König sein" oder "Königtum". Im Englischen ist die Phrase "Charlemagne's realm" für regnum vielleicht dem deutschen Wort "Herrschaftsraum” nahe, besagt aber kein Reich, kein institutionelles Subjekt.
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Diese konzeptionellen Unterschiede haben vermutlich nichts mit den politischen Kulturen des Mittelalters zu tun. Sie haben einerseits mit den politischen Kulturen der Gegenwart in den jeweiligen Ländern zu tun, andererseits mit den Möglichkeiten der jeweiligen Wissenschaftssprachen.
Worum geht es?
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Bei der Diskussion um den frühmittelalterlichen Staat geht es um die Frage, wie die herrschenden Akteure im frühen Mittelalter ihr politisches System konzipiert haben. Für die Forschung ist wichtig zu verstehen, wie das politische Ganze gedacht wurde, denn herrscherliches Handeln bezog sich auf ein politisches Ganzes; dieses politische Ganze war der Maßstab für die Plausibilität politischen Handelns, und von diesem Ganzen leitete der Herrscher Legitimität ab. Ob herrscherliches Handeln als sinnvoll wahrgenommen wurde, hing davon ab, in welchem politischen Gesamtrahmen es gedeutet wurde.
Alternative Interpretationen: Governance und Imperialität
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Die Deutung frühmittelalterlicher politischer Systeme ist so lange in einer Sackgasse, wie man nur zwei Alternativen sieht: entweder Staat oder tribale Strukturen. Das Spektrum der Möglichkeiten ist größer. In der Governance­Forschung wird diskutiert, dass heute rund 90% jener politischen Systeme, die von der UNO als Staaten konzipiert sind, nicht als Staaten funktionieren. In failed states und in vielen postkolonialen Gesellschaften haben nationalstaatliche Einrichtungen keine Möglichkeit des Durchgriffs im Inneren gegenüber warlords und anderen Vertretern privatisierter Entscheidungsverfahren. Die politischen Führungen verfügen nur teilweise oder gar nicht über die Kontrolle der Gewaltmittel nach innen und außen (also ein legitimes Gewaltmonopol), und die Zentralmacht ist nicht oder nur zum Teil in der Lage, ihre politischen Entscheidungen durchzusetzen.
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Einen Ausweg bietet auch die Deutung von Herfried Münkler, nach der Imperialität und Staatlichkeit sehr verschieden funktionieren. Die Fruchtbarkeit dieses politikwissenschaftlichen Ansatzes wird in der Geschichtswissenschaft gerade erst erarbeitet (ich belasse es bei diesem Hinweis).
Wie kann eine Empirie aussehen?
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Die Diskussion um den frühmittelalterlichen Staat konzentriert sich immer wieder auf die Bedeutung des Terminus regnum, auf die Frage, ob dieser Terminus, so wie er zumeist übersetzt ist – nämlich im Deutschen als "Reich" –, adäquat wiedergegeben ist. Die Konzentration auf regnum ist zweifellos eine Reduktion, aber die Diskussion um den Terminus regnum führt immerhin ins Zentrum des größeren Problems.
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Wer im frühen Mittelalter "Staatlichkeit" bzw. einen Staat erkennen will, deutet regnum zum Beispiel in karolingischen Texten als Terminus für eine vom König unabhängige politische Institution, als ein "Reich", innerhalb dessen dem König eine Funktion zukommt. Rex ist in dieser Interpretation ein Funktionär von regnum. Die Gegenposition möchte regnum im Sinn von Königtum, Königsmacht, Herrschaftsbereich verstehen. Regnum ist in dieser Interpretation ein Attribut des rex. Regnum bezeichnet im Frühmittelalter die Räume und Menschen, in und bei denen der König seine potestas geltend machen konnte. Regnum ist "König sein", und "König sein" ist eine Funktion von ecclesia. Das große Ganze, auf das sich "König sein" (regnum) bezieht und durch das es legitimiert wird, ist ecclesia bzw. Schöpfung.
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Die beiden wissenschaftlichen Deutungen sind also grundverschieden: Einmal ist regnum das allumfassende Konzept und rex dessen Funktion. Ein andermal ist ecclesia das allumfassende Konzept und rex (mit seinem Attribut regnum) dessen Funktion. Eine semantische Untersuchung von regnum in frühmittelalterlichen Texten (vermutlich quer durch die Textsorten) würde leicht zeigen: Regnum hat nie ein Attribut (sacrum zum Beispiel). Es hat nie Personal; bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts finden wir zwar primores (principes, optimates) gentis oder (seltener) primores regis, aber nie primores regni. Erst der Chronist Regino von Prüm streut Anfang des 10. Jahrhunderts diese Formel einmal ein, benutzt sie aber im Grunde nie. Erst im Hochmittelalter finden wir die Formel principes regni häufig. Schließlich handelt regnum in der Karolingerzeit nie. Auffällig ist in dieser Hinsicht wiederum eine Passage in der Chronik Reginos von Prüm, in welcher der Chronist regnum als (abstrakten, institutionellen) Akteur auftreten lässt. Es geht um das Jahr 888: "Nach seinem [Karls III., des Dicken] Tod lösten sich die regna, die seinem Gebot gehorcht hatten, aus ihrem Gefüge in Teile auf, […] und jedes von ihnen organisiert (disponit), aus dem eigenen Leib (de suis visceribus) selbst einen König zu erheben (regem sibi creari)." Hier ist regnum eindeutig ein abstraktes handelndes Subjekt. Regnum gehorcht, es löst sich auf, es organisiert, es hat Eingeweide (visceres); regnum sucht selbst aus seinen Eingeweiden einen neuen König, es ist selbst der Akteur der Königserhebung. 100 Jahre zuvor, am Hof Karls des Großen, finden wir nicht einmal im Ansatz eine solche Formulierung. Und selbst bei Regino, der rund 270 Mal das Wort regnum benutzt hat, handelt regnum nur in dieser einen Stelle.
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Bislang haben sich die Untersuchungen stets auf ausgewählte Textstellen bezogen, ohne den Status einer Textstelle in einem Corpus anhand aller anderen Belege zu klären. Eine Passage wie jene aus Reginos Chronik zitierte bekommt dann ein irreales Gewicht.
Konnten die Karolinger abstrakte Institutionen denken?
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In der Mediävistik gibt es die Tendenz, eine Entwicklung zu unterstellen vom (frühmittelalterlichen) konkreten Denken (in personalen Beziehungen) zum (hochmittelalterlichen) abstrakten Denken von politischen Institutionen. Wer den Umgang mit dem wort ecclesia untersucht, erkennt, dass die Autoren keine Schwierigkeit hatten, eine abstrakte Institution zu denken: ecclesia hat stets Attribute (sancta), hat Personal (missi, sacerdotes), ecclesia hat stets gehandelt. Die Autoren des frühen Mittelalters konnten abstrakte Institutionen problemlos denken. Sie haben es im gesamten Frühmittelalter getan, wenn sie von ecclesia sprachen. Gerade die Differenz des Sprachgebrauchs von regnum und ecclesia zeigt, dass mit regnum keine abstrakte Institution ausgedrückt worden ist, und dass dies keine Frage von 'Können' war.