Briefe in die Todeszelle

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Briefe in die Todeszelle
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Briefe in die
Todeszelle
Was bewegt Menschen in der Schweiz dazu, mit
Todeskandidaten in den USA Kontakt zu suchen? Mitgefühl?
Die tiefe Überzeugung, dass die Justiz einen Menschen nie töten
lassen darf? Das Migros-Magazin über drei ungewöhnliche
Brieffreundschaften.
D
ie Vereinigten Staaten von Amerika
sind das einzige westliche Land,
das noch immer Hinrichtungen
durchführt. 2012 waren es 43, immerhin
deutlich weniger als im Rekordjahr 1999,
als 98 Personen auf dem elektrischen
Stuhl oder durch die Giftspritze starben.
Davor sitzen die zum Tode Verurteilten
meist Jahre oder Jahrzehnte in der
Todeszelle und warten, teils weil juristische Einsprachen ihren langwierigen
Weg durch das kafkaeske, komplexe USJustizsystem nehmen, teils einfach so.
Besonders häufig trifft es Schwarze.
Regelmässig werden mithilfe von
DNA-Tests Justizirrtümer aufgeklärt —
Menschen, denen man aufgrund fehlerhafter Verfahren oder voreingenommener Juroren und Richter das halbe Leben
gestohlen hat, kommen plötzlich wieder
frei. Eines dieser Justizopfer ist Damien
Echols (38) aus West Memphis, Arkansas. Er wurde 1994 für schuldig befunden, im Rahmen eines satanischen Rituals mit zwei Freunden drei achtjährige
Buben ermordet zu haben. Er wurde zum
Tode verurteilt, seine angeblichen Mittäter lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt. Im August 2011, nach 18 Jahren
im Gefängnis, kamen sie frei — dank des
jahrelangen Einsatzes von Freunden,
Dokumentarfilmern und Prominenten
(mehr dazu auf Seite 18).
Es sind nicht zuletzt diese Justizirrtümer, aber auch das Entsetzen über das
als ungerecht empfundene amerikanische Justizsystem, was Schweizerinnen
und Schweizer motiviert, Brieffreundschaften mit Todeskandidaten in amerikanischen Gefängniszellen zu pflegen.
Vermittelt werden diese Kontakte von
Lifespark, einer gemeinnützigen Organisation, die 1993 in Basel gegründet
wurde. Derzeit hat die Gruppe 350 Mitglieder; seit der Gründung wurden
Brieffreundschaften zu 1300 Todeskandidaten vermittelt.
Im Moment stehen bei Lifespark über
60 Häftlinge auf der Warteliste. «Sie erfahren über Mundpropaganda von uns»,
sagt Ines Aubert, die Koordinatorin von
Lifespark in der Deutschschweiz. Sie
selbst führt sieben Brieffreundschaften
und reist bald in die USA, um der Hinrichtung eines nahestehenden Brieffreundes beizuwohnen.
Wer sich entscheidet, bei Lifespark
mitzumachen, erhält den Häftling zugeteilt, der auf der Warteliste zuoberst
steht. Aubert führt immer zuerst mit
allen Interessenten ein Gespräch, um
ihnen klarzumachen, was sie erwartet.
«Ab und zu gehen solche Briefwechsel
schief, etwa wenn der Häftling immer
nur von Sex spricht oder dauernd Geld
fordert.» Dies sei aber die Ausnahme.
«Die Mehrheit ist einfach nur dankbar
über eine Beziehung zur Aussenwelt.»
Texte: Ralf Kaminski
Bilder: Andreas Eggenberger
www.lifespark.org
www.migrosmagazin.ch
lesen sie online
DNA-Tests retten Leben
Dank DNa-Tests wurden in den USa etliche
zum Tode Verurteilte freigelassen. Die Zahlen und ein paar prominente Beispiele.
Die Briefeschreiberin:
Anouk Oswald
(22), Journalismus-Studentin
aus Zürich.
