Briefe in die Todeszelle
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Briefe in die Todeszelle
menschen 14 | | porträt | Briefe in die Todeszelle Was bewegt Menschen in der Schweiz dazu, mit Todeskandidaten in den USA Kontakt zu suchen? Mitgefühl? Die tiefe Überzeugung, dass die Justiz einen Menschen nie töten lassen darf? Das Migros-Magazin über drei ungewöhnliche Brieffreundschaften. D ie Vereinigten Staaten von Amerika sind das einzige westliche Land, das noch immer Hinrichtungen durchführt. 2012 waren es 43, immerhin deutlich weniger als im Rekordjahr 1999, als 98 Personen auf dem elektrischen Stuhl oder durch die Giftspritze starben. Davor sitzen die zum Tode Verurteilten meist Jahre oder Jahrzehnte in der Todeszelle und warten, teils weil juristische Einsprachen ihren langwierigen Weg durch das kafkaeske, komplexe USJustizsystem nehmen, teils einfach so. Besonders häufig trifft es Schwarze. Regelmässig werden mithilfe von DNA-Tests Justizirrtümer aufgeklärt — Menschen, denen man aufgrund fehlerhafter Verfahren oder voreingenommener Juroren und Richter das halbe Leben gestohlen hat, kommen plötzlich wieder frei. Eines dieser Justizopfer ist Damien Echols (38) aus West Memphis, Arkansas. Er wurde 1994 für schuldig befunden, im Rahmen eines satanischen Rituals mit zwei Freunden drei achtjährige Buben ermordet zu haben. Er wurde zum Tode verurteilt, seine angeblichen Mittäter lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt. Im August 2011, nach 18 Jahren im Gefängnis, kamen sie frei — dank des jahrelangen Einsatzes von Freunden, Dokumentarfilmern und Prominenten (mehr dazu auf Seite 18). Es sind nicht zuletzt diese Justizirrtümer, aber auch das Entsetzen über das als ungerecht empfundene amerikanische Justizsystem, was Schweizerinnen und Schweizer motiviert, Brieffreundschaften mit Todeskandidaten in amerikanischen Gefängniszellen zu pflegen. Vermittelt werden diese Kontakte von Lifespark, einer gemeinnützigen Organisation, die 1993 in Basel gegründet wurde. Derzeit hat die Gruppe 350 Mitglieder; seit der Gründung wurden Brieffreundschaften zu 1300 Todeskandidaten vermittelt. Im Moment stehen bei Lifespark über 60 Häftlinge auf der Warteliste. «Sie erfahren über Mundpropaganda von uns», sagt Ines Aubert, die Koordinatorin von Lifespark in der Deutschschweiz. Sie selbst führt sieben Brieffreundschaften und reist bald in die USA, um der Hinrichtung eines nahestehenden Brieffreundes beizuwohnen. Wer sich entscheidet, bei Lifespark mitzumachen, erhält den Häftling zugeteilt, der auf der Warteliste zuoberst steht. Aubert führt immer zuerst mit allen Interessenten ein Gespräch, um ihnen klarzumachen, was sie erwartet. «Ab und zu gehen solche Briefwechsel schief, etwa wenn der Häftling immer nur von Sex spricht oder dauernd Geld fordert.» Dies sei aber die Ausnahme. «Die Mehrheit ist einfach nur dankbar über eine Beziehung zur Aussenwelt.» Texte: Ralf Kaminski Bilder: Andreas Eggenberger www.lifespark.org www.migrosmagazin.ch lesen sie online DNA-Tests retten Leben Dank DNa-Tests wurden in den USa etliche zum Tode Verurteilte freigelassen. Die Zahlen und ein paar prominente Beispiele. Die Briefeschreiberin: Anouk Oswald (22), Journalismus-Studentin aus Zürich. Der Häftling: Konstantin Fotopoulos (53), seit 23 Jahren wegen vorsätzlichen Mordes in der Todeszelle im Florida State Prison bei Jacksonville. Nr. 20, 13. Mai 2013 | migros-magazin | | MenSchen migros-magazin | Nr. 20, 13. Mai 2013 | porträt | 15 «ich will wissen, wie er lebt und warum er das getan hat» Zuerst war Anouk Oswald schockiert, als sie herausfand, wofür ihr künftiger Brieffreund