DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 43

Transcrição

DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 43
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
25. Oktober 1999
Betr.: Bradley, Bierbichler, SPIEGELreporter
I
J. LEYNSE / SABA
m Hauptquartier von US-Präsidentschaftsbewerber Bill Bradley melden sich derzeit ungewöhnlich viele
deutsche Journalisten. „Wir haben
schon über 50 auf der Warteliste“, sagt
eine Sprecherin. Es irritiert sie allerdings, dass die Deutschen nicht über
Bradley berichten wollen, der Bill
Clintons Vize Al Gore die Kandidatur
der Demokraten für die Wahl im
Bradley, Widmann
November 2000 streitig macht. Das
Interesse der Besucher aus der Alten
Welt gilt vielmehr Bradleys Frau Ernestine, geschiedene Schlant, geborene Misslbeck. Sollte ihr Mann den steilen Aufstieg ins Weiße Haus schaffen, hätten die
Amerikaner eine Deutsche – und mit ihr zum ersten Mal eine Einwanderin – als
First Lady. SPIEGEL-Reporter Carlos Widmann, 61, begleitete die aus Passau
gebürtige Germanistin auf dem Werbefeldzug für ihren Mann. Bei Sonnenaufgang
fuhr er durch die herbstliche Farbenpracht Neuenglands und machte Brotzeit
mit der Frau aus Niederbayern – Weißwürste gab es allerdings nicht, sondern
Hamburger (Seite 266).
er Theaterschauspieler Josef Bierbichler, 51, gilt als Sturkopf: Seit Jahren weigert er sich, mit Journalisten zu
sprechen. Immer wieder fragte SPIEGELRedakteur Wolfgang Höbel, 37, bei dem
vielfach ausgezeichneten Darsteller an, ob
er nicht Zeit für ein Interview hätte. Bierbichlers Antwort: „Wenn ich etwas zu sagen habe.“ SPIEGEL-Redakteurin Claudia
Voigt, 33, versuchte in Polen mit Bierbichler zu sprechen, wo er kürzlich als Bertolt Bierbichler, Voigt
Brecht vor der Kamera stand. „Nicht länger als zehn Minuten“ wollte sich der Schauspieler schließlich abringen. Eine Stunde saßen dann beide zusammen und verabredeten, das Gespräch in Hamburg fortzuführen. „Dann bringen Sie auch den Höbel mit“, sagte Bierbichler noch, „den
habe ich lange genug hingehalten“ (Seite 320).
V
on Dienstag an ist ein neues Monatsmagazin aus dem SPIEGEL-Verlag im Handel – SPIEGELreporter (siehe auch Seite
159). Das Heft wendet sich mit üppig illustrierten Reportagen,
Essays und Interviews an Leser, die gern lange recherchierte, gut
geschriebene Storys lesen. In der ersten Nummer: Matthias
Matussek über Bischof Dyba, „die Axt Gottes“, Cordt Schnibben
über die „Süddeutsche Zeitung“ und Joschka Fischer im Zwiegespräch mit Harald Schmidt über die neue Republik: „Plötzlich sind wir ein Volk
von Lockeren.“
Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen Allerheiligen bereits am
Samstag, dem 30. Oktober, verkauft und den Abonnenten zugestellt.
Im Internet: www.spiegel.de
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
5
S. FALKE
D
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
In diesem Heft
Aufstand gegen die Frührente
Kommentar
Rudolf Augstein: Der Kohl-König ........................ 32
100 Tage im Herbst
Wende und Ende des SED-Staates (5)
„Krenz – kein Lenz“ –
Die SED bangt um die Macht ...................... 81
Porträt: Rainer Eppelmann –
Pendler zwischen den Welten .................... 100
Analyse: Im Schutzraum Kirche
keimt die Wende........................................ 104
DPA
Deutschland
Panorama: Neue Belastung für Rot-Grün /
Kriegstraining für Journalisten............................. 19
Rente: Wie Rot-Grün
den Generationenkrieg anheizt ........................... 24
So reich sind die Alten......................................... 26
SPIEGEL-Gespräch mit Kurt Biedenkopf
über die Vergreisung der Gesellschaft.................. 30
Regierung: Die Grünen und der Leo 2 ............... 36
Interview mit Umweltminister Jürgen Trittin....... 38
Professoren: Peter Glotz flieht aus Erfurt .......... 40
Atomkraft: Schwarzbau in Obrigheim?............... 44
Rüstung: Scharpings neues Transportflugzeug ...... 52
Spionage: Computerklau
bei Unternehmensberatern.................................. 56
Einheit: Frustrierte Westler verlassen den Osten .. 60
Bundeswehr: Frauen an die Waffen? .................. 68
Jugendliche: Neue Projekte für Straßenkinder .. 72
Hochschulen: Schmu an der Hamburger Uni ..... 76
Verbrechen: Rätselhafte Grabschändung
im Mordfall Wachtel ........................................... 111
Zeitgeschichte: Hannes Heer über falsche
Bilder in der Wehrmachtsausstellung ................. 112
Erbstreit um Schindlers Liste ............................. 116
Betrüger: Die Opfer der Schwarzen Witwe ....... 118
Schröder, Riester
Finanzdesaster bei Kirch
Seiten 24, 30
Die Jungen proben den Aufstand gegen
die Rente mit 60. Selbst junge
Gewerkschafter empören sich über die
Idee von IG-Metall-Chef Zwickel,
Älteren den Vorruhestand zu ermöglichen. Sie sollen zahlen, haben aber
keine Chance, selbst von dem Plan zu
profitieren. Sie erwarten vielmehr
Minirenten, während die Senioren
heute so wohlhabend sind wie noch
nie. Kanzler Schröder und Arbeitsminister Riester unterstützen dennoch
das Vorhaben. Ein Kampf der Generationen beginnt. Um ihn zu verhindern,
fordert Sachsens Ministerpräsident
Biedenkopf eine steuerfinanzierte
Bürgerrente, an der sich alle beteiligen: Selbständige und Beamte, Angestellte und Arbeiter.
Seite 134
Sein Traum vom Siegeszug des Abonnenten-Fernsehens hat
den Münchner Medienunternehmer Leo Kirch in eine tiefe
Finanzkrise gestürzt. Interne Unterlagen und Bilanzen, die
eine US-Bank im Kirch-Auftrag für eine geplante Anleihe
analysierte, belegen Milliarden-Schulden im Pay-TV. Die
umworbenen Investoren scheuten das Risiko – nun braucht
Kirch dringend Partner und vor allem frisches Geld für sein
Programm Premiere World.
PEOPLE PICTURE
Titel
Joachim Fest über Adolf Hitler........................... 181
SPIEGEL-Gespräch mit dem britischen
Historiker Timothy Garton Ash
über Europa am Jahrhundertende...................... 198
Kirch
Wirtschaft
Trends: Milliardenentlastung für Unternehmer /
Baustopp bei der Bahn? / Telekom will
US-Telefonfirma RSL übernehmen .................... 123
Geld: Online-Banking vor dem Durchbruch /
Die Highflyer des Neuen Marktes ...................... 125
Europa: Wie DaimlerChrysler die Autopreise
künstlich hoch hält............................................. 126
Telefon: Mannesmann auf Risikokurs................ 130
Fernsehen: Internes Finanzdossier enthüllt
das Schuldendesaster des Leo Kirch .................. 134
Manager: Die seltsame Wandlung des
Siemens-Chefs Heinrich von Pierer ................... 142
Banken: Bilanzbetrug bei der Hypobank?......... 144
Hightech: Amerikas Jugend im Gründerfieber.. 146
Unternehmer: Der Toilettenkönig von Berlin ..... 154
Flucht nach Westen
Seite 60
Hoffnungsfroh waren sie einst in die neuen Bundesländer umgezogen, doch inzwischen fliehen viele Westler wieder nach Hause – Opfer eines Kulturkampfs, vertrieben von pöbelnden Glatzen, feindseligen Ostlern und dem Mief der alten DDR.
Stalingrad in Babelsberg
Seite 162
Medien
Trends: Frank Otto über seinen „Morgenpost“Kauf / Bertelsmann-Beteiligung an n-tv? ............. 157
Fernsehen: Pro Sieben im Halloween-Fieber /
Neuer ZDF-Krimiheld in „Der Solist“ .............. 158
Zeitschriften: SPIEGELreporter –
das neue Monatsmagazin ................................... 159
Filmindustrie: Großes Kino aus Babelsberg ...... 162
Zeitungen: Der neue Berlin-Teil der „FAZ“ ..... 168
Internet-TV: Überraschungserfolg Giga-TV ....... 174
8
FOTEX
Gesellschaft
Szene: Neue Biografie der Mode-Königin Coco
Chanel / Ethnologe erkundet Berlins Nachtleben 207
Fans: Mädchen-Horden nerven die
Nachbarn der Kelly-Familie ............................... 208
Moral: SPIEGEL-Gespräch mit den Autoren
Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq
über Gewalt und Sex .......................................... 211
Annaud (r.)
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Der französische Star-Regisseur
Jean-Jacques Annaud war begeistert von den „alten russischen Kasernen“ bei Berlin
und der „modernen Infrastruktur“: Im Studio Babelsberg will er die Schlacht von
Stalingrad verfilmen, mit 90
Millionen Dollar wohl Europas
teuerste Filmproduktion. Der
Großauftrag sichert für die
nächsten Jahre die Zukunft des
einst legendären Ufa-Studios,
das nach der Wende ums Überleben kämpft.
LES STONE / CORBIS SYGMA
Ausland
Jugendliche Strafgefangene in Amerika, Raoul Wüthrich
Panorama: Wirbel um Baustopp auf Mallorca /
Angst vor Hitlers Teufelsdroge ........................... 221
Justiz: Kinder im US-Strafvollzug....................... 224
Pakistan: Der Putschgeneral findet
Geschmack an der Macht................................... 230
Ex-Regierungschefin Benazir Bhutto über
eine Rückkehr zur Demokratie .......................... 232
Großbritannien: Blairs halbherzige
Euro-Kampagne ................................................. 238
Tschetschenien: Das Blutbad von Grosny ....... 240
Indonesien: Kurswechsel im Inselreich ............. 242
Frankreich: Vergebliche Flucht
des Nazi-Helfers Papon ..................................... 246
Reparationen: Sühne für „schwarzen Holocaust“ 250
China: Selbstmordwelle unter Bäuerinnen ........ 256
Russland: Aufschwung mit Geldschiebereien...... 260
USA: Eine Deutsche als First Lady? ................... 266
Spanien: Abschied der Macho-Matadorin ......... 276
Wissenschaft • Technik
Strafsüchtige Prüderie
Prisma: Infektionsgefahr durch Inhalator /
Lesbische Rüsselkäfer ........................................ 283
Paläontologie: TV-Expedition ins Dino-Reich .. 286
Rauchen: Der Tabak ohne Krebsgift ................ 289
Computer: SPIEGEL-Gespräch mit Sun-Chef
Scott McNealy über das Ende des PC
und die europäische Datenschutz-Hysterie........ 292
Medizin: Das schreckliche Erwachen
während der Operation...................................... 298
Automobile: Dominanz der Deutschen auf
der Motorshow in Tokio..................................... 305
Nissan-Sanierung schockiert Japaner................. 306
Seite 224
Der elfjährige Schweizer Raoul Wüthrich muss sich wegen „schweren Inzests“ vor
einem US-Gericht verantworten. Bis dahin wird er in einer Pflegefamilie und einem
Erziehungsheim verwahrt. Die überaus harte Behandlung junger Delinquenten in den
USA schlägt in der Alpenrepublik hohe Wellen. Dass die Eltern mit Pornografie Geschäfte machten, kann die Kritik an Amerikas gnadenloser Justiz nicht entkräften.
Kultur
Eine neue BBC-Dokumentation
über das Leben der Dinosaurier gilt
als die aufwendigste Wissenschaftssendung aller Zeiten. Nie zuvor
stapften derart perfekt computeranimierte Riesenechsen über den
Bildschirm. Manche Forscher halten
die Urzeit-Tierfilme für unseriös.
Nächsten Monat wird die Dino-Serie
auch in Deutschland ausgestrahlt.
BBC WORLDWIDE
Dino-Hit im TV Seite 286
Dinosaurier im neuen BBC-Film
Hellwach auf dem OP-Tisch
Seite 298
Bis zu 6000 Deutsche pro Jahr erwachen während Operationen aus der Vollnarkose.
Nach dem Schockerlebnis leiden viele Betroffene unter psychischen Störungen. An
den Kliniken sollen jetzt Beratungsstellen für die Narkoseopfer eröffnet werden.
v. FORSTER / BILDERBERG
Der Terror von Sex und Schönheit
Seite 211
Zwei Skandalautoren, die sich als „Moralisten“ sehen, beklagen im SPIEGEL-Gespräch
den Verfall gesellschaftlicher Werte: Der Amerikaner Bret Easton Ellis („Glamorama“)
und der Franzose Michel Houellebecq
(„Elementarteilchen“) diskutieren darüber, ob Sex in Amerika oder Europa
mehr Spaß macht – und sind sich darin einig, dass nur der etwas gilt, der
„reich, jung und schön“ ist.
Fitnessstudio in München
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Szene: Volk & Welt von Berlin nach München /
Fotograf Richard Avedon feiert die Sechziger.... 309
Musik: Der wilde Geiger Nigel Kennedy
kehrt zurück zur Klassik .................................... 312
Pop: Das Geschäft mit Filmmusik-CDs .............. 317
Die Legende Ennio Morricone ........................... 318
Schauspieler: SPIEGEL-Gespräch mit
Josef Bierbichler über seinen Zorn aufs TV ....... 320
Bierbichler mimt Bertolt Brecht ........................ 324
Literatur: „Land der Feuer“,
ein Abenteuerroman aus Argentinien ................ 328
Bestseller ........................................................ 330
Kino: Interview mit US-Komiker
Steve Martin über seinen neuen Film ................ 332
Filmgeschichte: Wie Kaiser Wilhelm II. vor
der Kamera posierte .......................................... 334
Stars: Die schöne Britin Liz Hurley sucht
Anerkennung als Kino-Produzentin .................. 336
Sport
Unterhaltung: Mario Baslers Verbannung .......... 338
Fußball: Berlins Türken fiebern dem Auftritt
von Galatasaray bei Hertha BSC entgegen ........ 342
Briefe .................................................................. 10
Impressum .................................................. 16, 346
Leserservice ..................................................... 346
Chronik ............................................................. 347
Register ............................................................ 348
Personalien ...................................................... 350
Hohlspiegel/Rückspiegel ................................ 352
Hollywoods Schönster
Die Karriere des US-Schauspielers Brad Pitt. Außerdem
in kulturSPIEGEL, dem Magazin für Abonnenten: der
amerikanische Videokünstler
Nam June Paik und der britische Pop-Dandy Bryan Ferry.
9
Briefe
kleinen Verlag im Schwäbischen zusammengetan und immerhin mit „Tiefenrausch“ und „Riffhaie“ bundesweit aus
dem Nichts zwei Bücher mit 5000 beziehungsweise 8000 Exemplaren Startauflage
herausgebracht. Das sollen uns die elitären
Besserwisser in den Lektoraten der Bertelsmann-bestimmten Großverlage erst mal
nachmachen!
„Weder das Heranwachsen der Enkel
noch die Emanzipation von der Schwere
der hohen deutschen Dichterskunst
sind der Grund für diesen dichterlichen
Aufschwung, sondern es sind vor
allem wirtschaftliche Gründe: Der Trend
der Verlage, ausländische Autoren
zu verlegen, ist zu teuer geworden.“
SPIEGEL-Titel 41/1999
Schwaigern (Bad.-Württ.)
Wer schreibt, muss was erlebt haben. Ein
Buch muss lebendig sein, das vermisst man
heutzutage oft. Manche Bücher sind zum
Einschlafen. Ich hoffe, dass die junge Generation besser wird.
Svea Reiners aus Potsdam zum Titel „Die neuen deutschen Dichter“
Hamburg
Mit etwas gesundem Menschenverstand
lässt sich schon leicht vorhersagen, dass von
diesen talentierten jungen Leuten leider
kein Einziger, wenn auch mit dicksten Wintersocken, in die Schuhe eines Günter Grass
oder Co. passen wird, um diesen nachzufolgen. Bei Benjamin Lebert soll die Gnade
der späten Geburt beim Urteilen
berücksichtigt werden. Ansonsten
gilt: Ein SPIEGEL-Titelbild macht
nun mal noch keinen Dichter,
noch nicht einmal einen Schriftsteller. Dazu erforderliches Potenzial haben meist nur Persönlichkeiten, die weder nach einer Pfeife des Erfolgs tanzen noch mit
einer Blechtrommel als Hofnarren eines ernannten Nobelpreisträgers Aufmerksamkeit erregen
wollen.
Mainz
Mal die „neuen deutschen Dichter“. Und
dann die ultimativen SPIEGEL-KrimiTipps: eine norwegische Autorin, drei USAmerikaner, ein Italiener! Bravo! Genau
damit segeln die literaturbeflissenen Kulturredakteure exakt hart am ZeitgeistTrend: wie die Verlage. Die nämlich verlegen praktisch blind und völlig kritiklos fast
nur noch irgendwelches amerikanisches
Geschwafel, Hauptsache Amerika und angeblich dort grundsätzlich ein Bestseller
M. JEHNICHEN / TRANSIT
Eine saftige Herabwürdigung?
Nr. 41/1999, Titel: Die neuen deutschen Dichter
Joachim Becker
Gunter Haug
Gerda Steibel
Hinzufügen muss man, dass für uns moderne Autoren zudem die neue Möglichkeit besteht, via „Books on Demand“
(www.bod.de) seine Stücke erst einmal
elektronisch zu veröffentlichen. Und nur
bei Anforderung wird das Buch dann auch
tatsächlich gedruckt. Für mich als Lyriker, der sich eher in der Tradition von
Bukowski, Benn, Bachmann, Bargeld sieht,
ist dies die neue Möglichkeit, das Internet,
abseits von Verlagsgesuchen, kreativ zu
nutzen. Mein zweiteiliger Gedichtband erscheint nächstes Frühjahr – ohne Kürzungen, wie sie Frau Duve leider hinnehmen
musste. Dann kann man das Schreiben
auch gleich an den Nagel hängen. Zudem
sind wir neuen Autoren keine „Enkel“ von
schlecht gelaunten, untalentierten, rückwärts gewandten Preisträgern, sondern
selbstbewusst genug, eigene Standards zu
entwickeln. Der neue Schub kommt also
nicht vom Nobelpreis, sondern ist „hausgemacht“. Das schaffen wir schon allein,
wie man sieht und liest.
Bremen
Christian R. Noffke
Wenn Sie die „saftige“ Schreibweise junger, deutscher Autoren
mit dem jungen Grass gleichset- Jungautor Thomas Brussig
Langer Weg zur Glaubwürdigkeit
zen, so ist dies eine nicht minder Selbstbewusst genug, eigene Standards zu entwickeln
Nr. 41/1999, Regierung:
saftige Herabwürdigung eines noGerhard Schröder geht auf seine Partei zu
belpreisfähigen Jahrhundertwerks. Im Ge- oder ein Preisgewinner! Amerika ist
gensatz zu Herrn Bohrers Optimismus ist schließlich immer gut, und wenn schon Wo leben wir denn? Etwa im Sozialismus,
jedoch zu befürchten, dass der Tiefststand nicht Amerika, dann muss man zumindest wo jeder das Gleiche haben darf und nichts
des literarischen Niveaus noch nicht er- in Deutschland als Totengräber oder Taxi- mehr? Der Kanzler und mit ihm jede anreicht ist. Das literarische Fräuleinwunder fahrer sein Dasein fristen, um als Autor für dere Person, die im Interesse der Öffentist nichts anderes als das Ergebnis einer Buchverlage interessant zu sein. Nach gut lichkeit steht, hat nicht die Möglichkeit,
Strategie der Verlage, Manuskripte von jun- und gern 15 Absagen aus der deutschen nach getaner Arbeit zu Hause abzuschalten
gen, attraktiven Autorinnen vorrangig zu Großverlagsszene habe ich mich mit einem und Privatmann zu sein. Den einzigen Luprüfen und so gründlich zu lektorieren,
dass sie publikationsfähig werden (siehe
Interview: Karen Duve), und wahrscheinder spiegel vom 27. Oktober 1949
lich wird es nicht mehr lange dauern, bis
In der DDR löst Volkspolizei sowjetische Wachtposten ab Sie soll auf
sich die erste Schriftstellerin für den „Playmilitärischen Stand gebracht werden. Streit um die sterblichen Überresboy“ auszieht. Gott sei Dank gibt es noch
te von Kolumbus Akzeptiert Spanien das Grab in Santo Domingo? Der
Sohn des Dichters Gerhart Hauptmann, Benvenuto, entscheidet Nachdie anspruchsvolle Literatur der Kinder
lass-Streit für sich Hat Deutschland keinen Anspruch darauf? Der deutvon Grass & Co., also die der Eltern, ohne
sche Skispringer Sepp Weiler baut sich seine eigene Schanze Er favodie es keine Enkel gäbe.
risiert Oberstdorf. Deutsche Erstaufführung von Arthur Millers „Tod ei-
Vor 50 Jahren
Berlin
Na wunderbar: Der SPIEGEL feiert aus
Grassschen Nobelpreisgründen mit einem
10
nes Handlungsreisenden“ geplant Mit Fritz Kortner in der Hauptrolle.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Clemens Füsers
Titel: Marienerscheinung in Heroldsbach-Thurn
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Briefe
xus, den Herr Schröder sich im Moment
leisten kann, ist der, seine Zigarre zu rauchen und sich in wohl fühlende Schale zu
werfen. Gönnen sollten es ihm die Genossen und ihn dafür nicht anklagen. Anstatt
ihm an der Basis den Rücken freizuhalten,
bombardieren sie ihn mit Vorwürfen, die
an Kinderstreitigkeiten erinnern und der
Opposition zugute kommen.
Mainz
Hamburg
Holger Schnaars
Dass eitle Fotos in edlem Zwirn nicht gerade von der Stilsicherheit des PremiumGenossen künden, ist wohl unstrittig. Ob
Dr. Christa Hategan
Erstickendes Gefieder
Isabel Raouf
Letztlich gilt: Design ist wichtig – doch das
Produkt ist nur so gut wie sein Inhalt. Und:
Auch Klassiker sind nicht unmodern. Sorgfältig entstaubt und renoviert machen sie
sich auch in einem neuen Umfeld ganz gut.
Berlin
Leitantrag mit der Forderung nach „professionellem Handwerk“ dokumentiert.
Dieser Forderung nachzukommen wäre
sicherlich ein intelligenter Schritt auf dem
langen Weg zur Wiedergewinnung verlorener Glaubwürdigkeit.
Nr. 41/1999, Renten: Neue Allianz für die Zwangsrente
Jeder halbwegs intelligente Mensch wird
sich ausrechnen können, dass es ohne
eigene Vorsorge nicht mehr geht. Damit
die „Vorsorgesparer“ und deren Nachkommen nicht auch noch für jene aufkommen müssen, die meinen, nicht vorsorgen zu müssen, da sie ja so oder so vom
Staat versorgt werden, wird man, der Gerechtigkeit halber, nicht um einen Zwang
zur Altersvorsorge herumkommen. Immerhin ist dies ein
Zwang, von dem man auch garantiert etwas hat.
Nortmoor (Nieders.)
Gerda Hasseler
J. H. DARCHINGER
Riesters Zwangsrente beziehungsweise Zwangslebensversicherung stellt eine Herabwürdigung der Freiheit des Einzelnen,
über sein Leben selbst zu entscheiden, dar. Einem Individuum
muss es möglich sein, sich gegen
die Flucht unter das erstickende
Gefieder der überwachenden
Glucke zu entscheiden. Mir persönlich gruselt’s vor Modellen à
la Schweden wirklich. Von Schlimmerem
ganz zu schweigen.
Zigarre rauchender Kanzler
Der einzige Luxus
Kanzlers Zigarre nun unbedingt als Symbol seiner großkapitalistischen Neigungen
herhalten muss, scheint allerdings fraglich.
Dürfen Sozis qua Parteibuch und proletarischer Herkunft nur billiges Kraut
rauchen? Herrscht vielleicht sogar Currywurstzwang, während die Kollegen von
der CDU immerhin gutbürgerlich essen,
die Besserverdiener von der FDP sogar
schick im Sushi stochern dürfen?
Markt Schwaben (Bayern) Uwe Schleifenbaum
Wenn „die mangelnde Glaubwürdigkeit“
tatsächlich das „derzeit größte Problem“
des Bundeskanzlers Gerhard Schröder ist,
dann kann die empfohlene Imagewerbung
keine Lösung sein. Das weiß man ja spätestens seit der „Brent Spar“-Affäre, als
hervorragende Imagewerte der Deutschen
Shell AG den Kundenboykott nicht verhindern konnten. Das Geschäft mit dem
Kanzler-Image sei den Werbern unbenommen, aber Delegierte (und Wähler) erwarten keine stimmigen Bilder „zur Untermalung der Botschaft“, sondern die
Umsetzung der Botschaft in kompetentes Regierungshandeln. Delegierte (und
Wähler) sind auch nicht länger bereit, das
geflügelte Wort vom „handwerklichen Fehler“ zu akzeptieren, wie der Bochumer
14
d e r
Weiden (Bayern)
Dr. Thomas Stemmer
Bullterrier und Marktschreier
Nr. 41/1999, Sozialstaat: SPIEGEL-Gespräch
mit Wirtschaftsminister
Werner Müller über notwendige Reformen
Das Interview mit Bundeswirtschaftsminister Müller zeigt deutlich seine kompetente, vernunftgeleitete und konzeptionelle
Auffassung, wie die aktuellen Wirtschaftsund Finanzprobleme zu analysieren sind.
Daraus folgen mit großer Verständlichkeit
seine Fazits, die wiederum zu Konzepten
taugen. Schröder hat mit ihm einen brillanten Fachmann in seinem Kabinett, dessen Können er viel mehr einsetzen sollte,
um verständliche Aufklärung und sogar ein
Politikmarketing zu leisten.
Bonn
Brigitte Bebermeyer
Bundesminister Müller beklagt die zweifellos vorhandene Vollkasko-Mentalität
vieler Deutscher. Er vergisst aber, diese
Gruppe näher zu beschreiben: Dazu
gehören in erster Linie Regierungsmitglieder, Bundestags- und Landtagsabgeordne-
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
M. DARCHINGER
Wirtschaftsminister Müller
Kompetente, vernunftgeleitete Auffassung
te, Beamte, Partei-, Kirchen- und Gewerkschaftsfunktionäre, kurzum alle jene, deren
Alimentierung niemals Finanzierungsprobleme aufweist, weil sie von der unfreiwilligen Solidarität der Mehrheit der übrigen
Bundesbürger getragen wird. Bei Rentnern
der Sozialversicherung könnte man höchstens von einer „Teilkasko-Mentalität“ sprechen, doch das klingt nicht besonders
spektakulär. Solange man nicht diese aus
Serenissimus-Zeiten stammende Zweiklassengesellschaft abschafft, sind sämtliche Rentenreformen für die Katz.
Helmbrechts-Unterweißenbach (Bayern)
Hermann Wirth
„Jede Mehrleistung ist in die Staatskassen
transferiert, also systematisch sozialisiert
worden“, meint Herr Müller. Er sollte es
besser wissen: Allein die diesjährige Bundesschuld von 82 Milliarden Mark mit
ihrem satten Anteil der Wiedervereinigung
auf Pump wird automatisch in die Taschen
von uns Besserverdienenden transferiert
und ähnliche Beträge jedes Jahr wieder.
Kassel
Klaus Seeliger
Der Wirtschaftsminister wächst langsam in
die ihm als Parteilosen von der SPD zugedachte Rolle hinein. Er spielt den Bullterrier, den Marktschreier der Bundesregierung immer lauter und besser. Der Vergleich mit den Industriellenverbänden, bei
denen die Funktion der „Medien-Speerspitze“ Herr Henkel vom BDI ausübt,
drängt sich förmlich auf. Sowohl Herr Müller als auch Herr Henkel wären intellektuell sicherlich sehr wohl in der Lage, sich
differenzierter und sachlicher zu äußern,
als sie es zurzeit tun. Sollen sie aber nicht!
Ihr Job ist die Serienproduktion von Binsenweisheiten und Platituden, die Produktionsstätte sind die Medien. Herr Müller ist der „Sektkorken“ des Bundeskanzlers. Wenn der Korken geknallt hat, kann
Herr Schröder in Ruhe und neuer Bescheidenheit an der Marke „Rotkäppchen“
nippen.
Lengerich
d e r
Alexander Reisenhofer
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Briefe
Nr. 41/1999, Arzneimittel:
Preistricks der Pharmaindustrie
Die Apotheke ist verpflichtet, einem Patienten genau das vom Arzt ausgesuchte
Fertigarzneimittel zu geben, auch wenn sie
wirkstoffgleiche, gleich teure oder günstigere Arzneimittel in ihrem Lager hat. Unsere Warenlager, die wir voll bezahlt haben, füllen sich so mit unendlich vielen
wirkungsgleichen Präparaten, weil wir, obwohl Arzneifachleute, nicht im Bereich der
wirkstoffgleichen Präparate nach sinnvollen Kriterien auswählen dürfen. Jahr für
Jahr vernichte ich in meiner Apotheke viele dieser Arzneimittel, weil einem Ver-
machen es Ratiopharm und Co. möglich,
ihre Präparate billiger zu beziehen. Man
sollte von diesen Firmen allerdings keine
Neuentwicklungen erwarten – in die Forschung wird hier in der Regel nicht investiert. Entsprechend wären die Auswirkungen einer ausschließlichen Verordnung von
günstigeren Generika auf die Neuentwicklung und Verbesserung von Medikamenten.
Köln
Andreas Werth
Apotheker
Luftangriff durch U. S. Army Air Forces auf Berlin
Die Apothekenverkaufspreise werden nicht
nach obskuren Regeln festgesetzt, sondern
sind Resultat der Arzneimittelpreisverordnung, die für alle apothekenpflichtigen
Arzneimittel bundeseinheitliche Endverbraucherpreise sicherstellt. Bei der Arzneimittelversorgung für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung entfallen 56,9
Prozent auf die pharmazeutische
Industrie, 20,8 Prozent auf die
Apotheken, 8,7 Prozent auf den
Großhandel und 13,6 Prozent auf
die Mehrwertsteuer.
Eschborn (Hessen) Dr. Frank Diener
ABDA-BV Deutsche Apothekerverb.
S. WALLOCHA
Apotheker, Ärzte und Pharmaindustrie klagen höchst effektiv im
Chor, wenn es um ihre Pfründen
geht. Ursache ist der gesetzlich
sanktionierte Lobbyismus, der das
wirkungsvolle „Schmieren“ erlaubt
und das logische Denken von VolksArzneimittelverkauf in einer Apotheke
vertretern wirkungsvoll hemmt.
Schnell wechselndes Verordnungsverhalten
Helfen kann hier nur die EU, indem
sie mehr Wettbewerb einfordert.
schreiber auf einmal andere Arzneien mit Das allerverlogenste Argument ist der Hingleichen Wirkstoffen, die nicht zwingend weis, dass diese Handelsspanne notwendig
besser oder billiger sind, besser „gefallen“. sei, um die Qualität der Versorgung zu siAugsburg
Christiane Fahrmbacher-Lutz
chern. Da müsste es mit der Qualität unserer Lebensmittel schlecht bestellt sein, denn
Die Niedrigpreis-Präparate sind nicht des- die Spannen sind dort deutlich geringer.
halb bei den Apothekern unbeliebt, weil sie Bischberg (Bayern)
Elmar K. Brueckner
billig sind, sondern weil es im GenerikaBereich zu einem so schnell wechselnden Deutschland ist das einzige Land in Europa
Verordnungsverhalten gekommen ist, dass mit vollem Mehrwertsteuersatz auf Arzneidie Apotheken immer öfter Präparate nicht mittel. Der Fiskus verdient an den Medikagleich am Lager haben können. Auf Grund menten mehr als alle Apotheken zusammen.
der guten Logistik zwischen den Apothe- Köln-Mülheim
Heinz Jürgen Schäfer
ken und dem pharmazeutischen Großhandel können in den meisten Fällen die gewünschten Arzneimittel innerhalb von drei
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, ReStunden besorgt werden. Die dadurch zugierung, Grüne, Atomkraft, Rüstung, Bundeswehr, Hochschulen, Zeitgeschichte (S. 112): Dr. Gerhard Spörl; für Rente, Trends, Geld,
sätzlich anfallenden Transportkosten werEuropa, Telefon, Fernsehen (S. 134), Manager, Banken, Hightech,
den nicht, wie sonst im Einzelhandel übUnternehmer, Filmindustrie, Internet-TV: Gabor Steingart; für
Rente (S. 30), Spionage, Einheit, Jugendliche, Verbrechen, Zeitgelich, in den Verbraucherpreis einkalkuliert.
Salzgitter
Ilka Prinzig-Heidler
Apothekerin
Dass ein Originalpräparat zunächst teurer
sein muss als ein Nachahmer-Präparat, ergibt sich aus der Tatsache, dass der Hersteller auch die Entwicklung eines neuen Medikaments wieder einfahren muss – die geht
nämlich leicht in die Millionen. Ist der Patentschutz nach einigen Jahren abgelaufen,
16
ULLSTEIN BILDERDIENST
Unendlich viele wirkstoffgleiche
schichte (S. 116), Betrüger, Fans, Chronik: Clemens Höges; für 100 Tage
im Herbst: Jochen Bölsche; für Fernsehen (S. 158, 160), Zeitschriften,
Zeitungen, Szene, Moral, Musik, Pop, Schauspieler, Bestseller, Kino,
Filmgeschichte, Stars: Wolfgang Höbel; für Titelgeschichte: Dr. Dieter
Wild; für Panorama Ausland, Justiz, Pakistan, Großbritannien, Tschetschenien, Indonesien, Frankreich, Reparationen, China, Russland,
Spanien: Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Paläontologie, Rauchen, Computer, Medizin, Automobile: Olaf Stampf; für Unterhaltung, Fußball: Alfred Weinzierl; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Hohlspiegel: Petra Kleinau; für Personalien, Rückspiegel:
Gudrun Patricia Pott; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom
Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELFOTO: Bayerische Staatsbibliothek/Presseillustrationen
Heinrich R. Hoffmann
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Natürliche Folge von Coventry
Wie eine ironische Spiegelung
Nr. 41/1999, Zeitgeschichte:
Generalprobe für die Bombardierung Berlins
Mike Davis versucht, den Bombenkrieg gegen deutsche Arbeiterwohnquartiere als
Reaktion auf die antisemitische Vergabepolitik der deutschen Arbeiterbewegung
zu rechtfertigen. Diese Argumentation ist
nicht nur in sich perfide, sondern auch
sachlich falsch. Der Architekt Erich Mendelsohn erhielt den Auftrag, das Verwaltungsgebäude des sozialdemokratischen
Deutschen Metallarbeiterverbandes an der
Alten Jakobstraße in Berlin zu errichten.
Der Bombenterror gegen deutsche Arbeiterwohnquartiere ist und bleibt ein
strafwürdiges Kriegsverbrechen. Mendelsohns kriegerischer Dekonstruktivismus
erscheint wie eine ironische Spiegelung der
Bau- und Zerstörungswut bei Albert Speer.
Kronberg im Taunus
Dr. Gerhard Beier
Wenn die U. S. Air Force die Zerstörung
deutscher Städte in der Wüste von Utah
probte, ist das nicht ungewöhnlich. Wenn
Erich Mendelsohn als Deutscher die Mietskasernen dafür errichtet hat, macht das die
Episode interessant. Eine Pointe bekommt
Ihr Artikel aber erst dann, wenn man weiß,
was nach der Emigration Mendelsohns aus
dessen Architekturbüro geworden ist:
Die Firma wurde von seinem Schüler Ernst
Sagebiel weitergeführt, unter dessen Leitung das NS-Reichsluftfahrtministerium
entstand.
Dresden
Tobias Gockel
Die Bombardierung Berlins war keineswegs die Rache des Juden Erich Mendelsohn, sondern die natürliche Folge der
Bombardierungen von Coventry, London,
Belgrad, Warschau und Rotterdam.
Düsseldorf
Marta Valko
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Eine Teilauflage enthält einen Postkartenbeihefter der
Firma Greenpeace, Hamburg. Einer Teilauflage ist eine
Postkarte des Gruner & Jahr Verlages Bizz, Köln, beigeklebt. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen
Humanitas Buchversand, Wiesbaden, VDI-Verlag, Düsseldorf, RM Buch und Medie, Rheda-Wiedenbrücken,
Spiegel-Verlag/Abo, Hamburg, sowie die Verlegerbeilage Spiegel-Verlag/kulturSPIEGEL, Hamburg, bei.
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
P. GLASER
Panorama
Autobahnbau (bei Berlin)
KOA L I T I O N
Grüne Rache
egen der Umweltpolitik steht die rot-grüne Koalition vor
einer schweren Belastungsprobe. Kurz nach der von Kanzler Gerhard Schröder im Bundessicherheitsrat gegen Außenminister Joschka Fischer durchgesetzten Entscheidung, der Türkei
zu Erprobungszwecken einen „Leopard-2“-Panzer zu liefern,
meldet die Grünen-Fraktion Widerstand gegen das Verkehrsinvestitionsprogramm an. Es soll an diesem Mittwoch im Kabinett beschlossen werden.
Bereits am Montag dieser Woche wollen die Vertreter der Grünen dem Kanzler in der Koalitionsrunde mitteilen, dass sie das
Verkehrsprogramm, mit einem Aufwand von mehr als 60 Milliarden Mark bis 2002 immerhin der größte Investitionsposten der
Bundesregierung, von der Tagesordnung der Kabinettssitzung
streichen lassen wollen.
Urenkel der RAF?