Der Häftling:
Konstantin Fotopoulos (53),
seit 23 Jahren
wegen vorsätzlichen Mordes in
der Todeszelle
im Florida State
Prison bei
Jacksonville.
Nr. 20, 13. Mai 2013 | migros-magazin |
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migros-magazin | Nr. 20, 13. Mai 2013 |
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«ich will wissen, wie er lebt und warum er
das getan hat»
Zuerst war Anouk Oswald
schockiert, als sie herausfand, wofür ihr künftiger
Brieffreund Konstantin
Fotopoulos zum Tode verurteilt worden war. Der
verheiratete Einwanderer aus
Griechenland hatte 1989 seine Geliebte dazu angestiftet,
einen Mitarbeiter umzubringen, der ihn wegen krummer
Geschäfte in seiner Bar in
Daytona Beach hätte erpressen können. Sie erschoss den
Mitarbeiter dann tatsächlich,
er hielt es auf Video fest.
Zudem heuerte er einen
weiteren jungen Mann an,
seine Frau umzubringen, um
an deren Lebensversicherung
ranzukommen. Der Mann
sollte nachts in das gemeinsame Schlafzimmer eindringen und die Ehefrau erschies-
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sen, was er dann auch tat.
Aber kaum hatte er geschossen, griff Fotopoulos seinerseits zur Waffe und erschoss
den Auftragskiller. Der Polizei gegenüber behauptete er,
er habe in Notwehr gehandelt. Doch seine Frau überlebte, und die Sache flog auf.
nicht aus idealismus,
sondern aus neugier
Angesichts dieser Historie
entschied Anouk Oswald, für
den Briefverkehr nicht ihren
echten Namen zu verwenden
und als Adresse das Büro ihres Vaters anzugeben. «Man
weiss ja nie.» Und sie machte Fotopoulos in ihrem ersten
Brief klar, dass sie es richtig
findet, dass er die Konsequenz für seine Taten tragen
müsse und dass er von ihr
kein Mitleid erwarten dürfe.
Entsprechend nervös war
sie, als ihr Vater ihr berichtete, es sei ein Brief für sie angekommen. «Aber er hat gut
reagiert und schrieb sehr
sympathisch», sagt Oswald.
«Er meinte, er könne meine
Haltung völlig verstehen und
ich könne ihn alles fragen,
was ich wolle.»
Oswald führt diese Brieffreundschaft, die vor zwei
Monaten begonnen hat, nicht
aus idealistischen Gründen,
sondern weil sie neugierig
ist. «Mich fasziniert es, mit
einem Menschen in Kontakt
zu sein, dessen Welt eine so
völlig andere ist als meine.
Ich will wissen, wie er lebt,
wie sein Alltag aussieht, was
er so tut.» Und sie möchte
herausfinden, wie ein Mensch
eine solch grauenhafte Tat
begehen kann.
Bevor sie den ersten Brief
schrieb, diskutierte sie ihr
Vorhaben erst noch mit ihren
Eltern und ihrem Freund.
«Mein Vater versteht noch
immer nicht so recht, warum
ich das tue, aber er lässt mich
machen.» Auch von ein paar
Freundinnen kamen zuerst
sehr kritische Töne. «Aber
als ich dann den ersten Brief
bekam und einigen vorgelesen habe, klang es plötzlich
anders. Einige haben sogar
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angeboten, ihm selbst mal zu
schreiben, wenn ich keine
Zeit habe.»
Oswald ist sich bewusst,
dass sie sich auf eine möglicherweise jahrelange Aufgabe eingelassen hat. Und falls
der Briefkontakt positiv verläuft, könnte sie sich auch
vorstellen, ihren Brieffreund
im Florida State Prison mal
zu besuchen. Dass sich Briefschreiberinnen ab und zu in
ihre Häftlinge verlieben, hat
sie natürlich auch schon gehört. «Aber das wird sicher
nicht passieren.» Fotopoulos
sei ja auch «kein 25-jähriger
attraktiver Mister Florida»,
meint sie schmunzelnd.