Konstantin Fotopoulos zum Tode verurteilt worden war. Der verheiratete Einwanderer aus Griechenland hatte 1989 seine Geliebte dazu angestiftet, einen Mitarbeiter umzubringen, der ihn wegen krummer Geschäfte in seiner Bar in Daytona Beach hätte erpressen können. Sie erschoss den Mitarbeiter dann tatsächlich, er hielt es auf Video fest. Zudem heuerte er einen weiteren jungen Mann an, seine Frau umzubringen, um an deren Lebensversicherung ranzukommen. Der Mann sollte nachts in das gemeinsame Schlafzimmer eindringen und die Ehefrau erschies- menschen 16 | | porträt sen, was er dann auch tat. Aber kaum hatte er geschossen, griff Fotopoulos seinerseits zur Waffe und erschoss den Auftragskiller. Der Polizei gegenüber behauptete er, er habe in Notwehr gehandelt. Doch seine Frau überlebte, und die Sache flog auf. nicht aus idealismus, sondern aus neugier Angesichts dieser Historie entschied Anouk Oswald, für den Briefverkehr nicht ihren echten Namen zu verwenden und als Adresse das Büro ihres Vaters anzugeben. «Man weiss ja nie.» Und sie machte Fotopoulos in ihrem ersten Brief klar, dass sie es richtig findet, dass er die Konsequenz für seine Taten tragen müsse und dass er von ihr kein Mitleid erwarten dürfe. Entsprechend nervös war sie, als ihr Vater ihr berichtete, es sei ein Brief für sie angekommen. «Aber er hat gut reagiert und schrieb sehr sympathisch», sagt Oswald. «Er meinte, er könne meine Haltung völlig verstehen und ich könne ihn alles fragen, was ich wolle.» Oswald führt diese Brieffreundschaft, die vor zwei Monaten begonnen hat, nicht aus idealistischen Gründen, sondern weil sie neugierig ist. «Mich fasziniert es, mit einem Menschen in Kontakt zu sein, dessen Welt eine so völlig andere ist als meine. Ich will wissen, wie er lebt, wie sein Alltag aussieht, was er so tut.» Und sie möchte herausfinden, wie ein Mensch eine solch grauenhafte Tat begehen kann. Bevor sie den ersten Brief schrieb, diskutierte sie ihr Vorhaben erst noch mit ihren Eltern und ihrem Freund. «Mein Vater versteht noch immer nicht so recht, warum ich das tue, aber er lässt mich machen.» Auch von ein paar Freundinnen kamen zuerst sehr kritische Töne. «Aber als ich dann den ersten Brief bekam und einigen vorgelesen habe, klang es plötzlich anders. Einige haben sogar | angeboten, ihm selbst mal zu schreiben, wenn ich keine Zeit habe.» Oswald ist sich bewusst, dass sie sich auf eine möglicherweise jahrelange Aufgabe eingelassen hat. Und falls der Briefkontakt positiv verläuft, könnte sie sich auch vorstellen, ihren Brieffreund im Florida State Prison mal zu besuchen. Dass sich Briefschreiberinnen ab und zu in ihre Häftlinge verlieben, hat sie natürlich auch schon gehört. «Aber das wird sicher nicht passieren.» Fotopoulos sei ja auch «kein 25-jähriger attraktiver Mister Florida», meint sie schmunzelnd. Sie hofft ausserdem, dass der grosse Altersunterschied dazu beiträgt, eine gewisse innere Distanz zu wahren, wenn die Hinrichtung dann angesetzt wird. Hingegen sieht sie darin keinen Hinderungsgrund, mit Fotopoulos auch sehr persönliche Dinge zu teilen. «Ich denke, so was passiert dann ganz automatisch.» Sie wolle sich ja auch auf diese Person einlassen. «Trotzdem will ich auch in zehn Jahren noch sagen können, dass ich die Tat nicht verstehen kann. Was er getan hat, ist furchtbar.» Damien Echols in der Todeszelle. Nr. 20, 13. Mai 2013 | migros-magazin | «Eine Umarmung würde ihm guttun» «Cornelius hatte nie eine Chance», sagt Peter Eichenberger über seinen Brieffreund. «Seine Familie ist arm, die Mutter war während der Schwangerschaft schwerst alkoholabhängig, er hat einen IQ von 83. Trotz offensichtlicher