Seine Augen sind die Finger

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Seine Augen sind die Finger
18 SPORT
F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TAG S Z E I T U N G , 3 0 . AU G U S T 2 0 0 9 , N R . 3 5
regt sie zu Träumen und Taten an.
Viele Zuschauer haben Holzer geschrieben, dass er sie motiviert
habe, etwas Neues anzufangen mit
ihrem Leben.
Holzer kennt sich aus im Überwinden von Hindernissen. Er
wächst Ende der sechziger Jahre in
Amlach auf, einem 300-Einwohner-Dorf in Osttirol. Seine Schwester Elisabeth kommt drei Jahre vor
ihm zur Welt, stark sehbehindert.
„Von den Nachbarn kam nur Mitleid. Wir mussten es irgendwie allein schaffen“, erzählt Vater Peter
Holzer. Die Eltern lehnen den Vorschlag ab, Andy auf eine Blindenschule in Wien zu schicken. Sie
wandern mit ihm, binden ihm eine
Gummischnur an den Hosenbund
und bringen ihm das Skifahren bei.
„Wir wollten ihm das Gefühl geben, ein ganz normaler Junge zu
sein“, sagt seine Mutter Maria Holzer. Andy sprudelt vor Tatendrang,
kommt mit blauen Flecken und blutigen Knien nach Haus. Alles halb
so schlimm. Er will nicht mit dem
Schicksal hadern, sondern die Welt
kennenlernen. Vor allem die Berge.
Als Neunjähriger berührt Holzer
erstmals ein Gipfelkreuz. Das pure
Glück. „Für mich war das die Bestätigung, dass ein Berg eine Spitze
Seine Augen
sind die Finger
Der blinde
Extremkletterer
Andy Holzer hört,
fühlt und ertastet
die Berge – selbst bei
minus 38 Grad. Seine
Ziele sind die höchsten
Gipfel aller Kontinente.
VO N M I C H A E L B R Ü G G E M A N N
Frankfurt. Regentropfen trommeln auf den lehmigen Bergpfad,
der Nebel hat die Gipfel der Lienzer Dolomiten in Watte verpackt.
Unten am Fels steht Sabine Holzer,
die Hände am Seil, den Kopf im
Nacken, und sorgt sich um die Finger ihres Mannes. „Rutschig ist’s.
Überall Wasser. Da kriegst doch
nie a Halt!“ Zwanzig Meter höher
tasten Andy Holzers Fingerkuppen
über den nassen, glitschigen Kalk.
Die linke Hand klemmt in einer
streichholzschachtelbreiten Spalte,
die rechte fahndet nach einer trockenen Stelle, denn wo kein Wasser
fließt, sitzt ein Vorsprung – und womöglich ein Untergriff.
Blind und doch vertraut
mit den Bergen: Andy Holzer
Andy Holzer fühlt und ertastet
den Berg, sehen kann er ihn nicht.
Der Heilmasseur aus Tristach in
Osttirol ist seit seiner Geburt
blind. Trotzdem meistert er Felswände im siebten Schwierigkeitsgrad. Seine Finger sind wie Augen
für ihn: Sie geben ihm Halt in der
Wand, melden den Füßen, was sie
zu tun haben. Trickreich holt der
blinde Kletterer Informationen aus
der Natur: Wenn der Wind um die
Ecke pfeift, weiß er, dass einige Meter entfernt eine Kante aufragt.
Schnalzt er mit der Zunge, werfen
die Bergwände das Geräusch zurück, und er kann sie besser orten.
Manchmal schleudert er Sand auf
ein Felsplateau – und hört am Aufprall der Körner, wo der Abgrund
beginnt. „Die Natur ist mein Kompass“, sagt Holzer. „Ohne sie würde ich immer im Kreis laufen.“
Vier Stunden ist Andy Holzer
die tausend Meter hohe senkrechte
Wand hinaufgeklettert, die Füße
über dem Abgrund, die Finger in
den harten Fels gekrallt. Und dann
auf dem Gipfel, als alle Last abfiel,
sagt ihm ein Wanderer beiläufig
diesen Satz ins Gesicht: „Als Blinder tust du dich ja leichter, da
brauchst du keine Angst vor einem
Absturz zu haben.“ Unsinn, sagt
der 43-jährige Österreicher. „Ich
spüre den Abgrund ständig unter
mir.“ Manchmal verzweifelt er eine
Handbreit über dem Boden, weil er
die Höhe nicht einschätzen kann.