Sie hofft ausserdem, dass
der grosse Altersunterschied
dazu beiträgt, eine gewisse
innere Distanz zu wahren,
wenn die Hinrichtung dann
angesetzt wird. Hingegen
sieht sie darin keinen Hinderungsgrund, mit Fotopoulos
auch sehr persönliche Dinge
zu teilen. «Ich denke, so was
passiert dann ganz automatisch.» Sie wolle sich ja auch
auf diese Person einlassen.
«Trotzdem will ich auch in
zehn Jahren noch sagen können, dass ich die Tat nicht
verstehen kann. Was er getan
hat, ist furchtbar.»
Damien
Echols in
der Todeszelle.
Nr. 20, 13. Mai 2013 | migros-magazin |
«Eine Umarmung
würde ihm guttun»
«Cornelius hatte nie
eine Chance», sagt Peter
Eichenberger über seinen
Brieffreund. «Seine Familie
ist arm, die Mutter war während der Schwangerschaft
schwerst alkoholabhängig, er
hat einen IQ von 83. Trotz offensichtlicher Mängel wurde
er für seine Tat als voll
zurechnungsfähig erachtet.»
Der Jurist schüttelt den Kopf.
«In der Schweiz würde er das
Gefängnis nicht für einen Tag
von innen sehen. Er käme in
eine Therapie.»
Noch allerdings mahlen
die juristischen Mühlen,
denn Cornelius Bakers Fall ist
noch nicht durch alle Instanzen durch. Und beide hoffen,
dass das Urteil umgewandelt
wird. «Aber das hoffen immer alle.» Baker hat 2007 gemeinsam mit seiner damaligen Freundin das Haus einer
58-jährigen Frau in Daytona
Beach (Florida) überfallen,
die dort mit ihrem Sohn und
ihrer Mutter wohnte. Nachdem sie das Haus nach Wertsachen durchsucht hatten,
stahlen sie das Auto der Familie und nahmen die 58-Jährige als Geisel mit. Schliesslich erschoss Baker die Frau in
einer abgelegenen Gegend.
Nur Stunden später wurde
das Pärchen verhaftet.
Überzeugter gegner
der todesstrafe
Die Story von Damien Echols
Damien Echols (38) sass von 1994 bis 2011 unschuldig in
einer Todeszelle in arkansas. Sein ärmliches Leben in
den Südstaaten und die Zeit im Gefängnis hat er nun in
einer autobiografie verarbeitet. Der Dokumentarfilm
über seinen Fall, «West of Memphis», erscheint in
Grossbritannien am 20. Mai auf DVD und dürfte demnächst auch bei uns erhältlich sein. Mehr auf Seite 18.
Damien Echols, «Mein Leben nach der Todeszelle»,
Goldmann 2013; bei Ex Libris erhältlich für Fr. 22.80.
«An der Tat selbst gibt es
nichts zu beschönigen», sagt
Eichenberger. Was ihn stört,
ist die Unverhältnismässigkeit der Reaktion. Ein zentrales Motiv, weshalb sich
Eichenberger bei Lifespark
engagiert, ist denn auch die
Unbarmherzigkeit des USJustizsystems. «Ich bin ein
überzeugter Gegner der Todesstrafe und verachte Menschenrechtsverstösse.» Aber
fast noch wichtiger ist ihm
die menschliche Seite: «Ich
bin ein Aussenkontakt für jemanden, der von allen verlassen worden ist. Er hat sonst
niemanden.» Die Familie hat
sich abgewendet, einzig mit
seinem Anwalt hat Cornelius
Baker regelmässig Kontakt.
