Kolloquium Literatur und Schule 12.12.02 Guus Kuijer: Wir alle für
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Kolloquium Literatur und Schule 12.12.02 Guus Kuijer: Wir alle für
Kolloquium Literatur und Schule 12.12.02 Guus Kuijer: Wir alle für immer zusammen. Hamburg: Oetinger, 2001. € 9,50. Nach einer auführlichen und munteren Vorleserunde ergab das Blitzlicht vorwiegend positive Eindrücke: frisch, lustig, mein bisheriger Spitzenreiter, poetisch, unterhaltsam, ein Buch zum Schmunzeln; aber auch: etwas sträubt sich, viele schwere Themen, politisch manchmal störend korrekt. Das Gespräch setzte bei der Fülle schwieriger Themen, die im Text angesprochen sind, ein: Polleke wächst bei ihrer Mutter auf. Ihr Vater ist drogenabhängig und hat in Hinblick auf Ehe und Familie gewissermaßen voll versagt. Für Polleke ist er trotzdem großartig, vor allem aber ein Dichter. Davon lässt sie sich auch nicht durch die Großeltern abbringen, die sie darauf hinweisen, dass er, ihr Sohn, letztlich noch kein einziges Gedicht geschrieben habe. Auch Polleke dichtet. Ihre Texte sind in die Erzählung eingestreut. Gegenwärtig ist die Protagonistin in Mimun verliebt, der jedoch gerade mit ihr Schluss gemacht hat, weil eine solche Beziehung für einen muslimischen Jungen seines Alters, so die Eltern, nicht mehr möglich ist. Als Polleke ihm ein wütendes Zettelchen schreibt, verdächtigt sie der Lehrer des Antirassismus. Woraufhin Pollekes Mutter mit dem Lehrer ein Gespräch führt. Dabei verlieben sich Mutter und Lehrer, was das Leben für Polleke nicht einfacher macht. Zum Glück gibt es die Großeltern auf dem Land, bei denen Polleke sich aufgehoben fühlen kann, wo sie auch mal ein Tischgebet spricht, obwohl sie nicht glaubt, und wo sie quasi zur Patin des Kälbchens „Polleke“ wird. Die Verwicklungen um den Vater eskalieren, als er ins Gefängnis kommt. Wieder frei, trifft ihn Polleke zum wiederholten Male mit einer neuen Frau an. Aber Polleke hat eine gewisse Unabhängigkeit erreicht: Am Schluss besucht sie mit Mimun zusammen die Großeltern und betet „für immer zusammen“. Ob die Anzahl angetippter Problemstellungen nicht doch zu groß sei, fragen wir uns, doch besteht Einigkeit, dass der Text gerade beim Vorlesen eine ungeheure Wirkung entfaltet habe. Offenbar sei er am Mündlichen orientiert und lebe davon, die Themen nicht durchzuarbeiten oder in Tragik zu entfalten. Es fehle die perspektivierende Erzählinstanz, Polleke selbst erzähle unmittelbar. Kein fester Elterncharakter stütze das Kind. Die überaus erwachsene Elfjährige sei mit der Situation überfordert, was auch problematisiert werde, etwa in ihrem Gedicht/Satz: „Ich bin erst elf Jahre/ ich würde gern nicht ganz so oft Recht haben.“ Gleichzeitig komme sie offenbar zurecht: Sie erscheine als liebes- und freundschaftsfähig, auch als sprachfähig. Der Einwand, das sei angesichts ihrer Lebensumstände mehr als unwahrscheinlich, wird mit dem Hinweis beantwortet, der Text sei nicht am realisitschen Paradigma zu messen. Und immerhin habe sie in den Großeltern eine Zuflucht. Der Text lasse auch eine wachsende Emanzipation erkennen, etwa wenn Polleke am Schluss nicht für den Vater da ist, sondern zu den Großeltern fährt und das mit dem Hinweis verbindet, sie habe schließlich schon viele Tage auf den Vater gewartet. Dennoch bleibt das Unbehagen einiger LeserInnen, der Kind-Erzählerin werde zu viel zugemutet, die Frische des Textes sei stellenweise verfehlt. Diese entstehe aus der Wahrnehmung der 11Jährigen, die erzählt, ohne die Ereignisse unterscheidend zu gewichten. Daher sei auch die Rezeption ins Tragische hinein verfehlt, eher erinnere das Buch an eine Sitcom. Dann allerdings stelle sich die Frage, wie besonders kindliche LeserInnen mit diesem Text umgingen, wo die Bewertungarbeit gewissermaßen ihnen obliege. In unserer Runde waren wohl die meisten der Überzeugung, dass die Heldin handlungsfähig genug sei, um die Zumutung ihrer Story nicht zur unerträglichen Geschichte werden zu lassen. Trotz des überwiegend positiven Eindrucks waren wir uns bei der Frage, ob das preisgekrönte Buch als Schullektüre geeignet sei, zunächst nicht sicher. Worüber denn im Unterricht gesprochen werden könne, wurde eingewandt. Zum Themenlieferanten solle das Buch gerade angesichts der Heftigkeit der Themen auf keinen Fall gemacht werden. Der Idee, eher Lektüren daheim anzuregen, wurde mit dem Hinweis widersprochen: Ganz allein könne man die Kinder mit dem Buch auch nicht lassen. Lassen wollten wir es aber auch nicht. Es komme jedenfalls darauf an, dem Text etwas von seiner Leichtigkeit zu lassen. Der Vorschlag, das mündlich so wirkungsvolle Buch in der Schule vorzulesen, und zwar den 11-12Jährigen, fand das positivste Echo. Anschließend könne ein literarisches Gespräch dem freieren Austausch von Leseerfahrungen dienen. ip