„Meine Kletterpartner lachen
dann, sagen: Andy, kannst runterkommen. Aber ich steh voll unter
Strom.“
Klettern sei das Logischste für einen Blinden, sagt Holzer. Es sorge
für Entschleunigung. „An einer
senkrechten Wand gibt es kein
Tempo mehr, dein Gehirn bekommt Zeit nachzudenken.“ Unten im Tal ist ihm alles zu schnell.
Da sei er ein Tollpatsch, müsse sich
beim Einkauf an den Schultern seiner Frau festhalten.
Holzers Ziele sind die höchsten
Berge jeden Kontinents; vier von
sieben Gipfeln hat er schon bestiegen: den Elbrus im Kaukasus, den
Kilimandscharo in Tansania, den
Aconcagua in Argentinien und
auch den kältesten Berg der Erde,
den Mount McKinley in Alaska. Er
erinnert sich gut daran. Bei minus
38 Grad wagten Holzer und sein
Team am 30. Mai 2008 den letzten
Anstieg zum Mount McKinley. 15
Kilogramm Körpergewicht hatte
der Extremkletterer in zwei Wochen verloren, die Beine waren
schwer wie Blei. Zweihundert Höhenmeter vor dem Gipfel peitschten den fünf Männern eisige
Schneeböen ins Gesicht. Andy Holzer folgte allein dem Knirschen der
Steigeisen seiner Vorderleute, die
sich tief ins gefrorene Eis bohrten.
Plötzlich übertönte der Wind das
Geräusch. Holzer verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wo der
Abgrund ist. Nur sein Hintermann
konnte ihm noch helfen: Alle 200
Meter flüsterte er ihm ins Ohr, was
er sah. Holzer stieg dem Bild nach.
Falls er sich irrte, sollte ihm der
Mann mit dem Eispickel gegen den
Rucksack klopfen. „Wir sind gegangen wie im Nirvana.“
Holzer kennt die Risiken solch
kühner Grenzgänge. Am Berg, sagt
er, sei die Gefahr offensichtlich, lasse sich kalkulieren. In seinem Heimatdorf sehen viele das anders: Ein
Blinder gehöre nicht in die Berge.
Jahrelang musste er nach einem
Bergprofi suchen, der ihm das alpine Klettern beibrachte. „Mit 20, 25
Jahren hat mich das wahnsinnig geärgert“, sagt Holzer. „Du fühlst
dich als Mensch zweiter Klasse.“
Noch heute betrachten manche
ihre Route als entweiht, wenn der
blinde Bergsteiger sie begangen
hat.
Die Jalousien sind zugezogen,
der Arbeitsraum halb dunkel: Ein
Blinder braucht keine Beleuchtung.
Andy Holzer hockt vor seinem
Computer und lauscht. Eine
Sprachsoftware übersetzt ihm eingegangene E-Mails. Die beiden Ar-
Klettern sei das
Logischste für einen
Blinden, sagt Holzer.
Unten im Tal ist ihm
alles zu schnell. Da sei
er ein Tollpatsch,
müsse sich beim Einkauf an den Schultern
seiner Frau festhalten.
Zeit zum Nachdenken: An einer senkrechten Wand, sagt Holzer, gebe es kein Tempo mehr, da sei nichts mehr zu schnell.
Fotos David Denifl, Erwin Reinthaler, Andreas Scharnagl
Grenzgänger: Andy Holzer und Kletterpartner auf dem Weg zum Gipfelkreuz
beitsplätze sind das Basislager des
Familienunternehmens
Holzer.