Durch einen Zeitungsartikel auf Lifespark aufmerksam
geworden, tauscht Eichenberger nun seit 13 Monaten
Briefe mit Baker aus. «Mich
hat natürlich interessiert,
unter was für Bedingungen er
lebt. Florida ist noch relativ
human, habe ich dann realisiert. Wirklich schlimm ist
Texas.» Aber auch im Florida
State Prison kommt es vor,
dass der Haferbrei auf den
Boden geschmissen wird, und
dann muss man ihn halt von
dort essen. Baker steckt in
einer Einzelzelle ohne Tageslicht. «Dort sitzt er und starrt
die Wand an.» Immerhin
einen iPod hat er, sodass er
Musik hören kann.
nur muskeln verschaffen
im gefängnis respekt
Tageslicht sieht Baker nur
eine Stunde pro Tag, wenn er
im Hof mit anderen zusammenkommt. Dort gibts ein
paar Zerstreuungsmöglichkeiten wie Hanteln oder einen
Fernseher. «Aber man muss
dafür streng hierarchisch
anstehen.» Baker versucht
dennoch, regelmässig zu trainieren, denn je physisch beeindruckender er ist, desto
geringer ist das Risiko, dass
sich jemand mit ihm anlegt.
«Ich kann mit ihm über
Dinge und Schwächen reden,
die ich nicht mit jedem besprechen würde. Das finde
ich wirklich schön», sagt
Eichenberger. Vieles ist aber
auch einfach Alltag. «Es ist
eine klassische Männerfreundschaft: Wir reden über
Sport und Frauen, ziemlich
simpel.» Auch sonst ist Zwischenmenschliches ein The-
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migros-magazin | Nr. 20, 13. Mai 2013 |
Der Briefeschreiber: Peter Eichenberger (37), Jurist
aus Männedorf ZH.
Der Häftling:
Cornelius Baker
(25), seit vier
Jahren wegen
Raubmords in der
Todeszelle im
Florida State
Prison bei
Jacksonville.
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ma, denn Eichenberger wird
bald Vater, und Baker hat eine
Tochter, die er allerdings seit
Jahren nicht mehr gesehen
hat. Kaum ein Thema hingegen ist Bakers Tat. «So weit
sind wir noch nicht, aber das
kommt sicherlich noch.»
Es ist sehr klar reguliert,
was in den Briefen sein darf
und was nicht. Büro- oder
Bostitchklammern sind nicht
erlaubt, nicht mal Fotos darf
man schicken, sondern muss
sie zuvor auf Papier kopieren.
«Man glaubt offenbar, dass
sie sich oder andere damit
verletzen könnten.»
Zu besonderen Anlässen
überweist Eichenberger Geld
mittels einer Art Paypal-System, denn Baker muss sich alles kaufen: selbst Briefpapier
und Hygieneartikel. Feste Regeln, wann oder wie viel er
schickt, gibt es nicht. «Ich
will das möglichst natürlich
halten, wie zwischen Freunden, nicht wie zwischen Vater und Sohn, wo es Sackgeld
gibt.» Dennoch ist es ein
heikles Thema, denn er könnte ihm mit mehr Geld mehr
Annehmlichkeiten ermöglichen. «Es ist nicht leicht, da
eine Balance zu finden.»
«ich sehe den menschen
und nicht den mörder»
So sehr sich Eichenberger der
Tat bewusst ist, sie spielt für
ihn eine untergeordnete Rolle. «Ich sehe den Menschen,
nicht den Mörder.» Wirklich
schlimm findet er hingegen,
dass die Todeskandidaten
unter menschenunwürdigen
Bedingungen über Jahrzehnte dahinsiechen müssen.
«Die Todesstrafe ist das
eine, aber wenn man sie denn
schon hat, warum vollzieht
man das Urteil dann nicht?
Das ist psychische Folter.