Mängel wurde er für seine Tat als voll zurechnungsfähig erachtet.» Der Jurist schüttelt den Kopf. «In der Schweiz würde er das Gefängnis nicht für einen Tag von innen sehen. Er käme in eine Therapie.» Noch allerdings mahlen die juristischen Mühlen, denn Cornelius Bakers Fall ist noch nicht durch alle Instanzen durch. Und beide hoffen, dass das Urteil umgewandelt wird. «Aber das hoffen immer alle.» Baker hat 2007 gemeinsam mit seiner damaligen Freundin das Haus einer 58-jährigen Frau in Daytona Beach (Florida) überfallen, die dort mit ihrem Sohn und ihrer Mutter wohnte. Nachdem sie das Haus nach Wertsachen durchsucht hatten, stahlen sie das Auto der Familie und nahmen die 58-Jährige als Geisel mit. Schliesslich erschoss Baker die Frau in einer abgelegenen Gegend. Nur Stunden später wurde das Pärchen verhaftet. Überzeugter gegner der todesstrafe Die Story von Damien Echols Damien Echols (38) sass von 1994 bis 2011 unschuldig in einer Todeszelle in arkansas. Sein ärmliches Leben in den Südstaaten und die Zeit im Gefängnis hat er nun in einer autobiografie verarbeitet. Der Dokumentarfilm über seinen Fall, «West of Memphis», erscheint in Grossbritannien am 20. Mai auf DVD und dürfte demnächst auch bei uns erhältlich sein. Mehr auf Seite 18. Damien Echols, «Mein Leben nach der Todeszelle», Goldmann 2013; bei Ex Libris erhältlich für Fr. 22.80. «An der Tat selbst gibt es nichts zu beschönigen», sagt Eichenberger. Was ihn stört, ist die Unverhältnismässigkeit der Reaktion. Ein zentrales Motiv, weshalb sich Eichenberger bei Lifespark engagiert, ist denn auch die Unbarmherzigkeit des USJustizsystems. «Ich bin ein überzeugter Gegner der Todesstrafe und verachte Menschenrechtsverstösse.» Aber fast noch wichtiger ist ihm die menschliche Seite: «Ich bin ein Aussenkontakt für jemanden, der von allen verlassen worden ist. Er hat sonst niemanden.» Die Familie hat sich abgewendet, einzig mit seinem Anwalt hat Cornelius Baker regelmässig Kontakt. Durch einen Zeitungsartikel auf Lifespark aufmerksam geworden, tauscht Eichenberger nun seit 13 Monaten Briefe mit Baker aus. «Mich hat natürlich interessiert, unter was für Bedingungen er lebt. Florida ist noch relativ human, habe ich dann realisiert. Wirklich schlimm ist Texas.» Aber auch im Florida State Prison kommt es vor, dass der Haferbrei auf den Boden geschmissen wird, und dann muss man ihn halt von dort essen. Baker steckt in einer Einzelzelle ohne Tageslicht. «Dort sitzt er und starrt die Wand an.» Immerhin einen iPod hat er, sodass er Musik hören kann. nur muskeln verschaffen im gefängnis respekt Tageslicht sieht Baker nur eine Stunde pro Tag, wenn er im Hof mit anderen zusammenkommt. Dort gibts ein paar Zerstreuungsmöglichkeiten wie Hanteln oder einen Fernseher. «Aber man muss dafür streng hierarchisch anstehen.» Baker versucht dennoch, regelmässig zu trainieren, denn je physisch beeindruckender er ist, desto geringer ist das Risiko, dass sich jemand mit ihm anlegt. «Ich kann mit ihm über Dinge und Schwächen reden, die ich nicht mit jedem besprechen würde. Das finde ich wirklich schön», sagt Eichenberger. Vieles ist aber auch einfach Alltag. «Es ist eine klassische Männerfreundschaft: Wir reden über Sport und Frauen, ziemlich simpel.» Auch sonst ist Zwischenmenschliches ein The- | migros-magazin | Nr. 20, 13. Mai 2013 | Der Briefeschreiber: Peter Eichenberger (37), Jurist aus Männedorf ZH. Der Häftling: Cornelius Baker (25), seit vier Jahren wegen Raubmords in der Todeszelle im Florida State Prison bei Jacksonville. menschen | porträt | 17 ma, denn Eichenberger wird bald Vater, und Baker hat eine Tochter, die er allerdings seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Kaum ein Thema hingegen ist Bakers Tat. «So weit sind wir noch nicht, aber das kommt sicherlich noch.» Es ist sehr klar reguliert, was in den Briefen sein darf und was nicht. Büro- oder Bostitchklammern sind nicht erlaubt, nicht mal Fotos darf man schicken, sondern muss sie zuvor auf Papier kopieren. «Man glaubt offenbar, dass sie sich oder andere damit verletzen könnten.» Zu besonderen Anlässen überweist Eichenberger Geld mittels einer Art Paypal-System, denn Baker muss sich alles kaufen: selbst Briefpapier und Hygieneartikel. Feste Regeln, wann oder wie viel er schickt, gibt es nicht. «Ich will das möglichst natürlich halten, wie zwischen Freunden, nicht wie zwischen Vater und Sohn, wo es Sackgeld gibt.» Dennoch ist es ein heikles Thema, denn er könnte ihm mit mehr Geld mehr Annehmlichkeiten ermöglichen. «Es ist nicht leicht, da eine Balance zu finden.» «ich sehe den menschen und nicht den mörder» So sehr sich Eichenberger der Tat bewusst ist, sie spielt für ihn eine untergeordnete Rolle. «Ich sehe den Menschen, nicht den Mörder.» Wirklich schlimm findet er hingegen, dass die Todeskandidaten unter menschenunwürdigen Bedingungen über Jahrzehnte dahinsiechen müssen. «Die Todesstrafe ist das eine, aber wenn man sie denn schon hat, warum vollzieht man das Urteil dann nicht? Das ist psychische Folter. Ganz zu schweigen von den absurden Kosten, die für den Staat entstehen.» Schon jetzt ist klar, dass Eichenberger seinen Brieffreund besuchen wird. «Unbedingt. Ausser dem Anwalt drückt niemand Cornelius die Hand. Und ich glaube, eine Umarmung würde ihm sehr guttun.» menschen 18 | | porträt | Nr. 20, 13. Mai 2013 | migros-magazin | «Wir sind für ihn ein Fenster Die Briefeschreiberin: Beatrice Gloggner (51), Hausfrau und Übersetzerin aus Kriens LU. Der Häftling: Oscar Gates (61), seit 34 Jahren wegen Raubmords in der Todeszelle im St. Quentin Gefängnis bei San Francisco. Bei Beatrice Gloggner zu Hause stapeln sich ganze Ordner mit Briefen und Papieren von Oscar Gates. In einem sind alle Briefe, die sie in den vergangenen neun Jahren von ihm erhalten hat, in einem anderen alle Angaben zu seinem Fall, fein säuberlich dokumentiert. Denn Gates, der wegen eines Raubmords Ende der 70er-Jahre zum Tode verurteilt wurde, hofft noch immer darauf, sein Urteil revidieren zu können. Der heute 61-Jährige war als junger Mann in einen Fälscherring involviert. Gates wird vorgeworfen, er habe nach einem Streit mit der Fälscherfamilie deren Haus aufgesucht, zwei Familienmitglieder bedroht, sich Schmuck aushändigen lassen und dann auf beide geschossen; einer starb, einer wurde verletzt. Gates hingegen behauptet, er habe den Mann in Notwehr erschossen, und Schmuck sei gar kein Thema gewesen. Gloggner neigt dazu, ihrem Brieffreund zu glauben, hegt anders als dieser dennoch wenig Hoffnung, dass er der Todesstrafe entkommen wird. «In Kalifornien haben sie ja letzten November gerade mal wieder gegen die Abschaffung der Todesstrafe gestimmt, aber immerhin werden nun alle langjährigen Fälle im Todestrakt nochmals aufgearbeitet.» Somit wird sich also auch Gates’ Fall bald in die eine oder andere Richtung entscheiden. «Mir macht das eher Angst, aber er hofft natürlich.» Der Kontakt ins kalifornische Gefängnis begann kurz nachdem Gloggner vor neun Jahren im katholischen Pfarrblatt einen Bericht über Lifespark entdeckt hatte. «Die Ungerechtigkeit im «Es gibt keine Gerechtigkeit im amerikanischen Justizsystem» Damien echols sass 18 Jahre unschuldig in einer US-Todeszelle, bevor er 2011 nach langem juristischen Kampf freikam. Sich wieder an die