D
ie Sicherheitsbehörden prüfen, ob
Linksextremisten den bewaffneten
Kampf der Roten Armee Fraktion
(RAF) wieder aufnehmen. Grund ist das
Schreiben einer angeblichen „Aktionsgruppe horst ludwig meyer, respektive
raf, 4. Generation“. In dem Brief, der
vor 14 Tagen beim Bayerischen Rundfunk einging, drohen Unbekannte mit
Anschlägen: „Kopenhagen war nur der
Anfang.“ Dort war im September auf
die österreichische Botschaft ein Brandanschlag verübt worden. Nach Einschätzung von Staatsschützern war die Tat
eine Reaktion auf den Tod des ehemaligen RAF-Terroristen Horst Ludwig
Meyer. Er wurde in Wien von der PoliErschossener RAF-Terrorist Meyer
zei erschossen, seine Lebensgefährtin
Andrea Klump festgenommen. Obwohl
das aktuelle Schreiben mit dem RAFStern gekennzeichnet ist, glaubt das
Bundeskriminalamt (BKA) nicht, dass
die Absender Kontakt zu ehemaligen
RAF-Kadern unterhalten. Der Brief unterscheide sich in Stil und Aufmachung
zu sehr von früheren Schreiben. Auch
habe die RAF nie nach Generationen
unterschieden. Zumindest Anschläge
auf Personen, urteilt das BKA, seien
von dieser Gruppe nicht zu erwarten.
SPD
Generalsekretärin Ost
O
stdeutsche Sozialdemokraten fühlen
sich von der SPD-Zentrale vernachlässigt. Der
designierte Generalsekretär Franz Müntefering, klagt ein sächsischer Spitzengenosse, interessiere sich nur für
die Landtagswahlen in
Nordrhein-Westfalen,
Hildebrandt
nicht aber für die OstSPD. Um Ost-Kompetenz zu zeigen,
schlägt der sächsische DGB-Chef und
SPD-Landtagsabgeordnete Hanjo Lucassen vor, Brandenburgs ehemalige Sozialministerin Regine Hildebrandt zur
Ost-Beauftragten der SPD zu machen,
einer Art „Generalsekretärin Ost“.
AP
TERRORISMUS
REUTERS
W
Wie schon der Panzerexport, meint die Grünen-Fraktion, würden auch die Planungen für Verkehr dem Koalitionsvertrag widersprechen. Danach sollen sich die Ausgaben für Straße und
Schiene in den nächsten Jahren annähern.
Nach dem Entwurf steigt die Differenz zu Gunsten der Straße
dagegen von 1,7 Milliarden Mark (1999) auf 2,2 Milliarden (2002).
Bliebe das unverändert, könne „die grüne Fraktion künftigen
Haushaltsplänen nicht zustimmen“, sagt Albert Schmidt, Verkehrsexperte der Grünen. Ihr Haushaltsexperte Matthias Berninger will den „gravierenden Verstoß gegen die Koalitionsvereinbarung keinesfalls akzeptieren“.
Schröder wird die Grünen kaum mit einer Rede besänftigen
können, mit der er sich an diesem Montag auf der internationalen Klimakonferenz in Bonn als Ökokanzler präsentieren
will. Der auch durch zunehmenden Autoverkehr verursachte
CO2-Ausstoß ist nach dem Eingeständnis von Schröder in „vielen großen Ländern“ noch nicht so weit reduziert wie vereinbart. „Trotz weltweit gestiegenen Umweltbewusstseins“, so das
Redemanuskript, „haben wir unsere Ziele noch nicht erreicht.“
19
Panorama
MEDIEN
Kriegsschulung
für Journalisten
D
PAPARAZZI
ie Bundeswehr-Ausbildungsstätte in
Hammelburg veranstaltet Mitte November erstmals einen Spezialkurs für
Kriegsreporter. Ausgewählte Journalisten
werden darauf vorbereitet, die Bundeswehr
bei Einsätzen in Krisengebieten zu begleiten. Zwölf Plätze (Unkostenbeitrag: 100
Mark) stellt die Hardthöhe für die viertägige Schulung zur Verfügung. Die Journa- Bundeswehr-Training für Auslandseinsätze (in Hammelburg)
listen sollen lernen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie bedroht oder verletzt werden. So werden auch darum, den Medienleuten zu vermitteln, dass in befür die Presse- und Fernsehberichterstatter kritische Situatio- stimmten Ernstfällen die Erste Hilfe vor dem exklusiven Foto
nen simuliert wie Granatenbeschuss, Kontrollen durch Milizen, stehen sollte. Ist die Resonanz positiv, will die Armee die ReHinterhalte und Unglücke mit Minen. Der Bundeswehr geht es porter-Schulung häufiger anbieten.
Gesichtslose FDP
Designer Wolfgang Joop, 54, über sein
geplantes Engagement in der deutschen
Politik
SPIEGEL: Sie sitzen in Ihrer Wohnung in
Monte Carlo und warten angeblich auf
einen Anruf von FDP-Generalsekretär
Guido Westerwelle, um in
die FDP einzutreten?
Joop: So schnell geht das
nicht. Aber Westerwelle hat
mich angerufen, wir treffen
uns am Wochenende in
Potsdam, und wir haben darüber gesprochen, wie ich
der FDP helfen könnte.
SPIEGEL: Wie könnten Sie
denn?
Joop: Politik braucht Köpfe,
und ich habe einen.
SPIEGEL: In der Hamburger
FDP heißt es, Sie wären ein
Glücksfall für die FDP, Sie
könnten gute Kleider und
Joop
gute Parfüms machen.
Reicht das für die Politik?
Joop: Ich habe gute Verbindungen, und
ich bin inzwischen ja beinahe mehr
Manager als Modeschöpfer. Die FDP
ist so gesichtslos geworden wie eine
Modemarke, die am Boden liegt. Sie
könnte von meiner kreativen Ader profitieren, und ich bin davon überzeugt,
dass ich die Marke FDP vorantreiben
könnte.
SPIEGEL: Warum reizt Sie die FDP?
20
Joop: Weil Liberalität und Toleranz ihr
eigentliches Programm sind. Und ich
mache mir Sorgen um die politische
Mitte, die von CDU und PDS zerdrückt
wird. Bei den Grünen stören mich
die Grabenkämpfe, allenfalls die SPD
könnte mir auch gefallen.
SPIEGEL: Käme für Sie eine FDP-Kandidatur für den Bundestag in Frage?
Joop: Ja. Ich habe in meinem Leben gelernt, dass ich nichts mehr ausschließe.
Aber vorher muss ich mich
mit der FDP darüber verständigen.
SPIEGEL: Sie leben in Monte
Carlo und den USA. Wollen Sie ohne deutschen
Wohnsitz kandidieren?
Joop: Wenn ich Politik als
wirkliches Lebensziel entdecken könnte und die
FDP mir Perspektiven ermöglicht, würde ich nach
Deutschland zurückkehren.
Ich habe ein Verantwortungsgefühl gegenüber meinem Heimatland.
SPIEGEL: Werden Sie der
FDP-Spitze raten, etwas für
ihr Outfit zu tun?
Joop: Ganz sicher, wenn auch ungern
und hinter verschlossenen Türen.
Herrn Westerwelle würde eine andere
Brille gut tun, auch dem Vorsitzenden
Wolfgang Gerhardt könnte ich optisch
helfen. Schicke Outfits haben sich
ja auch Schröder und Fischer schnellstens zugelegt. Aber es muss in der Politik mehr um Inhalte als um Verpackung
gehen.
ACTION PRESS
LIBERALE
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Zitat
»Klar, dass der Politiker
geworden ist, was
hätte er denn sonst
machen sollen?«
Irene Gysi, 87, über die politische Karriere
ihres Sohnes Gregor
RECHT
E-Mail ans Gericht
B
undesjustizministerin Hertha
Däubler-Gmelin plant, elektronische
Briefe als rechtswirksam zuzulassen.
Derzeit liegt ein Referentenentwurf des
Justizministeriums vor, wonach anstelle
der eigenhändigen Unterschrift künftig
eine digitale Signatur genügen soll. Bürger und Anwälte könnten damit bei Gericht auch mit digitalem Fax und E-Mail
Klage einreichen oder Anträge stellen.
Per elektronischem Briefwechsel ließen
sich auch solche Verträge schließen, für
die ein gesetzlicher Schriftzwang besteht. Ein entsprechender Gesetzentwurf soll nächstes Jahr in den Bundestag eingebracht werden. Bislang urteilen
die höchsten Bundesgerichte unterschiedlich darüber, ob Klagen mit elektronischer Unterschrift zulässig sind. In
Hamburg läuft dazu ein Modellversuch,
allerdings nur für Prozesse am Finanzgericht und nur für Anwälte. Für schriftlich abzuschließende Verträge genügen
E-Mails bisher nicht.
Deutschland
Offenes Geheimnis
D
ie Grünen wollen die Zinsbesteuerung verschärfen und dazu das
Bankgeheimnis lockern. Mit Hilfe so genannter Kontrollmitteilungen könnten
danach die Finanzämter künftig bei den
Kreditinstituten in Erfahrung bringen,
wie hoch die Zinserträge einzelner
Steuerzahler sind. In einem internen
Argumentationspapier der GrünenBundestagsfraktion heißt es, das Bankgeheimnis schütze „vor allem diejeni-
HOCHSCHULEN
Testlauf für Professoren
A
uch Professoren sollen sich in Zukunft erst bewähren müssen, bevor
sie zu unkündbaren Beamten ernannt
werden. Eine Expertenkommission zur
„Reform des Hochschuldienstrechts“
will der Bildungsministerin Edelgard
Bulmahn (SPD) eine sechs Jahre
währende „Juniorprofessur“ vorschlagen. In dieser Zeit soll die Qualifikation
des Kandidaten für Forschung, Lehre
und Verwaltung überprüft werden.
Die 18-köpfige Kommission wird eine
erste Evaluation der Anwärter nach drei
Jahren empfehlen. Scheint der Bewerber unqualifiziert, solle ihm ein viertes
ASYLPOLITIK
Jahr zur „anderweitigen Orientierung“
bleiben. Nach Bestehen dieser Probezeit
sollen die Professoren aber unbefristete
Verträge erhalten, so
der Kommissionsvorsitzende Hans Meyer,
Präsident der Berliner Humboldt-Universität: „Die ProMeyer
fessoren sollen sicher vor politischen Pressionen sein.“
Die Vorschläge der von Bulmahn berufenen Expertenrunde sollen im April
nächsten Jahres vorgelegt werden und
Grundlage für die Dienstrechtsreform
der Regierung sein.
Asylbewerber in der EU aufgenommen.
Damit lag der Kanzler doppelt daneben: Laut einem Vermerk des Kanzleramts kamen zwischen Januar und September dieses Jahres
71 000 Asylbewerber
nach Deutschland, in
die EU seien insgesamt
180 000 eingereist, was
einer deutschen Aufnahmequote von 39
Prozent entspricht.
Diese Zahl muss noch
nach unten korrigiert
werden, weil die Bezugsgröße von EU-weit
180 000 Bewerbern die
wahren Verhältnisse
nicht wiedergibt.
Während für die Bundesrepublik die Daten zwischen Januar
und September vorliegen, stammen die
Angaben der anderen EU-Länder nur
aus den ersten Monaten dieses Jahres.
Damit schrumpft die deutsche Quote
nach Schätzung von Experten auf rund
30 Prozent.
K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL
Schröders Zahlensalat
gen, die Steuern hinterziehen“. Derzeit
gibt es ähnliche Verfahren in Dänemark, Frankreich, Schweden und den
USA, doch sind Bestrebungen der Europäischen Union, die Kontrollmitteilungen EU-weit einzuführen, bislang am
Widerstand von Großbritannien und
Luxemburg gescheitert. Die Briten
fürchten um ihre Kundschaft am Londoner Eurobond-Markt, die Luxemburger
um ihren Status als Steueroase. Sollten
die EU-Pläne nicht wie geplant bis Jahresende umgesetzt werden, plädieren
die Grünen dafür, „über nationale Maßnahmen nachzudenken“.
P. GLASER
ZINSEN
Liberianische Asylbewerber (in Bayern)
B
undeskanzler Gerhard Schröder
operiert auf europäischer Ebene mit
übertriebenen Asylbewerberzahlen.
Beim EU-Sondergipfel im finnischen
Tampere wies er seine Kollegen darauf
hin, die Bundesregierung habe allein in
diesem Jahr schon fast die Hälfte aller
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
21
Panorama
Deutschland
WÄ H R U N G S U N I O N
Am Rande
Frühstart verlangt
Das macht Spaß
22
I
Sehbehinderte früher ausgeteilt würde.
n Brüssel ist ein Streit um den StichDeutschland will das neue Geld
tag zur Euro-Einführung entbrannt.
erst kurz vor Silvester einführen, um
Frankreich will die neuen Münzen und
das Weihnachtsgeschäft nicht durch
Scheine noch vor Weihnachten 2001
doppelte Bargeldhaltung zu erschweunters Volk bringen, offizieller Stichtag
ren. Die Finanzminister wollen die Fraist der 1. Januar 2002. Die Verbraucher
ge Anfang November entscheiden.
sollten Gelegenheit haben, sich mit dem
neuen Geld vertraut zu
machen, bevor es zum
gesetzlichen Zahlungsmittel wird. Auf dem
Treffen der Finanzminister Mitte September im
finnischen Turku setzten
die Franzosen einen entsprechenden, allerdings
noch vagen Beschluss
durch. Damit würde die
Übergangszeit verlängert,
in der Landeswährung
und Euro gleichzeitig gelten. Dagegen wehrt sich
der Handel. Ihm wäre es
am liebsten, wenn das
neue Geld zur Gewöhnung nur an Blinde und
EU-Zentralbank-Chef Duisenberg (r.) bei Euro-Feier
FOTOS: DPA
Wenn die Politik
eine Kirmes wäre,
welche Partei hätte dann wohl welche Attraktion im
Angebot? Für die
SPD ist das noch
einfach: Sie betreibt die Boxbude – wer hier mitmacht, bezieht Prügel, er weiß
nur noch nicht, ob von links oder
von rechts. Auch die PDS ist
ziemlich klar: Sie verkauft die
Lebkuchenherzen, also Altbackenes mit zuckersüßen Lügen
garniert: „Ich hab Dich lieb.“
Trotzdem läuft das Geschäft erstaunlich gut.
Die Grünen managen eine Achterbahn, sind selbst erstaunt darüber, wie schnell es dort bergab
geht, und wünschen sich die Zeit
zurück, als sie noch das Kinderkarussell hatten.
Die Geisterbahn gehört der CDU,
und seit Pfarrer Hintze dort nicht
mehr seinen diabolischen Scheitel
präsentiert, trauen sich auch die
Kunden wieder rein.
Und für die FDP sitzt nun Parteichef Wolfgang Gerhardt an der
Tür, redet von einem Kundenpotenzial von rund 20 Prozent
und nuschelt routiniert ins Mikro:
„Immer wieder zusteigen, ja, immer wieder dabei sein, es lohnt
sich, das macht Spaß, hier kommt
Freude auf, immer wieder zusteigen, immer wieder dabei sein.“
Die Leute wundern sich: Was redet der da? Hat dem Mann denn
niemand gesagt, dass die FDP gar
nicht mehr am Riesenrad dreht?
Wieso merkt der nicht, welchem
Laden er vorsteht?
Ach, wenn die Politik eine Kirmes wäre, dann wäre die FDP der
Saure-Gurken-Verkäufer.
KANZLERAMT
Schwarzer Kanal
M
ichael Naumann, Staatsminister
für Kultur im Kanzleramt, ist einem Unterwanderungsversuch der
CDU auf die Spur gekommen. Norbert
Lammert, in der Unionsfraktion zuständig für Kultur und Medien, fordert unter dem Briefkopf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mitarbeiter der Naumann-Behörde mit CDU-Parteibuch
auf, künftig mit ihm zusammenzuarbeiten. Der Machtverlust
der Unionsparteien
mache „einen engen
Kontakt zwischen der
Fraktion und den
Unionsmitgliedern“
in Naumanns Amt
„wünschenswert“. In
Kürze sollen auf einem Treffen „Planungen“ für die künftige
Lammert
Zusammenarbeit verabredet werden, heißt es in dem Brief
vom 7. Oktober. Naumann hält den Versuch, schwarze Kanäle in sein Amt zu
legen, für „unanständig, das gehört sich
nicht“. Er müsse nun fürchten, auf Mitarbeiter zu treffen, deren Loyalität auf
die Probe gestellt werde. Die Unionsd e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
fraktion kann in dem Werbungsversuch
nichts Unrechtes entdecken. Solche politische Lobbyarbeit sei „selbstverständlich und weit verbreitet“.
Nachgefragt
Zarte Annäherung?
Wie sollten sich die großen
Parteien gegenüber der PDS
grundsätzlich verhalten?
Anhänger der
Gesamt West Ost SPD CDU/
CSU
Sie sollten
sie ignorieren. 32 38 9 29 44
Sie sollten in
einzelnen
Sachfragen 45
mit ihr zusammenarbeiten.
Es spricht
nichts gegen 15
eine Koalition
mit der PDS.
43
50
55
40
11
30
12
10
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 19. und 20. Oktober;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
RENTE
Kampf der Generationen
Der geplante Vorruhestand mit 60 empört die Jungen in Gewerkschaften und Parteien.
„Ein Konzept alter Männer für alte Männer“, so das Verdikt. Der Aufstand gegen
die Luxusrente für Frühpensionäre heizt den Verteilungskampf Jung gegen Alt kräftig an.
W
schen Gesellschaft noch bevorsteht: ein
Kampf der Generationen.
Dass sich Arbeitsminister Walter Riester,
allen Lippenbekenntnissen der vergangenen Monate zum Trotz, nun doch für den
vorgezogenen Ruhestand stark macht,
zeigt die Mutlosigkeit im Regierungslager.
Noch immer wird ignoriert, dass der Generationenvertrag nicht mehr intakt ist.
Noch immer steht eine Reform aus, die
Generationengerechtigkeit verspricht.
Über Partei- und Gewerkschaftsgrenzen
hinweg formiert sich der Widerstand der
Jungen gegen die Bevorzugung der Alten.
M. URBAN
enn IG-Metall-Chef Klaus Zwickel
wissen will, was junge Metaller
von einer Rente mit 60 halten,
dann muss er nur auf die Internet-Seite seiner Gewerkschaft schauen. „Da fragt Ihr
Euch noch, warum Euch die jungen Mitglieder weglaufen“, schimpft ein junger Gewerkschafter. „Ich sollte ernsthaft darüber
nachdenken, ob ich nicht schon mal für meine private Rente spare und dazu den Mitgliedsbeitrag für die IG Metall verwende“,
so ein anderer Teilnehmer der Chat-Runde.
Der Vorstoß Zwickels, fünf Jahre lang
einen Prozentpunkt der Lohnsteigerungen
Kanzler Schröder, Arbeitsminister Riester: Rentenpolitik nach Stimmungslage
abzuzweigen, damit 60-jährige Arbeitnehmer vorzeitig ohne Abstriche in Rente gehen können, bringt die junge Generation
gegen die Alten auf.
Verständnislos fragen sich die Nachwuchsmetaller, warum sie ausgerechnet
für die „letzte Generation der Vollbeschäftigten“ Verzicht leisten sollen: „Es
ist die reichste Generation, die jemals
in Europa gelebt hat“, empört sich ein Berliner.
Noch spielt sich der Aufstand der EMail-Generation gegen die Altvorderen im
Virtuellen ab. Doch die Internet-Seiten der
IG Metall nehmen vorweg, was der deut24
Die Verteilungskämpfe der Zukunft, davon sind Experten wie der Bonner Gesellschaftsforscher Meinhard Miegel überzeugt, werden zwischen den Generationen
ausgetragen. Der Kampfbegriff von morgen heißt Generationengerechtigkeit.
Zwei Fragen stehen im Zentrum der
Debatte: Wie viele Lasten lassen sich die
Jungen noch aufbürden? Wie lange können die Alten ihren Wohlstand noch genießen, ohne dass die Nachwachsenden
auch ihnen ernstliche Opfer abverlangen?
Noch scheint es so, als ob die Jungen
auch das vorerst letzte Gefecht im Kampf
der Generationen verloren haben – wieder
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
einmal. In der vorvergangenen Woche gab
Arbeitsminister Riester der Rente mit 60
den regierungsamtlichen Segen.
Dabei ist das Projekt ein typisches Geschäft zu Lasten Dritter. Es verpflichtet die
Jungen, eine Luxusvariante des Vorruhestands mitzufinanzieren, von der heute
schon sicher ist, dass sie selbst nie davon
profitieren werden. Im Wirtschaftsleben
gilt so etwas als sittenwidrig.
Nicht so in der Rentenversicherung.
Dort hält sich die Gesellschaft schon lange nicht mehr an die Geschäftsbedingungen. Der Generationenvertrag, wonach die
arbeitende Generation die Alten unterhält
und später selbst von den heutigen Kindern unterstützt wird, funktioniert nicht
mehr. Immer weniger Junge müssen immer mehr Alte versorgen. Derzeit zahlen
drei Beschäftigte das Ruhegeld für einen
Rentner. In 30 Jahren wird auf jeden Beschäftigten fast ein Rentner kommen.
Die Folge: Heutige Arbeitnehmer zahlen
Rekordbeiträge, beziehen später selbst
aber nur Minirenten. Arbeitsminister Riester wagte im Frühjahr immerhin einen ersten Schritt, auch die jetzige Rentnergeneration an der Konsolidierung des Systems
zu beteiligen. In den beiden nächsten Jahren soll die Rente nicht mehr wie die Nettolöhne, sondern nur noch mit der Inflationsrate steigen. Von diesem Angriff auf
den Besitzstand der Rentner hat sich die
rot-grüne Regierungskoalition bis heute
nicht erholt.
Riesters Erfahrung zeigt: Es ist schwierig, sich gegen die mächtigen Alten durchzusetzen. Bei der letzten Bundestagswahl
war fast jeder dritte Wähler über 60 Jahre.
Kein Politiker glaubt dieser Klientel straflos Einschnitte zumuten zu können.
Dabei trifft es keine Armen (siehe Seite
26). Der heutigen Rentnergeneration geht
es so gut wie keiner anderen zuvor in der
Geschichte Deutschlands. Ihr Berufsleben
begann in den Wirtschaftswunderjahren,
von Arbeitslosigkeit blieben die meisten
verschont. Jahrzehntelang zahlten sie ununterbrochen ihre Sozialbeiträge, oft reichte es für eine zusätzliche Absicherung.
Dem Alterssicherungsbericht der Bundesregierung von 1997 zufolge besteht
praktisch keine Altersarmut mehr. Nur ein
Prozent der Senioren, die außerhalb von
Heimen wohnen, beziehen Sozialhilfe. Das
Lebensabend gut gepolstert
Altersgruppen und Vermögen in Deutschland
55 Jahre und älter
unter 55 Jahre
sind nur 28,8 %
der Bevölkerung.
Sie besitzen aber 44,8 %
des gesamten Vermögens.
5730 Milliarden
Bevölkerung. Jedoch besitzen sie nur
55,2% des gesamten Vermögens.
7050 Milliarden Mark
WEST
33 200
374700
61400
476100
92 900
522200
92 400
510600
57 900
410 000
sind 71,2% der
Bruttogeldvermögen *
pro Haushalt in Mark
Immobilienvermögen *
pro Haushalt in Mark
unter
35
Jahren
15900
35 bis
44 Jahre
25800
45 bis
54 Jahre
30500
55 bis
64 Jahre
65 oder
mehr
Jahre
Kopf-an-Kopf-Rennen
2790
Durchschnittseinkommen
der Arbeitnehmer **
in Mark
2710 2500
2270
2000
2110
OST
Durchschnittseinkommen
der Senioren**
247200
1500
Rentenempfänger
und Pensionäre
271700
1000
248300
500
37300
208200
19700
149500
*Bezugsperson
ist der jeweilige
Haushaltsvorstand;
Quelle: DIW, BBE
** Äquivalenzeinkommen
(netto)
0
1991
92
93
94
95
96
97
1998
Bild der armen Oma mit einer Minirente Bemühungen fest. Wie zu Wirtschaftswun- Modell von alten Männern für alte Mänvon nur 900 Mark, das Gerhard Schröder derzeiten baut das Rentensystem noch heu- ner“, sagt Christel Riedel vom Deutschen
im Bundestagswahlkampf 1998 beschwor, te auf Vollbeschäftigung. Jahr für Jahr stei- Frauenrat, „Frauen und junge Leute hagehört als Leitbild der politischen Debat- gen die Renten der Alten im Gleichschritt ben nichts davon.“ Erziehungszeiten und
mit den Nettolöhnen.
eine höhere Teilzeitquote bewirken, dass
te längst ins Museum.
So sollen die Ruheständler beteiligt wer- kaum eine Frau die notwendigen 35 VersiArmut in Deutschland ist vor allem ein
Phänomen junger Leute. Mehr als eine Mil- den am Produktivitätsfortschritt in Wirt- cherungsjahre zusammenbringt, um in den
lion Kinder und Jugendliche leben von So- schaft und Gesellschaft. Der Fehler dabei: Genuss des Modells zu kommen.
Unter jungen Gewerkschaftsfunktionäzialhilfe, damit ist ein Drittel der Sozial- Während die Senioren wie selbstverständhilfebezieher unter 18 Jahre. Schuld daran lich vom Leistungszuwachs der Beschäftig- ren wird die Führung mittlerweile hart ranist nicht zuletzt auch der Staat. Schon bei ten profitieren, kostet der Produktivitäts- genommen. Michael Schrod, JugendseKleinverdienern greifen Sozialversiche- fortschritt junge, nicht so gut ausgebildete kretär des IG-Metall-Bezirks Küste: „Junge Arbeitnehmer, die ohnehin jede Mark
rungen und Fiskus erbarmungslos zu. Die Arbeitnehmer den Job.
Der Widerstand der Jungen gegen die umdrehen müssen, sollen in Tariffonds einRenten besteuert er dagegen kaum.
Politikern ist diese Ungerechtigkeit seit Belastungen wächst, und am Beispiel der zahlen, werden aber nie von der FrührenJahrzehnten bekannt, genauso wie der Zu- Rente mit 60 wird er offenbar. „Das ist ein te profitieren.“ Parteiübergreifend fordert
stand der Rentenversicherung. Geschehen ist nichts.
Die rot-grüne Senke
Dabei gehört die Misere
des deutschen RentensysREN TE N N I V EAU
70,1 70,1
70,1
in Prozent des Nettodurchschnittslohns*
tems zu den am besten
69,5
69,5
*bei Bruttostellung des Kindergeldes und 45 Beitragsjahren
prognostizierten Katastro69,0
68,9
68,6
phen der Neuzeit. Seit
68,2
67,8
Ende der sechziger Jahre
67,7
67,3
der Pillenknick einsetzte,
67,2
67,2
67,0
66,7
werden Jahr für Jahr zu
66,4
66,4
wenig Babys geboren, um
Blümsche Rente Nettolohnbezogene Rente mit
Rot- grünes Modell Der demografische Faktor
auch nur die Zahl der
demografischem Faktor (derzeit geltendes Recht)
entfällt, jedoch gibt es statt der Nettolohnanpassung
Deutschen stabil zu halten
2000 und 2001 nur den Inflationsausgleich
– die Gesellschaft altert.
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2010
2020
Immer wieder haben
N E T TOSTAN DAR DR E N TE in Mark
sich die Politiker aller Counach geltendem Recht
leur an die Erneuerung der
Alterssicherung gemacht.
1994
2040
2099
2145
2203
2257
2305
2633
3408
Alle fünf Jahre versprachen sie eine Jahrhundertnach dem rot-grünen Modell
reform und stellten regel1994
2015
2620 Quelle: VDR 3445
2038
2080
2266
2212
2149
mäßig nach ein paar Jahren die Erfolglosigkeit ihrer
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
25
Deutschland
Reiche Senioren
Ökonomen kommen in Studien über die materielle Lage von Rentnern zu
überraschenden Ergebnissen: Den Alten in Deutschland geht es so gut wie noch nie.
26
Westen. Und sicher gäbe es nach wie tel aber stammt aus anderen Quellen,
vor noch arme Alte, räumt der Wissen- vor allem aus Kapitaleinkünften: 12,4
schaftler ein, „doch verliert ihre Zahl Prozent des Einkommens verdienen die
Alten aus Zinserträgen oder Vermiean Bedeutung“.
Wie des Kanzlers Mutter geht es im- tungen, 3,6 Prozent aus privaten Transmer weniger Alten in der Republik. fers wie Betriebsrenten.
Hinzu kommt: Die Alten genießen
Gerade noch 180 000 Rentner in
Deutschland beziehen Sozialhilfe. „Es Privilegien, deren Wert kaum zu bezifsind nicht mehr die Älteren, die arm fern ist. Oft geben die Kommunen Sesind“, sagt Franz Ruland, Direktor des niorenpässe aus, die den Eintritt zu VerVerbandes Deutscher Rentenversiche- anstaltungen verbilligen. In Museen,
rungsträger, „sondern vor allem Al- Theatern oder Schwimmbädern profitieren Rentner häufig von Rabatten,
leinerziehende und Familien.“
Das Gros der Alten kann hingegen ohne Ansehen ihrer Bedürftigkeit.
Längst hat die Wirtschaft die vermözufrieden sein und ist es auch. 91 Prozent der über 60-Jährigen bezeichnen genden Alten ins Visier genommen.
ihre Lage als sehr gut bis zufrieden stel- Banken hätscheln ihre Kunden mit inlend, vor einer Generation waren es dividueller Anlageberatung. Und die
Werbewirtschaft hat die reifere Genenur 71 Prozent.
Über die Jahre haben die heutigen ration als Zielgruppe entdeckt. SchließSenioren Häuser gebaut, Firmen ge- lich können über 50-Jährige – nach
gründet; sie haben Wohlstand ge- Abzug von Miete, Heizung, Kleidung
schaffen und ihn gemehrt. Mit 5,7 Bil- und Nahrung – jeden Monat 15 Milliarlionen Mark besitzen sie inzwischen den Mark ausgeben. Der sonst so umeinen überproportional großen Teil schwärmten Gruppe der 14- bis 29-Jährides gesamten privaten Vermögens, den gen bleiben nur 6 Milliarden Mark.
die Kölner BBE-Unternehmensberatung auf 12,8 Billionen Mark taxiert: 45 Prozent
liegen in den Händen der
über 55-Jährigen – obwohl sie
nur 28,8 Prozent der Bevölkerung ausmachen. „Noch nie
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, so
die BBE-Ökonomen, „waren
so große Vermögen bei den
Älteren akkumuliert.“
Vor allem ihr Besitz an
Grundstücken, Wohnungen
und Häusern hat die Senioren
wohlhabend gemacht. Etwa
die Hälfte der über 65-jährigen Westdeutschen besitzt ei- Rentner von heute: „Die reichste Generation, die jemals in
ne Immobilie, ihr Wert beträgt
Gert Wagner, einer der Wirtschaftslaut DIW-Rechnung im Schnitt 410 000
Mark. In Ostdeutschland verfügt im- professoren im Beraterteam von Armerhin jeder fünfte Rentner über ein beitsminister Walter Riester, wundert
Haus oder eine Wohnung im Wert von sich schon seit längerem, dass der
„arme Rentner“ noch in der politi149 000 Mark.
Der gigantische Immobilienbesitz schen Diskussion dominiert. „Nie ist es
zeigt, dass die gesetzliche Rente nicht einer Senioren-Generation so gut gemehr das einzige Instrument der Al- gangen wie der heutigen“, sagt er,
tersvorsorge ist. 78,7 Prozent ihres Ein- „und mit großer Wahrscheinlichkommens beziehen Rentner zwar noch keit wird es auch keiner nach ihr so gut
aus der Altersrente, mehr als ein Fünf- gehen.“
Alexander Jung
TONY STONE
I
m Wahlkampf erinnerte sich Gerhard Schröder seiner kargen Herkunft. „Ein paar persönliche Erfahrungen“ habe er nicht vergessen, bekannte er gelegentlich und entsann
sich, wie seine Mutter putzen gegangen
war und fünf Kinder ohne Mann aufgezogen hatte.
Dass Frauen wie sie heute nur
winzige Renten bekämen, sei einfach
„unanständig“, empörte sich der Kanzlerkandidat: „Wir müssen nicht immer alles abladen auf den schwächsten Schultern, die wir zur Verfügung
haben.“
Die armen Alten. Gewöhnlich werden sie in einem Atemzug genannt mit
Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen – der übliche Dreiklang der gesellschaftlich Benachteiligten. Ein Leben
lang haben die 18 Millionen Rentner
geschuftet und das Land aufgebaut.
Heute gelten sie als notorische Opfer
staatlicher Sparzwänge und bekommen
immer weniger für ihre Lebensleistung.
Die offiziellen Statistiken suggerieren eine Altersarmut, die es so kaum
noch gibt. Nur knapp drei Prozent der
Senioren sind allein stehende Rentnerinnen, die über weniger als 1000 Mark
verfügen. Und Selbständige, die nur einige hundert Mark aus der Rentenkasse erhalten, weil sie fast nichts eingezahlt haben, stehen meist glänzend da:
Ihre Rente speist sich aus Aktiengewinnen, Vermietungen und den Auszahlungen der Lebensversicherung.
Eine Studie des Deutschen Instituts
für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin kommt zu erstaunlichen Ergebnissen. Alter, so die DIW-Forscher, sei
nicht mehr gleichbedeutend mit Armut.
Im Gegenteil: Heute besteht kaum
mehr ein Unterschied zwischen den
Nettoeinkommen von Arbeitnehmern
und von Rentnern. Inzwischen hat ein
Seniorenhaushalt monatlich im Schnitt
2710 Mark zur Verfügung, das sind nur
noch 80 Mark weniger als ein vergleichbarer Arbeitnehmerhaushalt.
„Alles in allem“, so der DIW-Ökonom
Klaus-Dietrich Bedau, „kann man die
Lage der Seniorenhaushalte als günstig
bezeichnen.“
Gewiss sei der Ostrentner längst
nicht so wohlhabend wie der Senior im
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Trotz hoher
Beitragssätze ...
... fällt die Rente vom
Staat niedriger aus ...
20,3 %
20
19
18
17
16
15
14
Beispiel:
Arbeitnehmer und
Arbeitgeber zahlen
seit 45 Jahren den
monatlichen Höchstsatz in die gesetzli18,8 %
18,0 %
che Rentenkasse ein,
schrittweise heute 1658 Mark.
Senkung bis
Bei Renteneintritt
2002
1999 ergibt das für
den Versicherten
Arbeitgeber- und Arbeitneheine Rente von
merbeitrag zur gesetzlichen
Rentenversicherung in Prozent
des Bruttoeinkommens
monatlich
3752 Mark
80
Wären stattdessen die Beiträge in einem
repräsentativen Aktienfonds angelegt worden, könnte derselbe Arbeitnehmer heute
auf einen Kapitalstock von rund 1,7 Millionen Mark* zurückgreifen.
*bei einer durchschnittlichen Rendite von 9 Prozent,
die das Deutsche Aktieninstitut für die Jahre 1954
bis 1996 errechnet hat
90 99 2002
Mark
allein aus der Rendite.
Das Kapital wird nicht
angetastet.
17000 Mark
wenn zusätzlich zur
Rendite das Kapital in
den folgenden 15 Jahren
aufgezehrt wird.
sollten künftig in die Rentenversicherung
zahlen. Ihr Ziel: das Rentensystem in der
jetzigen Form zu zertrümmern.
Auch wenn sich der Widerstand der Jungen zunehmend artikuliert, den politischen
Diskurs um die Rente bestimmt noch immer das Klima der alten Bundesrepublik:
die lang gehegte Wirtschaftswunderillusion, alles sei bezahlbar.
Diese Stimmung haben die Sozialpolitiker aller Parteien selbst befördert. Als „soziale Schweinerei“ (Oskar Lafontaine)
brandmarkte die SPD den zaghaften Versuch einer Reform der Kohl-Regierung.
Mit dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition wechselten die Rollen, nicht aber das
Spiel. Konfrontiert mit der Realität und
unter Bruch eines zentralen Wahlverspre-
lismus zu punkten, wie der bayerische
Staatskanzleichef Erwin Huber den „Willkürakt bei der Rente“ zu geißeln oder mit
einer Unterschriftenaktion Wahlkampf
gegen die Rentenreform zu machen.
Doch auch das Regierungslager steht
nicht gerade in Treue fest zu seinen eigenen Plänen. Nach der Serie von Niederlagen bei Landtagswahlen überlegten
Experten aus Kanzleramt und Arbeitsministerium, wie vom „Handelsblatt“ veröffentlichte Unterlagen enthüllen, den
Abschied vom Inflationsausgleich. Der Vorstoß der Beamten wurde, vorerst, von der
politischen Leitung gestoppt.
„Mit dem Rückzug wäre dem Konsolidierungspaket das Rückgrat gebrochen
worden“, sagt der bündnisgrüne Oswald
Metzger vom Haushaltsausschuss. Denn
die Folgen einer solchen Operation sind
unübersehbar: steigende Rentenbeiträge
und eine höhere Beamtenbesoldung.
Auch wenn Kanzler Schröder Kurs halten will, allein der Eindruck der vergangenen Wochen ist fatal: Der Rentenpolitik
nach Kassenlage könnte jetzt eine nach
Stimmungslage folgen.
Verzweifelt werden nun Schuldige gesucht. „Ich finde es falsch, immer alles vor
der Tür des Kanzlers abzuladen, was andere an Schwierigkeiten und Mist produzieren“, ließ SPD-Vize Rudolf Scharping
wissen. Im Klartext: Schuld ist Riester.
Die neuerliche Panne, die Schröder und
seinen Minister nur eine Woche nach dem
Beschluss zur Rente mit 60 schon wieder
als unsichere Kantonisten dastehen ließ,
ACTION PRESS
die Jugend ihre Rechte ein. So attackiert
Hildegard Müller, die Vorsitzende der Jungen Union, den Rentenkurs der CDU. Die
öffentliche Debatte laufe „nur an den Interessen und Ängsten der Rentnergeneration entlang“. Die Jungpolitikerin stellt
fest: „Immer mehr Pensionäre verlangen
immer mehr.“
Carsten Schneider, 23-jähriger SPD-Abgeordneter aus Erfurt, hält die Idee einer
Rente ab 60 für falsch: „Die Alten sind verunsichert, die Jungen sauer.“ Statt sich mit
Vorruhestandsregelungen abzufinden, würde der jüngste Abgeordnete im Bundestag
lieber über Altersteilzeitmodelle diskutieren. Da blocke das Arbeitsministerium.