Ganz zu schweigen von den
absurden Kosten, die für den
Staat entstehen.» Schon jetzt
ist klar, dass Eichenberger
seinen Brieffreund besuchen
wird. «Unbedingt. Ausser
dem Anwalt drückt niemand
Cornelius die Hand. Und ich
glaube, eine Umarmung würde ihm sehr guttun.»
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Nr. 20, 13. Mai 2013 | migros-magazin |
«Wir sind für ihn ein Fenster
Die Briefeschreiberin: Beatrice Gloggner (51),
Hausfrau und Übersetzerin aus Kriens LU.
Der Häftling: Oscar Gates (61), seit 34 Jahren
wegen Raubmords in der Todeszelle im St. Quentin
Gefängnis bei San Francisco.
Bei Beatrice Gloggner zu
Hause stapeln sich ganze
Ordner mit Briefen und
Papieren von Oscar Gates.
In einem sind alle Briefe, die
sie in den vergangenen neun
Jahren von ihm erhalten hat,
in einem anderen alle Angaben zu seinem Fall, fein säuberlich dokumentiert. Denn
Gates, der wegen eines Raubmords Ende der 70er-Jahre
zum Tode verurteilt wurde,
hofft noch immer darauf, sein
Urteil revidieren zu können.
Der heute 61-Jährige war
als junger Mann in einen Fälscherring involviert. Gates
wird vorgeworfen, er habe
nach einem Streit mit der
Fälscherfamilie deren Haus
aufgesucht, zwei Familienmitglieder bedroht, sich
Schmuck aushändigen lassen
und dann auf beide geschossen; einer starb, einer wurde
verletzt. Gates hingegen behauptet, er habe den Mann
in Notwehr erschossen, und
Schmuck sei gar kein Thema
gewesen.
Gloggner neigt dazu, ihrem Brieffreund zu glauben,
hegt anders als dieser dennoch wenig Hoffnung, dass er
der Todesstrafe entkommen
wird. «In Kalifornien haben
sie ja letzten November gerade mal wieder gegen die
Abschaffung der Todesstrafe
gestimmt, aber immerhin
werden nun alle langjährigen
Fälle im Todestrakt nochmals
aufgearbeitet.» Somit wird
sich also auch Gates’ Fall bald
in die eine oder andere
Richtung entscheiden. «Mir
macht das eher Angst, aber er
hofft natürlich.»
Der Kontakt ins kalifornische Gefängnis begann kurz
nachdem Gloggner vor neun
Jahren im katholischen
Pfarrblatt einen Bericht über
Lifespark entdeckt hatte.
«Die Ungerechtigkeit im
«Es gibt keine Gerechtigkeit
im amerikanischen Justizsystem»
Damien echols sass 18 Jahre unschuldig in einer US-Todeszelle, bevor er 2011 nach langem juristischen Kampf freikam.
Sich wieder an die Freiheit zu gewöhnen, war gar nicht so leicht. Jetzt kämpft echols für ein besseres Justizsystem.
Damien echols, Sie sassen fast die hälfte
Ihres Lebens im Gefängnis. Fühlt es sich
auch heute noch manchmal merkwürdig an,
wieder frei zu sein?
Oh ja, noch immer. Aber es ist heute sehr
viel besser als in der Zeit unmittelbar
nach der Freilassung. Damals stand ich
etwa drei Monate lang unter Schock. Ich
habe kürzlich mit einem anderen ehemaligen Todeszelleninsassen gesprochen. Er sagte mir, es habe fünf Jahre gedauert, bis er sich völlig an das Leben
draussen gewöhnt hatte.
Was war das Schwierigste für Sie, nachdem
Sie endlich frei waren?
Die Angst. Ich habe mich vor so vielem
gefürchtet. Ich war ja während Jahren
vollkommen isoliert und hatte kaum
Kontakt zu anderen Menschen. Da wurde jede Interaktion zu einem seltsamen,
überwältigenden Erlebnis. Schwierig
war es auch, sich ganz schlicht in der
Welt zurechtzufinden, von Punkt A
nach B zu kommen. Ich habe für fast
20 Jahre in einer kleinen Box gelebt und
musste nie irgendwo hingehen.
