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Stalins Tod, der 17.6.1953 und die
Ausreise
Wie besprochen, stellte Mama über Tante Tilla den Antrag, mit
Alex nach Hannover zu übersiedeln, aber, und das war wohl
schon immer so, die Behörden ließen sich sehr viel Zeit, ehe
ein entsprechender Bescheid zu erwarten war. Wochen und
Monate gingen ins Land und Opa meinte schon, dass man
glatt darüber hinsterben könne, ehe eine Entscheidung getroffen würde. Das Jahr 1953 begann und noch immer hatte die
Familie nichts von den zuständigen Ämtern gehört. Zwar starb
Opa doch nicht darüber hin, aber Genosse Josef Dschugaschvili,
genannt Stalin, tat es, obwohl er sicherlich andere Gründe
hatte. Grund genug für die DDR, in immens umfangreiche
Trauerfeierlichkeiten auszubrechen. Für die staatlich geführte
Jugend, explizit die Jungen Pioniere, bedeutete das, dass die
Jüngsten neben den offizielle verordneten Wein- und
Trauerstunden auch Ehrenwachen vor einem überdimensionalen Bildnis des teuren Verblichenen stellen mussten. Da jeder an die Reihe kam, war natürlich auch Alex betroffen, der
sich jedoch nach dieser Pflicht von Opa eine gewaltige Ohrfeige
einfing, was im Grunde, bis auf kleinere Wischer in der
Vergangenheit, noch nie passiert war. Opa war regelrecht außer sich und ließ auch Mamas Argumente nicht gelten. Für
ihn wäre eine fingierte Krankmeldung die bessere Alternative
gewesen, denn einem Massenmörder stellte man seiner
Meinung nach keine Ehrenwache, sondern allerhöchtens eine
Wache auf dem Weg zum Schaffott. Auch die Behörden waren
offensichtlich in eine tiefe Trauerzeit versunken, denn noch
immer lag keine Stellungnahme zum Ausreiseantrag vor. Für
die Ohrfeige rächte sich Alex einige Zeit später. Als er beobachtet hatte, wie einige russische Soldaten im benachbarten
Friseursalon zum Haareschneiden gingen, alarmierte der
Junge den Opa mit den Worten: „Die Russen sind nebenan bei
Rossmüller. Möglicherweise machen sie Haussuchungen.“
Besonders der letzte Satz war es, der Opa in ungeheure
Aktivitäten versetzte. Bücher, vor allen Dingen die von Ernst
Jünger, wurden aus den Regalen gezogen und hinter der Grude
versteckt, die im Gegensatz zum späteren Elektroherd damals
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die immer tätige Feuerstelle im Haus war. Ganze Koffer wurden auf den Boden getragen und dort mit alten Lumpen zugedeckt. Selbst die generaligen Uniformen verschwanden von
den Kleiderbügeln und wurden waagerecht im Schrank ausgebreitet und ebenfalls abgedeckt, obwohl bereits in den vergangenen sieben Jahren sämtliche Hakenkreuzembleme sorgfältig
entfernt worden waren. Dann begann das Warten, doch nichts
geschah. Weder, dass es klingelte, noch dass genagelte Stiefel
vor der Tür polterten. Nach vielleicht 1 Stunde hatte Opa das
Warten satt. Er ging vorsichtig vor das Haus und trat dann,
nach einigem Zögern, bei Rossmüllers ein. Bereits nach kurzer Zeit kam er jedoch schon wieder heraus, trat mit verkniffener Miene in die Wohnküche, in der Oma und Alex der
Dinge harrten, die da kommen sollte, haute dem Knaben eine
herunter, dass es laut klatschte und griff mit den Worten: „Du
weißt schon, warum!“ nach seiner Zeitung, mit der er sich in
den Salon zurückzog.
Weitere Wochen vergingen und kein Bescheid erreichte die
Wartenden.
So kam der 17. Juni, ein sonniger warmer Tag, den Alex
schon seit den frühen Morgenstunden bei Herfords in deren
Garten verbrachte, denn aus unerfindlichen Gründen waren
die Kinder schon während der ersten Unterrichtsstunde nach
Hause geschickt worden. Frau Herford war übrigens eine von
Omas Freundinnen, eine kleine dralle und immer freundliche
Frau, während ihr Mann mit seinem strengen Bürstenhaarschnitt das Abbild eines ehemals preussischen Beamten war.