„Wir sind enttäuscht“, kritisiert auch
Jörg Tremmel, Sprecher der Stiftung für
monatlich
monatlich
12 800
14,0 %
1960 70
. . . als eine Rente aus
privater Altersvorsorge
Europa gelebt hat“
die Rechte zukünftiger Generationen. Unterstützt vom Sozialrichter Jürgen Borchert, der „Zeit“-Herausgeberin Marion
Gräfin Dönhoff und dem Naturwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker,
wirbt die Stiftung seit ihrer Gründung für
eine behutsame Rentenreform.
Jetzt allerdings ist es mit der Behutsamkeit vorbei. Tremmel und seine etwa 200
Mitglieder bereiten eine Klageschrift vor,
die sie Anfang nächsten Jahres bei mehreren Sozialgerichten einreichen wollen. Ihre
Forderung: Auch Beamte und Selbständige
Alte von morgen: Hohe Beiträge, niedrige Renten
chens macht sich nun die Schröder-Truppe
daran, das System zu reformieren. Und als
hätten sich die Rentenprobleme mit ihrem
Wechsel in die Opposition in Luft aufgelöst, gibt sich neuerdings die CDU als
Schutzmacht der Alten. Nur der sächsische
CDU-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf
möchte nicht von seinen Einsichten lassen:
„Wir müssen ein System einführen, das
über Jahrzehnte verlässlich funktioniert“
(siehe Interview Seite 30).
Die Union folgt ihm nicht. Zu verlockend ist die Aussicht, mit Rentenpopud e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
hat Riester viel Sympathie gekostet. „Das
Maß ist langsam voll“, schimpft ein Vertrauter Schröders.
Weil der Kanzler bis zum Parteitag Anfang Dezember Geschlossenheit herstellen will, scheint Riester sicher. Nach dem
SPD-Konvent wird es turbulent für ihn.
„Wann fliegt er?“, fragte „Bild“ am vergangenen Samstag. Als Nachfolger wird
schon ein anderer Gewerkschafter gehandelt – Chemie-Chef Hubertus Schmoldt.
Markus Dettmer, Alexander Neubacher,
Christian Reiermann
27
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
S. DÖRING / PLUS 49 / VISUM
Wahlsieger Biedenkopf (am 19. September im sächsischen Landtag): „Wir werden immer weniger und immer älter“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Eine kopernikanische Wende“
Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) über den Reformstau der rot-grünen
Bundesregierung, das Rentenchaos und die Vergreisung der Gesellschaft
* Mit Jerry Sanders, Chef des Chipherstellers AMD, bei einer symbolischen Schlüsselübergabe am Mittwoch vergangener Woche
in Dresden.
30
Fehler, genauso gravierend: Die Regierung
hat versäumt, die voraussichtliche Entwicklung der nächsten fünf bis zehn Jahre
vorzuzeichnen. Dabei wäre eine solche
perspektivische Betrachtung ein Leichtes
gewesen. Die Fakten sind doch allen bekannt, sowohl bei der Entwicklung der Bevölkerungszahlen als auch des Arbeitsmarktes.
SPIEGEL: Vielleicht wollen die Leute nicht
unbedingt akademische Ansätze?
Biedenkopf: Deswegen hätte ich versucht,
auf dieser Grundlage mit der deutschen
Bevölkerung in ein Gespräch einzutreten
über das, was wir nun gemeinsam tun müssen, um vor dem Hintergrund dieser mehr
oder weniger unbeeinflussbaren Entwicklungslinien für das Land das Beste herauszuholen. Ich mache das seit 1990
im Mikrokosmos Sachsen. Und es
funktioniert hervorragend.
SPIEGEL: Womit konfrontieren Sie
Ihre Wähler demnächst?
Biedenkopf: An die Jahrtausendwende haben sich die Leute gewöhnt, aber vor uns liegt ein Paradigmenwechsel, das wird eine kopernikanische Wende, jedenfalls für
den abendländischen Teil der Welt.
Die Dramatik ist überhaupt noch
nicht begriffen: Die Weltbevölkerung explodiert, aber der Teil, der
durch die Aufklärung geprägt ist,
der implodiert. Wir werden in Europa immer weniger und immer
älter. Was dieser Prozess für
die nächsten 30 Jahre bedeutet,
wissen wir nicht. Für ein Land wie
Ministerpräsident Biedenkopf*: „Know-how auftanken“
AP
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, kaum ein
Politiker genießt in den Umfragen ein so
hohes Ansehen wie Sie. Machen Sie bessere PR als die Bundesregierung?
Biedenkopf: Die Niederlagen, die die sozialdemokratische Partei in den letzten
Wahlen erleiden musste, sind nicht das Ergebnis einer unzureichenden Vermittlung
der rot-grünen Regierungsarbeit, wie es
immer heißt. Sie sind auch nicht,
was gern behauptet wird, die Folge
des Sparkurses. Sie sind einzig und
allein die Folge des Eindrucks, den
die Regierung Schröder im ersten
Jahr gemacht hat, einen Eindruck
der Ziellosigkeit, Widersprüchlichkeit und Inkompetenz.
SPIEGEL: Ein Kanzler Kurt Biedenkopf hätte alles besser gemacht?
Biedenkopf: Ich bin nicht der Kanzler. Aber man hätte es anders machen können. Der erste Fehler war,
soziale Wohltaten zu verteilen,
ohne genau zu wissen, wie viel
Geld in der Kasse ist. Der zweite
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Kommentar
Der Kohl-König
RUDOLF AUGSTEIN
J
a, es gibt ihn leibhaftig, den Kohlkönig. Jedes Jahr wird dieser Ehrentitel von der Stadt Oldenburg
an den Spitzenpolitiker verliehen, der
am meisten Grünkohl verdrücken
kann. Königspflichten scheinen demnach mit einem hohen Amt nicht immer verbunden zu sein.
Die Krönung des Ex-Kanzlers Helmut Kohl erfolgt nun erst, gewissermaßen posthum. In ganz Deutschland,
und auch im Oldenburger Land, hört
man es raunen: „Das hätte es unter
Kanzler Kohl nicht gegeben!“
„Das hätte es unter Kaiser Wilhelm
nicht gegeben“, steht uns aus Weimarer
Zeiten noch vor Augen: Da spricht die
Sehnsucht nach einem Gestern, das es
gar nicht oder so nicht gegeben hat.
Kohls Popularität steigt in dem
Maße, wie die des neuen Kanzlers
sinkt. Dies ist die wahre Krönung eines
langen politischen Lebensweges. Die
sonst eher negative Fülle seines Gewichts hat sich speziell auf Gerhard
Schröder und seinen Nato-Minister
Joschka Fischer erdrückend niedergeschlagen.
Es waren nicht allein Kohls Taten
oder auch Nicht-Taten, die Gerhard
Schröder und dessen Versprechungen
in einsame Gipfelzonen getragen haben. Da war auch ohne Zweifel eine
gewisse Kohl-Müdigkeit, die Schröders
und Fischers Parteien zu einem „Wahlsieg ohne Wahl“ emporhob.
Den zu hohen Wahlsieg verdankt
Schröder seiner die Wähler blendenden Rhetorik, mit der er gerade
das ins Spiel brachte, wogegen auch
heute noch kein Kohl und kein
Kraut gewachsen ist: die Arbeitslosigkeit.
Man mag das Wählertäuschung nennen, wie sie auch andernorts im
Schwange ist. Aber der Täuschung darf
nicht auf dem Fuße die Enttäuschung
folgen.
Die Besserwisser stehen auf dem
Standpunkt, Kohl hätte seine letzte Legislaturperiode gar nicht erst antreten
dürfen.
Nie wollen sie den Menschen so nehmen, wie er ist. Einen Riesen wie Helmut Kohl, der mit Brachialgewalt gehindert werden muss, einem Eierwerfer
an den Kragen zu gehen, kann man
nicht beeinflussen, wenn er es „noch
32
d e r
einmal wissen“ will. Seine letzte Niederlage steckte er genauso weg, wie
er es noch bei jeder Niederlage getan
hatte.
So kam Schröder zu seinem RotGrün-Bündnis wie die Jungfrau zum
Kind. Bescheiden schmunzelnd hielt
Kohl sich zurück und gibt seinem Triumph keinen Ausdruck.
Nun hat er noch seine Nachfolger
ausgesessen.
Hätten die Grünen ihre Rolle als
Nicht- und Antipartei, die ihnen Stimmen einbrachte, allmählich ändern wollen, so hätte der Joschka Fischer, der er
früher einmal war, Oppositionsführer
werden müssen.
Jetzt ist er ein Machtinhaber, im Ausland beliebt, in der eigenen Partei nur
noch als Zerstörer tätig. Für die deutsche Presse trägt er Jeans und Pullover,
das Ausland verwöhnt er mit Cerruti.
Dem bodenständigen Kanzler Schröder hat er seine Intellektualität voraus,
sie mindert aber seine Glaubwürdigkeit. Was die Grünen bisher zusammengehalten hat, war ein verschwommener Pazifismus, die MillenniumVersöhnungssehnsucht.
Klar ist, die Grünen suchen ihr Profil durch eine angestrengte AtomkraftGegnerschaft zu schärfen, und Schröder kann es sich nicht mehr leisten,
ihnen nur einen halben Schritt entgegenzukommen. Als SPD-Vorsitzender
wirkt er nur noch makaber.
Die Kohl nachgefolgte Bundesregierung ist weder rot noch grün, sondern
ein Konglomerat aus kaum noch unterscheidbaren Absichten. Jeder Minister predigt seine eigene Richtlinie, die
in den mittleren Rängen sofort vertauscht und verkungelt wird.
Wie Schröder diesem Dilemma entrinnen kann, mit Türkenfreund Fischer
und dem Waffenlieferanten Scharping
im Boot, weiß niemand.
Eines können demokratische Regierungen nicht, sie können die Höhe ihres Wahlsieges nicht künstlich verkleinern. Das Konzept hieß diesmal Schröder, der damit rechnete, in einer Großen
Koalition mit der CDU/CSU als eine
Art Präsident tätig zu werden. Wer
Koch und wer Kellner ist, wäre nicht zu
unterscheiden gewesen.
König Kohl schmunzelt und raucht
sein Pfeifchen.
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
S. DÖRING / PLUS 49 / VISUM
IMO
der Tagespolitik entzogen ist.
Deswegen will ich eine steuerfinanzierte Bürgerrente – man
könnte es auch Grundsicherung
nennen, die an das Volkseinkommen gekoppelt ist und über deren
Einführung und Veränderung mit
Zweidrittelmehrheit beschlossen
werden muss. An deren Finanzierung wären alle beteiligt, über
die Lohn-, die Einkommensteuern und indirekten Steuern,
selbständige Unternehmer genauso wie Beamte, Angestellte
und Arbeiter. Dazu wird es auch
kommen.
SPIEGEL: Wann? In zwei Legislaturperioden?
Biedenkopf: Zu spät. Dann wird
passieren, was Riester selbst sagt:
Die Wirklichkeit zerfrisst das System, es werden teure Ad-hocEntscheidungen gefällt, und die
sprengen die Solidarität. Hätten
wir 1985 begonnen, wären wir
über das Gröbste weg.
SPIEGEL: Wird Ihr Rat von Schröder eher angefragt als von HelGesprächspartner Wolfgang Schäuble (CDU), Gregor Gysi (PDS)*: „Nur Illusionen“
mut Kohl?
Deutschland ist es von existenzieller Be- Biedenkopf: Bei diesem dicken Brett sieht Biedenkopf: Wenn ich wirklich um Rat gedeutung, sich damit zu befassen. Aber es man den Bohrer immerhin schon auf der fragt werde, ist das kein Gegenstand der öfgeschieht nicht.
anderen Seite durchstoßen. Neulich habe fentlichen Debatte, auch kein Gegenstand
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?
ich Bundesarbeitsminister Walter Riester der öffentlichen Mitteilung.
Biedenkopf: Es ist zu früh für Rezepte. Aber vorgeschlagen, einfach nur die abseh- SPIEGEL: Aber das Verhältnis zu Gerhard
klar ist, dass wir beispielsweise einen bare Entwicklung der nächsten 30 Jahre Schröder ist entspannter als zu Kohl?
Wettbewerb um die jungen Leute bekom- zu skizzieren und auf dieser Basis ein Biedenkopf: Wie Sie wissen, waren wir acht
men werden. In einem freizügigen Europa Konzept zu entwickeln, das Familien Jahre lang Kollegen als Ministerpräsidenwird der Nachwuchs künftig dorthin nicht diskriminiert und Altersarmut ver- ten. 1996 haben wir gemeinsam ein Pagehen, wo die besten Universitäten, die meidet.
pier zur Flexibilisierung auf dem Arbeitsbeste Ausbildung angeboten werden. Ich SPIEGEL: Und da ist Riester auf die obliga- markt verfasst. Solche Gemeinsamkeiten
kann doch keinen zwingen, in Sachsen torische Vorsorge gekommen, selbst finan- vergisst man nicht. Das hindert mich aber
zu bleiben.
überhaupt nicht daran, inhaltliche Entziert, doch steuervergünstigt.
SPIEGEL: Wie bereiten Sie sich auf diesen Biedenkopf: Aber so wird die Sache immer scheidungen scharf zu kritisieren oder
Wettbewerb vor?
verworrener: Was machen Sie mit Leuten, gutzuheißen – je nachdem, wie das im
Biedenkopf: Wir haben keinerlei Erfahrun- die schon Vermögen haben, was mit Leu- Interesse Sachsens und nach meinen eigen mit einer Jugend, die in der Minderheit ten, die fünf Kinder großgezogen haben – genen Vorstellungen von der Zukunft
ist. In 40 Jahren machen die Menschen un- das geht doch alles nicht. Wir müssen ein Deutschlands geboten ist. Ich kann es gar
ter 20 Jahren noch 15 Prozent der Bevöl- System einführen, das über Jahrzehnte ver- nicht oft genug betonen: Erst das Land,
kerung aus – ob von ihnen dann noch der lässlich funktioniert und dem Hin und Her dann die Partei.
gewohnte Innovationsdruck
SPIEGEL: Das lassen Sie Ihre
ausgeht, ist schwer zu sagen.
Parteifreunde bei der DisDeswegen wollen wir an den
kussion um das Abstimsächsischen Universitäten
mungsverhalten im BundesAufbaustudien für 45-Jährige
rat zu Sparpaket und Renanbieten, die dort Know-how
tenreform gerade wieder
auftanken. Also: Gibt es nicht
spüren. Sprengt der Querdenmehr genug Junge, verjüngen
ker Biedenkopf die Unionswir die Älteren.
reihen?
SPIEGEL: Vor über 20 Jahren
Biedenkopf: Ich bin seit mehr
haben Sie erstmals die steuals 30 Jahren in der CDU. Ich
erfinanzierte Grundrente vorhabe keinen Nachholbedarf in
geschlagen. Quält Sie Ihre
Sachen Parteiloyalität. Nur
Rolle als Prophet nicht?
wenn Loyalität von mir gefordert wird in einer Sache, die
ich nach reiflicher Überlegung
* Oben: mit dem Grünen Joschka Fischer (r.) am Rande einer WDR-Fernfür falsch halte, werde ich das
sehdiskussion am 28. September; unnicht machen.
ten: mit den Redakteuren Andreas WasSPIEGEL: Sie stimmen dem
sermann und Hajo Schumacher in der
Sparpaket zu?
Biedenkopf beim SPIEGEL-Gespräch*: „Erst das Land, dann die Partei“
Dresdner Staatskanzlei.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
33
Deutschland
Biedenkopf: Dem Anliegen durchaus, aber
dem Paket nicht in allen Teilen. Es gibt
noch eine Menge Fragen, über die wir im
Vermittlungsausschuss noch reden müssen,
bevor wir über Zustimmung und Ablehnung entscheiden können.
SPIEGEL: Sehen Sie das Bündnis für Arbeit
als Ort, von dem aus die großen Reformen
angeschoben werden?
Biedenkopf: Wenn es ein wirkliches Bündnis für Arbeit wäre, wie es das in Holland
und Dänemark gegeben hat, sicher. Aber
„In Wirklichkeit bietet
die PDS den alten Handel an:
Sicherheit gegen Freiheit“
wir haben kein Bündnis für Arbeit. Wenn
es ein Bündnis wäre, würden die Partner
sich nicht in regelmäßigen Abständen gegenseitig androhen, dass sie aussteigen,
wenn sie nicht ihren Willen bekommen.
Ein „Fingerhakeln für Arbeit“ kann man
das höchstens nennen, und die Vorstellung
Beteiligter, dass dort Gesetze beschlossen
würden, ist schlicht verfassungswidrig.
SPIEGEL: Wird der Druck von links, der
durch die Erfolge der PDS entstanden ist,
der rot-grünen Regierung Beine machen?
Biedenkopf: Ich glaube nicht, dass die PDSWähler in ihrer Mehrheit der Partei zutrauen, sie könne Zukunftsprobleme bewältigen. In Wirklichkeit bietet die PDS
den alten Handel an: Sicherheit gegen Freiheit.
SPIEGEL: Das scheint bei immer mehr Ostdeutschen anzukommen. Ein Fünftel bis
ein Viertel gaben der PDS bei den Landtagswahlen ihre Stimme. War es ein Trugschluss zu denken, die PDS sei ein vorübergehendes Phänomen?
Biedenkopf: Sicher, wir müssen heute erkennen, dass die PDS ein fester Bestandteil des ostdeutschen Parteiengefüges ist.
Eine Gefahr für die demokratische Entwicklung in den neuen Ländern kann ich
darin allerdings nicht sehen. Die PDS wird
in freien und geheimen Wahlen gewählt,
das ist Ausdruck eines demokratischen
Prozesses. Dass Menschen PDS wählen,
ist ihr gutes Recht. Und wir sollten nicht
vergessen: Wäre Deutschland nicht geteilt
worden, hätten wir wahrscheinlich wie in
Frankreich und Italien seit Jahrzehnten
eine kommunistische Partei in den Parlamenten. Eine Ächtung der PDS ist politisch nicht zielführend, wir müssen uns
mit ihren Inhalten auseinander setzen.
Genau das machen wir in Sachsen schon
seit Jahren.
SPIEGEL: Die SPD will die PDS über Regierungsbeteiligungen entzaubern.
Biedenkopf: Die PDS ist nicht koalitionsfähig. Entzaubern lässt sich die Partei auch
in der inhaltlichen Auseinandersetzung. Ich
will Ihnen ein Beispiel nennen: Der PDSVorsitzende Lothar Bisky ist gefragt worden, wie er sich denn die Finanzierung all
34
dessen vorstelle, was die PDS den Leuten
verspricht. Darauf hat er die Antwort verweigert und so ungefähr gesagt, er dächte
nicht daran, sich auf so eine Debatte einzulassen. Das muss man den PDS-Wählern
klarmachen: Die Partei vermittelt nur Illusionen und hat keine Konzepte.
SPIEGEL: Wann könnte die PDS eine normale Partei sein, die koalitionsfähig ist?
Biedenkopf: Wenn es überhaupt dazu
kommt, wird es lange dauern, und die PDS
wird sich tiefgreifend ändern müssen, quasi sozialdemokratisieren. Während meiner
politischen Laufbahn werde ich das wohl
nicht mehr erleben.
SPIEGEL: Wird es dann auch noch die kleinen Parteien FDP und Grüne geben?
Biedenkopf: Die FDP ist zu einer Partei der
Public Relations geworden. Das hat keinen
Bestand. Dass sie im Osten nicht gewählt
wird, liegt daran, dass sie nichts beitragen
kann. Welcher wirklichen Probleme
bemächtigt sich diese Partei denn auch,
außer der Frage, wie sie sich besser profilieren kann? Wenn es eine Partei der Beliebigkeit gibt, dann ist es die heutige FDP.
Und Generalsekretär Guido Westerwelle
ist ein hervorragender Repräsentant dieser
neuen Richtung.
SPIEGEL: Des Nichts?
Biedenkopf: Na ja, PR ist ja auch etwas.
Aber wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie die traditionsreiche und
„Wenn es eine Partei der
Beliebigkeit gibt,
dann ist es die heutige FDP“
historisch verdienstvolle Partei auf den
Hund gekommen ist, dann hat ihn Wolfgang Joop geliefert.
SPIEGEL: Indem sich der Modeschöpfer der
FDP als Kandidat andiente?
Biedenkopf: Genau, und dass die Liberalen
darüber ernsthaft nachdachten. Das ist die
Wirklichkeit der heutigen FDP, einfach belanglos.
SPIEGEL: Und die Grünen?
Biedenkopf: Das ist kein Vergleich zur FDP.
Die Ernsthaftigkeit der Mitglieder ist viel
größer. Auch die Bindung zur Partei.
SPIEGEL: Also ein möglicher Koalitionspartner für die CDU?
Biedenkopf: Das muss man in jedem Einzelfall genau betrachten. Ein Problem der
Grünen ist, dass sie eine hochgradig individualisierte Mitgliederschaft haben, die in
jedem Problem ein Grundsatzproblem
sieht, also große Schwierigkeiten hat, die
grundsätzlichen Fragen von den politischen
Tagesfragen zu unterscheiden. In Koalitionen aber braucht man Verlässlichkeit. Wie
das mit einer Partei möglich sein soll, die
sich darüber streitet, ob sie einen oder zwei
Vorsitzende haben will, das vermag ich
momentan nicht zu beurteilen.
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
S. SCHULZ / RETRO
„Leopard“-Panzer bei Gefechtsübung: Ein Jahr zum Testen
REGIERUNG
Tanz um den Panzer
Erstmals hat sich Kanzler Gerhard Schröder ausdrücklich über den Willen seines grünen Partners
Joschka Fischer hinweggesetzt. Die Panzerlieferung an die Türkei kann zur rot-grünen
Zerreißprobe werden – zumal eine lange Warteliste problematischer Waffenexporte ansteht.
D
er Verteidigungsminister nahm sich
ordentlich Zeit. Anderthalb Stunden durften am vergangenen Donnerstag ein Dutzend Betriebsräte bei Rudolf Scharping (SPD) und seinem Rüstungsstaatssekretär Walther Stützle in der
Berliner Julius-Leber-Kaserne die Sorgen
der deutschen Waffenfirmen vortragen. Bis
zu 20 000 Arbeitsplätze könne der Sparkurs bei der Bundeswehr kosten, die „Rahmenbedingungen“ für die Industrie seien
denkbar schlecht.
Doch tatsächlich haben die Betriebsräte
aus den Rüstungskonzernen keinen Grund
zur Klage. Ihre Befürchtung, dass unter
Rot-Grün das profitable Exportgeschäft
Schaden nehme, bewahrheitet sich nicht.
Der Bundessicherheitsrat, eine geheime
Runde von Kabinettsmitgliedern unter Vorsitz des Kanzlers, entschied vergangenen
Mittwoch, dass die Türkei einen „Leopard
2A5“-Panzer zu Testzwecken erhält. Wenn
der Nato-Partner Gefallen daran findet,
will er 1000 weitere bestellen. Ein glänzendes Geschäft für die deutsche Rüstungsindustrie – und eine Belastungsprobe
für die Koalition.
Erstmals musste sich Außenminister
Joschka Fischer in einer entscheidenden
36
Die Verkaufskanone
Absatz von „Leopard 2“-Panzern seit 1979
Deutschland
1857
350 werden zum Leo 2A5 aufgerüstet
Schweiz
380
Aufrüstung zum Leo 2A5 nach 2000
Niederlande
331
Aufrüstung zum Leo 2A5
Spanien
327
219 werden in Lizenz gebaut
Schweden
280
120 als aufgerüstete Leo 2 (S)
114
Österreich
Quelle: Jane’s
Frage dem Kanzler fügen. Ausgerechnet
die rot-grüne Regierung legt die Richtlinien
für den Export von Kriegsgerät großzügiger aus als ihre Vorgänger. Unter den Grünen grassieren Angst und Wut über den
Beschluss im Sicherheitsrat. Was ist eigentlich noch grün an dieser Regierung?
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Fischer warnte Schröder eindringlich,
keine neue Front zu eröffnen, er äußerte
Zweifel „dass das zu stemmen ist“. Eine
Mehrheit in der Koalition, sagt Fischer voraus, sei für das Türkei-Geschäft nicht zu erwarten, da es genug Gegenstimmen auch in
der SPD gebe.
Entwicklungshilfeministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul hatte im Bundessicherheitsrat auf jene 100 Millionen Mark Hilfe
verwiesen, die Deutschland jährlich an Ankara überweist. Fischer kritisierte den türkischen Umgang mit den Menschenrechten.
Verteidigungsminister Scharping, vergangenen Mittwoch durch seinen Staatssekretär
vertreten, und Wirtschaftsminister Werner
Müller führten dagegen die Arbeitsplätze
in Rüstungsindustrie und Mittelstand ins
Feld. Müller mochte zudem „kein Problem
erkennen, wenn man ein Gerät zur Erprobung vorübergehend stationiert“.
Doch dann gab die Kanzlerstimme den
Ausschlag.Vergeblich hatte zuvor der SPDFraktionsvize Gernot Erler versucht, Schröder von seinem Plan abzubringen. Er sehe
„große Probleme“, erklärte Erler dem Regierungschef, „wenn du das machst“.
Nur widerwillig ließ sich der Kanzler zu
einem Kompromiss herab: Ursprünglich
Deutschland
Militär baut traditionell auf deutsche Hilfe. Seit 1964 verkaufte die Bundesrepublik
dem Nato-Partner Rüstungsgüter für weit
mehr als sieben Milliarden Mark – von der
Fregatte bis zum „Phantom“-Kampfjet.
Nach der Wiedervereinigung räumte Ankara kostenlos Riesenmengen aus dem Bestand der Nationalen Volksarmee ab: 300
BTR-60 Schützenpanzer, 100 000 Panzerfäuste, 256 000 Kalaschnikows nebst 445
Millionen Schuss Munition.
So steht die nach Zahl der Soldaten
zweitgrößte Nato-Streitmacht überwiegend unter deutschen Waffen. Mehr als die
Hälfte der Artillerie stammt aus deutscher
Produktion, zudem viele leichte Waffen.
Das G3-Sturmgewehr wird ebenso in Lizenz produziert wie die MP 5 aus dem
Hause Heckler & Koch. Immer noch boomt
das Geschäft: Allein 1998 wurden der Rüstungsindustrie Ausfuhrgenehmigungen für
die Türkei in Höhe von 449,2 Millionen
Mark genehmigt.
Zudem hat das Heer seit 1988 bereits 397
Leopard-Panzer der alten Bauart 1A1 und
1A3 in Betrieb. Tausende Panzerfahrer sind
auf den Modellen geschult worden. Dazu
erhielten die Türken Anlagen zur Instandsetzung, so dass sie beim späteren Bau des
Leopard-2A5 auf die Maschinen und das
Know-how zurückgreifen könnten.
In Fischers Außenamt glaubt man nicht
einmal an den langfristigen wirtschaftlichen Nutzen der Rüstungsexporte. Der
massive Wunsch nach deutschen Waffen
und Lizenzen – ursprünglich 3000 Panzer
– dient nach Einschätzung des Außenminis-
teriums eher dem Aufbau einer eigenen
Rüstungsproduktion. Die vielen neuen Arbeitsplätze, die die Industrie verspricht,
seien nicht realistisch.
Sollten die Vertragsverhandlungen wirklich beginnen, werde die Koproduktion und
der Weiterverkauf an die turkmenischen
Nachbarn sich bald schon als das zentrale
Problem herausstellen, so die Analyse des
Außenamtes. Für die unruhige Ex-Provinz
der Sowjetunion gilt jedenfalls nicht die
Ausrede, es handle sich um einen NatoPartner.
Doch auch mit guten Argumenten konnte sich Fischer im Waffen-Konsilium der
Regierung nicht durchsetzen. Für sein
heimlich erhofftes Image als größter Außenminister seit Hans-Dietrich Genscher
ist das nicht gerade förderlich. Der hatte
sich in seinen 18 Jahren als Außenminister
im Bundessicherheitsrat nie überstimmen
lassen: „Weder Helmut Schmidt noch Helmut Kohl hätte das gewagt.“
Zweimal verhinderte Genscher den Export des Leo nach Saudi-Arabien. Kanzler
Schmidt musste eine Zusage zurücknehmen, die er voreilig ohne Wissen seines Vize
abgegeben hatte, seinen Kanzler Kohl warnte Genscher rechtzeitig: „Sei vorsichtig.
Schmidt hat Lehrgeld bezahlen müssen.“
Den Türken verweigerte Genscher die Lieferung von Schützenpanzern. Aber, bedauert er, „die Sensibilität ist abgestumpft“.
Diese böse Ahnung plagt auch Fischers
Parteifreunde. Nunmehr verlangen auch
die Grünen Einstimmigkeit im Sicherheitsgremium für künftige Beschlüsse. „Um eine
ARIS
hatte er dem 1000-Panzer-Deal sofort zustimmen wollen. Nun soll nach etwa einem Jahr Probefahrt die endgültige Entscheidung fallen.
Der Leopard und seine Konkurrenten
aus Frankreich, den USA, Italien und der
Ukraine werden jetzt auf einem für eine
Million Dollar eigens errichteten Testgelände unter verschiedenen Gelände- und
Klimabedingungen ausprobiert. Für die
deutschen Zweifel haben die Türken wenig
Verständnis. „Die anderen bringen sich gegenseitig um, damit sie uns ihren Panzer
verkaufen können“, sagt Yalçin Burçak,
Staatssekretär für die Rüstungsindustrie im
türkischen Verteidigungsministerium.
Wieder einmal zeigt sich, dass Schröder
lieber den Interessen der Wirtschaft als den
Wünschen des Koalitionspartners und auch
Teilen seiner Partei folgt: wie schon bei
seinem Kurs zur Steuer- und Sozialpolitik
und beim Atomausstieg.
„Die Jobs sind das Einzige, was den
Kanzler an dem Thema interessiert“, ärgert
sich ein Spitzenmann der SPD-Bundestagsfraktion: Nach Angaben der Rüstungsindustrie soll das Kriegsgerät 6000 Menschen zehn Jahre lang Arbeit geben.
Im Windschatten der Panzer-Entscheidung – und ohne lästige Nebengeräusche –
genehmigte der Sicherheitsrat gleich noch
die Lieferung von sechs Minensuchbooten
im Wert von 1,15 Milliarden Mark an die
Türkei. Arbeitsplätze sichert das im Schröder-Land Niedersachsen und in Bremen.
Über Lieferungen an Ankara wird es
wohl noch öfter Streit geben. Das türkische
Koalitionspartner Fischer, Scharping, Schröder: Die Kanzlerstimme gab den Ausschlag
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
37
Deutschland
„Grundsätze achten“
Umweltminister Jürgen Trittin über die Koalitionskrise
wegen des Panzerexports in die Türkei
SPIEGEL: Herr Trittin, das Ver-
M. URBAN
bot von Rüstungsexporten ist
ein urgrüner Wunsch. Wie wollen Sie Ihren Parteifreunden
den geplanten Panzer-Deal mit
der Türkei denn nun plausibel
machen?
Trittin: Das lässt sich gar nicht
plausibel erklären. Das Problem
liegt in der Abstimmung im
Bundessicherheitsrat. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass
bei Rüstungsentscheidungen
die Menschenrechtsfrage zu
berücksichtigen ist. Und es ist
vereinbart, dass in Fragen von
grundsätzlicher Bedeutung die
beiden Partner sich nicht gegenseitig überstimmen.
SPIEGEL: Im Bundessicherheitsrat aber wurde der grüne
Außenminister Joschka Fischer Minister Trittin
überstimmt. Ein Verstoß gegen „An Menschenrechten orientieren“
die Grundsätze?
Trittin: Die Vereinbarung ist eindeutig. SPIEGEL: Bislang hat der BundessicherDie Einhaltung der Menschenrechte heitsrat lediglich den Export eines
bei Rüstungsexporten ist ein Fall von Probe-Leo-2 genehmigt. Gleichwohl
grundsätzlicher Bedeutung.
eine Vorentscheidung, denn die Türkei
SPIEGEL: Was können die Grünen jetzt möchte ja 1000 Panzer kaufen?
noch unternehmen?
Trittin: Wenn Sie einen Vorführwagen
Trittin: Am Montag dieser Woche wer- fahren, sind Sie nicht verpflichtet, das
den wir das Thema in der Koalitions- Gerät abzunehmen. Umgekehrt gilt alrunde beim Kanzler auf die Tagesord- lerdings: Wer einen Wagen zur Probenung setzen, sowohl dem Inhalt als fahrt anbietet, will ihn auch verkaufen.
Im Falle der Panzer aber kann erst verauch der Form nach.
SPIEGEL: Der Kanzler argumentiert, kauft werden, wenn die Frage der Mendass dem Nato-Partner Türkei nicht schenrechte geklärt ist.
einfach Waffen verweigert werden SPIEGEL: Dass die Menschenrechte in
könnten. Die Türkei sei schließlich so- der Türkei verletzt werden, ist auch
gar Beitrittskandidat für die Europäi- dem jüngsten Lagebericht des Auswärsche Union.
tigen Amtes zu entnehmen. Rechnen
Trittin: Nur unter einer Bedingung, und Sie in absehbarer Zeit mit Besserung?
darüber herrscht Konsens in Europa, Trittin: Ich erwarte, dass die Türkei auf
kann die Türkei der EU beitreten: dem Weg nach Europa die BedingunSie muss künftig die Menschenrechte gen erfüllt, die innerhalb der EU gelten.
achten, insbesondere den Krieg gegen Das gilt nicht nur für den Krieg gegen
die eigene Bevölkerung in Kurdistan die Kurden, sondern zum Beispiel auch
für die Haftbedingungen in den Gebeenden.
SPIEGEL: Die Türkei gehört jetzt schon fängnissen. Dort wird immer noch gefoltert. Die Türkei muss rechtsstaatliche
der Nato an.
Trittin: Auch die Nato ist nach ihren Grundsätze achten.
Statuten den Menschenrechten ver- SPIEGEL: Wird das 1000-Panzer-Projekt
pflichtet. Man kann nicht in Anspruch am Ende nicht genehmigt?
nehmen, zur Wahrung der Menschen- Trittin: Wir gehen davon aus, dass die
rechte im Kosovo Krieg zu führen, Außen- und Sicherheitspolitik der Bunund Menschenrechtsverletzungen in desrepublik sich am Prinzip der Wahder Türkei mit Panzerlieferungen be- rung der Menschenrechte orientiert.
lohnen.
Interview: Paul Lersch
38
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
K. MÜLLER
schleichende Erosion zu verhindern“, sei
die Partei „kategorisch gegen solche Geschäfte“, erklärt Renate Künast, aussichtsreiche Kandidatin für eine neue GrünenFührung. Wer Krieg um die Menschenrechte führe, sagt sie an die Adresse des Außenministers, müsse „diesen Werten auch an
anderer Stelle Vorrang einräumen“.
Dazu ist hinreichend Gelegenheit. Denn
demnächst hat der Bundessicherheitsrat
noch über diverse Wünsche der Türkei und
anderer Staaten zu entscheiden.
π Die Türkei wünscht 200 „Fuchs“-Transportpanzer und dazu die Lizenz für 1800
Exemplare, 145 „Tiger“-Helikopter sowie
Granatwerfer, Gewehre und Munition.
π Saudi-Arabien hat das Interesse am Leo
nicht aufgegeben. Ex-Außenminister
Klaus Kinkel hatte es im vergangenen
Jahr abgelehnt, „eine Entscheidung von
solcher Tragweite“ noch kurz vor der
Bundestagswahl zu treffen.
π 30 ausgemusterte Alpha-Jets hat das Verteidigungsministerium den Vereinigten
Arabischen Emiraten und 25 den Thailändern angeboten.
Für die Koalitionsrunde an diesem Montag hat der kleine Partner eine verschärfte
Fassung der Exportrichtlinien vorbereitet.
Zudem soll die parlamentarische Kontrolle sichergestellt werden, damit die Mauscheleien aufhören. Der Kanzler werde
„nie erleben“, hofft die grüne Verteidigungsexpertin Angelika Beer zuversichtlich „dass die Panzer rollen“.
Die Grünen wollen dem Koalitionspartner erstmals richtig Paroli bieten. Die Parteispitze will gegen die Panzerlieferungen
„gesellschaftliche Gruppen und Instanzen
mobilisieren“. „Jetzt“, kündigt ein Vertrauter von Fischer an, „beginnt der Tanz.“
Bundeswehreinsatz im Kosovo
Kampf um Menschenrechte
Das Kanzleramt aber setzt weiterhin
großes Vertrauen in die Anpassungsfähigkeit des Außenministers: „Fischer hat
seine Klientel“, so ein Spitzenbeamter.
„Aber“, fügt er bissig hinzu, „manche wollen eben gern überstimmt werden.“
Horand Knaup, Paul Lersch,
Georg Mascolo
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
PROFESSOREN
Und noch
’ne Akte
Kurz nach dem Start kommt der
Uni Erfurt ihr Gründungsrektor abhanden. Peter Glotz geht
nach St. Gallen – entnervt
von der thüringischen Bürokratie.
FOTOS: H. HAUSWALD / OSTKREUZ
D
a stand er mit goldener Amtskette
und zufriedenem Lächeln, blickte
auf die versammelten jungen Menschen im Festsaal, und die schauten erwartungsvoll zu ihrem Rektor hin. Von der
„beschleunigten Welt“ und der „digitalen
Gesellschaft“ sprach Peter Glotz, von „Risikobereitschaft“ und „Experimentierlust“.