Wann im Gefängnis haben Sie angefangen zu
hoffen, dass Ihr Albtraum enden könnte?
Das mag jetzt seltsam klingen, aber daran habe ich eigentlich immer geglaubt.
Am Anfang war ich wohl einfach jung
und naiv und habe gedacht, dass das
Gute — wie in den Filmen — schon siegen wird. Allerdings habe ich rasch realisiert, dass das US-Justizsystem völlig
korrupt und bis ins Mark verrottet ist
und habe mir von dort keine Hilfe erhofft: Selbst wenn diese Leute wissen,
dass jemand 100-prozentig unschuldig
ist, werden sie ihn immer noch hinrichten, um zu vermeiden, einen Fehler
zugeben zu müssen. Aber nachdem
1996 der erste Dokumentarfilm über
unseren Fall auf HBO ausgestrahlt
worden war, kamen plötzlich Briefe,
viele, viele Briefe. Einmal bekam ich
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in eine andere Welt»
schöne Kindheit, aber
eine schwäche für geld
Anders als viele andere InsasseninamerikanischenGefängnissen kommt Oscar Gates
nicht aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Er hatte
eine schöne Kindheit in Missouri. «Aber er sagt, er hatte
eine Schwäche für Geld», erzählt Gloggner, «und so geriet er auf die schiefe Bahn.»
Zudem fühle er sich als Opfer,
weil er keinen fairen Prozess
bekommen habe. Was Glogg-
ner irritiert, ist sein fehlendes
Schuldbewusstsein. «Ich finde es wirklich schlimm, dass
er jemanden umgebracht hat.
Er aber bezeichnet sich als
unschuldig.»
Etwa alle drei Wochen
schreiben sie sich, und nach
all den Jahren kennen sich die
beiden natürlich sehr gut.
«Er weiss über alles Bescheid, was bei uns in der erweiterten Familie so passiert
und nimmt grossen Anteil.
Wir sind für ihn ein Fenster in
eine andere Welt.»
Gloggner wiederum kennt
seine Haftbedingungen bis
ins letzte Detail. Gates sitzt in
Einzelhaft, darf aber einmal
pro Tag raus in einen Hof mit
Tageslicht, spielt in einem
gefängnisinternen Basketball-Team mit und hat sich
dank finanzieller Unterstützung von Freunden einige
Annehmlichkeiten organisieren können. Sein grosser
188 an einem Tag, und alle diese Menschen unterstützten mich. Später fingen
sie an, Websites aufzuschalten, gaben
Benefizkonzerte, schrieben Zeitungsartikel. Diese Dinge waren es, die mir
Hoffnung machten.
Dennoch ist Ihr Fall wohl einer der wenigen,
wo das Gute letztlich gesiegt hat, oder?
Leider. Ich kenne einen Fall aus Arkansas, wo dank DNA-Tests klar war, dass
der Todeskandidat unschuldig ist, er
wurde dennoch hingerichtet. Weil keine
Artikel über ihn geschrieben wurden
und keine Dokfilme entstanden. Nur
wenn die Öffentlichkeit die Details eines
Falls erfährt und Druck ausübt, hat ein
Unschuldiger eine Chance.
haben Sie den Leuten vergeben, denen Sie
Ihre Tortur zu verdanken haben?
Ich würde sagen Ja. Aber nicht, weil ich
so zu einem besseren Menschen werde,
sondern weil ich das hinter mir lassen
will. Diese Leute haben mir mein halbes
Leben weggenommen, ich will ihnen
nicht freiwillig noch mehr davon geben.
Stolz ist eine Schreibmaschine, auf der auch alle Briefe an
Gloggner entstehen.
