Vorlesung vom 03.12.2014
Transcrição
Vorlesung vom 03.12.2014
Dr. Michael Kilchling Strafvollzugsrecht (6) Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 1 Aktueller Nachtrag Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 2 Verfassungskonformer Vollzug • Das Rechtsstaatsprinzip erfordert ferner eine rechtlich eindeutig geregelte Entlassungspraxis • Gnadenpraxis reicht nicht aus • Vermeidung von Ungleichbehandlung und Herstellung von Rechtssicherheit • Einführung des § 57a StGB Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 3 Auslegung des § 57a StGB • Besondere Schwere der Schuld • erfordert Festlegung durch das erkennende Gericht (BVerfGE 86, S. 288 ff.) • Rechtssicherheit und Konkretisierung der Entlassungschance durch verfahrensrechtliche Begleitregelung • vgl. § 454 StPO • Mindestfrist für Anträge gem. § 454 Abs. 1 Nr. 2b • Deshalb faktisch 3 Gruppen lebenslanger Freiheitsstrafe: • ca. 15 Jahre (§ 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB) • ca. 20 Jahre (§ 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB) • ('echtes') Lebenslang bei fortdauernder Gefährlichkeit (§ 57a Abs. 1 Nr. 3. i.V.m. § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB) Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 4 Fotos: Alexey Sergeev, www.sergeev.com Exkurs: Lebenslang USA Captain Joe Byrd Prison Cemetery Huntsville, Texas Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 5 Effektive Verweildauer in Deutschland Quelle: Dessecker 2013 Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 6 Effektive Verweildauer in Deutschland Quelle: Dessecker 2013 Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 7 Effektive Verweildauer in Deutschland Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 8 Effektive Verweildauer in Deutschland • Der Fall Heinrich Pommerenke • Haftantritt 1960 • 1993 Krebserkrankung • LG Karlsruhe und OLG Karlsruhe lehnen Antrag auf Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe 1993 und 1995 ab • BVerfG hebt diese Entscheidungen 1995 auf: "Es wäre mit der Würde des Menschen unvereinbar, die vom BVerfG geforderte konkrete und grundsätzlich auch realistische Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden, auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren. Die angegriffenen Entscheidungen werden [diesen] Maßstäben nicht gerecht." (BVerfG, StVert. 1995, S. 595ff.) • Siehe auch: www.sueddeutsche.de/panorama/justiz-sechsmal-lebenslaenglich-und-kein-ende-in-sicht-1.922315 Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 9 Effektive Verweildauer in Deutschland Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 Freitag, 22.10.2010 10 Effektive Verweildauer in Deutschland TV-Dokumentation unter: www.youtube.de/watch?v=5a3jn6ipiiA Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 11 Effektive Verweildauer in Deutschland […] Ein Gnadengesuch? Nie. Er ist stur wie ein Esel Seit dem 20. Januar 2012 hat Neumann die fuffzig voll. Fuffzig Jahre Bau. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland hat keiner länger als Neumann gesessen. Mit seinem Rekord hat er einen Mann abgelöst, der auch in Bruchsal saß. Er hieß Heinrich Pommerenke, die „Bestie in Menschengestalt“, so hat ihn die Süddeutsche Zeitung einmal genannt. 2008 starb der Serienmörder nach 49 Jahren im Knast. Sie haben sich getroffen. Neumann sagt: „Ick loof noch mit der Jacke zum Hof, die er mir jeschenkt hat.“ Mit 25 Jahren ist Neumann eingefahren. Jetzt ist er 75 Jahre alt. Hätte ihm das damals einer gesagt, Neuman hätte sich „weggehängt“. Doch die Jahrzehnte haben sich eingeschlichen in sein Leben. Der Knast ist sein Leben geworden. Lebenslänglich. Siehe auch: www.strafvollzugsarchiv.de/index.php?action=archiv_beitrag&thema_id=&beitrag_id=525&gelesen=525 Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 12 Exkurs: Verhältnismäßigkeit • Weitere Forderung des BVerfG: Verhältnismäßigkeit der Strafandrohung • Dies wäre bei einer Androhung der absoluten Strafe ohne Korrekturmöglichkeit im Einzelfall nicht erfüllt • Zwei Ansatzpunkte: • Enge Auslegung des Mordtatbestandes oder: • Strafmilderung und Verhängung zeitiger Freiheitsstrafe analog § 49 StGB Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 13 Persönlichkeitsschutz und Resozialisierung • BVerfGE 35, S. 202 ff.: Lebach-Fall • Rundfunkfreiheit und Resozialisierung • (Fernseh-) Berichterstattung über eine Straftat unter