Er bat seine Studenten, „beweglich“ und
„flexibel“ zu sein und ihre Forderungen
an „uns, die Professoren“, zu stellen: „Verlangen Sie den persönlichen Kontakt.“
Das war am 13. Oktober, bei der Immatrikulationsfeier für die ersten 244 Studenten der Universität. Jetzt ist schon wieder alles anders – der Rektor geht. Beweglich und flexibel, beschleunigt und experimentierlustig verabschiedet sich der Sozialdemokrat Glotz, 60, von dem, was er
eben erst als „Labor für Neuentwicklungen
im Hochschulwesen“ gegründet hat. Zum
1. Januar 2000 wechselt er ins schweizerische St. Gallen, um dort einen Lehrstuhl
für Medien und Gesellschaft zu besetzen.
Von einer „kalten Dusche“ ist in der
Univerwaltung die Rede, und unter Studenten herrscht die Wut. Das böse Wort
von „Thüringens Lafontaine“ macht die
Runde; am vorigen Donnerstag wurde
Glotz von seinen angehenden Akademikern mit Vorwürfen überhäuft. Kostprobe:
„Sie haben gesagt, wir würden weggehen
wie warme Semmeln. Jetzt gehen Sie, und
wir sind noch nicht einmal gebacken.“
Für die Studenten ist er ein Fahnenflüchtiger, ein Westler mehr, der dem Osten
den Rücken kehrt, so bald er kann (siehe
Rektor Glotz*: „Wie ein HB-Männchen“
auch Seite 60). Aber warum jetzt, so plötzlich und so schnell? Weil im Wissenschaftsministerium seit der Landtagswahl nicht
mehr der SPD-Mann Gerd Schuchardt sitzt,
sondern die parteilose Dagmar Schipanski,
deren Ernennung Glotz mit auffälligem
Mangel an Enthusiasmus begrüßt hat?
Für Schipanski ist Erfurt eine Reformuniversität unter vielen im Osten, die sich in
einen „gut bestehenden Reigen einordnen“
soll. Mehrfach schon hat sie, die ehemalige
Rektorin der TU Ilmenau, bedauert, dass
beim Thema Aufbruch im Thüringer Hochschulwesen immer wieder nur von Erfurt
die Rede ist, „weil ihr Rektor Glotz aus dem
Westen kommt und sich ständig vorstellt“.
Glotz war mehr Unterstützung gewohnt
– der alte und neue Ministerpräsident
Bernhard Vogel gab Erfurt so viel Freiraum
wie keiner Uni zuvor, und finanziell, so
sagt Glotz, hatte er mit Vogel und Schuchardt „durchaus zufrieden stellende
Übereinkommen getroffen“. Das kann anders werden mit Schipanski, auch wenn sie
Erfurt weiterhin „jegliche Unterstützung“
verspricht. Doch die Gründe für den Abgang des
Erfurter Rektors sind älter
als die Landtagswahl. Der
arbeitswütige Glotz, ein
Mensch mit 80-StundenWoche, ist nicht kompatibel mit der ostdeutschen
Bürokratie.
Immer schon klagte
Glotz, dass die deutschen
Universitäten zu sehr am
Gängelband der Ministerien gehalten wurden. Aber
* Bei der Immatrikulationsfeier am
13. Oktober.
Uni Erfurt: „Angst vor Entscheidungen“
40
Thüringen findet er noch schlimmer als jede andere Verwaltung,
die er kennt: Seinen Weg aus
München (Konrektor) über Bonn
(Bildungsstaatssekretär) und Berlin (Wissenschaftssenator) nach
Erfurt (Rektor) hat er diesbezüglich als „kontinuierlichen
Abstieg“ erlebt.
Glotz orientiert sich an Amerika, will eine Elite-Uni, die sich
irgendwann mit Harvard messen
kann, und erlebt „bei jeder BAT1a-Einstellung einen Aufwand,
den man einem Harvard-Professor überhaupt nicht vermitteln
kann“. Eine „Angst vor Entscheidungen“ sah er in Erfurt,
„da denkt man, die Sache ist erledigt, und dann kommt einer
mit der dritten Akte daher“.
„Wie ein HB-Männchen“ sei
er zuweilen in die Luft gegangen, sagt der Noch-Rektor, und
das ist nicht als Selbstkritik gemeint. Glotz, so formuliert es
vorsichtig Martina Heppt (SPD),
die Schuchardts Wissenschaftsstaatssekretärin war, sei „ein sehr zupackender
Typ, der wenig Verständnis hatte, wenn andere weniger zupackend waren als er“.
Etliche Male, so berichtet Glotz, habe
er seine Probleme direkt über den Ministerpräsidenten geregelt. Wenn ein Referatsleiter oder Sachbearbeiter die Sache
schwierig machte, habe Vogel gesagt,
„dann sagen Sie es mir“ – was auf die Dauer keine Lösung war und Glotzens Beliebtheit in der Bürokratie nicht eben gesteigert hat. „Erfurt“, meint einer aus der
Verwaltung, „war ein Irrweg für Glotz. Das
hat er wohl verstanden.“
Seit diesem Frühjahr führte St. Gallen
Gespräche mit Glotz über eine ständige
Gastprofessur; seit dem Ende des Sommersemesters, sagt der St. Galler Rektor
Peter Gomez, stand die Sache „so gut wie
fest“. St. Gallen lockt den Erfurter, dort
gibt es „mehr Praxisbezug“ – und weniger
Staat. Der USA-Freund Glotz, der für Studiengebühren plädiert und „Bildungsprodukte“ anbieten will und gelegentlich davon träumt, dass deutsche Unis an die Börse gehen, schätzt die starke Orientierung
an der Wirtschaft, die St. Gallen betreibt.
Das Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement, an dem Glotz seinen
Lehrstuhl übernehmen wird, ist eine Einrichtung nach seinem Geschmack: Die Forschung dort, das ist typisch für die St. Galler Institute, wird fast ausschließlich aus
Drittmitteln bestritten. Die Heinz-NixdorfStiftung zahlt, ebenso die von Bertelsmann, zu der er seit längerem gute Kontakte pflegt. Für einen Nachdiplom-Studiengang in Kommunikationsmanagement
schließlich, den Glotz aufbauen soll, werden Gebühren verlangt – in amerikanischer
Höhe.
Barbara Supp
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
AT O M K R A F T
Hochgradig versprödet
Ist das Atomkraftwerk Obrigheim ein Schwarzbau?
Weil der älteste Reaktor Deutschlands anders gebaut wurde als
genehmigt, droht nun die Stilllegung per Gerichtsbeschluss.
Ü
dem Nachbarort Mosbach, sei stillzulegen,
weil es völlig anders gebaut wurde, als
es genehmigt worden war. Folglich werde
die Anlage seit 31 Jahren „illegal“ betrieben und sei erheblich unsicherer als zulässig.
Der Vorwurf klingt nur scheinbar absurd. Tatsächlich können die Kläger ihre
Behauptung anhand von zahlreichen Behördenakten und Zeugenaussagen belegen. So hielt etwa der damals zuständige
Aufsichtsbeamte des Stuttgarter Umweltministeriums, Walter Friedrich, im Juni
P. GLASER
ber 70 Milliarden Kilowattstunden
hat die Anlage erzeugt. Ein halbes
Dutzend Prozesse wurden um
ihren Betrieb geführt. Weit über 100 Gutachter und Aufsichtsbeamte haben um die
Sicherheit der Stromfabrik gestritten. Für
Wolfgang Frey, Geschäftsführer des Kernkraftwerks Obrigheim (KWO) am Neckar,
ist all das eine große „Erfolgsgeschichte“.
Gleichwohl müssen Frey und seine 350
Mitarbeiter sich vielleicht schon bald neue
Jobs suchen, weil ihr Reaktor vom Netz gehen muss. Doch das schnelle Aus für den
Schon beim Bau des Reaktordruckbehälters für Deutschlands erstes kommerzielles Atomkraftwerk vor 33 Jahren
hatten es die Betreiber nicht so genau genommen. Der gewaltige, fast zehn Meter
hohe Kessel musste extremen Anforderungen genügen. 40 Jahre lang sollte er
dem unter hohem Druck stehenden, 345
Grad heißen Kühlwasser standhalten sowie der aggressiven Neutronenstrahlung
aus dem Spaltprozess in den Uranbrennstäben widerstehen. Die Konstruktion basierte auf einer Lizenz des US-Konzerns
Westinghouse und sollte darum auch dem
amerikanischen Regelwerk entsprechen.
Demnach hätte die Behälterwand aus Spezialstahl 19 Zentimeter stark sein müssen.
Doch die Konstrukteure des Kraftwerkbauers Siemens beschlossen eine folgenschwere Änderung: Statt der im öffentlichen Genehmigungsverfahren angegebenen 240 Megawatt elektrische Leistung
ließen sich genauso gut 100 Megawatt mehr
aus der Maschine herausholen, wenn nur
der Urankern etwas erweitert wurde.
Dazu musste der Innenraum des Druckbehälters
jedoch vergrößert werden.
Die Ingenieure bauten einfach um über drei Zentimeter dünnere Außenwände als vom US-Reglement
vorgeschrieben.
Diese Änderungen, urteilte später Kontrollingenieur Friedrich, „bedeuten
eine Auslegung nach konventionellem Spannungsniveau“. Im Klartext: Der
Obrigheimer Druckbehälter ist nicht stabiler als
der Dampfkessel in einem
gewöhnlichen Kohlekraftwerk.
Die waghalsige Umkonstruktion hätte eigentlich
ein neues öffentliches Genehmigungsverfahren erfordert. Doch bis zur
Erteilung der abschließenden
Errichtungsgenehmigung bekamen die
Aufsichtsbeamten die neuen Konstruktionsunterlagen überhaupt nicht mehr
zu sehen.
Zwar behaupten die Anwälte der Landesregierung, die erteilte Genehmigung
verweise auf Zeichnungen mit den richtigen Angaben. Aber dagegen steht die Aussage des wichtigsten Zeugen: Der Aufsichtsbeamte Joseph Günther, der die Genehmigung mitunterzeichnete, erklärte,
dass er 1967 „eine andere Anlage genehmigt hat“, als er später zu prüfen hatte.
Erst als der Reaktor 1968 in Betrieb ging,
segneten die Behörden quasi nebenher die
neue Anlage mit einer Genehmigung zum
Probebetrieb ab. Einmal vom geraden Ge-
Kernkraftwerk Obrigheim: Folgenschwere Änderung
ältesten noch betriebenen Atommeiler in
Deutschland droht nicht aus Berlin, wo die
rot-grüne Bundesregierung bislang erfolglos um den Ausstieg aus der Atomkraft
ringt. Die Zukunft des Altreaktors wird im
nahen Mannheim entschieden.
Dort verhandeln die Richter des 10. Senats am baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof ab Dienstag dieser
Woche über eine Klage, die in der Geschichte der deutschen Nuklearindustrie
einzigartig ist: Das Atomkraftwerk Obrigheim, so verlangt eine Klägergruppe aus
44
1992 in einem Vermerk fest, dass im
Obrigheimer Kraftwerk
π „sicherheitstechnisch entscheidende
Stellen anders errichtet wurden als von
den Genehmigungsbehörden freigegeben“;
π „Änderungen an sicherheitstechnischen
wichtigen Komponenten ohne Absprache mit den amtlich beigezogenen Sachverständigen vorgenommen“ wurden;
π „Grenzwerte teilweise weit überschritten“ sowie „Mindestanforderungen
nicht eingehalten“ werden.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Der Druckbehälter
könnte springen wie ein
Gefäß aus Porzellan
listete akribisch für Vetters Nachfolger Harald Schäfer (SPD) die Sicherheitsmängel
der „belastungsmäßig ausgereizten Altanlage“ auf. Mehrfach warnte er, dass die
schwach konstruierte und mangelhaft verschweißte Wand des Druckbehälters durch
den Neutronenbeschuss mutmaßlich hochgradig versprödet sei.
Schon nach acht Betriebsjahren war der
Kessel so verstrahlt, wie er es eigentlich
erst nach der gesamten Laufzeit hätte sein
sollen. Wenn wegen eines Lecks im Kühlkreislauf frisches Wasser eingeleitet wird
und die Temperatur schlagartig sinkt, könnte der Druckbehälter springen wie ein Porzellangefäß, der GAU wäre nicht mehr aufzuhalten.
Auch drei eigens bestellte Gutachter des
TÜV, der Bundesanstalt für Materialprüfung und des Öko-Instituts mochten dem
Altreaktor zunächst nicht die notwendige
„Sprödbruchsicherheit“ bescheinigen. Nur
zwei vom KWO-Management beauftragte
Institute brachten das gewünschte Ergebnis. Minister Schäfer erhob deren Bericht
kurzerhand zur Amtsmeinung – ein nach
Ansicht des Klägeranwalts Peter Becker
„extrem fragwürdiges“ Verfahren, mit dem
„Parteigutachten“ zur amtlichen Expertise
umgedeutet wurden.
Die Kläger rechnen sich auch deswegen
gute Chancen vor dem Mannheimer Ver-
im Probebetrieb lief, setzten klagende Anwohner vor dem Mannheimer Gerichtshof
nach drei Jahren schließlich die Stilllegung
des Reaktors durch.
Doch dem damaligen CDU-Umweltminister Erwin Vetter gelang es, die Richter
des Berliner Bundesverwaltungsgerichts
glauben zu machen, die fehlende Genehmigung sei nur eine Schlamperei der Verwaltung. Darum hoben die Bundesrichter
das Mannheimer Urteil auf und verfügten,
der fehlende Rechtsakt könne bei laufendem Betrieb nachgeholt werden. Die
Obrigheimer Reaktorfahrer
starteten die Anlage wieder.
Ebendieses Urteil vom Juni
1991 könnte nun allerdings zum
endgültigen Abschalten führen.
Denn die Berliner Richter hatten rein formal argumentiert,
dass die ursprüngliche Errichtungsgenehmigung auch
beinhalte, die Anlage könne
sicher betrieben werden. Das
Urteil fußte aber ausdrücklich
auf der Annahme, die Konstruktion sei „genehmigungskonform“ erfolgt.
Dass diese Voraussetzung
niemals zutraf, drang erst an
die Öffentlichkeit, als der Stuttgarter Landtag nach einem
SPIEGEL-Bericht über die Sicherheitsbedenken der Aufseher 1994 einen Untersuchungs- Aufseher Friedrich: „Ausgereizte Altanlage“
ausschuss einsetzte. Dort kam
unter anderem heraus, dass die kritischen waltungsgericht aus. Doch selbst wenn
Aufsichtsbeamten behördenintern diskre- die Stilllegung per Urteil nicht gelingt,
kann sich das KWO seines Sieges keinesditiert worden waren.
Der zuständige Referatsleiter Joseph wegs sicher sein.
Einer der damaligen Gutachter, Lothar
Günther hatte sich darum in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lassen, weil die Hahn vom Öko-Institut, würde gern „die
„wirtschaftlichen Belange des Betreibers Prüfung noch einmal aufrollen“. Und das
ein zu starkes Gewicht gegenüber den kann der Physiker jetzt sogar von Amts
sicherheitstechnischen Erfordernissen er- wegen machen: Vor sechs Monaten erhalten“ hätten. Sein Mitarbeiter Klaus nannte Bundesumweltminister Jürgen TritSchwabe ließ sich aus Gewissensgründen tin ihn zum Vorsitzenden der Reaktorsicherheitskommission des Bundes. Hahn:
versetzen.
Nur der ausgewiesene Kerntechnik- „Wir brauchen nur einen Auftrag des MiFachmann Friedrich blieb hartnäckig und nisteriums.“
Harald Schumann
48
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
T. KLINK
nehmigungsweg abgekommen, rutschten
die KWO-Manager immer tiefer in den
atomrechtlichen Sumpf. Denn die Aufsichtsbeamten des damaligen Sozial- und
späteren Umweltministeriums verweigerten fortan die Erteilung einer endgültigen
Betriebsgenehmigung, um die Betreiber zu
zwingen, die fehlenden Sicherheitsnachweise doch noch zu erbringen.
Das blieb zwar 20 Jahre lang erfolglos,
wurde aber für die Nuklear-Hasardeure
des KWO zur juristischen Falle. Als 1987
durchsickerte, dass die Anlage noch immer
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Airbus-Transportflieger A400M (Computergrafik): Glanzlicht für die deutsch-französische Freundschaft
RÜSTUNG
Alarm in der Lobby
Für ein neues Transportflugzeug liegen der Regierung
zwei Offerten vor. Aber Verteidigungsminister Rudolf Scharping
hat keine Wahl: Er muss den teureren Airbus nehmen.
S
* Am vorvergangenen Mittwoch in Berlin bei der
Begutachtung von Transall-Maschinen.
52
SPD-Mann die weltweiten Ambitionen des
Kollegen nicht: Scharping möchte 75 neue
Transporter kaufen, weiß aber nicht, wie er
die 13 Milliarden Mark dafür aufbringen
soll. In seinem Dauerstreit um den Wehretat ist er froh um jeden, der Beistand gegen Kanzler und Finanzminister leisten
könnte.
Seit Januar liegen dem Verteidigungsminister zwei Angebote für einen neuen
Luft-Laster vor: eines von Airbus, das andere von einem deutsch-russisch-ukrainischen Konsortium. Das Flugzeug aus dem
Osten mit dem Kürzel An-7X ist zwar deutlich preiswerter – aber die freie Auswahl
hat Scharping nicht. Er muss Rücksicht
nehmen auf Arbeitsplätze, auf sperrige EUPartner wie Frankreich, auf die Interessen
heimischer Firmen.
AP
echs Tage dauerte die Zitterpartie in
den klapprigen Transall-Transportern.
35 Stunden reine Flugzeit, dazu Tankund Reparaturstopps in Zypern, Oman, Indien, Singapur und Bali.
Rund 14000 Kilometer von Rendsburg in
Schleswig-Holstein nach Darwin in Nordaustralien zum Uno-Einsatz für Osttimor:
An Ziele so fern der Heimat hatten
Deutschland und Frankreich nicht gedacht,
als sie vor 40 Jahren gemeinsam die zweimotorige Transall entwickelten. Die Nato
brauchte damals „Kampfzonentransporter“ für kurze Strecken.
Mittlerweile sind die Flieger reparaturanfällige Alu-Altertümer. Seit Jahren
herrscht Mangel an Ersatzteilen. Fernflüge
geraten zum Abenteuer. Die Luftwaffe
ist schon froh, wenn einmal mehr als 30
ihrer 84 Transporter tatsächlich startklar sind.
In vielen humanitären Aktionen
haben sich die Transportflieger bewährt – bei Hungersnöten in Afrika
wie bei Hilfsflügen ins belagerte Sarajevo. Vom Einsatz in Südostasien
hatten die Militärs dem Verteidigungsminister aber wegen des großen
Aufwands abgeraten.
Doch trotz der hohen Kosten von
sechs Millionen Mark pro Monat gab
Rudolf Scharping dem Drängen von
Außenminister Joschka Fischer nach.
Denn ganz ungelegen kommen dem
Durch die Fusion der deutschen DaimlerChrysler Aerospace (Dasa) mit dem
französischen Konzern Aérospatiale Matra entsteht zusätzlicher Druck – zu Gunsten der teuren Airbus-Variante, die der
neue Superkonzern im Angebot hat.
Die Überlegungen für eine TransallNachfolge reichen schon in das Jahr 1982
zurück. Aber Schwung bekam das Projekt
erst im Golfkrieg 1991. Die Bundeswehr
wollte „Patriot“-Abwehrraketen nach Israel und „Roland“-Systeme in die Türkei
schaffen. Das Kriegsgerät war für die Transall zu sperrig. Die Deutschen mussten
Großflugzeuge chartern – ausgerechnet
von den Russen, den vormaligen Gegnern
im gerade beendeten Kalten Krieg.
Das war der Bonner Regierung damals
ziemlich peinlich. Aber CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe fand kein Geld,
um die auf acht Milliarden Mark veranschlagte Entwicklung eines neuen Fliegers
zu finanzieren.
Zudem einigten sich die Luftwaffenchefs aus sechs europäischen Ländern und
der Türkei erst 1993 auf gemeinsame Anforderungen an einen neuen Groß-Transporter. Das viermotorige „Future Large
Aircraft“ (FLA) sollte mehr Fracht schleppen (25 statt 16 Tonnen), schneller (750 statt
495 Stundenkilometer) und weiter
(4350 statt 1850 Kilometer) fliegen.
Der Rüstungsindustrie winkte ein
dickes Geschäft: Die Westeuropäer
wollten zusammen 288 Exemplare für
insgesamt knapp 30 Milliarden Mark
kaufen. Der Profit aus dem Milliardendeal, hoffte die Rüstungslobby,
ließe sich durch Exporte in die Dritte Welt noch mehren.
Überraschend kam plötzlich Konkurrenz aus dem Osten. Russland und
die Ukraine wollten die Deutschen
und ihre Partner am Bau des Transporters An-70 beteiligen. Die Maschine ähnelte dem FLA, der erste
An-70-Prototyp flog schon 1994. Solche Zusammenarbeit könne „Zeichen
Minister Scharping*: Beschränkte Auswahl
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
fahr, die Militär-Entwicklung könne technische Impulse geben für zivile Projekte
wie den Super-Jumbo Airbus A3XX.
Ohne den Transporter drohe dem alten
Plan Gefahr, den europäischen Luft- und
Raumfahrtkonzern nach der Dasa/Aérospatiale-Fusion weiter auszubauen. Nur
so könne er den mächtigen Amerikanern
Paroli bieten. Außerdem gehe die Chance
verloren, endlich, wie in Amerika seit Jahrzehnten üblich, „Quersubventionen“ aus
dem Wehretat in den zivilen Flugzeugbau zu
schieben.
Auch die Politik macht Druck. Die französische Regierung droht, Scharpings Lieblingsprojekt scheitern zu lassen: ein europäisches Lufttransportkommando.
Der deutsche Verteidigungsminister
möchte durch effizienteren Einsatz eu-
M. GLOGER / JOKER
für eine neue Zeit“ setzen, schwärmte
Rühe. Die SPD-Opposition zollte ihm ausnahmsweise Beifall, als er 1997 die „Apothekerpreise“ der Dasa rügte und die
skeptischen Kollegen aus Frankreich und
Großbritannien überredete, das Angebot
prüfen zu lassen. Noch im März 1998,
bei einem Troika-Gipfel in Moskau, versprachen Helmut Kohl, Boris Jelzin und
Präsident Jacques Chirac, die Kooperation
voranzutreiben.
Airbus und Dasa lehnten indes ab, als
Generalunternehmer in einem Projekt mit
Ost-Firmen zu fungieren, die sie flugs als
unzuverlässig abstempelten. Das eigene
FLA verhieß mehr Gewinn. Im vorigen Januar legte die neu gegründete Airbus Military Company (AMC) ein förmliches Angebot für den Militär-Airbus mit dem Kür-
Airbus-Konkurrent An-70: Stänkern gegen den Ost-Flieger
zel A400M vor. Ein neu formiertes „Airtruck“-Konsortium renommierter deutscher
Luftfahrtfirmen wie Aircraft Services Lemwerder und BMW-Rolls-Royce hielt die auf
West-Standard umgerüstete An-7X dagegen.
Die Bonner Rüstungsabteilung gab im
Juli ein klares Urteil ab: Die An-7X erfülle
den Bedarf der Luftwaffe und sei mit rund
100 Millionen Mark pro Flugzeug rund 30
Prozent billiger als die Konkurrenz.
Seither herrscht bei der Airbus-Lobby
Großalarm. Die anfangs belächelte An-7X
wurde zum ernsthaften Rivalen. Vor allem
die Franzosen stänkern gegen den OstFlieger.
Hilfstruppen finden sich im Berliner
Wirtschaftsministerium, das die Risiken einer Zusammenarbeit mit den maroden
Staatswirtschaften im Osten bewerten soll.
Die zuständigen Beamten halfen schon vor
Jahren den Airbus-Projekten mit Subventionen und Bürgschaften auf die Sprünge.
Jetzt schätzen sie die Lage der östlichen
Firmen natürlich düster ein.
Viele Argumente sind aus der Auseinandersetzung um den Eurofighter geläufig: Tausende Arbeitsplätze seien in Ge54
d e r
ropäischer Transporter Kosten senken und
die Wehretats aller entlasten, da insgesamt
weniger Flugzeuge angeschafft werden
müssten. Bisher stieß er fast überall auf
Wohlwollen. Doch als „Grundlage“ komme aus Pariser Sicht nur ein „gemeinsames
Flugzeug“ in Frage: der teure Militär-Airbus, der – noch immer – nur auf dem
Reißbrett existiert. Für die veranschlagten
13 Milliarden Mark bekäme die Luftwaffe
dann nur um die 50 statt 75 Transall-Nachfolger.
Nächsten Monat findet wieder ein
deutsch-französischer Gipfel statt. Da wird
Scharping, so Prognosen aus der Regierung, wohl die billigere An-7X opfern.
Kanzler Gerhard Schröder und sein grüner Außenminister könnten so nach der
deutsch-französischen Firmenfusion der
vernachlässigten deutsch-französischen
Freundschaft ein weiteres Glanzlicht aufsetzen. Zur Belohnung ließe Paris dann
beim Europa-Gipfel im Dezember erste
Schritte in Richtung Transportkommando
zu – und Schröder verspricht dem klammen Scharping ein bisschen Extra-Geld für
den Militär-Airbus.
Alexander Szandar
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
ten auf den verschwundenen
Festplatten sind für Wirtschaftsspione von unschätzbarem Wert. Für Diebe in
staatlichem Auftrag spreche
schon allein, so ein Experte, „der Staubsaugereffekt, Rechner gleich im Dutzend bei Mitarbeitern eines
Unternehmens abzugreifen“.
Für die Beratungsfirmen
sind die Diebstähle außergewöhnlich heikel. Ihre Mitarbeiter – Juristen, Wirtschaftsund Finanzexperten – prüfen
und testieren die Bilanzen der
Kunden, beraten das Management oder stehen beim Kauf
und Verkauf von Unternehmen Pate. Für ihre Tätigkeit
benötigen die Spitzenberater Daten, die zu den
intimsten eines jeden UnterPC-Verschlüsselungskarte: Diebe in staatlichem Auftrag
nehmens gehören.
Verlockend für Geheimdienstler. Seit
S P I O NAG E
Ende des Kalten Krieges bildet Industriespionage einen Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Spitzeltätigkeit. Auch befreundete westliche Dienste – Amerikaner,
Briten, Franzosen – finden nach Erkenntnissen von Bundesnachrichtendienst und
Verfassungsschutz nichts dabei, die deutsche Wirtschaft auszuspähen.
Bei deutschen WirtschaftsIm Beraterkodex steht Verschwiegenheit
beratungsunternehmen
zwar ganz obenan. Aber mit der Sicherheit
geht der Computerklau um.
im Computer gespeicherter Daten geht die
Branche offenbar nicht anders um als anInsider verdächtigen
dere auch – äußerst nachlässig.
Geheimdienste als Täter.
Nur wenige Firmen verwenden Steckm ICE von Frankfurt nach Hamburg karten zur Datenverschlüsselung für die
hatte die Wirtschaftsprüferin ein trau- Laptops der Mitarbeiter, so genannte Krypmatisches Erlebnis. Als sie von der Toi- tocards. Nur mit deren Hilfe kann der so
lette kam, war ihr Laptop weg. In dem gesicherte Computer in Betrieb genomComputer hatte die Frau wichtige Daten men werden.
Die Daten auf den gestohlenen Comund Details einer geplanten Unternehputern waren nicht gesichert. Wer immensfusion gespeichert.
Zwei Berufskollegen ereilte dasselbe mer die Hardware hat, hat auch die
Missgeschick in London. Sie ließen ihre Software.
Ohnehin könnten nur wenige, sehr hochkostbaren elektronischen Begleiter wähwertige Verschlüsselungsverfahren Comrend einer Lunchpause unbeaufsichtigt.
Das Problem ist großen Wirtschaftsbe- puterdaten vor dem Zugriff staatlicher
ratungsfirmen in Deutschland inzwischen Schnüffler schützen. Jedem Nachrichtengeläufig: Laptops verschwinden aus dienst stehen professionelle Codebrecher
Büroräumen und Hotelzimmern, bei Ein- und Batterien von Hochleistungsrechnern
brüchen in Wohnungen oder Pkw. Zumeist zur Dechiffrierung zur Verfügung.
„Computerdiebstähle sollten Unternehwird der komplette Rechner, manchmal
aber auch nur die Festplatte gestohlen, der men, die mit so sensiblen Daten umgehen,
Datenträger jedes Computers. Insgesamt einen Schock versetzen“, warnt ein deutkamen in der Branche bislang mehr als 130 scher Geheimdienstler. Es sei unverständlich, dass sich Beraterfirmen nicht profesLaptops abhanden.
Dass es sich um eine zufällige Häufung sionell betreuen lassen, um sich vor mögvon Diebstählen handelt, schließen die Be- licher Ausspähung zu schützen.
Doch bei den Betroffenen mangelt es –
troffenen ebenso aus wie die Vermutung, es
könnte sich bei den Dieben um Junkies noch – an entsprechendem Bewusstsein.
handeln, die Geld für den nächsten Schuss Die Idee, sein Unternehmen könne
womöglich durch Dienste ausgeforscht
brauchen.
Der Verdacht richtet sich gegen ganz an- werden, „sei ihm so nie gekommen“, bedere Täter: Insider glauben, dass Geheim- kannte ein Firmenchef, als er von den
dienste dahinter stecken könnten. Die Da- Diebstählen erfuhr.
Ulrich Jaeger
Schwund bei
der Hardware
I
56
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Wohnstandort Ost (Dresden): „Ich fühle mich behandelt wie ein Besatzer in einem fremden Land“
DPA
EINHEIT
„Geht doch wieder rüber!“
Zehn Jahre nach der Wende ist die Kluft zwischen Ost und West eher größer denn kleiner. Die
deutschen Nachbarn haben sich kennen gelernt und sind sich noch fremder geworden.
Viele Westdeutsche, die in den Osten zogen, haben ihn fürchten gelernt – und flüchten zurück.
E
ines Morgens im Spätsommer hatten
die Glatzen von Blankenfelde ihre
Botschaft in Leuchtfarben auf die roh
verputzte Wand direkt beim Spielplatz gesprüht: „Scheiß-Wessi-Kinder“.
Die Parole galt den Kindern der Klassenfeinde – den aus dem anderen Teil
Deutschlands zugezogenen Nachbarn.
Dann wurden die Wessi-Kinder bedroht
und geschlagen. Die Polizei versuchte es
mit Platzverboten für die einheimischen
Kahlgeschorenen – ohne Wirkung.
Seitdem wappnen sich die West-Kinder
im Neubaugebiet von Blankenfelde (Werbeslogan: „Natur, Wohnen, Lebensqualität“) mit Trillerpfeifen für den rauen OstAlltag. So können sie, wenn sie draußen
spielen, jederzeit rasch Hilfe herbeirufen.
Zehn Jahre nach der Wende eskaliert im
Osten Abneigung und Gewalt nicht allein
gegen Ausländer. Gefährlich fremd sind
selbst die anderen Deutschen. Permanentes Antiwestlertum und nostalgisch gepflegte DDR-Mentalität lässt viele, die
einst euphorisch ins Neuland aufbrachen,
inzwischen resignieren.
60
Rund zwei Millionen Ostler
sind seit 1990 nach Westdeutschland gezogen – etwa eine Million
Bevölkerungswanderung zwischen den neuen
in die Gegenrichtung (siehe Graund den alten Bundesländern
fik). Allein 200 000 Berliner ginVon Ost- nach
Von West- nach
gen seit der Wende ins Umland,
Westdeutschland
Ostdeutschland
in „Gartenstädte“, „Wohnparks“
oder die „Waldesruh“-Siedlung.
1990
36 217
395 343
Man hoffte auf gute Nachbarschaft anstelle anonymen Groß1991
80 267
249 743
stadtlebens.
„Die ersten kehren bereits wie1992
111 345
199 170
der zurück“, stellt das Berliner
Fachblatt „Mietermagazin“ in sei1993
119 100
172 386
ner jüngsten Ausgabe fest, „ge1994
135 774 frustet von abweisenden Dorfbe163 034
wohnern und autoritären DDR1995
143 083 Pädagogen, die sie ihren Kindern
168 336
nicht zumuten wollen.“ Die Alt1996
151 973 eingesessenen fühlten sich dage166 007
gen „überrollt von arroganten
1997
157 348 Wessis, die sich in ihren Reihen167 789
haus-Siedlungen abschotten und
1998
151 750 Waldorfschulen gründen wollen“.
182 478
Quelle:
Die neue deutsche FluchtbeweStatistisches
Bundesamt gung hat vor allem Familien mit
Den Osten entdeckt
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
M. TRIPPEL / OSTKREUZ
M. TRIPPEL / OSTKREUZ
loge und HIV-Forscher. Nach
nur einem Jahr geht er mit
zwei Kollegen der medizinischen Fakultät der Universität
zurück in den Westen: „Da ich
jahrelang in Afrika unter besonderen Umständen gearbeitet hatte, glaubte ich damals,
dass es nicht so schwierig werden würde. Aber man hat uns
zu viele Knüppel in den Weg
geworfen.“
Mit ihrem progressiv ausgerichteten Engagement und effizientem Handeln – so sein
Eindruck – seien sie bei der
Seilschaft der alten Verwaltung und deren NostalgieNetzwerk immer wieder auf- Werbefachmann von der Ahé
gelaufen. Gürtler: „Die alten
Chefs sind weg, die zweite und
dritte Reihe hat überlebt. Sie
machen so weiter wie früher.
Ehe man durchblickt, wer da
wo mit wem verbunden ist, ist
man auch schon gestolpert.“
Die Stadt erlebte der Mediziner nicht viel anders.
„Greifswald ist ohne Seele.
Zwar wurde alles renoviert,
aber es gibt kaum öffentliches,
gesellschaftliches Leben, wenig Flair.“ Die Ostalgie hemme jede Entwicklung, „das
Beharren auf rückwärts gewandte Besonderheit blockiert
die Menschen, die Wirtschaft,
Familie Tzschentke
die Forschung“.
Brieselang, weit draußen
vor den Toren Berlins, ist eine
Kleinstadt ohne jegliches Zentrum, eine Häuseransammlung
im märkischen Sand. Hier hatte die West-Berlinerin Marianne Tzschentke, 47, vor
sechs Jahren ein Haus im Grünen gefunden und sich, um
nicht als Wessi unangenehm
aufzufallen, den neuen Nachbarn „mit Kleidung und Frisur derart angepasst, dass ein
ebenfalls zugezogener Friseur
aus dem Westen mich für die
erste Ostlerin hielt, mit der er
gut reden konnte“.
Mit den Einheimischen
habe sie gesprochen, „aber wir Psychologe Brähler
sind uns fremd geblieben“. Westdeutsche Umsiedler: „Kollektive Aversionen“
Immer hätten Klagen der Ostdeutschen, dass ihnen das Leben heute gar dem Schulweg von der Direktorin angenicht gefalle, die Gespräche bestimmt. Und herrscht wurde: „Dafür kriegst du von deiihr Sohn Dominique sei – obwohl er sich ner Mutter den Arsch voll.“ Der Junge
die Haare kurz schneiden ließ und Jog- konterte: „So was macht meine Mutter
ging-Anzüge wie seine Ost-Mitschüler trug aber nie.“ Am nächsten Morgen musste er
– als „verwöhnte Wessi-Sau“ beschimpft „zur Belehrung“ vor die versammelte Klasworden.
se treten und sich in Büßermanier den FraEndgültig genervt war die einstige West- gen der Schüler und der Lehrerin stellen.
Berliner Kinderladen-Mutter, als ihr Sohn
Ein anderer West-Schüler bekam im
Dennis nach einem Verkehrsvergehen auf Kunstunterricht eine Fünf, weil er mit MalS. DÖRING / PLUS 49 / VISUM
Kindern erfasst, die es leid sind, dass ihre
Sprösslinge in der Schule als „West-Arsch“
begrüßt oder schon mal von der Lehrerin
im Unterricht gefragt werden: „Was sagt
denn unser Ausländer dazu?“
Zurück in den guten alten Westen wollen auch solche, die lange Zeit frohen Mutes waren, dass eines Tages – so wie es Politiker gern in Festreden beschwören – zusammenwächst, was zusammengehört. Oft
ist ihr Lebenstraum im Osten zum Trauma
geworden.
In den Berliner Kliniken im TheodorWenzel-Werk sind stationäre Therapien für
geflohene Westler längst keine Seltenheit
mehr. „Wir haben Patienten, die nach ihrer Rückkehr aus dem Osten total verzweifelt sind“, berichten Klinik-Angestellte. „Sie kommen nicht zurecht mit dem
Ausmaß an Ablehnung und Aggression, das
ihnen entgegengeschlagen ist.“
Selbst Wissenschaftler, die das Phänomen von Berufs wegen analysieren, tun
sich mit der deutsch-deutschen Realität
schwer. Als im Oktober eine Arbeitsgruppe beim Deutschen Psychologentag die Ergebnisse ihrer jüngsten Ost-West-Vergleichsstudien vortrug (Fazit: Die Ostler
finden sich selbst toll, die Wessis dagegen
mies), bat Elmar Brähler am Rande seines
Vortrags, eine private Anmerkung machen
zu dürfen. Der Professor für medizinische
Psychologie, der 1991 von Gießen nach
Leipzig gegangen war, bekannte, ihm gehe
es „im Osten zur Zeit überhaupt nicht gut.
Ich fühle mich behandelt wie ein Besatzer
in einem fremden Land“.
Vor allem das Berliner Umland, so das
„Mietermagazin“, sei Schauplatz eines
Ost-West-Kulturkampfes geworden – mit
„Symptomen eines Kleinkriegs“. Da wird
schon mal von Unbekannten zur Kennzeichnung der ungeliebten Nachbarn der
Schriftzug „Wessi“ aufs Haus gesprüht
oder ins Auto gekratzt. Jugendliche pöbeln
Autofahrer an, „weil die aus dem Westen
unsere Straßen benutzen“. Es gibt über
Nacht zertrampelte Blumenbeete, zerstochene Reifen, Farbbeutel an frisch gestrichenen Neubauwänden.