«Oscar ist ein sehr politischer Mensch. Er hat ein Radio, verfolgt die Nachrichten
intensiv und kommentiert
auch viel.» Besonders interessiert ist er an Umweltthemen. Und: «In den neun
Jahren hat er mich nicht einmal um Geld gebeten.» Sie
schickt ihm trotzdem ab und
zu welches, ist jedoch froh,
dass ihr Brieffreund ein gutes
Netzwerk anderer Freunde
hat, die ihn unterstützen, ihn
ab und zu auch besuchen.
Das hat sie bisher noch
nicht getan. Aber sie wäre
bereit, an seiner Hinrichtung
teilzunehmen, falls Gates das
wünscht. «Mein Mann, der
zu Beginn übrigens eher
skeptisch über den Briefwechsel und sogar für die
Todesstrafe war, käme auch
mit», sagt Gloggner. «Das
dann zu verarbeiten, würde
allerdings sehr hart.»
Die ganze Familie
gloggner engagiert sich
Auch so wird der Weg zur
Hinrichtung
eine
sehr
schwierige Zeit. «Wenn er
sich bis zum Schluss wehrt,
würde mich das enorm belasten. Einfacher wäre es,
wenn er es schaffte loszulassen und auf Gerechtigkeit im
nächsten Leben zu hoffen,
wie das viele in seiner Situation tun.»
Auch den Rest der Familie
hat Gloggner überzeugt: Eine
der Töchter schreibt eine Arbeit zum Thema und hat via
Oscar Gates andere Häftlinge
im Todestrakt schriftlich befragt, eine andere engagiert
sich bei Amnesty International. «Und mein Sohn kann
sich gut vorstellen, später
ebenfalls eine solche Brieffreundschaft anzufangen.»
Damien Echols
schreibt heute
Bücher und produziert Filme.
«Lord of the Rings»-Regisseur Peter Jackson
und seine Partnerin Fran Walsh haben sich offenbar besonders stark für Sie engagiert.
Sie haben sich über Jahre für mich eingesetzt, finanziell und persönlich. Sie
sind dabei zu Experten des amerikanischen Rechtssystems geworden. Meine
Frau Lorri und sie haben die Recherchen
koordiniert, da gingen teils ein Dutzend
Mails pro Tag hin und her. Tagsüber haben Peter und Fran an Filmen wie «King
Kong» und «The Lovely Bones» gearbeitet, abends knieten sie sich in meinen
Fall. Gemeinsam mit meiner Frau haben
sie mehr Arbeit geleistet als alle Anwälte
zusammen. Und als sich der Richter
dann weigerte, die neuen Erkenntnisse
auch nur anzuhören, kamen sie auf die
Idee, den Dokumentarfilm «West of
Memphis» zu machen, um weiteren öffentlichen Druck zu erzeugen.
Sie setzen sich für ein besseres Justizsystem
in den USA ein. Sehen Sie Fortschritte?
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern
werden Richter in den USA nicht
ernannt, sondern gewählt, müssen sich
Bilder: ZUMa press/alamy, Gary Miller/FilmMagic/Getty images
US-Justizsystem ist enorm.»
Ihre grundsätzliche Opposition gegenüber der Todesstrafe und der Eindruck, dass
viele Häftlinge in den USA
selbst Opfer waren, bevor sie
Täter wurden, hat sie motiviert, sich der Organisation
anzuschliessen. «Ich glaube
fest daran, dass ein Mensch
sich verändern kann, wenn er
eine Chance bekommt.»
also verhalten wie ganz gewöhnliche Politiker. Ihre Prioriät ist es, die nächsten
Wahlen zu gewinnen. Deshalb gibt es
keine Gerechtigkeit im amerikanischen
Justizsystem. Daran etwas zu ändern,
wird sehr schwierig. Aber das war es
auch, mich aus dem Gefängnis zu bringen. Wenn man sich lange und intensiv
genug einsetzt, bewegt sich auch etwas.
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