Diese Leutchen jedenfalls hatten in der Nähe der Masche
einen Garten zu eigen, in dem man sich stunden- und tagelang
aufhalten konnte, ohne das es langweilig wurde. Alex hatte
Herfords auf dem Rückweg von der Schule getroffen und
gefragt, ob er mitkommen dürfe, da doch Mama noch bei der
Arbeit wäre. Vorsichtigerweise fügte er noch hinzu, dass Opa
sowieso wüsste, dass er nach der Schule im Garten vorbeischauen wollte. Gern durfte er mitkommen, bekam sogar zu
Mittag etwas zu essen und vertrieb sich die Zeit bis zum
Abend. Zwar hatte man so gegen Mittag verschedene Serien
von Schüssen gehört, vor allen Dingen Maschinengewehrfeuer und das laute Mahlen, Rasseln und Quietschen von Pan-
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zerketten. Man maß dem jedoch keine weitere Bedeutung bei,
denn der Truppenübungsplatz war nicht weit entfernt und es
war auch schon öfters vorgekommen, dass der Wind entfernte
militärische Geräusche übertragen hatte. Es dämmerte noch
nicht, als der Junge sich dann doch auf den Heimweg machte
und erst jetzt schwante ihm nichts Gutes, als er daran dachte,
dass eigentlich keine Menschenseele von seinem Gartenaufenthalt gewusst hatte. Als er in den Straßen die Großaufgebote
von russischem Militär und Volkspolizei registrierte, drückte
er sich regelrecht an Häuserwänden entlang und schließlich
über die Höfe der ihm bekannten Grundstücke. Schließlich
war sein letztes Erlebnis mit der Polizei noch nicht so lange
her und er fragte er sich jetzt natürlich, ob Mama und Opa
nicht etwas übertrieben, ihn von so vielen Uniformierten
suchen zu lassen. Ihn überkamen die schlimmsten Sorgen,
zumal keine der benachbarten Familien auf der Strasse und
alle Fenster geschlossen waren. Das heimatliche Haus wurde
gut erreicht und schon beim Öffnen der Tür stürzte ihm
Mama entgegen und empfing ihn mit einer so furchtbaren
Ohrfeige, dass er Mühe hatte, Haltung und Standfestigkeit zu
wahren. Mit beidem war es jedoch vorbei, als Opa ihr auf dem
Fuß folgte und ihm ebenfalls eine Maulschelle verpasste,
obwohl er nicht unbedingt böse, sondern eher erleichtert aussah. Für Alex jedoch sah es im Augenblick eher so aus, als ob
dieses Jahr in Anlehnung an das chinesische Jahr der Ratte
oder der Schlange, so genau wusste er es auch nicht, das Jahr
der Ohrfeigen werden würde.
Oma, Opa und Mama beruhigten sich dann aber einigermaßen schnell und erzählten Alex an dem noch langen Abend,
was geschehen war. Es wurde nämlich auch deshalb ein langer
Abend, weil Oma und Opa nicht nach Hause gehen durften
und im Wohnzimmer übernachten mussten, und so wurde es
später sogar noch gemütlich, als die fällige Stromsperre einsetzte und man bei Kerzenlicht zusammensaß. An diesem Tag
hatte die russische Kommandantur eine Ausgangssperre ab
18.00 Uhr für alle deutschen Zivilisten verhängt. Schuld waren
massive Arbeitsverweigerungen und Streiks, die in Berlin
ihren Ausgang genommen hatten und sich schnell über die
ganze DDR verbreitet hatten. Die Menschen brachten ihre
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Unzufriedenheit mit dem SED-Regime zum Ausdruck und es
kam zu massiven Übergriffen, bei denen auch Einheiten der
Kasernierten Volkspolizei den Befehl verweigerten. Die Regierung war nicht mehr Herr der Lage und rief die russischen
Panzer zu Hilfe, um ihre Machtposition zu sichern. Die kamen
auch und walzten alles nieder. Es gab Tote, es herrschte Ausnahmezustand. Natürlich hatte Opa Befürchtungen, dass man
auch ihn wegen seiner oft geäußerten Ansichten und seiner
Verbindungen zu vielen Menschen, die an diesem Volksaufstand aktiv beteiligt waren, inhaftieren würde. Eine Befürchtung, die sich Gott sei Dank vorerst nicht bewahrheiten würde.