„Die Konflikte gehen über die üblichen
Stadt-Land-Animositäten, wie wir sie auch
in Hamburg und München erleben, weit
hinaus“, stellte der Soziologe Ulf Matthiesen vom „Institut für Regionalentwicklung
und Strukturplanung“ nach fast zweijähriger Beobachtung des Zusammenlebens in
verschiedenen Gemeinden fest. Hier träfen
„völlig unterschiedliche Mentalitäten und
kulturelle Prägungen aufeinander“.
In Brandenburg herrsche ein „Summton der Unzufriedenheit“. Das Land sei
mit „einer selbstzerstörerisch-fundamentalistischen Betonung des Eigenen“ in eine
„Negativ-Spirale perspektivloser Abschottungsversuche“ geraten.
„Ich hatte einen Riesen-Enthusiasmus,
als ich 1998 nach Greifswald kam“, erinnert
sich Professor Lutz Gürtler, 57, Mikrobio-
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
61
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
M. TRIPPEL / OSTKREUZ
schablonen nicht fein und säuberlich gear„Bis zuletzt wurde der Westen schlecht Universität. Seiner Ansicht nach ist die
beitet hatte, sondern – wie er es gewohnt gemacht in der DDR. Das einfache Raster „mentale Masse von 16 Millionen, die 1990
war – mit Phantasie und Kreativität. Als die hat sich erhalten“, sagt der Ingolstädter an die Bundesrepublik angedockt hat“, als
Mutter sich über die schlechte Note be- Claus Detjen, 63. Er lebte sieben Jahre in Problem unterschätzt worden.
Viele Wessis aus der bundesrepublikaschwerte, antwortete die Kunstlehrerin: Frankfurt (Oder), war dort Herausgeber
nischen Großstadtkultur seien in einen
„Wir sind hier doch nicht bei Picasso.“
der „Märkischen Oderzeitung“.
Da dauerte es nicht lange, und MarianIn seinem Buch „Die anderen Deut- „Staat der kleinen Leute“ gezogen „und
ne Tzschentke roch wieder, wenn ihre Söh- schen“ macht Detjen „vor allem Wessis treffen mancherorts auf dieselbe Mine aus der Schule kamen, die DDR-Desin- ohne DDR-Kenntnis“ für die Konflikte ver- schung wie in der Bundesrepublik der
fektionsmittel, die sich in Haaren und antwortlich*. Noch heute gebe es an Main fünfziger und sechziger Jahre: miefig,
Kleidung festgesetzt hatten. Das hatte und Rhein „Wahrnehmungsverweigerun- eng, konservativ und in der Jugendkulsie schon beinahe verdrängt. Als Marianne gen, als ob der Osten Deutschlands jen- tur sogar gewalttätig“. Er selbst will nun
im Osten bleiben, um „Politik und die
Tzschentke dann auch noch mitbekam, seits des Urals liege“.
dass ihr Engagement in einer BürgerinitiaIn Lühsdorf, einem malerischen Rund- Kultur des Umgangs miteinander zu vertive von den Einheimischen „nur lächerlich dorf zwischen Stoppelfeldern und Kie- ändern“.
Sind das alles nur „westdeutsche Blicke
gefunden wurde“, beschloss die Familie fernwäldchen im Kreis Potsdam-Mitteldie Rückkehr nach Wilmersdorf.
mark, gibt es 79 Alteingesessene und 5 zu- auf ostdeutsche Fratzen“? Die Frage stellt
Zum Abschied sagte der Brieselanger gezogene West-Berliner, darunter einen das (Ost-)Berliner Szeneblatt „telegraph“
Amtsleiter zur Westfamilie: „Wir hätten Professor, der aus Liebhaberei und als in seiner jüngsten Ausgabe. Themenschwerpunkt: „Westdeutsche
euch schon eingebürgert!“
Ressentiments, der Ossi in
„Ja, wann denn?“, fragte die
der ethnologischen DebatBerlinerin zurück, „nach 15,
te“. Die Autoren – Wende20 oder 30 Jahren? Oder erst
aktivisten und DDR-Gesellin der nächsten Generation,
schaftsverbesserer – sind es
im nächsten Leben?“
leid, wie sich Wessis über
Eine Familie aus Westden einstigen Osten und
Berlin, die 1992 nach Kleinseine Bewohner lustig mamachnow südlich von Berlin
chen wie etwa im Kinofilm
zog, machte ähnliche Erfah„Sonnenallee“ oder in mittrungen. Gerald Endres sieht
lerweile einem Dutzend
in den „unterschiedlichen
Büchern wie „It’s a Zoni –
Konfliktstrategien“ das größdie Ossis als Belastung
te Verständigungsproblem.
und Belästigung“ (SPIEGEL
Während Westler den Aus40/1999).
tausch von Argumenten geImmerhin wird eingewohnt seien, höre man von
räumt, dass die DDR ein
Ostlern stets: „Lass uns nicht
gewaltiger „Integrationsbrostreiten, wir wollen doch
cken“ ist. Heute noch haben
dasselbe.“ Und dann werde Neubaugebiet bei Blankenfelde: Wagenburgen aus Reihenhäusern
die Ostdeutschen wie früher
„hinterrücks intrigiert und
der Westler rennt gegen eine Wand, ohne „kleinen Beitrag zur Wiedervereinigung“ hohe Erwartungen an den Staat, ohne etzu wissen warum“.
die Dorfkirche renovieren ließ – vom ei- was von ihm zu halten. So ist die innere
Distanz zum Schröder-Land und zur
Auch bei Endres entzündete sich der genen Geld.
Streit vor allem am Schulalltag. Die FamiAls den Professor eine neu gebaute Dat- Honecker-Republik gleich – und damit
lie blieb zwar in Kleinmachnow wohnen, sche in der Nähe störte, rief er die Bau- auch zu jedem, der die Westgesellschaft
schickte aber die Kinder in eine West-Ber- aufsicht. Das Dorf solidarisierte sich gegen tatsächlich oder vermeintlich repräsentiert.
Paradoxerweise, so die Autoren, lasse
liner Schule.
den vermeintlichen Gönner. „Die ZugezoSolche Probleme tauchen seltener auf, genen haben mit ihrem Grundstück kein das bessere Kennenlernen die Kluft zwiwenn die Westler im Osten eine Art Wa- Recht auf Idylle gekauft“, sagt Dorfbür- schen Ost und West nur weiterwachsen.
genburg bauen wie etwa im brandenbur- germeister Gerd Uhl. Der Professor stopp- DDR-Übersiedler im Westen würden sich
gischen Stahnsdorf. Dort kommen im Neu- te daraufhin die Renovierung der Kirche. individuell dem Westen anpassen. In den
baugebiet „Grashüpferviertel“ von 100
Traut sich ein hinzugezogener Westler, neuen Bundesländern dagegen hätten sich
„Neubürgern“ rund 90 aus dem Westen. sich über die Verwahrlosung seiner neuen die Ostler „kulturelle und soziale SelbstDie Kinder werden hier in Extra-Klassen Heimat oder über einen stundenlang lau- verständnisse der Gruppe bewahrt“. Und
unterrichtet.
fenden Diesel-Lkw zu beklagen, kommt das sei „ein Grund für die Verärgerung der
Doch die West-Ghettos in Ostdeutsch- schon mal die Antwort: „Wenn’s Ihnen hier Westdeutschen“.
Wortführer Ost des neuen Diskurses ist
land lösen nicht die Probleme, vertagen nicht passt, können Sie ja wieder rüberder Berliner Kultursoziologe Wolfgang
sie nur. So entstehen ganze Ortschaften, gehen.“ Ostdeutscher Herbst 1999.
die von einer virtuellen Mauer geteilt wer„Die meisten Wessis funktionieren hier Engler. Er bestätigt eine bittere Erfahrung
den. In Stahnsdorf trennen eine Straße nur, wenn sie Ossis werden, nicht wenn sie der Westler, die resignierten: „Die größeund ein Lärmschutzwall die Deutschen – Wessis bleiben“, resümiert Karl-Rainer von re Vertrautheit mit der Art des jeweils anim kaum sanierten Ortskern leben die Alt- der Ahé, 46, seine Ost-Erfahrung. Er zog deren führt nicht zur Einebnung, sondern
eingesessenen, im Neubaugebiet mit den 1992 nach Vorpommern, betreibt eine Wer- zur Vertiefung der Spannungen, zu wechmodernen Eigenheimen residieren die Zu- beagentur und war Dozent für Geistes- selseitigen kollektiven Aversionen.“
Das Szeneblatt hat denn auch düstere
gezogenen. Da verkörpert dann jeder Ein- und Designgeschichte an der Greifswalder
Prognosen zum deutsch-deutschen Nachzelne für den anderen das jeweils andere
System – nicht konkrete Menschen be- * Claus Detjen: „Die anderen Deutschen. Wie der Osten barschaftsduell anzubieten: „Was wir jetzt
gegnen sich, sondern Stellvertreter zwei- die Republik verändert“. Bouvier Verlag, Bonn; 151 Sei- erleben, ist erst der Anfang.“
er Weltbilder.
Peter Wensierski
ten; 32 Mark.
64
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
BUNDESWEHR
Offen für alle
Ein Urteil des Europäischen
Gerichtshofs könnte
Frauen bald den Dienst an der
Waffe ermöglichen.
68
A. GRIESCH / AGENTUR ANNE HAMANN
D
Sanitäterinnen bei der Grundausbildung*: Absurde Widersprüche
29. Commando Regiment der Königlichen
Artillerie in Plymouth. Als ihre Stelle eingespart werden sollte, bekam sie das Angebot, zur Marineinfanterie zu wechseln,
einer Art schnelle Eingreiftruppe.
Sirdar wäre dem gern gefolgt – wenn
nicht die Marine das Angebot plötzlich zu
einem Versehen erklärt und zurückgezogen
hätte. Nach einem internen Bericht war es
„neue Einstellungspolitik“ der Marineinfanterie, keine Frauen zu beschäftigen, in
welcher Funktion auch immer. Begründung: Marineinfanteristen müssten „allseitig verwendbar“ sein – und Frauen
wären das nicht.
W. SCHMIDT / NOVUM
ie Auskunft, die das Kreiswehrersatzamt Hannover der Anruferin
erteilte, war die übliche: Natürlich
könne sie als „weiblicher Soldat“ zur Bundeswehr kommen – aber nur im Sanitätsoder Militärmusikdienst. Eine militärische
Laufbahn als Elektrotechnikerin, wie sie
es wünsche, sei ausgeschlossen.
Unüblich war die Reaktion der Anruferin. Tanja Kreil, damals 19 Jahre alt, kurz
vor Abschluss ihrer Ausbildung zur Energieanlagenelektronikerin und auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, bewarb sich
Ende 1996 trotzdem bei der Bundeswehr:
für eine Stelle zur Instandsetzung von Waffenelektronik. Zwei Wochen später erhielt
sie die Absage schriftlich.
„Ich fühlte mich nicht für voll genommen“, sagt Tanja Kreil. „Es hat an meinem
Ego gekratzt, dass die gesagt haben: ‚Wenn
Sie ein Mann wären, dann wäre das möglich.‘“ Sie entschloss sich, die Sache durchzufechten, und reichte am 11. Dezember
1996 gegen die Ablehnung Klage ein beim
Verwaltungsgericht Hannover.
Das Grundgesetz verbietet, dass Frauen
„Dienst mit der Waffe“ leisten. Darunter
fallen nach deutscher Rechtsprechung nicht
nur Aufgaben mit Kampfauftrag: Auch „unterstützende Tätigkeiten“, die in „unmittelbarem Zusammenhang“ mit dem Einsatz von Kriegswaffen stehen, sind für
weibliche Soldaten tabu.
Vielleicht nicht mehr lange. Inzwischen
haben die Verwaltungsgerichte den Fall
Tanja Kreil dem Europäischen Gerichtshof
in Luxemburg vorgelegt. Die höchsten
Richter der Europäischen Union könnten
die Bundeswehr zwingen, Frauen als Freiwillige in allen Truppenteilen aufzunehmen – als Panzergrenadiere, Kampfpiloten
oder eben Elektrotechniker.
Das Urteil im Fall Kreil kommt wohl Anfang nächsten Jahres – doch schon in dieser Woche wird die Linie der Entscheidung
bestimmt: Am Dienstag stellt der zuständige europäische Generalanwalt seinen
Schlussantrag – ein Votum, dem der Gerichtshof in der ganz überwiegenden Zahl
der Fälle folgt. Und in derselben Sitzung
verkünden die Richter ein anderes Urteil,
das richtungweisend sein wird für Tanja
Kreil und die Bundeswehr.
In diesem zweiten Verfahren klagt die
Engländerin Angela Maria Sirdar gegen die
britische Krone, weil auch ihr ein gleichberechtigter Zugang zu den Streitkräften
verwehrt wurde. Sirdar war Köchin beim
Sirdar wurde entlassen – und klagte.Wie
Tanja Kreil beruft sie sich auf die EU-Richtlinie zur „Gleichbehandlung von Mann und
Frau“: Sie verbietet „bei den Bedingungen
des Zugangs zu den Beschäftigungen oder
Arbeitsplätzen“ eine „Diskriminierung auf
Grund des Geschlechts“.
Die britische Regierung hält dagegen,
dass die EU-Richtlinie eine Ungleichbehandlung dann erlaubt, wenn das Geschlecht eine „unabdingbare Voraussetzung“ für die Tätigkeit darstellt. Ob sich
damit auch die deutsche Praxis rechtfertigen lässt, ist schon deswegen zweifelhaft, weil anderswo Soldatinnen nicht in
dieser Weise gegen ihren Willen vor den
Fährnissen des Kriegsdienstes geschützt
werden.
So nehmen fast alle anderen Nato-Staaten Frauen als Freiwillige zumindest in Einheiten auf, die Kampftruppen unterstützen. In Belgien, Dänemark, Spanien, Norwegen, den Niederlanden, den USA und
Kanada sind auch die meisten Kampfeinheiten für Frauen geöffnet – nur Kommandotruppen und U-Boote sind zum Teil
frauenfreie Zone. Auch in Großbritannien
stellt die Marineinfanterie eine Ausnahme
dar, und in Italien soll der rigorose FrauenAusschluss gerade gekippt werden.
Der Deutsche Bundeswehrverband, die
Interessenvertretung der männlichen und
weiblichen Soldaten, hat nur auf jemanden wie Tanja Kreil gewartet, um auch in
Deutschland das Waffenverbot für Frauen
zu Fall zu bringen. Der Verband berät
die abgelehnte Bewerberin deshalb bei
ihrem Verfahren und bezahlt ihren Anwalt
Jochen Rothardt. „Das Interesse von Frauen an der Bundeswehr ist sehr groß“, sagt
Klägerin Kreil
„Am Ego gekratzt“
d e r
s p i e g e l
* Im August in Feldkirchen bei Straubing.
4 3 / 1 9 9 9
Jürgen Meinberg vom Bundeswehrverband, „wenn sie dürften, würden viele
gern in die Logistik oder Elektronik gehen, zum fliegenden Personal oder Panzer
fahren.“
Selbst Frauen im Sanitätsdienst leiden
unter ihrer Sonderstellung: „Viele weibliche Unteroffiziere würden gern länger als
vier Jahre dienen und hätten für die dazu
notwendige Beförderung zum Feldwebel
auch die Qualifikation“, stellt Oberstleutnant Fritz Mumm vom „Gemischten Lazarettregiment 12“ in Feldkirchen bei
Straubing fest. „Weil das der Stellenkegel
im Sanitätsdienst aber nicht erlaubt, müssen häufig auch qualifizierte Frauen ausscheiden.“ Die Männer dagegen können
in andere Einheiten ausweichen.
Die Regeln für Soldatinnen führen zu
absurden Widersprüchen. Denn der Dienst
mit der Waffe ist zwar für weibliche Soldaten verboten – nicht aber für zivile Angestellte. So kommt es, dass eine Frau wie
Melanie Meier, 24, beim „Lufttransportgeschwader 62“ in Wunstorf als zivile Elektrotechnikerin arbeitet – mit der gleichen
Funktion und Weisungsbefugnis wie ein
Feldwebel. Wenn sie Soldat wäre und damit eine militärische Grundausbildung hätte, dürfte sie das aber nicht.
Andererseits werden Sanitäterinnen
auch in der Bundeswehr an Gewehr und
Pistole ausgebildet – im Ernstfall müssen
sie sogar selbst schießen, um sich, ihre
Patienten oder ihr Sanitätsmaterial gegen
Angriffe zu verteidigen. Angehende Ärztinnen lernen in der Offiziersausbildung,
ein Sanitätsbataillon zu führen. Dazu
gehören nicht nur bewaffnete Sanitäter,
sondern auch Panzer mit aufmontiertem
Geschütz.
Um die deutschen Sonderregeln doch
noch zu retten, brachten die Vertreter der
Bundesregierung in Luxemburg vor, für
Fragen der Verteidigung sei europäisches
Recht gar nicht maßgebend. Doch der
Generalanwalt Antonio La Pergola, der
für beide Fälle, Kreil und Sirdar, zuständig ist, hat bereits darauf hingewiesen,
dass die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie allgemein anwendbar ist. Und
der Europäische Gerichtshof hat diese allgemeinen Regeln stets auch auf Rechtsbereiche angewandt, die wie die Verteidigung in nationaler Zuständigkeit verblieben sind.
Dabei heißt Gleichbehandlung nicht,
dass alle weiblichen Soldaten auch überall
einzusetzen sind – die Bundeswehr müsste
sie aber nach ihrer individuellen Leistung
bewerten, wie die Männer, und nicht pauschal nach ihrem Geschlecht.
„Der flächendeckende und undifferenzierte Ausschluss von Frauen aus der Bundeswehr wird nicht zu halten sein“, sagt
Kreil-Anwalt Rothardt. „Die Bundeswehr
wird sich für Frauen öffnen müssen wie
die Armeen der anderen europäischen
Staaten auch.“
Dietmar Hipp
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
FOTOS: K. MÜLLER
Deutschland
Straßenkinder in der Mülheimer „Zinkhütte“, Schlafplatz: „Bloß kein hoch pädagogisches Gequatsche“
JUGENDLICHE
Letzte Chance
Mit ungewöhnlichen Angeboten versuchen
Sozialarbeiter, Straßenkindern zu helfen. Modellversuche
sollen neue Wege für die Jugendhilfe aufzeigen.
I
rgendwo haben sich die meisten von
ihnen schon mal gesehen. Auf den
Bahnhofsvorplätzen der RuhrgebietsMetropolen. In U-Bahn-Schächten und
unter Brücken. Oder in einem dieser
Heime für Ausreißer, Streuner, Straßenkinder.
Ausgehalten haben sie es nirgendwo lange. Haben geklaut, Drogen genommen,
Therapien abgebrochen. „Die vom Jugendamt haben von mir längst die Schnauze
voll“, meint Marijke, 16, die
zwei Jahre lang Heroin spritzte. Und der schmächtige Beamtensohn Steffen, 17, der auf
seiner Odyssee durch die Jugendhilfe-Häuser in diesem
Jahr schon zwölfmal umgezogen ist, sagt: „Das hier ist meine letzte Chance.“
Er meint die „Zinkhütte“ in
Mülheim an der Ruhr, einen
neuen und höchst ungewöhnlichen Zufluchtsort für Kinder
und Jugendliche, die von
anderen längst abgeschrieben
wurden. Acht Kids schlafen
unter dem Dach eines alten Industriebaus in Müllcontainern,
einem zerlegten Auto oder
zwischen hunderten von Bierkästen – fast wie auf der
„Zinkhütte“-Einrichtung
Inszeniertes Chaos
72
Straße. Und die meisten, hofft Initiator
Günther Stolz, Sozialpädagoge und Architekt, werden nicht gleich wieder
davonlaufen.
Das vier Monate junge Mülheimer Experiment, finanziert von mehreren Jugendämtern und betreut vom Oberhausener Jugendzentrum GTI, ist kein Einzelfall. An
zahlreichen Orten der Republik testen Sozialarbeiter derzeit neue Wege der Jugendhilfe. Die Kundschaft: obdachlose, oft
kriminelle Kinder und Jugendliche, bei denen die traditionellen Methoden der Betreuer scheiterten. Rund 6000 davon sollen
sich derzeit auf deutschen Straßen durchschlagen.
„Dein Scheißleben wollen wir nicht verändern“, raunzt Stolz neue ZinkhüttenKids an, „daran haben sich ja schon andere
die Zähne ausgebissen.“ Das inszenierte
Chaos in dem ehemaligen Firmengebäude, die halb geklebten Tapeten, der Gullydeckel als Tischersatz – für ihn sind das
keine spinnerten Ideen, sondern Signale
an die Jugendlichen: „Wir akzeptieren,
dass ihr anders seid.“
Ziel sei es, die Kids „dort abzuholen,
wo sie herkommen“. Und beiläufig mit ihnen ins Gespräch zu kommen: „Bloß kein
hoch pädagogisches Gequatsche, dann sind
die sofort wieder weg.“ Wer hier wohnen
will, muss nur drei Spielregeln befolgen:
keine Gewalt, kein Drogenkonsum im
Haus, und bis 24 Uhr soll jeder von der
Straße zurück sein.
Das ist für die meisten schon eine Menge. Steffen, der auf seiner Matratze im Vorderteil eines zerschnittenen VW Passat
hockt, zerschlug bei Wutausbrüchen schon
zweimal Fensterscheiben im Haus. Einmal
trafen die Scherben seine Betreuerin vom
Jugendamt. „Von der kann ich jetzt auch
nicht mehr viel erwarten“, sagt er.
Auf seine Mutter („Die arbeitet bei der
Stadt und findet, ich sei eine Schande für
die Familie“) zählt der schmale Junge mit
der ovalen Brille ebenso wenig, auf den
Stiefvater erst recht nicht. Doch Steffen
hat die Wochen in der Zinkhütte genutzt,
um nachzudenken. Er will seinen Realschulabschluss nachholen. Er will endlich
vom Kiffen loskommen – „elfter Versuch“.
Und am Küchentisch diskutiert er mit Marijke, welche Ausbildung zu ihm passen
würde. „Mach was mit Computern“, sagt
die, „das ist die Zukunft.“
Experten wie der Soziologe Peter Hansbauer („Kinder und Jugendliche auf der
Straße: Analysen, Strategien, Lösungsansätze“) begrüßen zwar, dass es mit der
Mülheimer Zinkhütte für Kids eine neue
Alternative zum Leben auf der Straße gibt.
Doch entscheidend sei, dass solche „szenenahen Einrichtungen“ mit anderen, weiterführenden Angeboten vernetzt würden,
die den Streunern dann so viel Reintegration wie möglich abverlangen.
Darauf zielt das Modellprojekt „Ambulante Intensive Begleitung“ des Bundesjugendministeriums, das sich an niederländischen Vorbildern orientiert. Die 20
Projektmitarbeiter in Dortmund, Nürnberg, Magdeburg, Leipzig und im Landkreis Harburg verstehen sich kühl als
„Fallmanager“.
Die Betreuer, geschult vom Hamburger
Institut für Soziale Praxis (isp), bieten
seit April obdachlosen und kriminellen
Kindern und Jugendlichen, die „pädagogisch kaum noch zu erreichen sind“
d e r
(isp-Geschäftsführer Reinhard
Koch), einen Deal an: Für
drei Monate leistet ein professioneller Helfer Hilfe zur
Selbsthilfe. Er ist in Notfällen
24 Stunden erreichbar. Der
junge „Kunde“ verpflichtet
sich dafür, drei Monate lang
einmal am Tag seinen Manager anzurufen oder zu
treffen.
Gemeinsam versuchen sie,
Alltagsprobleme – von Besuchen bei Ärzten und Meldeämtern bis zur Schlafplatzsuche – zu regeln. Damit der
Klient anschließend allein
klarkommt, soll derweil ein
Beziehungsnetz zu Vertrauenspersonen (so genannten
VIPs) geknüpft oder repariert
werden. VIPs können Verwandte sein, frühere Nachbarn, Lehrer
und alte Freunde, aber auch Sachbearbeiter aus dem Wohnungsamt oder pensionierte Polizisten.
Noch gibt es keine Abbrecherstatistiken
für das bis November 2001 befristete Projekt. Mitinitiator Koch ist optimistisch: Aus
den Niederlanden würden „Erfolgsquoten
von 50 bis 70 Prozent“ gemeldet.
Das dritte neue Konzept setzt früher
an. Mit dem „Buddy-Projekt“ will der Verein „Off-Road-Kids“ aus Bad Dürrheim
eingreifen, bevor Kinder auf der Straße
landen. Die erste Präventionskampagne
dieser Art startet bundesweit gegen Jahresende. Dann können Lehrer via Internet
(www.offroadkids.de) beispielsweise ein
„Medienpaket“ mit Unterrichtsmaterial
für die Sekundarstufe 1 anfordern.
Dazu gehört ein Dokumentarfilm über
Straßenkinder, den Kultregisseur Sönke
Wortmann („Der bewegte Mann“) eigens
gedreht hat. Wortmann: „Für mich als
Regisseur sind Straßenkinder als Menschen
mit extremen biografischen Brüchen interessant. Ich sehe in ihnen ein Symptom
einer beziehungskranken Gesellschaft.“
Zudem finden Lehrer und Schüler in der
Mappe Tipps, wie an der Schule ein Netzwerk aus Kumpeln („Buddys“) zur gegenseitigen Nothilfe aufgebaut werden
kann.
Denn die Familie kann oft nicht helfen,
manchmal ist sie gar der Grund dafür, dass
Kinder auf der Straße landen. So bekam
Marijke aus der Zinkhütte, wie sie erzählt,
zum 14. Geburtstag von ihrer drogensüchtigen Mutter ein paar Gramm Heroin geschenkt. Heute möchte sie „endlich wieder
ein richtiges Leben haben“.
Seit vier Wochen hat Marijke den Entzug hinter sich. Das blonde Mädchen mit
den silbergrau lackierten Fingernägeln und
dem Stecker in der Unterlippe meint, dass
sie den Absprung diesmal schafft. Denn
zum Leben auf der Straße fällt ihr nur noch
ein Wort ein: „Dreck.“
Andrea Stuppe
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
73
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
HOCHSCHULEN
Subtiler Druck
Hamburger Studenten beklagen
sich über nachlässige Professoren –
einer soll sogar Examensprotokolle gefälscht haben.
76
M. SCHRÖDER / ARGUS
D
Hörsaal an der Universität Hamburg: Parzellen reiner Willkür
schulrektorenkonferenz. Noch immer können die Lehrherren recht feudal herrschen.
Glaubt man den Vorwürfen der drei ExStudenten, gibt es im „WiWi-Bunker“, wie
Studierende das hässliche VWL-Lernzentrum auf dem Campus treffend nennen,
Parzellen reiner Willkür. Mal ist der Professor bedauerlicherweise zu Tisch, als der
Prüfling zum abgesprochenen Termin erscheint, dann nimmt er das Examen gnädig,
aber unvorbereitet und missmutig ab. Ergebnis – leider, leider eine 5. Eine Studen-
ACTION PRESS
ie Politikstudentin an der Universität Hamburg war stinkwütend.
„So eine Sauerei“, schimpfte die
Examenskandidatin, als sie aus der Sprechstunde ihres Prüfers kam, „was mache ich
denn jetzt bloß?“
Eigentlich hatte sie gehofft, ihre schlechte schriftliche Klausurnote im Nebenfach
Volkswirtschaftslehre (VWL) mit der
mündlichen Prüfung deutlich verbessern
zu können, und nun dies: Der zuständige
Professor regte recht massiv an, entgegen
der Prüfungsordnung auf das mündliche
Examen zu verzichten und das Ergebnis
der schriftlichen Übung – eine 4 – zu übernehmen. Andernfalls, nun ja, man könne
sich ja auch noch verschlechtern.
„Das war ein ganz subtiler Druck“, schilderte die Studentin im April dem SPD-Bürgerschaftsabgeordneten Martin Schäfer das
Gespräch. Der schrieb eine parlamentarische Anfrage: „Sind dem Senat Fälle bekannt, in denen ein Professor Prüfungskandidaten nahe legte, sich nicht von ihm prüfen zu lassen?“ Antwort des Senats: „Nein.“
Nun haben Schäfer und Kollegen eine
weitere Anfrage gestellt: „Es gibt jetzt neuen, zusätzlichen Klärungsbedarf.“
Denn drei Uni-Absolventen mit dem
Nebenfach VWL haben inzwischen an
Wissenschaftssenatorin Krista Sager und
Universitätspräsident Jürgen Lüthje geschrieben und sich detailliert und mit
Gedächtnisprotokollen über Missstände im
Fachbereich beschwert.
Die Vorwürfe sind heftig: Danach verirren sich Professoren nur sporadisch in ihre
eigenen Hauptseminare, verändern willkürlich Prüfungsinhalte und verschieben
kurzfristig Examenstermine.
Die schwerste Anschuldigung aber richtet sich gegen einen der Hochschullehrer:
Er soll Studenten von vorgeschriebenen
mündlichen Examen abgehalten haben.
„Eine mündliche Prüfung findet also nicht
statt“, so die Beschwerdeführer in ihrem
Brief, „das Prüfungsprotokoll wird frei erfunden.“ Juristen nennen diesen Straftatbestand „mittelbare Falschbeurkundung“.
Die Anschuldigungen untermauern die
Forderungen nach einer besseren Leistungskontrolle von Professoren und einer
Reform des Dienstrechts, die immer stärker
die Diskussion um die Modernisierung der
deutschen Universitäten beherrschen.
„Der Professorenstand ist eine der Zünfte, die aus grauer Vorzeit stammen“, sagt
Klaus Landfried, Präsident der Hoch-
Uni-Präsident Lüthje
Untersuchungsführer beauftragt
tin erfährt zufällig durch Aushang am
Schwarzen Brett, dass ihre Prüfung bereits
stattgefunden hat – ohne sie zu benachrichtigen, war der Termin ein paar Tage
vorverlegt worden.
„Selbstverständlich können Sie die Note
der schriftlichen Klausur übernehmen“, zitiert ein anderer seinen Professor, der sogleich seinen Assistenten angewiesen habe,
das Protokoll der Prüfung zu schreiben,
die gar nicht stattgefunden hatte: „Geprüft
in Internalisierung externer Effekte, in
Geldmengensteuerung“.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Ein wenig plaudert man noch über den
Berufswunsch des Studenten – er möchte
Journalist werden –, dann gibt es doch einen anderen Eintrag: „Geprüft in Marktversagen in der deutschen Medienlandschaft“. Klausurnote: 3,2, mündliche Prüfungsnote: 3,2. Zum Schluss nur noch die
Bitte des Professors, niemandem von seinem „großzügigen Angebot“ zu erzählen
– so schreibt es der ehemalige Student.
Die Professoren reagieren gereizt: „Es
ist ganz klar festzuhalten, dass mich nachweislich kein Vorwurf persönlich betrifft“,
sagt Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm
Pfähler. Kritik an einzelnen Prüfungsmodalitäten hält er allerdings für berechtigt.
Vor allem für Nebenfachstudenten entstünde häufig eine „unzumutbare Situation“, wenn sie kurz vor dem Examen einem anderen Professor zugeteilt würden.
Ökonom Wolfgang Maennig ist nicht so
glücklich darüber, dass Kollege Pfähler öffentlich zu den Anschuldigungen Stellung
genommen hat: „Jeder, der sagt, ich war
das nicht, weist indirekt anderen die Schuld
zu.“ Maennig – im Nebenjob Vorsitzender
des Deutschen Ruderverbandes – will sich
derzeit nicht äußern, da bitte er um Verständnis. Nur so viel, damit das klar sei:
„Ich habe nichts zu verbergen.“
Maennigs Name wird von den Studenten
im Zusammenhang mit angeblich gefälschten Protokollen genannt.Vergangene Woche
bestellte Uni-Präsident Lüthje den Gelehrten zu sich. „Er hat die Vorwürfe bestritten“, sagt Lüthje, „jetzt muss geklärt werden, welche Darstellung zutrifft.“ Ein „Untersuchungsführer“ soll dies nun versuchen.
Studenten, die ihr Examen möglicherweise einer „mittelbaren Falschbeurkundung“ verdanken, können indes weiter
ruhig schlafen: „Die Prüfungen bleiben
gültig.“
Hans-Ulrich Stoldt
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (5)
Die Woche vom 23. 10. 1989 bis zum 29. 10. 1989
»Krenz – kein Lenz«
R. BOSSU / SYGMA
Mit Tricks und Schikanen gegen die Opposition
will die bedrängte SED ihre Vormachtstellung retten. Doch
hunderttausende fordern, im Schutz der Kirche,
Reisepässe und freie Wahlen: „40 Jahre sind genug.“
Demonstranten mit Anti-Krenz-Parolen am 24. Oktober in Ost-Berlin
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
81
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
CHRONIK
E. HÖHNE
»Wir können auch anders«
Anhänger des Neuen Forums am 23. Oktober in Schwerin: „Das Volk kehrt seinem König den Rücken“
Montag, 23. Oktober 1989
Ost-Berlin
Seit seinem Amtsantritt als Stasi-Chef hat
Erich Mielke, 81, in der DDR Schrecken
verbreitet. Einst, als er seine Opfer noch
selbst verhörte, drohte er ihnen: „Dir hack
ich den Kopf ab.“ Mutmaßliche Verräter
ließ er, zuletzt 1981, nach kurzem Prozess
durch einen „unerwarteten Nahschuss in
den Hinterkopf“ umbringen.
An diesem Montag lernt der Altkommunist – vier Jahrzehnte lang Herr über
Leben und Tod, Karriere oder Knast –
selbst das Fürchten. In der „Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe“ des
Ministeriums für Staatssicherheit läuft Beunruhigendes aus allen Teilen des Landes
zusammen.
Die Ablösung Honeckers durch den
Mielke-Favoriten Egon Krenz hat das Volk
zwar von jahrzehntealter Angst befreit,
aber die Gemüter keineswegs beruhigt – im
Gegenteil: Lange unterdrückte Wut auf die
SED und deren „Schild und Schwert“, die
Stasi, bricht sich überall im Lande Bahn.
82
In Leipzig – dort strömen diesmal eine
drittel Million Menschen zur Montagsdemonstration – rufen Familien in Ausflugsatmosphäre „Krenz macht keinen Lenz“.
In Dresden ertönt „Egon Krenz, wir sind
nicht deine Fans“.
Mit dem Schlachtruf „Neues Forum zulassen“ fordern hunderttausende „unbekrenzte Demokratie“ – gemeint ist das
Ende des SED-Machtmonopols: „Egon, sei
klug, 40 Jahre sind genug“, „Egon allein,
das kann nicht sein“, „Zu viel Macht in einer Hand ist nicht gut für unser Land“.
Selbst aus einem Kaff wie Pößneck, Bezirk Gera, 700 Einwohner, melden StasiAgenten „negativ-feindliche Handlungen“:
„Ca. 200 Personen“ skandieren „Demokratie, jetzt oder nie“ und stellen Kerzen
vor dem Rathaus auf.
Geradezu als Fiasko für die Staatspartei
und deren Stasi aber erweist sich eine mit
Spannung erwartete Kraftprobe zwischen
Regierung und Neuem Forum im relativ
ruhigen Norden der Republik.
In Schwerin hat die SED, ganz im Sinne
der von Krenz angekündigten „politischen
Offensive“, zu einer Großkundgebung im
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Alten Garten aufgerufen – tückischerweise zum selben Termin, zu dem kurz zuvor
die Oppositionsbewegung zur Demonstration geladen hatte.
Für Mielke ist der erste große Versuch,
dem Neuen Forum die Straße streitig zu
machen, ein wichtiger Test: Man müsse
„abwarten, was Schwerin an Erfahrung
bringt“, hat er vor zwei Tagen in einer
Dienstkonferenz erklärt, „das müssen wir
dann im weiteren Vorgehen mit berücksichtigen“.
Um dem Experiment zum Erfolg zu
verhelfen, startet die Schweriner StasiBezirksverwaltung mit Hilfe „aller IM“
eine groß angelegte Geheim-„Aktion ,Offensive‘“: Durch Schikanen und Pressionen
(„politisch-operative Maßnahmen“) soll erreicht werden, dass die Schweriner Oppositionellen – seit Jahren in Fotosammlungen
und Karteien penibel erfasst – „nicht an
der Großkundgebung teilnehmen“.
Parallel dazu mobilisiert die SED zehntausende von Werktätigen und Kampfgruppen-Angehörigen in Zivil. Doch schon
im Vorfeld gibt es Ärger. Im Schweriner
Plastmaschinenwerk lehnen 8 von 16 Ab-
die Staatsfeinde ihre Archive und Arsenale plündern.
„Eigensicherung“ ist das Gebot der
Stunde.
Noch bilden zwar, wie an diesem Abend
in Leipzig, friedliche Demonstranten dichte Menschenketten, um den Eingang der
Stasi-Dependancen abzuschirmen – doch
wie lange noch?
Republikweit ertönen neuerdings immer
öfter Rufe wie „Stasi raus“ und „Stasi in
teilungsgewerkschaftsleitungen es ab, die
Kollegen über die SED-Kundgebung zu informieren; eine solche Gegen-Demo sei
„nicht zeitgemäß“.
Einzelne Angehörige der Hilfsarmee weigern sich offen, als „Spitzel“ und „Büttel“
zur Demo abkommandiert zu werden. Die
ersten „Kämpfer“ hätten, registriert die
Stasi, „politisch-ideologisch kapituliert“.
Auf dem Kundgebungsplatz hält SEDBezirkssekretär Heinz Ziegner eine inhaltsarme Kurzansprache. Doch trotz aller
Manipulationsversuche im Vorfeld beherrschen die Bürgerrechtler die Szene – mit
Pfeifkonzerten und Parolen wie „Neues
Forum, freie Wahlen, Reisefreiheit!“
„Was in den darauf folgenden Minuten
geschieht, ist geschichtsträchtig“, notiert
die Journalistin Astrid Kloock – es kommt
zu einem „stillschweigenden Volksentscheid, einer Mündigkeitserklärung der
Bürger“. Kloock:
jor Horst Böhm eine „Einsatzkonzeption“
für „spezielle chemische Substanzen“ entwickeln. Mit so genannten R2-Zerstäubern
soll, in Kombination mit Chloroform und
Nebelmitteln, das Reizgas Chloracetophenon versprüht werden.