Freiheit zu gewöhnen, war gar nicht so leicht. Jetzt kämpft echols für ein besseres Justizsystem. Damien echols, Sie sassen fast die hälfte Ihres Lebens im Gefängnis. Fühlt es sich auch heute noch manchmal merkwürdig an, wieder frei zu sein? Oh ja, noch immer. Aber es ist heute sehr viel besser als in der Zeit unmittelbar nach der Freilassung. Damals stand ich etwa drei Monate lang unter Schock. Ich habe kürzlich mit einem anderen ehemaligen Todeszelleninsassen gesprochen. Er sagte mir, es habe fünf Jahre gedauert, bis er sich völlig an das Leben draussen gewöhnt hatte. Was war das Schwierigste für Sie, nachdem Sie endlich frei waren? Die Angst. Ich habe mich vor so vielem gefürchtet. Ich war ja während Jahren vollkommen isoliert und hatte kaum Kontakt zu anderen Menschen. Da wurde jede Interaktion zu einem seltsamen, überwältigenden Erlebnis. Schwierig war es auch, sich ganz schlicht in der Welt zurechtzufinden, von Punkt A nach B zu kommen. Ich habe für fast 20 Jahre in einer kleinen Box gelebt und musste nie irgendwo hingehen. Wann im Gefängnis haben Sie angefangen zu hoffen, dass Ihr Albtraum enden könnte? Das mag jetzt seltsam klingen, aber daran habe ich eigentlich immer geglaubt. Am Anfang war ich wohl einfach jung und naiv und habe gedacht, dass das Gute — wie in den Filmen — schon siegen wird. Allerdings habe ich rasch realisiert, dass das US-Justizsystem völlig korrupt und bis ins Mark verrottet ist und habe mir von dort keine Hilfe erhofft: Selbst wenn diese Leute wissen, dass jemand 100-prozentig unschuldig ist, werden sie ihn immer noch hinrichten, um zu vermeiden, einen Fehler zugeben zu müssen. Aber nachdem 1996 der erste Dokumentarfilm über unseren Fall auf HBO ausgestrahlt worden war, kamen plötzlich Briefe, viele, viele Briefe. Einmal bekam ich | menschen migros-magazin | Nr. 20, 13. Mai 2013 | | porträt | 19 in eine andere Welt» schöne Kindheit, aber eine schwäche für geld Anders als viele andere InsasseninamerikanischenGefängnissen kommt Oscar Gates nicht aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Er hatte eine schöne Kindheit in Missouri. «Aber er sagt, er hatte eine Schwäche für Geld», erzählt Gloggner, «und so geriet er auf die schiefe Bahn.» Zudem fühle er sich als Opfer, weil er keinen fairen Prozess bekommen habe. Was Glogg- ner irritiert, ist sein fehlendes Schuldbewusstsein. «Ich finde es wirklich schlimm, dass er jemanden umgebracht hat. Er aber bezeichnet sich als unschuldig.» Etwa alle drei Wochen schreiben sie sich, und nach all den Jahren kennen sich die beiden natürlich sehr gut. «Er weiss über alles Bescheid, was bei uns in der erweiterten Familie so passiert und nimmt grossen Anteil. Wir sind für ihn ein Fenster in eine andere Welt.» Gloggner wiederum kennt seine Haftbedingungen bis ins letzte Detail. Gates sitzt in Einzelhaft, darf aber einmal pro Tag raus in einen Hof mit Tageslicht, spielt in einem gefängnisinternen Basketball-Team mit und hat sich dank finanzieller Unterstützung von Freunden einige Annehmlichkeiten organisieren können. Sein grosser 188 an einem Tag, und alle diese Menschen unterstützten mich. Später fingen sie an, Websites aufzuschalten, gaben Benefizkonzerte, schrieben Zeitungsartikel. Diese Dinge waren es, die mir Hoffnung machten. Dennoch ist Ihr Fall wohl einer der wenigen, wo das Gute letztlich gesiegt hat, oder? Leider. Ich kenne einen Fall aus Arkansas, wo dank DNA-Tests klar war, dass der Todeskandidat unschuldig ist, er wurde dennoch hingerichtet. Weil keine Artikel über ihn geschrieben wurden und keine Dokfilme entstanden. Nur wenn die Öffentlichkeit die Details eines Falls erfährt und Druck