Anders sah es da schon bei einigen anderen Familienangehörigen aus. Auf jeden Fall wurde beschlossen, dass Mama und
Alex am folgenden Morgen mit Onkel Kurt, der zufälligerweise an diesem Tag in Haldensleben war, mit der Bahn zu
dessen und Tante Inges Wohnung nach Magdeburg fahren
sollten, was sie auch taten und dort natürlich vom Regen in die
Traufe kamen. Onkel Kurt und Tante Inge wohnten mit Töchterchen Ilka, die mittlerweile schon zwei Jahre alt war, am
Hasselbachplatz und genau hier formierten sich am folgenden
Morgen die protestierenden Arbeiter zu einem Streikmarsch,
in dessen Verlauf sie als erstes das Gefängnis stürmten und die
dort einsitzenden Häftlinge befreiten, von denen jedoch mehr
als die Hälfte keine „Politischen“, sondern gewöhnliche Kriminelle waren, die dann ebenfalls marodierend und plündernd
durch die Strassen zogen und sogar einige SED-Funktionäre
henkten. Diese Kriminellen waren dann für den anfangs noch
zögernden russischen Kommandeur Anlass genug, seine Truppen marschieren zu lassen und jeden weiteren Protest zu
ersticken. Natürlich wurde dann auch hier eine Ausgangssperre angeordnet, so dass Mama und Alex erst nach dreitägigem Aufenthalt wieder nach Haldensleben zurückkehren
konnten. Diese drei Tage jedoch haben bei dem Jungen nachhaltige Eindrücke hinterlassen, die nicht so sehr mit dem
Volksaufstand, als vielmehr mit der Nutzungsmöglichkeit
eines Küchenquirls und den Praktiken der Rattenjagd zu tun
hatten.
Ratten waren in dieser Zeit ein verbreitetes Übel, vor allen
Dingen in den Lebensmittelgeschäften, deren Regale damals
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noch mit jenen großen Schüben ausgestattet waren, in denen
lose Zucker, Mehl, Salz oder ähnliche Dinge aufbewahrt wurden. Es passierte öfters, dass eine Kunde z.B. Mehl vom Kaufmann verlangte, dieser einen jener Schübe aufzog, um mit
einer Schaufel das Mehl zum Abwiegen in eine Tüte zu tun,
dazu allerdings nicht kam, weil ihm eines der besagten Untiere
entgegensprang. Das war unangenehm und eine unhaltbare
Situation, da sich in den Lagerkellern der Geschäfte noch weitaus mehr Ratten aufhielten. Gift und Fallen fruchteten schon
lange nicht mehr, große, unter Strom stehende Blechplatten,
auf denen Futter ausgelegt worden war, wurden von den intelligenten Tieren regelrecht umgangen und das Totschlagen einzelner Ratten brachte auch keinen großen Erfolg. Onkel Kurt
lokalisierte dann ganz exakt, wo sich die Rattenlöcher befanden, die in der Regel in die Abwässerkanäle führten. Es wurden Brandwache aufgestellt, zu denen auch Alex gehörte, während sich Tante Inge und Mama schlicht geweigert hatten, bei
dieser Aktion mitzuwirken. Dann fing Onkel Kurt unter
Zuhilfenahme eines großen Stücks Fleisch eine Ratte, übergoss sie mit Benzin, entzündete dieses und ließ das Tier laufen, welches unter entsetzlichen Schreien kreuz und quer
durch den Keller sprang und dann durch eines der Löcher in
die Kanalisation verschwand. Anschließend wurden die Löcher
verschlossen. Schon damals hat man sich über diese Methode
der Rattenvertreibung gestritten, fest steht jedoch, dass sie
geholfen hat, denn von Stund an war Onkel Kurts KonsumLaden „rattenfrei“. Dieser Erfolg gehörte auch richtig gefeiert,
denn in dieser Zeit herrschte in der DDR die sogenannte
„Sauf- und Fresswelle“, die einige Zeit nach den letzten Kriegstagen einfach fällig war, und sich dann, aus diversen Anlässen,
noch mehrfach wiederholte. 1953 gehörten zu einem solchen
Exzess auf jeden Fall Bier, und zwar das beste, welches man
bekommen konnte, weiterhin standen in der Regel mehrere
Flaschen selbstgebrannter Korn auf dem Tisch, bei Gutbetuchten kamen Cognac und Wodka dazu und alle möglichen
Sorten von Obstweinen und -schnäpsen, je nach dem, was der
Garten so hergab. Die Lebensmittel bestanden zumeist aus
den Dingen, die ein Schlachttag so hergibt. Von allen diesen
Sachen nahm man dann, und das war normal, etwas mehr zu