In Böhms Einsatzplan ist vermerkt, was
die „Alternative zur Schusswaffenanwendung“ bewirken kann: „Bei extremen
und ungünstigen Bedingungen können tödliche Vergiftungen auftreten.“
P / F / H
Für die SED ist der Tag der Gegenoffensive zum „Schwarzen Montag“
(Kloock) geworden. Tausende teilen den
Eindruck, den eine Schneiderin in die
Worte kleidet: „Das war ein perfektes
Eigentor.“ Einer vom Neuen Forum
frohlockt: „Besser hätten die Schweriner
Genossen ihren Untergang nicht organisieren können.“
Das spüren auch die Stasi-Beobachter:
Sie berichten, dass sich „große Teile der
Anwesenden beeindruckt“ zeigten von
den Protestlern. Deren „massives Auftreten“ habe bei „einer Reihe“ der 40 000
Kundgebungsteilnehmer „beängstigende
Auswirkungen hinterlassen“.
Die Stasi-Herren in der Berliner Normannenstraße begreifen: Die eigene Basis
ist tief demoralisiert, die Opposition dagegen hoch motiviert. Die Aktion „Offensive“ ist gescheitert, die SED endgültig
in die Defensive geraten.
Spätestens jetzt
wird für Mielke das
Undenkbare denkbar: dass die aufgebrachten Bürger irgendwann die Dienststellen der verhassten
Staatssicherheit stürmen – und die einst
allmächtige Geheimpolizei ohnmächtig
zuschauen muss, wie
Stasi-Chef Mielke*
* Mit Verteidigungsminister
Heinz Keßler (r.).
BUNDESARCHIV KOBLENZ
Niemand hat etwas befohlen, nichts ist
verabredet, aber das Volk kehrt seinem
König den Rücken und geht eigene Wege.
Bürger für Bürger, ein endloser Zug, bewegt sich weg vom Alten Garten durch die
Schweriner Innenstadt, friedlich, fröhlichgelöst im Bewusstsein einer ersten Übung
in Sachen Demokratie.
Gescheiterte SED-Gegendemonstration am 23. Oktober in Schwerin: „Perfektes Eigentor“
die Produktion“. Vorsorglich beauftragt
Mielke die „Arbeitsgruppe des Ministers“,
Vorschläge zur „Gewährleistung der Sicherheit der Dienstobjekte“ zu erarbeiten.
Die Stasi-Strategen sehen sich im Dilemma: Schüsse auf Gebäude-Besetzer würden
„der von der Partei angestrebten politischen
Lösung entgegenstehen“ und den DialogKurs akut gefährden. Auf eine Objektsicherung ohne Schusswaffe aber ist die DDRGeheimarmee nie vorbereitet worden.
Mielkes Helfer entwerfen an den folgenden Tagen einen fünfseitigen Geheimbefehl an alle Diensteinheiten. Kernsatz:
„Die Anwendung der Schusswaffe ist nur
dann zulässig, wenn das gewaltsame Eindringen in das Dienstgebäude selbst nicht
mehr verhindert werden kann.“
Vorrangig, befiehlt der Minister, seien
„pioniertechnische Sperrmittel“, „Schlagstöcke (kurz oder lang)“ und „chemische
Abwehrmittel“ anzuwenden: „Die betreffenden Angehörigen sind unverzüglich mit
der Handhabung der o. g. Geräte und Mittel vertraut zu machen.“
In der besonders gefährdeten Dresdner
Bezirksverwaltung lässt Stasi-Generalmad e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Bevor sie Reizgas und Knüppel gegen
Demonstranten einsetzen, sollen sich die
Stasi-Leute laut Mielke-Order mit Hilfe der
„Tontechnik (z. B. Megafon)“ ans Volk wenden. Als Anlage zu seinem Befehl (Aktenzeichen: VVS MfS 0008-84/89) verschickt
Mielke zwei Mustertexte, die je nach Gefährdungsgrad in die Flüstertüte gesprochen
werden sollen, „nach Möglichkeit im territorialen Dialekt“.
Variante 1, Zuckerbrot: „Werte Bürger!
Sie werden gebeten, weiterzugehen. Ich
appelliere an Ihre Vernunft, bewahren Sie
den gewaltfreien Charakter Ihrer Demonstration ... Wenn Sie die Absicht haben, mit
uns zu sprechen, sind wir gesprächsbereit.
Bilden Sie eine Abordnung von (3 bis 5)
Personen …“
Variante 2, Peitsche: „Achtung, Achtung!
Hier spricht der Objektkommandant! ...
Ich fordere alle auf: Verlassen Sie diesen
Straßenabschnitt! Sie zwingen mich, zum
Schutz dieses militärischen Objektes
Maßnahmen der Gewaltabwendung zu
befehlen.“
Militärische Fragen erörtert unterdessen, in seinem Arbeitszimmer im ZK83
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
Gebäude, auch Egon Krenz. Er empfängt
den Oberkommandierenden der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, Armeegeneral Boris Snetkow, der ihm versichert: „Genosse Krenz, wir sind immer bereit, der DDR jede Hilfe zu geben. Benachrichtigen Sie mich, wann immer Sie
wollen.“
Krenz notiert über das Gespräch: „Sollte es Provokationen geben, ist die Westgruppe bereit, ihre Verpflichtungen gegenüber der DDR zu erfüllen. Die Westgruppe ist in der Lage, unter x-beliebigen
Bedingungen alle gestellten Aufgaben zu
erfüllen.“
Stasi-Observationsfoto von Schweriner Oppositionellen*: „Schwarzer Montag“
Dienstag, 24. Oktober 1989
Ost-Berlin
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
Volkskammer-Präsident Horst Sindermann, 76, ist überfordert. 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen bei der Wahl von
Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden –
ein solches Ergebnis hat es in der Geschichte des 500-köpfigen DDR-Scheinparlaments, wo Wahlen stets „einmütig“
über die Bühne gingen, nie gegeben.
Prompt vertut sich Sindermann. Hilfeheischend wendet er sich an seinen Nachbarn: „Zähl mal mit hier.“
Dann versucht der alte Herr zu scherzen: „Ich werde das Ergebnis nicht verfälschen“ – und weckt damit, peinlich, Erinnerungen an den Kommunalwahlbetrug
vom Mai, für den der soeben zum Staatschef gekürte Krenz verantwortlich ist.
Staatsratsvorsitzender Krenz (l.)*
„Im Dialog als Kommunist bewähren“
84
Zu diesem Zeitpunkt glaubt die alte
Garde der SED offenbar noch allen Ernstes, durch bloßen Personalwechsel die Alleinherrschaft der Partei retten zu können
– ohne auf Privilegien verzichten, eine Opposition zulassen und freie Wahlen gewähren zu müssen.
Intern, in einer Sitzung der SED-Volkskammerfraktion, hat Egon Krenz die Parole ausgegeben: „Unsere führende Rolle
müssen wir besser wahrnehmen. Aber wir
sind nicht bereit, sie abzugeben.“
Eine „Wende“ versprechen, aber keine
Demokratisierung zulassen, allenfalls eine
Liberalisierung – diesen Kurs verordnet
Krenz sofort nach seiner Wahl in einem
vertraulichen Fernschreiben auch den Spitzenfunktionären in den SED-Bezirks- und
Kreisleitungen: Nunmehr gelte es, „die gesamte Partei in die Offensive zu führen“.
Jeder Genosse müsse sich, so Krenz, „im
ständigen offensiven Dialog mit den Menschen als Kommunist bewähren“: „Er darf
nicht zurückweichen und gegnerischen
Kräften keinen Spielraum bieten.“
Mit drei längst überfälligen Reförmchen
glaubt die SED-Spitze, den Druck im Lande mildern und den galoppierenden Popularitätsschwund bremsen zu können:
π Die Medien sollen über Demonstrationen berichten dürfen – die sich, angesichts der nunmehr nach hunderttausenden zählenden Teilnehmerschaft, ohnehin nicht länger verschweigen lassen;
π wer wegen versuchter Republikflucht im
Gefängnis sitzt, soll amnestiert werden
– eine schlichte Selbstverständlichkeit,
nachdem Honecker Anfang des Monats
tausende von Botschaftsbesetzern in die
Bundesrepublik entlassen hat;
π Ausreisen in den Westen sollen fortan
kurzfristig genehmigt werden – nach einer internen Stasi-Analyse vom Vortag
die einzige Möglichkeit, „den künftigen
Zulauf zu den diplomatischen Vertretungen der BRD zu minimieren“.
Im Übrigen setzt Krenz auf kosmetische
Korrekturen. In sein Konzept passt ein Vorschlag des Magdeburger SED-Bezirkschefs
* Oben: Nummerierung durch das MfS, Schwärzung von
Gesichtspartien durch die Gauck-Behörde; unten: nach
seiner Wahl am 24. Oktober, mit Volkskammerpräsident
Horst Sindermann.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werner Eberlein. Der äußert brieflich die
Bitte, der „liebe Genosse Egon“ möge sich
einer „sehr akuten Frage“ annehmen:
„Was soll mit der ,traditionellen‘ Hasenjagd
für Diplomaten geschehen, deren Vorbereitung zentral und in unserem Bezirk bereits intensiv läuft?“
Mit Eberleins Vorschlag, den „Rummel
aus unserem Protokoll streichen“ zu lassen, ist Krenz „sehr einverstanden“ – mit
diesem Vermerk leitet er den Brief aus
Magdeburg ans Politbüro weiter.
Ansonsten hofft der Staatschef, weitermachen zu können wie bisher – mitsamt
dem alten Personal, mitsamt seinem Mitverschwörer Erich Mielke und all den Angehörigen des Sicherheitsapparats, die für
die Übergriffe der letzten Wochen verantwortlich sind.
Doch schon am Abend seiner Wahl muss
Krenz fürchten, dass er die Rechnung ohne
das Volk gemacht hat.
Tausend Jugendliche ziehen vom Alexanderplatz zur Krenz-Residenz am MarxEngels-Platz und stimmen Sprechchöre an:
„Egon, deine Wahl nicht zählt, weil dich
nicht das Volk gewählt.“
Zur selben Zeit zeigt eine Veranstaltung
im Ost-Berliner „Haus der jungen Talente“, welche Risiken die SED mit ihrer neuen Dialog- und Pressepolitik eingeht.
Im überfüllten Konzertraum, in schweißtreibender Hitze, glauben nicht wenige Besucher, einer Sinnestäuschung zu erliegen:
Auf dem Holzpodium diskutiert Markus
Wolf, der legendäre Ex-Geheimdienstchef,
mit Bärbel Bohley und Professor Jens
Reich vom Neuen Forum – der einstige
Staatsschützer Seite an Seite mit zwei angeblichen Staatsfeinden. Und neben den
jahrelang gegängelten Schriftstellern Stefan Heym und Christoph Hein sitzt nun
der Vertreter des Zensurregimes, Vize-Kulturminister Hartmut König.
Jeder weiß, wer gemeint ist, als Heym
sagt: „Auch nach dem Wechsel bleibt
das Wort des Tages: Glaubwürdigkeit.“
Zu erwerben aber, fügt er hinzu, sei diese
Eigenschaft „nur durch Taten und nicht
durch Worte, und seien sie noch so
rührend“.
Dann meldet sich ein junges SEDMitglied zu Wort und spricht einen Satz
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
K. MEHNER
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
Ex-Agentenchef Wolf (2. v. l.), Dissident Reich (r.)*: Staatsschützer neben Staatsfeinden
derspenstige Geistliche (siehe Analyse
Seite 104).
Die dialektisch versierten Stasi-Auswerter in Ost-Berlin schätzen die Kirchenveranstaltungen mit Vertretern des Neuen Forums dennoch nicht als puren Misserfolg
ein, sondern als halben Erfolg. Die Diskussionen rangieren unter dem Titel:
aus, auf den vor kurzem noch Gefängnis
stand: „In einem modernen Sozialismus
lässt sich die Führungsrolle einer Partei
nicht mehr aufrechterhalten.“
Nie zuvor ist eine derart ketzerische
These über staatlichen Medien an die Öffentlichkeit gelangt. Bei dieser Diskussion
aber ist das Ost-Berliner TV-Jugendmagazin „Elf99“ live dabei.
Negativ-feindliche Handlungen und geplante Veranstaltungen des „Neuen Forums“, welche durch intensive Maßnahmen unserer Partei beeinflusst wurden.
Mittwoch, 25. Oktober 1989
Ost-Berlin
* Oben: am 24. Oktober im „Haus der jungen Talente“;
unten: am 19. Oktober auf Schloss Hubertusstock;
Konsistorialpräsident Manfred Stolpe (l.) und Landesbischof Werner Leich (3. v. l.).
Die Kirchenveranstaltungen fügen sich
ein Stück weit in die neue Strategie der
SED, den Protest möglichst rasch von der
Straße in Gebäude umzulenken. Die „Junge Welt“ gibt die Parole aus: „Man kann
über alles reden, aber nicht auf der
Straße.“ Und am 19. Oktober, bei einem
Treffen mit Kirchenführern auf Schloss Hubertusstock, hat es Krenz als sein Ziel bezeichnet, „die Beendigung der Demonstrationen zu erreichen“.
Die öffentlichen Debatten, die sich nun
in der Regel an die kirchlichen Andachten
anschließen, kommen der Absicht der SED
entgegen, Unzufriedene in einen langwie-
Donnerstag, 26. Oktober 1989
Bonn
Punkt 8.30 Uhr ruft Helmut Kohl den
neuen SED-Generalsekretär an: „Also“,
spricht der Kanzler, „mein erster Wunsch
ist, um das gleich vorweg zu sagen, dass wir
regelmäßig miteinander telefonieren.“
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
In der überfüllten Marienkirche drängen
sich um 19 Uhr rund 1400 Menschen,
hunderte müssen draußen bleiben. Am
Mikrofon steht ein prominenter Gast:
die westdeutsche Spitzen-Grüne Petra
Kelly, 41.
Tief bewegt dankt die kleine Frau ihren
Freunden von der DDR-Bürgerrechtsbewegung: „Diese Gewaltfreiheit wird in die
Geschichte eingehen! Ich verbeuge mich
vor euch! Ihr habt mir viel Kraft gegeben.“
„Sehr theatralisch und unterbrochen
von Tränenausbrüchen“ sei der Auftritt der
„operativ bekannten“ BRD-Bürgerin gewesen, berichten die allgegenwärtigen
Stasi-Spitzel an ihre Zentrale. Und: „In der
Kirche war ein Team des ZDF tätig.“
Im „Zentralen Operativstab“ der Stasi
reißt der Strom ähnlicher Meldungen im
Laufe des Abends nicht ab: Ob die Stadtkirche in Jena, die Hauptkirche in Suhl
oder die Martinikirche in Haldensleben –
zwei dutzend Gotteshäuser haben allein
an diesem Tag ihre Pforten für Sympathisanten des Neuen Forums geöffnet, das der
Staat gerade erst, vor fünf Wochen, für illegal erklärt hat.
Die Kirche in der DDR, so scheint es,
hat sich endgültig dem Zugriff des Staates entwunden. Dabei hatte der Geheimdienst sich jahrzehntelang bemüht, die
religiösen Freiräume unter seine Kontrolle zu bekommen – mit Hilfe abertausender von Agenten und mit perfidesten
Mitteln, bis hin zu Mordplänen gegen wi-
rigen Dialog mit den Repräsentanten des
Regimes zu verwickeln. Der SED erwächst
auf diese Weise ein neues Podium.
Beispiel Neubrandenburg: Nach einem
Friedensgebet in der Johanniskirche ziehen an diesem Abend tausende zum KarlMarx-Platz. Als sie dort eintreffen, ist das
Areal – wie aus einem geheimen Lagebericht hervorgeht – bereits durch „5000 organisierte progressive Bürger“ besetzt.
Trotz der bestellten Gegendemonstranten: Auch hier missglückt – wie zwei Tage
zuvor in Schwerin – der Versuch der Partei, die Straße zurückzuerobern.
Als SED-Bezirkssekretär Johannes
Chemnitzer, der die Konter-Kundgebung
organisiert hat, ans Mikrofon eilt und die
Bürger vor weiteren Demonstrationen
warnt, ertönt ein anhaltendes Pfeifkonzert.
Da lässt der Dialog-Politiker entnervt die
Maske fallen: „Wenn ihr nicht still seid,
können wir auch anders!“
Auch West-Kommentatoren sehen die
Krenzsche Wendetaktik zu diesem Zeitpunkt zum Scheitern verurteilt. „Zu offenkundig ist die Strategie der SED, die gesellschaftliche Diskussion von der Straße in
die Säle und von den Sälen in die vorhandenen Gremien und Institutionen zu kanalisieren“, schreibt die West-Berliner
„taz“: „Die SED ist – trotz der Lernangebote der letzten Wochen – weiterhin dabei,
Dynamik und Richtung der jüngsten Entwicklung zu verkennen.“
SED-Chef Krenz, Kirchenführer*: „Beendigung der Demonstrationen erreichen“
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
87
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
Krenz: „Das ist eine gute Idee. Miteinander reden ist immer besser als übereinander reden.“
Kohl: „Es ist inzwischen möglich, dass ich,
um einmal ein Beispiel zu nennen, ganz
selbstverständlich zum Telefonhörer greife und den Generalsekretär in Moskau anrufe oder umgekehrt. Und das wünsche
ich mir auch, dass das zwischen uns geschieht.“
Krenz: „Also abgemacht, Herr Bundeskanzler.“
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
Nach dem Vorgeplänkel wendet sich der
Staatsratsvorsitzende gegen übertriebene
Hoffnungen im Westen. Er stehe zwar zu
seinem „Wende“-Versprechen, werde aber
„keinen Umbruch“ zulassen: „Da, hoffe
ich, stimmen Sie mit mir überein, dass eine
sozialistische DDR auch im Interesse der
Stabilität in Europa ist.“
Kohl übergeht die Bemerkung.
Wenig später steuert Krenz vorsichtig
das Thema Finanzen an. Der SED-Spitzenmann gehört zu den wenigen, die wissen, was in Ost-Berlin als Staatsgeheimnis
behandelt wird: Der DDR-Sozialismus,
dessen Rettung er sich verpflichtet fühlt, ist
pleite.
Um die Unruhe im Lande zu dämpfen,
müsste Krenz sofort die Versorgungslage
verbessern und mehr Auslandsreisen gestatten. Doch für beides fehlt es der DDR
an Devisen – die Krenz sich von Kohl erhofft.
Das geplante Reisegesetz, lässt der Generalsekretär durchblicken, bedeute für
die DDR „erhebliche zusätzliche ökonomische Belastungen“. Die Ständige Vertretung in Ost-Berlin hat der Bonner Regierung bereits vor Tagen signalisiert, das
neue Reiserecht sei nur dann durchsetzbar,
wenn die Bundesrepublik sich an der Fi-
SED-Mann Schabowski (r.), Bürgerrechtler*: Kekse für die Konterrevolution
nanzierung beteilige – mit 20 Milliarden
Mark.
Telefonisch bedrängt der Staatsratsvorsitzende den Bundeskanzler, die Beauftragten beider Seiten sollten möglichst
bald Kontakt aufnehmen, „damit dann
die Dinge schnell in Gang gesetzt werden
können“.
Es pressiert. Krenz – der nicht ahnt, dass
er sechs Wochen später zum Rücktritt von
allen Partei- und Staatsämtern gezwungen
wird – zu Kohl: „Der Zeitfaktor spielt ja in
der Politik immer eine große Rolle.“
Als der Bittsteller den Hörer auflegt, hat
er begriffen: „Die Bonner wollen Zeit gewinnen.“ Krenz notiert: „Den schwarzen
Peter, vor allem bei den zusätzlichen Kosten für den Reiseverkehr, soll die DDR behalten.“
ULLSTEIN BILDERDIENST
Ost-Berlin
Unterschriftensammlung des Neuen Forums
„Anhaltende Popularisierung“
90
Als der Physiker Sebastian Pflugbeil, 42,
morgens im Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung in Berlin-Buch erscheint,
läuft ihm die Chefsekretärin in die Arme:
Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros, wolle ihn dringend sehen – noch
heute.
Unter den Genossen im Institut herrscht
helle Aufregung darüber, dass der SEDSpitzenmann ausgerechnet Pflugbeil treffen will. Der Eigenbrötler wird wegen seines Einsatzes für das Neue Forum von den
Bonzen an der Spitze der Forschungseinrichtung seit langem schikaniert: Wann immer ein öffentlicher Pflugbeil-Auftritt ansteht, überhäufen sie den Physiker mit Arbeitsaufträgen.
Zwei Kilometer weiter, im Institut für
Molekularbiologie, forscht Professor Jens
Reich, 50. Dort ereignet sich zur selben
Zeit eine ähnliche Szene: Auch den Pflugbeil-Mitstreiter wünscht der Genosse Scha* Sebastian Pflugbeil (l.) und Jens Reich (M.) am 26. Oktober in Ost-Berlin.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
bowski noch heute zu sprechen. Pflugbeil
und Reich telefonieren miteinander und
setzten sich in die S-Bahn Richtung Stadtmitte.
Im Haus der SED-Bezirksleitung in der
Kurstraße empfängt der Spitzenfunktionär,
der für seine polternde Art berüchtigt ist,
das Dissidenten-Duo freundlich bei Keks
und Tee. Zwei Stunden lang plaudert die
Runde über die Lage des Landes.
In einem Punkt kneift Schabowski: Ob
er die Meinung des Innenministeriums teile, dass das Neue Forum „verfassungsfeindlich“ sei, wollen Reich und Pflugbeil
wissen. „Dafür“, weicht der SED-Bezirkschef aus, „bin ich nicht zuständig.“
Schabowskis Verhalten entspricht der
Vorgabe des Politbüros: Gespräche mit jedem Bürger zu führen, „der als Vertreter
des Neuen Forums bekannt ist“, aber so,
„dass daraus keine offizielle Anerkennung
des Neuen Forums abgeleitet werden
kann“.
Dennoch muss das Treffen von vielen im
Land als De-facto-Anerkennung der Oppositionsbewegung verstanden werden.
Denn gegen Ende des Gespräches verständigen sich Reich, Pflugbeil und
Schabowski auf eine Information an die
Presse.
Sogar ein Fotograf von „Zentralbild“ erscheint. Auch die SED-Blätter berichten
über das „informative Gespräch“ mit „Angehörigen einer Initiativgruppe, die sich
,Neues Forum‘ nennt“.
Die Strategie der Bürgerrechtler ist aufgegangen: Bewusst haben die Initiatoren
keine Oppositionspartei, sondern eine
Sammlungsbewegung gegründet, um auch
SED-Genossen in die Debatte über die Zukunft des Landes einzubeziehen.
Seit Veröffentlichung des Gründungsaufrufes am 9. September kursieren zwischen Rügen und Rennsteig Listen, in denen sich zu hunderten auch Parteigenossen
eingetragen haben, weil sie die Forderung
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
ULLSTEIN BILDERDIENST
SIPA PRESS
nach Glasnost teilen. Binnen
und Staatsgewerkschaft ein
sechs Wochen sind 200 000
Problem von hoher „KomUnterschriften zusammengepliziertheit“: Für den 4. Nokommen.
vember haben sozialistische
Anwalt der Initiative ist
Künstler eine Kundgebung auf
Gregor Gysi, 41, seit Jahren
dem Alexanderplatz beanRechtsvertreter von Oppositragt. Die Demonstration –
tionellen und als Sohn eines
Thema: Presse- und MeiSED-Staatssekretärs ein Kind
nungsfreiheit – weckt bei den
der DDR-Nomenklatura. BeVerantwortlichen in Partei
reits am 3. Oktober hat Gysi
und Geheimdienst von Tag zu
dem Innenministerium mitgeTag entsetzlichere Horrorvorteilt, eine Nichtzulassung des
stellungen.
Neuen Forums widerspreche Polizeichef Rausch
Die Genossen fürchten,
der „Vereinigungsordnung“
dass der revolutionäre Funke
der DDR.
von Leipzig am 4. November
Weil die Bürgerrechtler
auf Berlin überspringt; dass
den Sozialismus und die
die bislang relativ angepassten
Vorherrschaft der SED nicht
(weil privilegierten) Hauptoffen in Frage stellen, glaustädter nicht länger bloß Teilben mehr und mehr Genosreformen fordern, sondern
sen, diese Opposition lasse
massenhaft Verbotenes versich ins System integrieren.
langen: freie Wahlen oder gar
Potsdams Bezirkssekretär
die Wiedervereinigung.
Günther Jahn etwa möchte
„Inspiratoren und Organidas Neue Forum „in die Nasatoren“ seien „zumeist auf
tionale Front eingliedern“, alantisozialistischen Positionen
lerdings „keine Strukturen Minister Hoffmann
stehende Kräfte“, hat Mielke
zulassen“. Zu spät. Über erste
vor einer Woche bei einer
Organisationsstrukturen verfügt das Fo- Dienstbesprechung analysiert. Ein Teilrum bereits.
nehmer, Oberst Rolf Scheffel, notierte darDrei Tage vor der Unterredung mit aufhin als Konsequenz: „Demo möglichst
Reich und Pflugbeil hat Schabowski ein verhindern.“
Dossier von Mielke („Streng geheim!“) erDoch Überlegungen, das „gefährliche
halten, in dem es heißt, dass sich bei den Ereignis“ zu verbieten, werden rasch fallen
„antisozialistischen Sammlungsbewegun- gelassen: „Eine Nichtgenehmigung der Degen“ ein „kontinuierlicher Ausbau der monstration“, schreibt ZK-Kultursekretär
Kommunikationsstrukturen“ vollziehe.
Kurt Hager an Krenz, „würde die EmotioAlle Aufrufe, so Mielke, würden „un- nen erneut ansprechen.“ Ein Versuch, die
vermindert“ verbreitet. Das Neue Forum, Initiatoren durch Einschaltung der Berliner
das zunehmend auch „in Betrieben und Theaterintendanten zur Rücknahme der
im kommunalen Bereich“ agiere, erfreue Anmeldung zu bewegen, scheitert.
sich „anhaltender Popularisierung“.
So stecken die Genossen in der Klemme.
Der „bekannte Prof. Reich“ plane neu- Ihnen ist klar, was auf dem Spiel steht,
erdings sogar, den „Aktionsraum“ durch wenn in der Hauptstadt der DDR, unter
„Infiltration“ der Einheitsgewerkschaft den Augen der Weltpresse, die Regierenden
FDGB zu erweitern: Die Staatsfeinde wen- Buhrufe und die Oppositionellen Beifall
den sich den Werktätigen zu.
ernten.
Höchste Zeit also für die SED, die AusStasi-Generalmajor Siegfried Hähnel,
grenzung der „Konterrevolutionäre“ auf- der die Ergebnisse der Sitzung in der SEDzugeben. Andernfalls riskiert sie, rasch vol- Bezirksleitung festhält, notiert beschwölends in die Isolation zu geraten.
rende Worte des Kulturministers: „Wir können die Hauptstadt nicht abriegeln. Das,
was hier geschieht, ist demzufolge eine SiSonnabend, 28. Oktober 1989 tuation in europäischen Dimensionen,
wenn nicht noch mehr.“
Ost-Berlin
Angesichts der Bedrohungslage ist in
Die Krisensitzung ist geheim, Kulturminis- den letzten Tagen eine kühne Idee gereift:
ter Hans-Joachim Hoffmann, 60, kann of- der Plan, die riskante Künstler-Kundgefen reden: „Diese Regierung ist zur Zeit bung umzufunktionieren – in eine Prohöchst unpopulär. Da kann kommen, wer SED-Reformdemo.
Auch Polizeipräsident Friedhelm Rausch
will, er wird von vornherein ausgepfiffen.“
Das Misstrauen im Volk sei gewaltig: „Es empfiehlt, die Veranstaltung „offensiv“
nutzt alles nichts, wenn wir hoch und hei- und „unter Nutzung anerkannter Persönlig beteuern, es mit der Wende ehrlich zu lichkeiten“ zu organisieren. Es müsse versucht werden, sie „in die Politik der Partei
meinen – sie glauben uns einfach nicht.“
In den Räumen der Berliner SED-Be- einzuordnen“.
Natürlich, gibt Kulturminister Hoffmann
zirksleitung erörtert Hoffmann mit den
Spitzen von Stasi und Vopo, Staatspartei laut Protokoll zu bedenken, dürfe die Par92
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
tei dabei „nicht zu vordergründig“ operieren, also nicht „nach der alten Methode
der Bolschewiki“. Der Minister erläutert,
was er meint:
Dissidenten wie den Liedermacher Wolf
Biermann nach Ost-Berlin eingeladen.
Tatsächlich hat die Bürgerrechtlerin den
Sänger, der seit November 1976 aus der
DDR ausgesperrt ist, vor vier Tagen am
Telefon dringend gebeten, er möge „auf
unserer Demo am 4. November singen“.
Wenn die Gegner eine Demonstration organisieren, denn gehen die Bolschewiki
hin und stellen sich an die Spitze – das
war unter den Bedingungen von 1905 sicher möglich. Heute können wir nicht einfach mit unseren Losungen hingehen und
die Sache umzudrehen versuchen und sagen, das ist unsere Demonstration. Wer so
rangeht, verfehlt von vornherein unsere
Absicht. Denn wenn sie sich von uns abspalten, werden sie unkontrollierbar und
werden das Gegenteil von dem machen,
was wir wollen.
Biermann: „Du hast ja tolle Pläne. Meinst
du, das ist möglich? Meinst du wirklich?“
Bohley: „Das muss möglich sein, dass du
hier für uns singst …“
Biermann: „Ach Mensch, Bärbel, mach
mir nicht den Mund wässerig … Ich möchte so, so gerne bei euch sein und singen
oder Handstand machen … Klar Mensch.
Dann bring ich meine schöne alte Weißgerber-Gitarre mit, auf der ich ja noch immer spiele.
Wenn wir die Demonstration richtig in die
Hand kriegen würden, könnten wir auch
ohne Zweifel die Führung bestimmter Prozesse wieder fester in die Hand bekommen.
GAMMA / STUDIO X
So werden die treuen IM und SED-Genossen unter den Kulturschaffenden verpflichtet, „sich in einem angemessenen
Umfang an dieser Veranstaltung aktiv zu
beteiligen“: Sie sollen der Kundgebung
„durch ihr Auftreten bzw. ihre mitgeführten Losungen im Sinne unserer neuen
Medienpolitik ein progressives Gepräge
geben“.
Zustimmend nehmen die versammelten
Partei-, Polizei- und Geheimdienstgrößen
die von den Veranstaltern vorgeschlagenen
Losungen zur Kenntnis. Die Parolen sind
brav genug – von der Feststellung „Die
Straße ist die Tribüne des Volkes“ bis zu
dem Spruch „Misstrauen ist die 1. Bürgerpflicht“.
Sorge bereitet den Strategen die Möglichkeit, dass ein Teil der Demonstranten
einfach zur Mauer weitermarschieren
M. OLBRISCH
Nötig sei vielmehr, so Hoffmann, „ein
hohes Maß an Beweglichkeit“. Ein möglichst großes Aufgebot von SED-Freunden
mit Reform-Image müsse, so offenbar sein
Kalkül, die geplanten Auftritte von SEDGegnern zumindest neutralisieren:
Dissident Biermann (1975)
„Oh, ihr wunderbar Verrückten“
könnte. Polizeipräsident Rausch erklärt
sich bereit, noch einmal mit den Initiatoren
im Vorbereitungskomitee zu sprechen, um
ihnen „mit aller Deutlichkeit“ darzulegen,
dass „die Brücken am Marx-Engels-Platz
unsere Festung bleiben müssen“ – von dort
bis zum Brandenburger Tor sind es noch
anderthalb Kilometer.
Mit unterschiedlichem Ergebnis versuchen die Konspirateure, auf die Rednerliste Einfluss zu nehmen. Die Idee von
SED-Kulturfunktionären, Egon Krenz aufs
Podium zu hieven, wird rasch fallen gelassen. Erich Mielke ruft den pensionierten
Stasi-General, Reformkommunisten und
Einheitsgegner Markus Wolf an und fragt
ihn, ob auch er auf der Freiheitskundgebung zum Volk sprechen wolle.
Alarmiert zeigt sich das MfS über „interne Informationen“, dass „die Führungskräfte des ,Neuen Forum‘ zunehmend Einfluss auf die Gestaltung der geplanten Demonstration erlangen“: „Die Bohley“ habe
Bohley: Am 4., Wolf …
Biermann: Oh, ihr Verrückten, ihr wunderbar Verrückten. Ich will das gerne,
natürlich … Aber ich muss dir wirklich sagen, Bärbel, diese affenartige Geschwindigkeit, mit der sich diese alten Schweinehunde jetzt ändern – da hat man natürlich
Angst, dass sie sich nicht ändern, sondern
nur winden, dass sie sich nur krümmen in
die nächste Schiefheit und dass sie sozusagen mit Wahrheiten wieder lügen. Ich
sehe das mit großer Skepsis.
Eine Einreise Biermanns, des prominentesten aller DDR-Dissidenten, will das
Mielke-Ministerium um jeden Preis verhindern. Dabei haben die Generäle willfährige „progressive Kunstschaffende“
(Stasi-Attribut) auf ihrer Seite.
Bei einer Besprechung im Polizeipräsidium sagt der Schauspieler Hans-Peter Minetti, Mitglied des ZK der SED, laut Akte:
„Biermann ist für uns inakzeptabel … der
Sozialismus steht für uns nicht zur Disposition, und wir lassen ihn auch nicht zur
Disposition stellen.“
Am 27. Oktober verfügt das MfS: Die
Reisesperre für Biermann wird aufrechterhalten.
Auch gegen einen Auftritt der Dissidenten Bärbel Bohley und Jürgen Fuchs interveniert die Stasi mit Erfolg. Auf einem Vorbereitungstreffen der Veranstalter besteht
laut Protokoll Einigkeit bei den Organisatoren: „Wir sorgen dafür, dass die richtigen
Redner sprechen und bei allem Ernst der
Situation wir auf heitere Art den Problemen zu Leibe rücken.“
Am Ende stehen 26 Redner auf der Liste
– großenteils „Persönlichkeiten“ (Stasi-Terminus) wie Rechtsanwalt Gysi und andere
SED-Genossen. Dazwischen gemischt sind
etliche systemtreue Reformer und gerade
mal vier Vertreter der neuen BürgerbeweBürgerrechtlerin Bohley
Einladung für den Liedermacher
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
zwischen Dissidenten und Stasi. Nur 17
von 80 Oppositionellen erreichten die
Wohnung in Berlin-Mitte.
Doch nicht nur die Geheimpolizei hat im
Vorfeld der DA-Gründung für Probleme
gesorgt. Zwischen zwei führenden Köpfen
der Bürgerbewegung kriselt es: Bohley und
Eppelmann, die sich nicht ausstehen können, hatten sich abgesprochen, einander
über alle Gründungsabsichten zu informieren. Bohleys Neues Forum, so der Vorwurf der DA-Initiatoren, habe die Absprache gebrochen.
Dass die Malerin eine lockere Sammlungsbewegung ins Leben gerufen hat, der
Pfarrer dagegen eine klassische Partei
gründen will – das ist nicht nur Folge strategischer Differenzen. Bohley misstraut
dem juristischen Berater des DA, dem Rostocker Rechtsanwalt und Eppelmann-Mitstreiter Wolfgang Schnur, 45.
Der kleine Mann mit den großen Augen, Rechtsvertreter vieler Oppositioneller,
umtriebigen wie umstrittenen Juristen
Schnur. Für Eppelmann, der sich als „geistigen Vater“ des DA sieht, ist die Wahlschlappe eine „schmerzliche Überraschung“: Noch Anfang des Monats, als die
Stasi die DA-Gründung verhinderte, wären
seine Anhänger in der Mehrheit gewesen.
Eppelmanns Kontrahent Schnur hat
am selben Tag noch einen zweiten wichtigen Termin. Nach Anbruch der Dunkelheit fährt der Anwalt, wie so oft in den
letzten Monaten, in die Greifswalder
Straße 87 im Prenzlauer Berg. Dort, in einer Konspirativen Wohnung der Stasi, berichtet er brühwarm über den Coup, der
ihn an die Spitze der DDR-Opposition geführt hat.
Sonntag, 29. Oktober 1989
Sein Führungsoffizier Joachim Wiegand,
Ost-Berlin
57, zählt den „IM Torsten“ zu seinen besten Kräften: Seit Schnur im Alter von 18
Das Königin-Elisabeth-Krankenhaus liegt
Jahren eine Stasi-Verpflichtungserklärung
nur wenige hundert Meter von der Mauer
unterschrieben hat, zeichnet er sich durch
entfernt, wo wie an jedem Morgen Grenz„operative Geschicklichkeit“ aus. Sogar
soldaten Posten stehen. Doch allen Beden Entwurf des DA-Statuts hat er mit der
Stasi abgestimmt. Nun kann Wiegand melden, dass mit Schnur ein Mann den DA
führt, der sich „gegen einen Konflikt mit
der SED“ ausspreche, während Eppelmann
die „Aufhebung der führenden Rolle“ der
Einheitspartei fordere.
Seit mehr als 20 Jahren schon informiert
Schnur die Geheimpolizei über Absichten
und Ansichten von Bürgerrechtlern und
Geistlichen. Allein in der Rostocker StasiZentrale füllen die Berichte des IM, der
auch als „Dr. Ralf Schirmer“ geführt wurde, mehr als 20 Aktenordner.
Während seiner Spitzeltätigkeit vertritt
Schnur Oppositionelle wie die Regisseurin Freya Klier und deren Mann Stefan
Krawczyk. Im Auftrag der Stasi hat der Anwalt mit Psycho-Tricks dafür gesorgt, dass
beide nach ihrer Verhaftung 1988 gegen
ihren Willen aus der DDR ausreisten.