Namensnennung, Abbildung oder Darstellung des Täters stellt regelmäßig einen schweren Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar • Aktuelle Berichterstattung: Informationsrecht der Öffentlichkeit hat Vorrang • Spätere Täterberichterstattung ist aber unzulässig, wenn sie die Wiedereingliederung gefährdet » Identifizierung des Täters » Nähe der Sendung zur Entlassung » Auslösen selbständiger und neuer Beeinträchtigung Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 14 Persönlichkeitsschutz und Resozialisierung • BVerfGE 35, S. 202 ff.: Lebach-Fall • "Nicht nur der Straffällige muss auf die Rückkehr in die freie menschliche Gesellschaft vorbereitet werden; diese muss ihrerseits bereit sein, ihn wieder aufzunehmen." • Das Schutzbedürfnis von Strafentlassenen erhält besonderes Gewicht auch wegen der mangelnden Akzeptanz des Resozialisierungsgedankens in der Bevölkerung • Fernsehsendungen können die vorhandene allgemeine Abwehrhaltung gegenüber Strafentlassenen noch verstärken Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 15 Persönlichkeitsschutz und Resozialisierung Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 16 Persönlichkeitsschutz und Resozialisierung • BVerfGE 103, S. 44 ff.: • Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG • Prangerwirkung der öffentlichen Darstellung des Verhaltens vor Gericht • Erinnerung der Öffentlichkeit kann spätere Resozialisierung erschweren • BVerfG v. 20.12.2011 (1 BvR 3048/11), wistra 2012, S. 145 • Anordnungen des Vorsitzenden gem. § 176 GVG stellen einen Eingriff in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG dar. Die Beschränkung der Bildberichterstattung auch am Rande der Hauptverhandlung auf anonymisierte Aufnahmen ist rechtmäßig • Kein Anspruch auf ungepixelte Bilder Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 17 Persönlichkeitsschutz und Resozialisierung • BVerfG v. 10.6.2009 (1 BvR 1107/09), NJW 2009, S. 3357 • Berichterstattung darf in der Regel die Art der Straftat (hier: Sexualdelikt) nennen • Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung oder Geldstrafe lässt das Recht auf tagesaktuelle Berichterstattung nicht entfallen (keine "Vorverlagerung" des Resozialisierungsanspruches) Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 18 Exkurs: Internet-Pranger i.d. USA • Konkrete Beispiele: – www.mapsexoffenders.com – http://sor.informe.org/cgi-bin/sor/index.pl (Maine Sex Offender Registry) Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 19 Persönlichkeitsschutz und Resozialisierung • Auf der Grundlage der Rspr. des BVerfG prinzipiell andere Handhabung in Deutschland • Hier existieren besondere Sexualstraftäterdateien bislang ausschließlich für den behördeninternen Gebrauch; öffentlicher Zugang ist ausgeschlossen • Z.B. in Ba.-Wü.: VwV KURS vom 9.3.2010 • "Ressortübergreifende Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern" • Zusammenführung von Informationen beim LKA • http://www.fab-ka.de/images/stories/files/pdfs/vwv-kurs-0104-2010.pdf Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 20 Grundrechte im Strafvollzug • Jede Grundrechtsbeschränkung im Strafvollzug bedarf einer gesetzlichen Ermächtigung • Nicht einschränkbar: • Menschenwürde (Artikel 1 Abs. 1) • Gleichbehandlung (Artikel 3) • Glaubensfreiheit (Artikel 4) • Teile der Rechte aus Artikel 6 (insbes. Eheschließung) • Eigentumsrecht (Artikel 14) • Petitionsrecht (Artikel 17) • Rechtsschutzgarantie (Artikel 19 Abs. 4) • Bei einschränkbaren Grundrechten: Zitiergebot zu beachten (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 21 Grundrechte im Strafvollzug • Einschränkung von Grundrechten § 57 JVollzGB I Ba.-Wü. (weitgehend identisch m. § 196 StVollzG): "Die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2 Abs. 1), körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1) und Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2) sowie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes) werden durch dieses Gesetzbuch eingeschränkt." Art. 207 BayStVollzG: "Auf Grund dieses Gesetzes können die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person sowie das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 2 Abs. 2 S. 1 u. 2 sowie Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 102 Abs. 1, Art. 112 Abs. 1 und Art. 109 der Verfassung) eingeschränkt werden." Michael Kilchling | Vorlesung Strafvollzugsrecht | WS 2014/2015 22