Hier organisieren Andy Holzer
und seine Frau Sabine Vortragsreisen, suchen nach Sponsoren für teure Bergabenteuer, schneiden und
vertonen Bilder und Videos für seine Multimediashow. „Es geht darum, Barrieren zu überwinden – am
Berg wie im Leben.“ Mit dieser
Botschaft füllt der Extrembergsteiger Vortragssäle, reißt Manager,
Banker, Verkäufer und Krankenpfleger aus ihrem Alltagstrott. Ein
Blinder, der senkrecht den Fels
hochklettert wie eine Spinne am
Garagentor, der in die sauerstoffärmsten Gegenden dieser Erde vordringt – das berührt die Menschen,
Der Angriffsdonner wird leiser
Eine Medaille gegen die Sinnkrise einer Sportart: Der Reiter-Präsident fühlt sich wieder wohl in seinem Ehrenamt
VO N E V I S I M E O N I
Windsor. Die Entscheidung fiel
erst in der letzten von acht Runden, und dann nur um Schweifhaaresbreite: Hätte Meredith Michaels-Beerbaum nicht vor einer imposanten Triple-Barre kurz die Verbindung mit ihrem eifrigen Wallach Checkmate verloren – die deutsche Springreiter-Equipe hätte bei
den Europameisterschaften statt
Bronze sogar noch die Silbermedaille gewonnen. Hätte dazu Thomas
Mühlbauer nach einer phantastischen Runde mit seinem Hengst
Asti Spumante nicht am letzten
Hindernis noch unglücklich eine
Stange mitgenommen – die Deutschen wären Europameister geworden. Doch so einseitig darf man
nicht hadern mit dem SpringreiterSchicksal, das im Gewirr der Stangen manchmal grausam zwischen
Wackeln und Fallen, zwischen Anticken und Herunterschlagen entscheidet. Schließlich hätte es im
Schlosspark von Windsor genauso
gut weit schlimmer kommen können: Hätte sich der unglückselige
Niederländer Marc Houtzager mit
Opium als letzter Reiter des Tages
nicht zwei Hindernisfehler geleistet, wäre Deutschlands Bronzemedaille futsch gewesen. Die Equipe
wäre in diesem Wettbewerb der
Konjunktive Vierte geworden, und
die allgemeine Reiterdepression zu
Hause hätte einen neuen Tiefpunkt
erreicht. So aber jubelten alle und
waren erleichtert. Die große Jagd
ist überstanden, die Beute kann
sich sehen lassen. Medaillen, dies
zeigt das Ergebnis von Windsor
wieder einmal, sind allemal das beste Mittel gegen die Sinnkrise einer
Sportart.
Breido Graf zu Rantzau jedenfalls, der Präsident der Deutschen
Reiterlichen Vereinigung, rollte
tags darauf recht munter seinen
Koffer aus dem Hotel. Er fühlt
sich wieder wohler in seinem Ehrenamt. Zumal der Angriffsdonner aus der Heimat, gezündet unter anderen vom SportausschussVorsitzenden Peter Danckert, leiser geworden ist. Es scheint, als
ginge ihm das Pulver aus beim Versuch, gemeinsam mit dem Turnierveranstalter Kaspar Funke und einer Gruppe weiterer Unzufriedener das Verbandspräsidium zu um-
fangreichen Personalentscheidungen zu zwingen. Volker Wulff und
Michael Mronz jedenfalls, die beiden Schwergewichte der Veranstalterszene, haben sich deutlich von
den Rebellen distanziert und geben Rantzau und seiner Mannschaft Feuerschutz. In einer offiziellen Mitteilung erklärten sie
auch im Namen weiterer Kollegen: „Die Mehrzahl der wichtigsten deutschen Turnierveranstalter
kann die derzeitige Diskussion um
die Führungsspitze der Deutschen
Reiterlichen Vereinigung nicht
nachvollziehen.“ Die dringlichsten
Aufgaben sehen sie woanders:
„Der Wunsch nach effektiven Lösungsansätzen für die Medikations- und Doping-Problematik ist
derzeit wesentlich wichtiger als
jede Personaldebatte. Am effektivsten kann das mit jenen Personen
gelingen, die sich mittlerweile seit
Gute Aussichten: Carsten-Otto Nagel und Corradina
Foto dpa
mehreren Monaten mit dem Thema befassen.“
Der Blick geht also ein bisschen
befreiter aufs Springreiter-Einzelfinale an diesem Sonntag. CarstenOtto Nagel jedenfalls, dessen
Schimmelstute Corradina trotz jeweils eines Abwurfs im Nationenpreis hervorragende Form bewies,
hat noch viel vor. „Ich möchte
noch eine Medaille gewinnen“, sagte er. Obwohl in Windsor die Stangen purzeln wie selten bei einem
Titelkampf, müsste er dafür aber
wohl in beiden Finalrunden fehlerfrei bleiben. Doch das schreckt ihn
nicht: „Ich kann es schaffen“, sagt
der 46 Jahre alte Profi aus Wedel
bei Hamburg, der in der Zwischenwertung als bester Deutscher auf
Rang sieben liegt. Die Abstände allerdings sind klein. Bis zu Rang
zehn, auf dem Titelverteidigerin
Meredith
Michaels-Beerbaum
steht, trennen die Reiter weniger
als acht Strafpunkte, also zwei Hindernisfehler, vom Führenden. Der
ist zu aller Überraschung Italiener:
Natale Chiaudani mit der zehnjährigen Stute Snai Seldana, dem als einzigem Teilnehmer des Nationen-
preises zwei Null-Fehler-Runden
gelungen waren. Der Mann genoss
seine ungewohnte Rolle sichtlich,
und die Traditionalisten freuten
sich: Endlich, viele Jahre nach den
Brüdern d’Inzeo, wieder einmal etwas italienisches Flair an der reiterlichen Spitze. Der 49 Jahre alte Chiaudani erfüllt auch alle Kriterien:
Er reitet grundsätzlich mit Sonnenbrille, unter seinem Helm weht
dunkles Lockenhaar hervor, und er
gilt als exzessiver Mobiltelefonierer.