ausübt, hat ein Unschuldiger eine Chance. haben Sie den Leuten vergeben, denen Sie Ihre Tortur zu verdanken haben? Ich würde sagen Ja. Aber nicht, weil ich so zu einem besseren Menschen werde, sondern weil ich das hinter mir lassen will. Diese Leute haben mir mein halbes Leben weggenommen, ich will ihnen nicht freiwillig noch mehr davon geben. Stolz ist eine Schreibmaschine, auf der auch alle Briefe an Gloggner entstehen. «Oscar ist ein sehr politischer Mensch. Er hat ein Radio, verfolgt die Nachrichten intensiv und kommentiert auch viel.» Besonders interessiert ist er an Umweltthemen. Und: «In den neun Jahren hat er mich nicht einmal um Geld gebeten.» Sie schickt ihm trotzdem ab und zu welches, ist jedoch froh, dass ihr Brieffreund ein gutes Netzwerk anderer Freunde hat, die ihn unterstützen, ihn ab und zu auch besuchen. Das hat sie bisher noch nicht getan. Aber sie wäre bereit, an seiner Hinrichtung teilzunehmen, falls Gates das wünscht. «Mein Mann, der zu Beginn übrigens eher skeptisch über den Briefwechsel und sogar für die Todesstrafe war, käme auch mit», sagt Gloggner. «Das dann zu verarbeiten, würde allerdings sehr hart.» Die ganze Familie gloggner engagiert sich Auch so wird der Weg zur Hinrichtung eine sehr schwierige Zeit. «Wenn er sich bis zum Schluss wehrt, würde mich das enorm belasten. Einfacher wäre es, wenn er es schaffte loszulassen und auf Gerechtigkeit im nächsten Leben zu hoffen, wie das viele in seiner Situation tun.» Auch den Rest der Familie hat Gloggner überzeugt: Eine der Töchter schreibt eine Arbeit zum Thema und hat via Oscar Gates andere Häftlinge im Todestrakt schriftlich befragt, eine andere engagiert sich bei Amnesty International. «Und mein Sohn kann sich gut vorstellen, später ebenfalls eine solche Brieffreundschaft anzufangen.» Damien Echols schreibt heute Bücher und produziert Filme. «Lord of the Rings»-Regisseur Peter Jackson und seine Partnerin Fran Walsh haben sich offenbar besonders stark für Sie engagiert. Sie haben sich über Jahre für mich eingesetzt, finanziell und persönlich. Sie sind dabei zu Experten des amerikanischen Rechtssystems geworden. Meine Frau Lorri und sie haben die Recherchen koordiniert, da gingen teils ein Dutzend Mails pro Tag hin und her. Tagsüber haben Peter und Fran an Filmen wie «King Kong» und «The Lovely Bones» gearbeitet, abends knieten sie sich in meinen Fall. Gemeinsam mit meiner Frau haben sie mehr Arbeit geleistet als alle Anwälte zusammen. Und als sich der Richter dann weigerte, die neuen Erkenntnisse auch nur anzuhören, kamen sie auf die Idee, den Dokumentarfilm «West of Memphis» zu machen, um weiteren öffentlichen Druck zu erzeugen. Sie setzen sich für ein besseres Justizsystem in den USA ein. Sehen Sie Fortschritte? Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern werden Richter in den USA nicht ernannt, sondern gewählt, müssen sich Bilder: ZUMa press/alamy, Gary Miller/FilmMagic/Getty images US-Justizsystem ist enorm.» Ihre grundsätzliche Opposition gegenüber der Todesstrafe und der Eindruck, dass viele Häftlinge in den USA selbst Opfer waren, bevor sie Täter wurden, hat sie motiviert, sich der Organisation anzuschliessen. «Ich glaube fest daran, dass ein Mensch sich verändern kann, wenn er eine Chance bekommt.» also verhalten wie ganz gewöhnliche Politiker. Ihre Prioriät ist es, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Deshalb gibt es keine Gerechtigkeit im amerikanischen Justizsystem. Daran etwas zu ändern, wird sehr schwierig. Aber das war es auch, mich aus dem Gefängnis zu bringen. Wenn man sich lange und intensiv genug einsetzt, bewegt sich auch etwas. www.wm3.org