Mit „Onkel Jo“ Wiegand – wie Schnurs
Kinder den Freund der Familie nennen –
Stasi-Opfer Eppelmann, Stasi-Agent Schnur*: Spitzelberichte für „Onkel Jo“
verbindet den Spitzenspitzel
„kameradschaftliche Zusamfürchtungen zum Trotz scheinen sich die steht bei einigen im Verdacht,
menarbeit“. Die fördert nicht
Uniformierten wenig darum zu kümmern, für die Stasi zu arbeiten.
nur die Karriere des Agenwas in der kircheneigenen Klinik vorgeht. Doch die meisten der Kirtenführers, sondern zahlt sich
Unbehelligt betreten rund 200 Frauen chenleute im DA halten das
auch für Schnur aus.
und Männer, darunter viele fromme Bart- für üble Gerüchtemacherei;
Schon vor Jahren hat die
träger, den Gemeindesaal des evangeli- sie sehen in dem Anwalt vor
Stasi dem Juristen zu einer
schen Krankenhauses. Dort wollen sie allem einen geschickten JurisZulassung als Einzelanwalt
heimlich eine Partei gründen, die den Herr- ten und Organisator, der ihre
verholfen. Seine Spitzelbeschenden ganz und gar nicht genehm ist: Reformvorstellungen teilt.
richte werden überdurchSchnur hat auch das DAden Demokratischen Aufbruch (DA).
schnittlich gut honoriert,
Es ist nicht der erste Gründungsversuch. Statut mitentworfen, in dem
dazu kommen Spesen für
Noch am 1. Oktober hat die Stasi eine DA- es in schönstem BürokratenHotelaufenthalte sowie BenZusammenkunft in der Kirchengemeinde deutsch heißt: „Die Vertre- Stasi-Mann Wiegand
zin fürs Westauto und ab
von Rainer Eppelmann verhindert (siehe tung im Rechtsverkehr erfolgt
Porträt Seite 100). Auf kleinen Zetteln gab durch den Vorsitzenden und einen zu be- und zu Auszeichnungen samt Zusatzprämie.
der Pfarrer darauf einen neuen Versamm- stimmenden Stellvertreter.“
Den letzten Orden hat Mielke dem
Zum Vorsitzenden ihrer „Partei in Grünlungsort aus: die Wohnung des Theologen
dung“ wählen die Versammelten nicht den Vorsitzenden des DA erst jüngst verliehen
Ehrhart Neubert.
Kaum hatte sich der neue Treffpunkt allgemein geschätzten Pfarrer Eppelmann, – zum 40. Jahrestag der DDR, als Mielkes
herumgesprochen, begann ein Wettlauf dessen „Blues-Messen“ der Opposition Schläger auch Schnurs Kirchenfreunde
Schutz boten und gegen den die Stasi malträtierten.
J OCH E N B ÖLSCH E ;
* Bei der DA-Gründung am 29. Oktober.
Mordpläne schmiedete, sondern den so STEFAN BERG, Norbert F. Pötzl, Peter Wensierski
DPA
W. BEU
gungen, darunter Jens Reich und Marianne
Birthler, in Stasi-Aktenvermerken als „hinlänglich bekannte Kräfte“ abgestempelt.
Auch Kulturminister Hoffmann trägt zur
Optimierung der Rednerliste bei. Der Zensur-Verfechter verzichtet zu Gunsten von
Günter Schabowski darauf, auf der Künstler-Demo zum Thema Freiheit zu reden.
„Für die Schlacht“ sei der wendige
Polit-Bürokrat Schabowski geeigneter, findet Hoffmann – in dieser schwierigen Lage
müsse die Partei Genossen aufbieten, die,
anders als er, „nicht von vornherein ausgepfiffen werden“.
96
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
PORTRÄT
»Ick find det ja
schau«
Rainer Eppelmann: Der ehemalige Bürgerrechtler
genießt seine Rolle als CDU-Vorzeigefigur
100
Nur der Ministerkollege im Westen,
Gerhard Stoltenberg, widersetzt sich der
Charme-Offensive des Ost-Pfarrers bockig.
Eppelmann schlägt ihm 1990 als Ort für ein
erstes Treffen Torgau an der Elbe vor – wo
1945 Amerikaner und Sowjets sich die Hände reichten. Stoltenberg findet, das Holiday
Inn Airport Hotel in Köln reiche auch. Fünf
Monate später ist Deutschland geeint – und
Eppelmann nicht mehr Minister.
„Früher hat man sich vom Kennenlernen
bis zu dem Moment, in dem man sich ins
AP
E
s gibt Tage, da legt Pfarrer Rainer Eppelmann, 56, sein theologisches Rüstzeug inzwischen ab wie der Seidenspinner den Kokon.
Er vergisst dann Lukas 18, Vers 20: „Du
sollst nicht falsch Zeugnis reden.“ Auch
Römer 16, Vers 17: „Dass ihr euch in Acht
nehmt vor denen, die Zwietracht und Ärgernis anrichten.“ Und ist mit Fleisch und
Blut und ohne rote Ohren Politiker.
Ein „Arbeitslosenmarsch nach Berlin“
sei kaum mehr zu vermeiden, weissagt Eppelmann im Sommer 1999. Die „Gerechtigkeitslüge“ und die „Arbeitsmarktlüge“
der Regierung Schröder trügen Schuld an
der Misere.
Und er? 1989 ist Eppelmann Politiker
geworden. Acht Jahre lang hat seine Partei,
die CDU, nach der Wende Deutschland regiert. Aus zwei Millionen Arbeitslosen wurden fast fünf in jener Zeit. Aus dem von
Staats wegen verfolgten DDR-Bürgerrechtler Eppelmann aber wurde ein Mitglied des gesamtdeutschen CDU-Präsidiums. Eppelmann sagt: „Ich bin mir treu
geblieben. Nur die Verhältnisse haben sich
geändert.“
Vor 1989 war der Mann mit dem Ulbrichtbart und den zupackenden Händen
als aufmüpfiger Seelsorger der Berliner
Samariterkirche und Bausoldat, als StasiOpfer und politischer Häftling ein dicker
Dorn im wachsamen Auge des SED-Staats.
Im Wendejahr 1990 aber wird der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs
mit einem Schlag Minister, zuerst ohne Geschäftsbereich, dann für Abrüstung und
Verteidigung. Vom Objekt wandelt er sich
zum Subjekt der Staatsräson – ein Quantensprung mit Punktlandung, vom Rand
ins Zentrum der Gesellschaft. Es folgen
sechs Monate Weltpolitik mit menschlichem Antlitz.
Eppelmann erscheint bei Gorbatschow
im Kreml mit einer handverzierten Kerze,
auf der „Spassibo“ steht – danke; er versichert den Oberbefehlshaber der waffenstarrenden Warschauer-Pakt-Truppen beim
Sekt seiner Freundschaft, um dann den Abschied der DDR vom Bündnis zu besiegeln. Und er stellt den gestürzten Honecker
mit den Worten: „Ich komme als Mensch.“
Das geforderte Schuldbekenntnis des greisen Ex-Patriarchen tippt Margot Honecker
eigenhändig unter Eppelmanns Augen.
Bett legte, ein wenig mehr Zeit gelassen“,
sagt Eppelmann später säuerlich. Er tröstet sich mit einem Bundestagsmandat,
dem Vorsitz der Christlich Demokratischen
Arbeitnehmerschaft (CDA) und einem
Platz im CDU-Präsidium.
Eppelmann sagt, er wolle was bewegen,
als Pendler zwischen den Welten. Aber versteht der Westen, was den Osten beschäftigt, und umgekehrt? „Zumindest da, wo
Rainer Eppelmann uffjetreten is’“, sagt
Rainer Eppelmann. Schwer zu sagen, wann
er scherzt.
Die verheerenden Urteile vieler seiner
Parteifreunde scheinen ihn nicht zu erreichen oder nicht zu bekümmern. Der ehemals Unbeugsame habe es seit der Wende
versäumt, für „irgendetwas gerade zu stehen“, heißt es. Stattdessen wolle er es allen recht machen: „Ein Pfarrer eben, Gutmensch; bekanntermaßen richten solche
Leute nicht unerheblichen Schaden an.“
Gerade im Urteil des Ostens hat’s Eppelmann schwer. Vermutlich auch, weil er
immer da steht, wo die Mehrheit nicht ist
– in der DDR am Rand, seither im Mittel-
Christdemokrat Eppelmann, Parteifreund Kohl (1989): „Weil ick ja so bejehrt bin“
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
punkt. Und weil er einerseits betont, das
proletarische Maurer- vor dem Pfarrerhandwerk erlernt zu haben, andererseits
aber zunehmend von sich selbst in der dritten Person spricht: „Ick jeh mal davon aus,
dass der Rainer Eppelmann ooch eitel is’“.
„Dass man Rainer so leicht in die Pfanne hauen kann, hat einen Grund: Er ist
authentisch“, sagt Katja Havemann. Die
„Ich bin mir treu
geblieben“, sagt der Pendler
zwischen den Welten,
„nur die Verhältnisse
haben sich geändert.“
Witwe des Regimekritikers Robert Havemann, mit dem zusammen Eppelmann
1982 den „Berliner Appell“ verfasst hat,
vermutet, des Pfarrers Geltungsdrang könne frühen Kränkungen geschuldet sein:
„Die Stasi wollte ihn ja umlegen. Er sagt
sich: Jetzt bin ich einflussreicher als ihr.“
Gehetzt wirkt er immer noch, zehn Jahre nach der Wende. Nur anders als früher,
als sie ihm Wanzen in die Wohnung gepflanzt, eine untreue Ehefrau angedichtet,
und nach dem Leben getrachtet haben.
Jetzt hetzt er sich selbst. Zwischen dem
Plenarsaal des Bundestages, Referaten vor
Senioren im Bergischen Land und Ortsterminen in einsamen märkischen Flecken rudert der Abgeordnete nun im Rhythmus
der Macher-Gesellschaft – mit einer Schlagzahl, die das Gefühl von Bedeutung gibt
und die Angst vor der Leere nimmt.
Eine organische Herzstörung haben die
Ärzte letztes Jahr bei ihm festgestellt –
nichts Schlimmes, sagt er. Seine Ehefrau
hat ihn zum zweiten Mal verlassen.
Traurig, aber nicht zu ändern, sagt der
Christdemokrat: „Dit is’ eben der Eppelmann. Der is’ anders nicht zu haben.“ Und
überspielt Zweifel am Sinn seines Tuns bei
Auftritten im Osten, wo Hast weithin noch
als verdächtig gilt, mit dem ihm eigenen
Humor: „Ihr wisst ja, dass ick heut’ noch
mal lospfeifen muss nach NRW, weil ick ja
so bejehrt bin.“
Als Spitzenkandidat der brandenburgischen CDU hat Eppelmann bei der
Bundestagswahl 1998 das schlechteste
Zweitstimmen-Ergebnis aller Landesverbände eingefahren. Und keine einzige
Erststimme. Er hatte die Anmeldung verschlafen.
Ginge es danach, „wat Kutte und Luise
so sajen“, wie Eppelmann Volkes Meinung
nennt, war diese Panne ein Dämpfer zur
rechten Zeit – für einen, der mit blütenreiner Widerstandsbiografie ein wenig zu
glatt ins neue System geschlüpft ist.
Eppelmann selbst sieht wenig Anlass, sich
in Frage zu stellen. Er sagt: „Ick find det ja
schau, wat ick jetzt mache.“ WALT E R M AYR
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
ANALYSE
»Für Gott und Adenauer«
Schutzraum Gotteshaus: In den DDR-Kirchen keimte die Wende –
trotz Überwachung, Mordkomplotten und Schikanen
D
er 7. Mai 1953 war einer der Höhepunkte im Leben des Walter Ulbricht. An jenem Tag, wenige Wochen nach dem Tode Josef Stalins, reiste
der DDR-Führer an die Oder, um eine neu
erbaute Stadt zu weihen – Stalinstadt sollte sie fortan heißen.
Mit der Kommune, in unmittelbarer
Nähe eines soeben aus dem Boden gestampften Stahlwerkes, sollte die erste sozialistische Stadt auf deutschem Boden
verwirklicht werden – ein Gemeinwesen, in
Zum Gottesdienst trafen sich die wenigen
Frommen in einer Holzbaracke, ohne dass
eine Glocke zum Gebet rufen durfte. Erst
1977 willigte die SED in den Bau eines Gemeindezentrums ein – als der Wunsch nach
Devisen den nach ideologischer Reinheit
zurücktreten ließ. Gegen Westgeld durfte
die evangelische Kirche ein Gotteshaus in
Eisenhüttenstadt errichten.
Der Kampf gegen die Kirche war für Ulbricht eine Herzenssache. „Die ,Junge Gemeinde‘ in Berlin gehört zu den ärgsten
November 1952. Beispiel: „Dem Pfarrer G.
in Karbe ist es gelungen, die gesamte FDJGruppe für die ,Junge Gemeinde‘ zu gewinnen. Große Zugkraft besitzt hier der
Sänger- und Bläserchor.“
Bei harten Worten beließen es die Parteioberen nicht. In den Fünfzigern führten
SED und Stasi einen offenen, brutalen
Kampf gegen die Kirche – mit Verhaftungen, Brandstiftungen und Schikanen.
Um die Kirche zu schwächen, schuf Ulbricht eigene Glaubensinhalte: Er setzte
1955 der Konfirmation die atheistische Jugendweihe entgegen, ließ später die „Zehn
Gebote der sozialistischen Moral“ sowie
die „Gebote der Jungpioniere“ verkünden.
Die Folgen der konzertierten Aktion aus
brutaler Gewalt und atheistischen Gegenangeboten waren verheerend: Weite Teile
des Bürgertums verließen die DDR gen
Westen, darunter tausende Kirchgänger.
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
Weder Spitzel noch
Einfluss-Agenten bekamen
die zunehmend
rebellische Basis der
Kirche in den Griff.
SED-Chef Honecker (r.), Kirchenführer (1987)*: Limousinen für die Oberhirten
dem die „historische Mission“ der Arbeiterklasse Gestalt annehmen und kein Platz
für andere Missionare sein sollte.
Er sei gefragt worden, erklärte Ulbricht
zur „Namensweihe“, ob die Stadt Türme
erhalten werde. Antwort: „Jawohl, das Gebäude, das die neue Volksmacht repräsentiert, das Rathaus, wird selbstverständlich
einen schönen Turm bekommen. Im Stadtplan ist ein schönes Kulturgebäude vorgesehen. Das wird einen noch schöneren
Turm erhalten.“ Andere Türme brauche
die Stadt nicht, jedenfalls „keine Türme
bürgerlich-kapitalistischer Verdummungsanstalten“ – zu Deutsch: keine Kirchen.
Jahrzehntelang wurde der kleinen Christenschar in Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt) der Bau einer Kirche verwehrt.
104
konterrevolutionären Kräften“, schimpfte
er im Politbüro, schlimmer als die Sozialdemokratie: „Sie sind Anhänger der Nato
und des Klerikalismus. Sozialdemokratische Funktionäre sind oft feige, aber die
von der ,Jungen Gemeinde‘ sind fanatisch.
Sie sterben für Gott und Adenauer.“
Der sozialistische Jugendverband FDJ,
den Erich Honecker von 1946 bis 1955 führte, fürchtete die fromme Konkurrenz. „Es
ist der ,Jungen Gemeinde‘ gelungen, innerhalb eines Jahres einen Zuwachs von
50 Prozent Mitgliedern zu erhalten“, notierte Stasi-Chef Erich Mielke bereits im
* Landesbischof Werner Leich (4. v. r.) und Konsistorialpräsident Manfred Stolpe (3. v. r.) bei Honeckers
75. Geburtstag.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Der Umgang von SED und Stasi mit den
Kirchen hat sich immer wieder geändert,
die Grundeinstellung aber nicht. „Allein
durch ihre Existenz“, bilanziert der Historiker Stefan Wolle, „untergruben die Kirchen das ideologische Wahrheitsmonopol,
forderten die Staatsmacht an ihrer empfindlichsten Stelle heraus und wurden damit, ob sie es wollten oder nicht, zur ,offenen Tür‘ in einer geschlossenen Gesellschaft, hinter der die Macht der SED nur
sehr eingeschränkt galt.“
Nach der Aus- und Gleichschaltung der
politischen Parteien und Massenorganisationen blieben als selbständige gesellschaftliche Instanzen nur die Kirchen. Gefürchtet war vor allem die evangelische
Kirche, die in beinahe jedem Dorf mit Räumen und Mitarbeitern präsent war.
Zwar haben die Kirchenoberen niemals
eine Strategie entwickelt, ihre Institution
zur Operationsbasis für die Opposition zu
machen. Dennoch glaubte die Stasi in
ihrem Verschwörungswahn jahrzehntelang
daran, die Geistlichen wirkten gezielt darauf hin, den SED-Staat von innen aus-
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
100 TAGE IM HERBST: »KRENZ – KEIN LENZ«
abgelehnt, da der Aufwand zu hoch und
das Ergebnis nicht kalkulierbar“ war.
Ein Mordkomplott gegen Pfarrer Eppelmann wurde abgeblasen, weil „das zu Schaden kommen von unbeteiligten Personen
nicht ausgeschlossen werden konnte“. Eppelmann sollte laut Stasi-Bericht spätabends in seinem Trabi sterben. „Hierzu
wurden mehrere Varianten geprüft (Radmuttern lockern, in der Kurve Scheibe zerstören, vor der Kurve Spiegel aufstellen).“
Ein öffentliches Konzert 1976 in der
Nikolaikirche von Prenzlau, bei dem
Wolf Biermann sang, wurde für oppositionelle Gruppen und Pastoren zur
D. EISERMANN
zuhöhlen. In Wahrheit waren die Oberhirten, geprägt von den Erfahrungen der fünfziger Jahre, vorwiegend auf die Erhaltung
der eigenen Institution aus. Viele passten
sich an, schwiegen zu Mauer-Schüssen und
Stasi-Terror. Nicht wenige ließen sich mit
Privilegien ködern. Für die Genehmigung
von Westreisen oder die Erlaubnis zum
Import von Luxuslimousinen dankten
Bischöfe bisweilen gar mit Lobeshymnen
auf Erich Honecker.
Trotz aller Schikanen ließ sich die Masse der Jüngeren auf Dauer weder von den
leidvollen Erfahrungen der Älteren einschüchtern noch von den Privilegien kor-
Kirchliche Friedensaktion (1983), Friedenszeichen
„Radmuttern lockern, in der Kurve Scheibe zerstören“
rumpieren. Sie nutzten den Freiraum Kirche und öffneten ihre Räume zunehmend
für offene Jugendarbeit, Friedenskreise
oder die Beratung von Wehrdienstverweigerern.
Gegen renitente Gemeindepfarrer oder
Kirchenhelfer ging die Stasi häufig brutal
vor: Es wurde verprügelt, denunziert und
drangsaliert, selbst vor Mordplänen
schreckten Mielkes Helfer nicht zurück.
Dem Ost-Berliner Dissidenten Ralf
Hirsch etwa sollte, so hatten sich kranke
Hirne in der Bezirksfiliale Berlin des MfS
ausgedacht, eine Vergewaltigung im Vollrausch untergeschoben werden. Der junge
Mann, der gute Kontakte zu westlichen
Korrespondenten hielt und zum engsten
Kreis um den Pfarrer Rainer Eppelmann
von der Ost-Berliner Samaritergemeinde
gehörte, schien den Mielke-Leuten so gefährlich, dass sie sogar erwogen, ihn betrunken zu machen und dann „in einer
strengen Winternacht“ (Stasi-Akten) erfrieren zu lassen.
Die Ost-Berliner Pfarrerin Ruth Misselwitz, die zusammen mit ihrem Mann, dem
Pfarrer Hans-Jürgen Misselwitz, ebenfalls
zur kirchlichen Kern-Opposition gegen das
Regime gehörte, sollte bei einem Fahrradunfall zu Tode kommen. „Der Plan“, heißt
es in den Stasi-Unterlagen lapidar, „wurde
Initialzündung. Überall im
Land öffneten sich nun
Kirchentore für kritische
Schriftsteller wie Stefan Heym,
Günter de Bruyn und Rolf Schneider.
Nachdem die SED-Führung, auf internationale Anerkennung bedacht, 1975 die
KSZE-Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatte, verzichtete sie weitgehend
auf offene Konfrontation mit den Kirchen;
Strafverfolgung kritischer Pfarrer und Dissidenten wurde selten.
Umso mehr agierte die Stasi im Verborgenen. Das Spitzelsystem, mit dem der
Staatssicherheitsdienst vor allem die evangelische Kirche durchdrang, wurde ausgebaut. Ende der achtziger Jahre waren allein
3000 Inoffizielle Mitarbeiter gegen die Protestanten im Einsatz.
„Unser Ziel“, so Klaus Roßberg,
langjähriger Chef der Stasi-Kirchenabteilung, „war die Lagebeherrschung.“ Zumindest in den Chefetagen hatte die Mielke-Truppe Erfolg: Durch Spitzeldienste
Inoffizieller Mitarbeiter wie Konsistorialpräsident Martin Kirchner (IM „Küster“)
und durch Offiziere im besonderen Einsatz
wie Kirchenjurist Detlef Hammer (OibE
„Günter“) war Mielke stets im Bilde.
Doch die Kirche war nie so autoritär
und zentralistisch aufgebaut wie SED und
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Stasi. Weder Spitzel noch Einflussagenten
bekamen die zunehmend rebellische Basis
der Kirche in den Griff.
Nahezu zeitgleich mit der Friedens- und
Ökologiebewegung im Westen erfasste
auch im Osten Deutschlands die Angst vor
Hochrüstung und Umweltverschmutzung
weite Teile der Jugend. Blues-Messen und
Friedenswerkstätten wurden von jungen
Männern und Frauen, die sich mit den platten Parteiparolen nicht länger abspeisen
lassen wollten, regelrecht gestürmt.
Der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zum Symbol der DDR-Friedensbewegung – und von den „Organen“
als böse Provokation empfunden. Weil das
Friedenszeichen nur schwer zu entfernen
war, beschlagnahmte die Polizei oft gleich
die ganze Jeans-Jacke.
Hart ging die Stasi gegen Pfarrer und
Gläubige vor, die sich den Protest der rebellischen Generation zu Eigen machten
und selbst in Umwelt- und Menschenrechtsgruppen mitwirkten. In der Nacht
vom 24. zum 25. November 1987 stürmten
Stasi-Männer gar die Räume der Zionsgemeinde in Berlin, in denen eine kirchliche
„Umweltbibliothek“ untergebracht war.
Doch solche Aktionen konnten die Opposition nicht mehr zerschlagen. Im Gegenteil: Sie schweißten die Szene
zusammen.
Die SED-Propaganda verfiel daraufhin wieder in den
Tonfall der fünfziger Jahre.
So schrieb ein Hans-Dieter
Schütt 1987 im FDJ-Blatt
„Junge Welt“: „Der Feind,
ob er nun mit missionarischem Eifer junge Literaten
gegen uns losschickt, ob er nun
in der Pose des Mahnwächters,
stets pünktlich auf Bestellung mit Fernsehkameras, vor Kirchentore zieht, oder
ob er Rowdys mit faschistischem Vokabular und Schlagwaffen ausrüstet – er hat bei
uns keine Chance.“ Die Genossen sollten
sich täuschen. Schritt für Schritt wagten
Oppositionelle den Weg aus dem Schutzraum Kirche.
Landesweit organisierten kirchliche und
nichtkirchliche Oppositionsgruppen im
Frühjahr 1989 eine Aktion, die auch vielen
treuen Genossen die Augen öffnete: Sie
kontrollierten am 7. Mai die Stimmenauszählung der Kommunalwahlen – und kamen so den Fälschern auf die Schliche.
Dass es hunderten DDR-Bürgern auf
diese Weise gelang, der Staatsführung
Wahlbetrug nachzuweisen, läutete die letzte Runde im Konflikt zwischen Regierenden und Regierten ein.
Stefan Berg
Im nächsten Heft
„Schnitzler in die Muppet-Show!“ – Offenbarungseid in Moskau – Millionen-Demo auf dem
Alex – „Jetzt hilft nur noch Modrow“
107
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Markus’ Mörder habe sein
Opfer nur zerstückelt, um
die Leiche besser transportieren zu können.
Klaus-Günther Ebel,
Anwalt von Alexander B.,
bezweifelt diese Theorien.
Die Ähnlichkeit der beiden Fälle sei „einfach zu
Anderthalb Jahre nach
groß“. Er wittert Morgendem makaberen Mord ist der Fall
luft, zumal Alexander B.
offener denn je. Unbekannte
noch keineswegs überstahlen den Kopf des Opfers aus
führt ist. Der Junge kam
1997 aus Kasachstan nach
dem Grab. Die wahren Täter?
Deutschland. Er bestreitet
die Tat hartnäckig.
ei Mondschein stachen Unbekannte
Der
Haftbefehl
die Heidepflanzen in akkuraten
stützt sich im WesentRechtecken aus dem Boden. Sie
lichen auf Jugendliwarfen die Plüsch-Teddys auf dem Grab
che, die ausgesagt haneben das weiße Steinkreuz und häuften
ben, der Kasache habe
die sandige Erde mit dem Spaten neben
mit dem Mord gedie Grube. Dann zertrümmerten die Täter
prahlt. „Es wird eiden Sargdeckel, zogen den Schädel heraus
ne außerordentlich
und machten sich ungesehen davon.
schwere
BeweisDie makabere Tat wirft neue Rätsel auf
führung“, gibt Chrisin einem der grauenhaftesten Mordfälle
tian Gottfriedsen von
der letzten Jahre, denn in dem Grab lag die
der
StaatsanwaltLeiche von Markus Wachtel. Der 13-jähri- Geöffnetes Grab, Mordopfer Wachtel: Grauenhaft zerstückelt
schaft Hildesheim zu.
ge Junge aus dem niedersächsischen
Die Ermittler hätten „Zeugenbeweise“,
Peine-Stederdorf war Anfang März
aber „keine Tatzeugen und Sachbeweise“.
vergangenen Jahres erwürgt und
Alexander B. soll auf einem Garagendann in sechs Teile zerstückelt worhof Zigaretten von Markus Wachtel geforden. Nun grübeln Ermittler, wer den
dert haben. Als der nicht darauf einging, sei
Schädel gestohlen haben könnte.
es zu einer Schlägerei gekommen. Danach
Waren es Komplizen des Hauptverhabe Alexander B. Markus erwürgt. Bei
dächtigen? Verrückte? Oder vielder Auseinandersetzung sollen andere Jumehr die wahren Täter?
gendliche, die meisten ebenfalls Aussiedler,
In einer Blitzaktion durchsuchte
dabei gewesen sein. Mehrere bestätigen,
die Polizei zeitgleich sieben Wohes habe die Keilerei gegeben. Andere wisnungen von Freunden und Verwandsen nur von einem friedlichen Treffen der
ten des Hauptverdächtigen Alexanbeiden. Wieder andere bestreiten, dass
der B., der seit fünf Wochen wegen
Markus überhaupt da gewesen sei. Den
Mordverdachts in Untersuchungshaft
Mord will keiner gesehen haben.
sitzt. Doch keiner der sichergestellten
Die Polizei hatte die Russlanddeutschen
Schuhe passte zu dem Abdruck, der
sofort im Visier: Ihre Telefone wurden abam Grab gefunden wurde. Auch fangehört, ihre Wohnungen und Garagen
den die Beamten weder Schmutz- Verdächtiger Alexander B.: Ein Unfall?
durchsucht, Leichenspürhunde eingesetzt.
reste noch Tatwerkzeug.
Dabei hatten die Fahnder gehofft, Grab- versucht, das Grab des Mordopfers Tristan Fasern ihrer Kleidung wurden analysiert.
schänder und Mittäter könnten identisch Brübach zu öffnen, wurden offenbar aber Weil an der Leiche von Markus fremde
sein und sich so entlarven. Denn so viel ist gestört. Auch hier hoben die Täter die Hautschüppchen gefunden wurden, schickklar: Sollte der Russlanddeutsche Alexan- Gruft „fast professionell“ aus, so Klaus ten die Ermittler die 2100 männlichen Steder B., 18, Markus ermordet haben, muss er Buhlmann von der Kriminalpolizei in derdorfer, auch die Aussiedler, zum DNATest. Alles ohne Ergebnis.
Helfer gehabt haben, die beim Aufbewah- Peine.
Der Hauptbelastungszeuge, heute 16
ren, Zerstückeln und Transport der Leiche
Mehr der Gemeinsamkeiten: Beide Opmit angepackt haben.
fer waren 13 Jahre alt, beide waren Jungen, Jahre alt, hat erst eineinhalb Jahre nach
Doch nun ist wieder alles offen: Nekro- beide starben im März 1998 – und beide dem Mord geplaudert. Alexander B. habe
phile könnten das Grab geschändet haben, wurden grauenhaft zerstückelt. Trotzdem gesagt: „Ich habe Markus umgebracht, aber
um sich so zu befriedigen. Es könnten aber glaubt die Polizei allenfalls bei der Grab- das war ein Unfall.“ Bei einer erneuten
auch Satanisten gewesen sein oder Tro- schändung an einen Zusammenhang. Die Vernehmung zwei Tage später schwächte
phäenjäger, die sich für das prominente Art, wie die Jungen zerschnitten worden der Zeuge seine Aussage aber wieder ab.
Für die Eltern von Markus Wachtel ist
Mordopfer interessierten.
sind, lasse auf unterschiedliche Täter
Auf jeden Fall bestärkt die nächtliche schließen: Bei Tristan, der in einem Bahn- schon das Hin und Her der Ermittlungen
Buddelei Zweifel an der Schuld des Haupt- hofstunnel aufgefunden wurde, sei es wohl ein Alptraum ohne Ende. Am vergangenen
verdächtigen, denn immer deutlicher wer- eher ein Geisteskranker gewesen, der den Samstag mussten sie ihren einzigen Sohn
den jetzt Parallelen zu einem anderen Fall, Jungen „regelrecht angefallen“ habe, mut- ein zweites Mal beerdigen. Sollte sein
mit dem er kaum etwas zu tun haben kann: maßt Polizeipsychologe Volker Ludwig, der Kopf je wiedergefunden werden, wird es
Eine Woche vor der Grabschändung in ein Täterprofil erstellt hat. Die Peiner wohl eine dritte Bestattung geben müsStederdorf hatten Unbekannte in Frankfurt Mordkommission geht hingegen davon aus, sen.
Cordula Meyer
VERBRECHEN
Fast
professionell
BILD ZEITUNG
DPA
DPA
B
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
111
Deutschland
ZEITGESCHICHTE
„Wir nehmen Vorwürfe ernst“
112
Umstrittenes Tarnopol-Foto aus der Wehrmachtsausstellung*: „Defizit deutlich geworden“
Heer: Das ist absurd. Da übernimmt
Ungváry – ohne den Versuch eines Beweises – eine alte Rechnung von rechtsextremen Pamphletisten.
SPIEGEL: Ungváry wirft Ihnen vor, ein retuschiertes Bild zu zeigen. Eine Leiche am
Galgen soll auf dem Originalfoto ein Schild
mit der Aufschrift „Ich bin ein Feigling“
tragen, was nahe legt, dass es sich um einen
deutschen Deserteur handelt. Auf dem
Foto in der Ausstellung fehlt die Aufschrift.
Heer: Wenn wir retuschierte Bilder fanden,
haben wir sie aussortiert. Möglicherweise
ist das Exemplar, das Ungváry vorlegen
will, retuschiert.
SPIEGEL: Ungváry fordert, zwischen Fällen
zu unterscheiden, in
denen Wehrmachtssoldaten selbst Menschen erschossen haben, und Fällen, in
denen die SS exekutierte, wenn auch im
Befehlsbereich der
Wehrmacht.
Heer: Da kann ich nur
zustimmen. Wenn ein
Organisator Heer
M. AUGUST
J. MÜLLER
SPIEGEL: Herr Heer, ein deutsch-polnischer
und ein ungarischer Historiker üben massive Kritik an der Wehrmachtsausstellung.
Muss sie komplett überarbeitet werden?
Heer: Nein. Wir nehmen die Vorwürfe von
Bogdan Musial und Krisztián Ungváry sehr
ernst, aber bevor wir etwas ändern, müssen
wir die Kritik prüfen.
SPIEGEL: Worum geht es?
Heer: Wir hatten in einem Archiv in Belgrad fünf Bilder gefunden, die eine Massenerschießung der 717. Infanteriedivision
zeigen. Musial hingegen meint, dass ein
Foto dieser Serie Opfer des sowjetischen
Geheimdienstes NKWD in Lemberg zeigt.
Der NKWD hatte dort 1941 beim Anrücken
der deutschen Truppen 4000 Gefangene liquidiert. Das eine Foto werden wir jetzt
überprüfen. Im Fall Zloczów können wir
Musial allerdings nicht ganz folgen.
SPIEGEL: Wieso nicht?
Heer: Der Vorgang ist kompliziert, wie der
SPIEGEL selbst Anfang des Jahres berichtet hat. Auch in Zloczów bei Lemberg ermordete der NKWD im Juni 1941 einige
hundert Gefangene, als die deutschen
Truppen näher kamen. Die Deutschen
zwangen die Juden Zloczóws, die NKWDOpfer auszugraben; anschließend wurden
die Juden von der SS erschossen. Das war
der Auftakt zu einer systematischen SSMordaktion, von der Wehrmacht geduldet,
der 3000 Juden zum Opfer fielen.
SPIEGEL: Und was kann man auf den Fotos
in Ihrer Ausstellung sehen?
Heer: Wir hatten ursprünglich drei Bilder,
von denen wir glaubten, sie zeigten die ermordeten Juden. Musial aber hält sie für die
NKWD-Opfer. Wir haben jetzt fünf weitere
Fotos gefunden, sie sind bereits in der Ausstellung zu sehen, die gerade in Osnabrück
gezeigt wird. Zwei unserer Fotos zeigen
tatsächlich die ermordeten Juden, zwei
andere zeigen die Juden beim Exhumieren der Leichen der
NKWD-Opfer, auf zwei
Fotos sind beide Opfergruppen zu erkennen,
und zwei Aufnahmen dokumentieren
den Mord des NKWD.
SPIEGEL: Der ungarische
Historiker Ungváry behauptet, dass nur ein
Zehntel Ihrer Fotos
Verbrechen der Wehrmacht zeigen.
Kritiker Musial
M. AUGUST
Der Historiker Hannes Heer über die
Kritik an den Fotos der Wehrmachtsausstellung
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Massaker der SS im Befehlsbereich der
Wehrmacht geschah, dann weiß man: Die
Wehrmacht war informiert.
In Bjelaja Zerkow bei Kiew hingegen
weigerte sich Generalfeldmarschall Walter
von Reichenau, ein Massaker an jüdischen
Kindern zu verhindern, nachdem der
Oberstleutnant Helmuth Groscurth die SS
gestoppt hatte. Reichenau hob Groscurths
Befehl einfach auf, und das Morden begann. Das ist eine klare Beteiligung, auch
wenn der Mordbefehl nicht von der Wehrmacht kam. Und es gab – auch das zeigt die
Ausstellung – Exekutionen, die die Wehrmacht eigenverantwortlich durchführte.
SPIEGEL: Als Sie 1995 die Ausstellung aufbauten, haben Sie die Bildlegenden der jeweiligen Archive übernommen. Unter Historikern war schon damals bekannt, dass
dieselben Bilder in unterschiedlichen Archiven unterschiedlich zugeordnet wurden.
Heer: Die Ausstellung spiegelt den Forschungsstand von 1995 wider. Ich kann
Ihnen Museen der Bundesrepublik nen* Wehrmachtssoldaten vor exhumierten NKWD-Opfern
am 3. oder 4. Juli 1941. In der Wehrmachtsausstellung war
ursprünglich von Opfern der Wehrmacht die Rede.
nen, in denen noch heute von uns korrekt
zugeordnete Fotos mit falschen Bildlegenden hängen. Das zeigt, in welchem Zustand
sich die Geschichtswissenschaft hinsichtlich der Zuordnung der Bilder jahrelang
befunden hat.
SPIEGEL: Ab wann haben Sie denn damit
angefangen, die Bildlegenden kritischer zu
betrachten?
Heer: Uns ist erst in den Auseinandersetzungen über die Ausstellung dieses Defizit
deutlich geworden. Als wir 1997 allein für
ein Bild in Archiven und Publikationen fünf
verschiedene Zuschreibungen fanden, fingen wir, unterstützt durch Hinweise von Besuchern, mit der kritischen Aufarbeitung an.
SPIEGEL: Ihren Kritikern haben Sie es damit
sehr einfach gemacht.
Heer: Nach dem Stand von 1995 kann ich
mir da keinen Vorwurf machen. Wir haben, wenn wir ein Wehrmachtsverbrechen
mit Dokumenten belegt hatten, nach Bildern gesucht, die der Bildlegende zufolge
dieses Verbrechen zeigen.
SPIEGEL: Das war offenbar nicht genug.
Heer: Das räume ich ja sofort ein.Wir konnten zum Beispiel das Pogrom an 600 Juden
in Tarnopol, bei dem nachweislich auch
Wehrmachtseinheiten beteiligt waren, rekonstruieren. Dann haben wir in einem
renommierten Wiener Archiv vier Bilder
aus Tarnopol mit der Aufschrift „Judenpogrom“ gefunden. Die haben wir der Dokumentenrecherche hinzugefügt. Inzwischen
wissen wir, dass drei Bilder politische Gefangene zeigen, die der NKWD ermordet
hat, als die deutschen Truppen näher kamen. Ein Foto stellt die dann ermordeten
Juden dar.
SPIEGEL: Was machen Sie mit der Einsicht?
Heer: Wir haben eine neue Texttafel in Auftrag gegeben.
SPIEGEL: Bisher sind Sie ziemlich rüde mit
Historikern umgesprungen, die Kritik an
der Wehrmachtsausstellung übten.
Heer: Das stimmt doch gar nicht. Wenn Kritik geäußert wurde, sind wir dem mit Errata-Zetteln im Katalog nachgekommen,
haben Bilder ausgetauscht und Bildlegenden überarbeitet.
SPIEGEL: Wie viele?