Mittlerweile sind sogar Leute aufgetaucht, die beschwören, sie hätten
gesehen, dass sich Chiaudani zwischen den beiden Umläufen ein
Gläschen Weißwein gegönnt habe.
Mit seinen lockeren Runden
trug er jedenfalls maßgeblich zum
Gewinn der Silbermedaille für seine Mannschaft bei, was eine noch
größere Überraschung war als der
Sieg der Schweiz. Nur einer hatte,
allerdings im Spaß, diesen Einlauf
vorausgesagt: Markus Fuchs, der
Schweizer Championatsreiter, der
erst im Mai seine aktive Karriere
beendet hat und seit vier Wochen
die Italiener trainiert. „Offensichtlich bin ich als Motivator besser, als
ich als Reiter je gewesen bin“, sagte
er verblüfft. „Es ist ein Miracolo.“
hat, wo alles zusammenläuft“, sagt
Holzer. Vor jedem Aufstieg bekreuzigt er sich. Sein Glaube gebe ihm
Halt – wie das Kletterseil.
Am 18. August 2002 wird dieser
Glaube auf eine harte Prüfung gestellt. Es ist ein nasser Tag in den
Lienzer Dolomiten. Unter Holzer
öffnet sich der Abgrund, 400 Meter tief, über ihm die Laserz-Nordwand, eine fast senkrechte Kante,
die 2614 Meter in den Himmel ragt.
Sein Partner klettert knapp 50 Meter über ihm, als das Seil zwischen
beiden nicht mehr weiterläuft. Intuitiv presst Holzer beide Hände
aufs Seil. „Ich dachte, es kommt ein
furchtbarer Ruck. Doch nichts passierte. Es war mucksmäuschenstill.“
An diesem Tag verliert Andy
Holzer seinen Kletterpartner Sepp
Voithofer. Er sieht es nicht, doch
er weiß es sofort. Das Seil hat sich
in einem Haken verheddert, der
Freund versucht es auszubalancieren, verliert das Gleichgewicht. Obwohl Andy Holzer keine Schuld
trifft, zweifelt er erstmals am Sinn
des Bergsteigens.
Erst zwei Jahre später klettert er
die Route noch einmal. „Irgendwann habe ich für mich eine Rechnung aufgemacht: Was bringt dir
der Berg, und was nimmt er dir?
Und ich habe mich für das Klettern
entschieden.“
Bronze für
Judoka
Heide Wollert
Rotterdam (sid). Halbschwergewichtlerin Heide Wollert hat die
vierte Bronzemedaille für die deutschen Judoka bei der Weltmeisterschaft in Rotterdam gewonnen.
„Eine WM-Medaille war mein
Traum. Der ist heute in Erfüllung
gegangen“, sagte die Leipzigerin
nach dem größten Erfolg ihrer bisherigen Karriere. Im kleinen Finale der Kategorie bis 78 Kilogramm
besiegte Heide Wollert die EMFünfte Céline Lebrun durch einen
Festhaltegriff 36 Sekunden vor Ablauf der Kampfzeit entscheidend
und feierte ihren ersten Sieg überhaupt gegen die starke Französin.
Vor dem Abschlusstag mit den drei
Entscheidungen in den schwersten
Kategorien haben die deutschen Judoka in den Niederlanden durch
Wollert, Olympiasieger Ole Bischof (Reutlingen), Claudia Malzahn (Halle/Saale) sowie Romy Tarangul (Frankfurt/Oder) bereits
vier Bronzemedaillen erkämpft.
Damit wurden die Bilanzen der
WM 2007 (einmal Bronze) und
2005 (einmal Silber) und die eigenen Erwartungen schon übertroffen.

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