Heer: Ohne die Porträtfotos sind 800 Bilder
in der Ausstellung zu sehen, 3 haben wir
bisher herausgenommen.
SPIEGEL: Sie haben Musial verklagt, sind
gegen den Potsdamer Historiker RolfDieter Müller vor Gericht gezogen.
Heer: Wir haben in viereinhalb Jahren
12 Prozesse durchgeführt. Alle betrafen
Falschaussagen, keiner ging gegen abweichende Meinungen vor. Die Klage gegen
Müller haben wir inzwischen zurückgezogen, und der Rechtsstreit mit Musial ist erledigt. Wir haben ihn übrigens schon im
Frühjahr, nachdem der SPIEGEL über seine Kritik berichtet hatte, eingeladen, seine
Recherchen zu präsentieren. Die Einladung
habe ich jetzt erneuert.
Interview: Klaus Wiegrefe
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
ZEITGESCHICHTE
Die letzte
Gefährtin
Nach dem Aufsehen erregenden
Fund seiner Liste fühlen
sich die Angehörigen Oskar
Schindlers hereingelegt. Es
droht heftiger Zwist vor Gericht.
D
er Brief, den die Geschäftsfrau
Traude Ferrari im Jahr 1974 in
ihrem Postkasten fand, enthielt
nicht viel Tröstliches: Eine Annemarie aus
Emilie Schindler, Nichte Traude (1949)
Brüsk abgewiesen
Hildesheim, offenbar die letzte Geliebte
ihres gestorbenen Onkels, schickte ihr fünf
Fotos des Verblichenen, außerdem eine Ansichtskarte an seine „Liebe Traude“, die
der Mann noch geschrieben, aber nicht
mehr eingeworfen hatte. Viel mehr, Wert-
volles gar, sei leider nicht übrig geblieben,
entnahm Ferrari dem Schreiben der fremden Frau.
25 Jahre nach dem Sterbefall in einer
Hildesheimer Klinik weiß es Gertrud
(„Traude“) Ferrari, die Nichte des Emaillewarenfabrikanten Oskar Schindler, jetzt
besser. Es gab noch einen Koffer, grau, von
Samsonite, Inhalt: eine Weltsensation, ein
Medien-Scoop, das Leben eines Helden im
Höllenland, verdichtet zu Fotos, Briefen,
Plänen – und einer Liste. Schindlers Liste.
Es ist das Original mit den Namen von 1200
Juden, die er und seine Frau Emilie mitten
im Holocaust gerettet haben, das Dokument zum Spielberg-Film, ein Lichtblick
in dunkelster Deutschstunde, auf den jetzt
selbst ein Schatten fällt – der Verdacht,
dass Schindlers Nichte Traude, 64, und seine Witwe Emilie, 92, um den Koffer betrogen worden sein könnten.
„Ich fühle mich hintergangen“ – kein
Wort, so Ferrari, habe Schindlers letzte Gefährtin Annemarie Staehr jemals über den
Koffer verloren. Am Telefon habe Staehr
1974 allerdings erklärt, wie sie an die Fotos
samt Ansichtskarte für die Nichte herangekommen sei: Laut Ferrari gab sie damals zu,
die Stücke mit „einigen anderen Dokumenten“ nach Schindlers Tod aus dessen Frankfurter Wohnung geholt zu haben, bevor der
restliche Nachlass an gemeinnützige Organisationen verschenkt worden sei.
„Ich hatte ja keine Ahnung, dass es noch
einen ganzen Koffer gab“, entrüstet sich
die Rentnerin, die vom Tod ihres Onkels
erst aus der Zeitung erfahren hatte. Als sie
später nach mehreren Briefen aus Schindlers Besitz fragte, wies Staehr sie brüsk ab:
Sie wolle die Korrespondenz nicht in
falsche Hände geben. „Das habe ich schriftlich“, versichert Ferrari, „und das hat mich
so geärgert, dass ich mich bei ihr heftig
beklagt habe. Ohne Reaktion.“
AFP / DPA
Deutschland
Schindler-Nachlass: Ein Lichtblick in dunkelster
Andere hatten mehr Glück: Am vorvergangenen Samstag begann die „Stuttgarter
Zeitung“, die den Koffer vom Sohn der
1984 verstorbenen Staehr bekommen hatte, mit ihrer Serie über den SchindlerSchatz. Seitdem leuchtet die Redaktion
Schindler so allseitig wie ein Weltkultur-
Konstanzer Jura-Professor Hans-Wolfgang
Strätz die Beweislast dafür, dass der Koffer
gar nicht verschenkt wurde, bei den
Schindler-Erben. Anders Brox: Der StaehrSohn müsse nachweisen, dass der Koffer
ein Präsent war – nach so langer Zeit dürfte beides so gut wie unmöglich sein.
Dass der Bonvivant und Frauenheld
Schindler seinen Aktenkoffer zu Lebzeiten verschenkt haben könnte, hält nicht
nur Erika Rosenberg, Biografin der Witwe
Emilie, für völlig ausgeschlossen. Auch
REUTERS
erbe aus. Nicht Geld und
Ruhm, allein das Wissen der
Menschheit um diesen Mann
wolle man mehren und deshalb den Koffer im Einverständnis mit den Findern anschließend der Gedenkstätte
Jad Waschem in Jerusalem
anempfehlen.
Um das verdienstvolle Tun
nicht mit Fragen nach Recht
und Besitz zu beflecken,
Witwe Schindler: Anwälte eingeschaltet
schreckte die Zeitung allerdings nicht vor Schönheitskorrekturen zurück: Den
Mitschnitt eines Gesprächs
Deutschstunde mit Schindler-Witwe Emilie
kürzte die Redaktion ausgerechnet um die Stelle, in der die „alte gebrechliche Dame“ mit Nachdruck den Koffer zurückforderte, und erklärte diesen
„Rest des Gesprächs“ zu einem „sehr privaten Dialog“.
Da passte auch der Anruf von Nichte
Traude am vergangenen Montag, mit dem
sie die Herausgabe von Papieren und Fotos
verlangte, schlecht in das Klima verantwortungsvoller Feinfühligkeit. Noch am
Mittwoch schrieb die Zeitung, weder die
Witwe „noch sonst jemand“ habe sich bei
der Redaktion gemeldet, um Ansprüche zu
erheben.
„Eine Falschmeldung“, empört sich Ferrari, die sich von Chefredakteur Uwe Vorkötter „abgewimmelt“ sah.Von der Rechtsabteilung der Zeitung bekam sie zu hören,
was Vorkötter auf Anfrage gern wiederholt:
dass Schindler den Koffer vor seinem Tod
seiner letzten Gefährtin geschenkt habe.
Und damit, doziert der münstersche Professor Hans Brox, Autor eines Standardwerks zum Erbrecht, wäre er tatsächlich
nicht Teil des Schindler-Erbes, sondern
gehöre dem Staehr-Sohn.
Tatsächlich ist die Rechtslage keineswegs
so klar, wie Vorkötter sie sich wünscht,
denn die entscheidende Frage, ob Schindler seinen Koffer wirklich verschenkt hat,
bleibt offen. Und selbst Erbrechtsexperten
sind uneinig, was daraus folgt: So sieht der
d e r
Nichte Traude ist sicher: „Mein Onkel hätte einer seiner Freundinnen niemals seine
wichtigsten Dokumente überlassen. Frau
Staehr war ja nur die letzte in einer langen
Kette.“ Außerdem habe Annemarie Staehr
ihr gegenüber auch nie etwas von einem
„Geschenk“ erwähnt, nicht einmal, als sie
später die Briefe verlangt habe.
Noch ein zweiter Umstand könnte in
dem Streit um den Koffer Bedeutung erlangen: Der Sohn Staehrs hatte das Erbe
der Eltern nach dem Tod des Vaters 1997
ausgeschlagen. Durfte er den Koffer, dessen
Wert nach dem Spielberg-Film bekannt
sein musste, dann überhaupt noch aus der
Wohnung mitnehmen?
Sowohl Traude Ferrari wie Emilie
Schindler schalten deshalb jetzt Anwälte
ein, um den Koffer zu bekommen. Ferrari:
„Das sind Familienangelegenheiten, da hat
kein Fremder drin rumzuschnüffeln.“
Selbst eine Schadensersatzklage schließt
sie, die die Kriegsjahre in Krakau und
Brünnlitz bei Schindler verbracht hatte
und der er Ende der fünfziger Jahre seine
Biografie diktieren wollte, nicht aus. Dann
müsste Vorkötter vor Gericht so argumentieren, wie er es jetzt schon tut: Der Koffer habe für die Zeitung keinerlei finanziellen Wert. Das könnte schwierig werden.
Die Witwe lässt offen, ob es ihr auch um
Geld geht. Die Frau, die im Krieg an
Schindlers Seite alles riskiert hat, von ihm
trotzdem dutzende Male betrogen und
1957 in Argentinien auf einem Schuldenberg sitzen gelassen wurde, sagt, sie wolle
nur eines wissen: „Wie sein Leben wirklich
war“.
Jürgen Dahlkamp
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
117
Deutschland
BETRÜGER
Der Koch und die Schwarze Witwe
Nach dem Selbstmord einer alten Frau im Gefängnis fürchtet Bayerns Schickeria
peinliche Enthüllungen. Es geht um verschwundene Millionen,
SED-Gelder und die Vatikan-Bank. Geleimte Prominente würden darüber lieber schweigen.
S
schen, die eine Menge Geld verloren haben, wünschen, dass das Spiel
neu beginnt; und einige, die ihre
Millionen zu vergessen versuchen,
fürchten peinliche Enthüllungen.
Denn Maria Bertram war eine
Zockerin und Betrügerin. Die zarte Seniorin, die neben dem Hünen
Schuhbeck wie ein verlorenes Vögelchen wirkte, steht neben dem
Koch im Zentrum einer Affäre, die
Bayerns höherer Gesellschaft die
Moët & Chandon-Laune versaut.
Mit Geschichten von SED-Millionen, die in Schließfächern warteten, oder Erbschaften, die auf
Konten der Vatikan-Bank schlummerten, wurden Menschen geködert, die offenbar nicht wussten,
was sie tun sollten mit ihrer vielen
Kohle. Das Geld ging in kanadischen Immobilien, mit Wertpapieren oder anderen angeblichen
„30-Prozent-Rendite-Geschäften“
(Schuhbeck) drauf.
Die Deals des ungleichen Paares
waren vertrackt – Geschäftsprinzip.
Im Gewirr von Firmen und Konten
verlor sich jede Fährte von Geld
und Schuld. Konto Nummer 884442
Selbstmörderin Bertram: „Ich wurde zerbrochen“
der Firma FIC bei der Citibank in
Monte Carlo, das ist die letzte Spur, die
manche Anleger haben; andere hatten ihre
Schätze gleich bar und ohne Quittung fortgegeben. Konnte ja keiner ahnen, dass mit
neuen Einlagen mitunter alte Gläubiger
ausbezahlt wurden – und dass Schuhbecks
Konto Nummer 322 233 000 bei der Dresdner Bank schon mal bei 4 713 419,51 Mark
im Minus stand und 54 502 Mark Sollzinsen
fällig wurden.
24 Millionen Mark hat allein der Erbe
des Dauerwellen-Imperiums Wella, Bernd
Olbricht, verjubelt. Und viele andere waren dabei: Würdenträger beim Bayerischen
Rundfunk (BR), aber auch Anwälte, Bankiers und Sänger wie Michael Schanze
oder die Tennis-Millionärin Sylvia Hanika. „Soviel Dummheit ist unverzeihlich“,
sagt der Münchner Rechtsanwalt Sewarion
Kirkitadse, „es ist abenteuerlich, dass erwachsene Menschen so handeln können.“
Das Spiel begann, als Schuhbeck einen
Michelin-Stern bekam. Der Freistaat hatte
einen neuen Star: den Koch des FC Bayern,
den Fernseh-Brutzler mit dem Kosenamen
Geschäftemacher Schuhbeck: Hubschrauber überm Rosenbeet
G. CHLEBAROV / PEOPLE IMAGE
DPA
ie nahm sich drei Stunden Zeit für
sieben Briefe. Hockte in ihrer Zelle
im B-Trakt der Justizvollzugsanstalt
Aichach, schrieb mit dem Kugelschreiber,
adressierte die Kuverts, klebte sie zu. Ein
kleiner Stapel war es, Maria Bertrams Bilanz einer beispiellosen Affäre.
Sie schrieb: „Ich bin am Ende u. ich kann
nicht mehr. Stück um Stück wurde ich zerbrochen.“ Und: „Ich habe Schuhbeck um
keine Mark betrogen geschweige um 8,9
Millionen.“ Im letzten der nunmehr beschlagnahmten Schreiben dankte sie ihrem
Anwalt Dieter Pfannschmidt „für alle Ihre
Mühe und Ihren Glauben an mich. Ihre
verzweifelte Maria Bertram“.
Dann nahm sich Maria Bertram, 64 Jahre alt, 1,60 Meter groß und wegen eines
Magenkrebsleidens 45 Kilogramm leicht,
das Band, mit dem Knastkleidung und
Bettzeug verschnürt waren. Sie stieg auf
den Stuhl, machte einen Knoten um den
Fenstergriff, legte die Schlinge um den Hals
und ließ sich fallen. Um 21.40 Uhr, am 12.
Oktober, wurde ihr Leichnam gefunden.
War es nun das Ende des Skandals oder
eher ein neuer Anfang? Alfons Schuhbeck,
50, Prominentenwirt, Fernsehkoch und
Buchautor aus Waging am See, hofft, dass
es endlich vorbei ist; viele andere Men-
118
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
ACTION PRESS
„Fonse“. Sein „Kurhausstüberl“ wurde Glanzzeit. Geldkuriere wurden laut Aussagen durchs Land und zur Übergabe an
zum Treff der Wichtigen.
Irgendwann sprachen sie dort über Tankstellen gejagt: Schuhbeck „zog eine
„dem Fonse seine Anlagen“. Jemanden an Plastiktüte hervor. Diese war voller Geld,
der Börse müsse er kennen, phänomenal er legte das Geld auf den Tisch, teilte es
seien die Gewinne: „Wann steigst du ein?“ grob in zwei Hälften. Die eine Hälfte gab
er mir“. Es waren, so der
Der Fonse köderte mit
Bote, „450 000 Mark“.
einfachen Tricks. Seinen
Alfons Schuhbeck hieß
Hubschrauberpiloten ließ
früher Alfons Karg. Er spieler in Gärten am Chiemsee
te Gitarre in einer Band, als
landen und ganze Rosener vor gut 30 Jahren beim
beete rasieren, um dann
reichen Wirt Sebastian
Bares aus der Hosentasche
Schuhbeck Arbeit bekam.
zu ziehen – das wirkte.
Der Alte begann den Jungen
Dem Multimillionär Olzu mögen. Weil er keine Erbricht knallte er einmal
ben hatte, bot Schuhbeck
4000 Mark auf den Tisch
dem Alfons Ausbildungen in
und sprach: „Ich habe eiParis und sonstwo an, falls
nen Zwanziger für dich inder sich adoptieren lasse.
vestiert, da hast du die RenEin seltsamer Pakt, doch der
dite.“ Schon zahlte OlBub schlug ein, wurde Erbe
bricht ein, mehr als nur ei- Anleger Schanze
und lernte schnell.
nen Zwanziger.
Für eine Gala in Bologna berechnete der
Details der vermeintlich grandiosen Geschäfte kannte kaum einer; „es war nur Wirt 749 000 Mark. „Original Bayerischen
ungefähr die Rede von so was“, von kom- Leberkäse“ ließ er in Bottrop produzieplexen Finanzmanövern also, gab der ge- ren, was die Staatsanwaltschaft interesprellte Fernsehmann Helmut Kilian zu sierte. Eine GmbH gründete er, durch die
Protokoll. Selbst Anwälte, die Gläubiger er Verträge mit sich selbst machen konnte.
vertraten, schrieben dem Koch unterwür- Eine Firma in Liberia entstand unter dem
Präsidenten und Direktor Alfons Schuhfigst: „Ich bin ein Verehrer Ihrer Kunst.“
Es muss in etwa so zugegangen sein wie beck – oder war diese Finance Internatiobeim Tennispapa Peter Graf in dessen nal Corporation nur eine Finte? Schuhbeck
sei Vermittler für andere gewesen, habe
sich „leichtsinnig“ zum Präsidenten machen lassen, als die Firma zusammenbrach,
und „die Dimension nicht erkannt“, so sein
Anwalt Josef Nachmann.
Im November 1997 faxte Interpol „sehr
dringend“ eine Warnung durch Europa,
„dass Schuhbeck, Alfons, 22 Mio USD bei
einer Bank in Monaco abheben will“. Laut
Selbstauskunft verdiente der Koch zwar
zeitweise 427 565 Mark in einem Jahr „aus
nichtselbständiger Arbeit“ und vieles nebenbei, hatte aber über 52 Millionen Mark
„Passiva/Schulden“.
Schuhbeck sei davon ausgegangen, dass
„Geschäfte mit jungen Aktien funktionierten“, so Anwalt Nachmann; leider
habe er sich auf den Düsseldorfer Anlagejongleur Lutz Winkler eingelassen – der
soll vor allem mit kanadischen PennyStock-Papieren in 202 Fällen einen Gesamtschaden von rund 57 Millionen Mark
verursacht haben. Schuhbeck sagte aus, er
sei nie selbst Finanzmakler gewesen. Das
Gegenteil war ihm bislang nicht zu beweisen.
Die meisten Anleger hoffen noch auf
Rückzahlungen und trauen sich nicht aus
der Deckung. Aber für sie ist seltsam, dass
die Witwe Bertram verurteilt wurde,
während die Staatsanwaltschaft München
II gegen Schuhbeck „keine Anhaltspunkte“
fand und nun die Ermittlungen einstellte.
Deutschland
120
d e r
sie von 100 Millionen Mark alter SED-Gelder in einem Schließfach wisse, aber Geld
brauche, um den Schlüsselinhaber zu bezahlen. Schuhbeck mühte sich um Finanziers, schließlich hatte er die Kontakte.
Später ging es um 28 Millionen Franken,
die der verstorbene Karl Bertram bei der
Vatikan-Bank hinterlassen habe.
Ein Labyrinth aus Papieren, Aussagen,
Lügen, Widersprüchen. Sicher ist, dass der
G. JANSSEN / BILD ZEITUNG
Der Koch steht sauber da, die angeblich allein Schuldige ist tot. Das Ergebnis hat vielleicht etwas mit Prominenz zu tun und sicherlich eine Menge mit Glaubwürdigkeit.
Maria Bertram, im Zentralregister 1992
bereits 15-mal eingetragen, glaubte am
Ende kaum noch jemand. Sie hatte es zu
weit getrieben und zu rau, hatte den Anwalt einer Gegenpartei als „kleinen Giftzwerg“ und einen Richter als „schwankend
und lallend“ bezeichnet, wobei „trinkende
Richter am Landgericht Traunstein“ nichts
Ungewöhnliches seien. Prozesse gewinnt
so eine Dame kaum, schon gar nicht mit einer derartigen Biografie.
Der Weg des unehelichen Kindes Maria
Empl aus Kirchweidach zur „schwarzen
Witwe“ des Boulevards begann trist. Mit
acht Jahren erlitt sie eine Meningoenzephalitis; eine erneute Gehirn-Erkrankung
ließ die 19-Jährige „völlig verändert“ und
„delinquent“ (Bertram) zurück; 1960 kam
die erste Verurteilung zu 50 Mark Geldstrafe wegen Diebstahls – sie habe sich Tabletten beschaffen müssen, sagte sie.
Aber nach Hauptschule und Lehre als
Hotelfachköchin machte sie weiter: Körperverletzung, üble Nachrede, Urkundenfälschung, schließlich Diebstahl und versuchte Erpressung. Den damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher wollte sie
mit einer vorgetäuschten Entführung hereinlegen; sie wurde freigesprochen wegen
Schuldunfähigkeit und kam ins Bezirkskrankenhaus Gabersee. Sie sei eine schizoide Person, hieß es, aber das ist lange her.
„Keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer psychotischen Störung“ fand der
Gutachter in Traunstein, „sie wirkte gepflegt, ruhig und kooperativ“.
„Schwarze Witwe“ hieß sie, weil erst ihr
Ehemann Karl Bertram, ehedem Verlagsdirektor, starb, und sie erbte; später pflegte sie den Bauer Franz Lichtmannegger,
und der vererbte ihr rund 20 Schafe und
ein „landwirtschaftliches Anwesen, welches neben der Hofstelle ca. 42 Tagwerk
landwirtschaftlich nutzbaren Grund und
etwa 5 – 6 Tagwerk Streuwiesen“ umfasste.
Nichts an den Todesfällen war dubios, die
Männer starben „eines natürlichen Todes“,
so Oberstaatsanwalt Jürgen Michalke.
Dubios trat eher die Witwe selbst auf. Sie
war Männern, die auf „Herr Doktor“ hörten, gleichsam hörig. Sie fuhr einen BMW
528 i und trat Beratern schon mal ein ganzes
Grundstück ab. Ihr Anwalt Pfannschmidt
hielt sie für eine „sehr selbstbewusste, liebenswürdige und mit großem Gerechtigkeitsempfinden ausgestattete Frau“, die
„am Ende überfordert“ war; Staatsanwalt
Andreas Bartschmid unterstellt „Planung“
und „kriminelle Energie“ und lobt zugleich:
„Wenn sie redete, fesselte sie alle.“
Die Pfade von Bertram und Schuhbeck
kreuzten sich am 7. Oktober 1991, weil beide mit einem Bankdirektor aus Traunstein
zu tun hatten, und da begann auch die Zeit
der Räuberpistolen. Bertram erzählte, dass
Anleger Olbricht
24 Millionen verschwunden
Koch selbst einstieg und weitere Investoren
fand; die Witwe wurde in der Vatikan-Geschichte wegen Betrugs, Urkundenfälschung und unerlaubten „Erwerbs einer
halbautomatischen Selbstladewaffe“ zu
zwei Jahren und zwei Monaten Gefängnis
verurteilt (JS 40214/96).
Beide unterschrieben viel und viel zu
schnell, und das entzweite sie schließlich.
Bertram unterzeichnete eine Erklärung
darüber, dass sie Schuhbeck 8,9 Millionen
Mark schulde; sie habe ihm helfen wollen, aus Steuergründen, sagte sie. Schuhbecks Unterschrift aber erschien unter einem Papier, auf dem steht, „dass sie mir
keine 8,9 Mio schuldet“. „Eine Fälschung“, so Schuhbeck-Vertreter Nachmann. Nie gab es Quittungen, doch den Zivilprozess verlor die Witwe.
„Alfons ist ein wertvoller Mensch“,
hatte Bertram einmal gesagt. Er habe „in
jeder Hinsicht mein Vertrauen u. meine Hilfen missbraucht“, formulierte
Bertram, die zur Rückzahlung von
fast neun Millionen Mark verdonnert
wurde.
In die JVA Aichach kam Maria Bertram,
weil es neue Anzeigen gegeben hatte und
die Staatsanwälte von Flucht- und Wiederholungsgefahr ausgingen. „Dieses Leben ist kein Leben mehr“, schrieb sie in
ihren letzten Minuten.
Wo all die Millionen sind, verriet sie
nicht. Oder sie wusste es nicht.
s p i e g e l
Klaus Brinkbäumer
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
DEUTSCHE TELEKOM
Sommer auf
Einkaufstour
D
J. SEIDEL
ie Deutsche Telekom hält in den
USA Ausschau nach geeigneten
Übernahmekandidaten – nachdem
sie erst vergangene Woche Mobilfunkbeteiligungen in Mittel- und Osteuropa erwarb. Ganz oben auf der
Einkaufsliste von Telekom-Chef Ron
Sommer steht jetzt die amerikanische Telefonfirma RSL Communications. Ende vergangener Woche reiste eine Bonner Verhandlungsdelegation nach New York, um die
Übernahme der von Ronald S.
Lauder, dem jüngsten Sohn
der Kosmetikindustriellen Estée
Lauder, gegründeten Firma zu
sondieren. Als Kaufpreis ist ein
hoher Milliardenbetrag im Gespräch. RSL setzt mit Firmenkunden in rund 20 Ländern etwa
eine Milliarde Dollar um. Firmenchef Lauder, 54, der unter
anderem als Chairman des New Sommer
W. v. BRAUCHITSCH
Telekom-Zentrale in Bonn
Yorker Museum of Modern Art von sich reden machte, will seine Telefonfirma seit längerem abstoßen. Bereits im März verhandelten die Amerikaner deshalb in Bonn mit Telekom-Chef
Sommer. Damals lehnte Sommer noch ab: Er hatte mit der
Übernahme von Telecom Italia ehrgeizigere Pläne.
STEUERREFORM
BMW
Stärker entlasten
„Teurer Firlefanz“
ei der Unternehmensteuerreform will das Bundesfinanzministerium (BMF) die Wirtschaft stärker entlasten als bisher geplant. Statt wie ursprünglich vorgesehen 8 Milliarden Mark sollen die Unternehmen von 2001 an rund 15 Milliarden Mark weniger an Steuern bezahlen. Das sehen jüngste Berechnungen des BMF vor. Grund für die Großzügigkeit
ist die Absicht von Finanzminister Hans Eichel, auch
kleine und mittlere Unternehmen an der Steuersenkung teilhaben zu lassen. Nach ersten Überlegungen
wären diese Unternehmen, die meist als Personengesellschaften organisiert sind, die Verlierer der Reform gewesen. Auch für sie hätte der neue Unternehmensteuersatz von 25 Prozent gegolten, der höher liegt als ihre bisherige Durchschnittsbesteuerung. Die BMF-Beamten haben sich einen Trick ausgedacht, um die Mehrbelastung zu vermeiden. Sie
führen für die Eigentümer von Personengesellschaften einen fiktiven Unternehmerlohn von höchstens
150 000 Mark ein. Er wird als Betriebsausgabe von
der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen und
dann beim Empfänger versteuert. Die Entlastung für
kleine und mittlere Personenunternehmen kommt
zu Stande, weil die Eigentümer wegen des neuen
Unternehmerlohns künftig keine Gewerbesteuer
mehr bezahlen müssen, worüber die Kommunen
nicht glücklich sein dürften.
d e r
I
n der deutschen BMW-Belegschaft stößt der Versuch des
Autokonzerns auf Widerstand,
sich durch einen neuen Namen
als Global Player zu präsentieren.
Nachdem der Münchner Autobauer sich auf der IAA erstmals
als „BMW Group“ darstellte, sollen jetzt auch die deutschen Fabriken mit neuen
Firmenzeichen versehen werden, auf
denen „BMW
Group“ statt
„BMW-Werk“
steht. Alle Visitenkarten und sogar
die Arbeitskittel der
Bandarbeiter sollen
ausgetauscht werden. Für diesen
„millionenteuren
Marketing-Firlefanz“, so ein Betriebsrat, hat die
Belegschaft keinerlei Verständnis. Ge- BMW Z 8, Chef Milberg (auf der IAA in Frankfurt)
REUTERS
B
rade weil die Tochter Rover den
Konzern mit Milliardenverlusten
belastet, sollten die BMW-Werke
und die Marke BMW sich möglichst eigenständig präsentieren,
sonst drohe ein Imageschaden.
Mehrere Aufsichtsräte forderten
Vorstandschef Joachim Milberg
auf, das Projekt des Bereichs
Marken- und Produktstrategie zu
stoppen. Der BMW-Vorstand will
darüber auf einer seiner nächsten
Sitzungen entscheiden.
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
123
Trends
VIDEOSPIELE
Sega schöpft Hoffnung
N
P. MEISSNER / REFLEX
ach der erfolgreichen Einführung
seiner neuen Videospielekonsole
„Dreamcast“ schöpft der japanische
Elektronikkonzern Sega wieder Hoffnung, auf dem heiß umkämpften Entertainment-Markt mitmischen zu können.
Die Firma, die in den vergangenen Jahren dramatische Verluste hinnehmen
musste, werde nach dem Neustart den
Erzkonkurrenten Sony und Nintendo
mindestens 20 Prozent Marktanteil abnehmen, glaubt Segas Europachef Jean
François Cecillon. Mit einem Verkauf
von 100 000 Konsolen innerhalb von 24
Stunden hatte Sega am 15. Oktober einen neuen Branchenrekord in Europa
aufgestellt. Allein in Deutschland brachte die Premiere der knapp 500 Mark
Eichel
KONJUNKTUR
Weniger Wachstum
K
Sega-Spiel „Sonic the Hedgehog“
teuren „Dreamcast“-Maschine, auf der
Sega-Spiele wie „Sonic the Hedgehog“
laufen können, den Japanern 22 Millionen Mark in die Kassen. Dennoch bleibt
die Konkurrenz gelassen. Denn vergangene Woche flaute die Begeisterung für
die neue Konsole schon wieder leicht
ab. Nach vier Verkaufstagen meldete
Sega einen Gesamtabsatz von 185 000
„Dreamcast“-Systemen in Europa.
onjunkturexperten der Bundesregierung haben die Wachstumsaussichten für
1999 deutlich nach unten korrigiert. Statt mit einem Wirtschaftswachstum von
1,6 Prozent, wie noch im vergangenen Frühjahr vorausgesagt, rechnet der interministerielle „Arbeitskreis für gesamtwirtschaftliche Vorausschau“ nur noch mit
1,3 Prozent. Auch die Entwicklung der Arbeitslosigkeit bleibt hinter den Erwartungen zurück. Statt um 200 000 Personen werde die durchschnittliche Zahl der Arbeitslosen in diesem Jahr nur um rund 170 000 Personen gegenüber dem Vorjahr sinken.
Für das nächste Jahr haben die Fachleute aus den Bundesministerien für Finanzen,
Wirtschaft und Arbeit sowie des Kanzleramts ihre Wachstumserwartungen nur sehr
gering angehoben. Für das Jahr 2000 rechnen sie jetzt mit einem Plus von 2,5 Prozent. Im Frühjahr waren sie von 2,4 Prozent ausgegangen. Mit ihrer Prognose dämpfen die Regierungsexperten den Konjunkturoptimismus von Bundeskanzler Gerhard
Schröder und seinem Finanzminister Hans Eichel. Beide hatten in jüngster Zeit
mehrfach öffentlich ihre Erwartung ausgedrückt, sie rechneten mit einem Wachstum
von bis zu drei Prozent.
VERKEHRSPOLITIK
Baustopp bei der Bahn?
er Deutschen Bahn AG geht das Geld für Investitionen aus. Eigentlich wollte der Bund in diesem Jahr
6,85 Milliarden Mark für Infrastrukturmaßnahmen der
Bahn zahlen, etwa für die Neubaustrecke zwischen Köln
und Frankfurt. Doch wie schon im Vorjahr, als der Bund
im Dezember ganz einfach 850 Millionen Mark sperrte,
fließen die Bundesmittel auch jetzt eher spärlich. Bis
Ende August wurden lediglich 2,6 Milliarden Mark an
die Bahn überwiesen. Weitere 2 Milliarden hat das Unternehmen aus Eigenmitteln aufgebracht. Würden die
fehlenden mehr als 4 Milliarden Mark nicht freigegeben, schreibt der Bahnvorstand in einem internen
Papier über die „Finanziellen Belastungen der Deutschen
Bahn AG“, drohe ein „sofortiger Baustopp für nahezu
alle Infrastrukturmaßnahmen“.
ICE-Neigezug
124
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
J. E. RÖTTGERS / GRAFFITI
D
Geld
Aktien von Chip-Herstellern in Dollar
+ 65 %
1998 99
Okt.
Jan.
22. Oktober;
Veränderung nach
einem Jahr
80
90
90
70
80
80
60
70
70
60
60
50
50
40
40
+164 %
30
40
30
20
+ 508 %
30
1998 1999
20
Okt.
50
GDRAktie
Okt.
1998 1999
20
Jan.
Okt.
Okt.
Jan.
Okt.
0
1998 1999
Okt.
Quelle: Datastream
Jan.
Okt.
chenprimus aus Kalifornien. Bedrängt durch die wachsende
Konkurrenz des Erzrivalen AMD schaffte Intel in Jahresfrist
zwar noch einen Kursgewinn von 65 Prozent. Im gleichen Zeitraum schossen die Aktien des südkoreanischen Elektronikkonzerns Samsung, der das Geschäft mit den Speicherchips
mit Milliardeninvestitionen noch weiter ausbauen will, um über
500 Prozent hoch. Steigende Preise lassen die Gewinne sprudeln. Gegenüber dem Höhenflug der Koreaner verblassen sogar
weitere Chip-Spezialisten wie Texas Instruments, die vor allem
vom weltweiten Handy-Boom profitieren.
AKTIEN
Samsung schlägt Intel
A
ls Technologieführer für Chips war Intel jahrelang der
Liebling vieler Börsianer. Aktien der Speicherchip-Hersteller dagegen galten wegen der schwankenden Produktionszyklen als riskantes Investment. Die Anleger müssen wohl
umdenken. Die Kurse der bei Speicherchips starken Asiaten
Samsung und NEC ziehen weit kräftiger an als die des Bran-
ONLINE-BROKER
+163%
10
24
22
20
18
16
14
12
10
8
6
Gewinner und Verlierer des Neuen Marktes
Boom-Markt von morgen
Aktienkurse seit Erstnotierung in Euro
D
N. MAI
er Wertpapierkauf per Internet steht in Deutschland
erst am Anfang. Die Zahl der Anleger, die elektronisch
ordern, wird Schätzungen zufolge von derzeit gut 500 000
auf über vier Millionen im Jahr 2002 hochschnellen. Zwar
liegen die Kurse der Discountbroker wie Consors, Charles
Schwab und E*-Trade deutlich
4,1
unter ihren Höchstständen vom
Nutzer von
Frühsommer, doch der erwarteOnline-Brokern
te Zustrom von Kunden wird
in Deutschland
wohl die Gewinne der Onlinein Millionen
2,6
Banker steigern: Der Vertrieb
per Internet wird, wie die meisQuelle: forit
ten Kreditinstitute glauben, „das
1,5
Bankgeschäft revolutionieren“
(WestLB). Die Banken verstär0,35 0,7
ken ihre Bemühungen, die imP R O G N O S E
mer noch weit verbreitete Skep1998 1999 2000 2001 2002 sis gegenüber elektronischen
Überweisungen abzubauen. So hat die Direkt Anlage Bank, die
Mitte nächsten Monats an die Börse
geht, vergangene Woche in einem Hamburger Kaufhaus
ihren ersten „Börsen
Corner“ eröffnet.
Acht weitere werden
in Kaufhof-Filialen
folgen, um potenzielle
Kunden mit dem
Online-Banking vertraut zu machen.
„Börsen Corner“ im Kaufhof
d e r
60
40
Quelle: Datastream, DG Bank
Aktienanteil 63,0%
des Vorstands
EM.TV
50
BETA SYSTEMS
40
kein Aktienanteil
des Vorstands
30
20
0
80
20
1997
1998 1999
Okt.
10
45
KINOWELT
50,3%
60
35
40
25
20
Mai
1998 1999
Okt.
NEUER MARKT
Die Chef-Aktien
I
nvestoren am Neuen Markt
sollten bevorzugt zu solchen Papieren greifen, bei denen die Beteiligung der Vorstände besonders groß ist.
Denn die Aktionärsstruktur
hängt unmittelbar mit dem
Erfolg der Firmen zusammen.
Zu diesem Schluss kommt die
DG Bank in einer Studie über
die Gewinner und Verlierer
am Neuen Markt. Nach dieser
Analyse liegt die Beteiligung
der Vorstände bei den zehn
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
15
1997
1998 1999
EUROMICRON
Juni
1998 1999
Okt.
kein Aktienanteil des
Vorstands
Okt.
seit ihrer Emission erfolgreichsten Firmen im Schnitt
bei 50,8 Prozent, bei den zehn
schlechtesten Unternehmen
dagegen nur bei 25 Prozent.
Firmen mit hoher Beteiligung
der Entscheidungsträger sind
„meistens konsequenter auf
das Ziel der Erhöhung des
Shareholder-Value ausgerichtet“, resümiert die DG Bank.
Die Erfolge von EM.TV und
Kinowelt sowie anfangs auch
der Höhenflug von Mobilcom
hingen direkt mit „der Dynamik und der strategischen
Brillanz“ ihrer Firmenvorstände zusammen.
125
Wirtschaft
E U R O PA
„Jäger des grauen Marktes“
E
ine flinke Kränkung, eine grobe
Attacke gehen DaimlerChrysler-Boss
Jürgen Schrempp gemeinhin flott von
den Lippen. Die eigene Konzernzentrale
beschimpfte er als „bullshit-castle“, dem
Konkurrenten und VW-Chef Ferdinand
Piëch zeigte er seine Verachtung durch eine
vor über hundert Managern formulierte
Verweigerung: „Mit dem würde ich nicht
mal gemeinsam pinkeln gehen.“
Nur vor der Brüsseler EU-Kommission
hat Schrempp wirklich Respekt: Über ihren
Ex-Wettbewerbskommissar Karel Van
Miert und dessen Nachfolger Mario Monti ist dem Lenker des Weltkonzerns weder
öffentlich noch halblaut ein böses Wort
entfahren.
Die Einsicht, im Umgang mit Brüssel das
Temperament zu zügeln, hat Schrempp
dem ungeliebten Rivalen Piëch zu verdan-
ken. Die beiden Konzernherren haben mit
Brüssel ähnliche Probleme: Die EU-Wettbewerbshüter beschuldigen beide Unternehmen, den EU-Bürgern über Jahre hinweg systematisch das verbriefte Recht beschnitten zu haben, ihre Autos in jenem
Mitgliedstaat zu kaufen, in dem sie am billigsten sind.
Belgier, Holländer, Franzosen, Spanier,
Portugiesen, Iren, Schweden, Italiener und
eben auch die Deutschen machen das gern.
Denn die Preisunterschiede sind bei fast allen Herstellern in den verschiedenen Ländern beträchtlich. Andere Länder, andere
Preise: So sparen Deutsche, die den C 180
im Nachbarland Dänemark kaufen, 4054
Mark, fast zehn Prozent.
Konzernchef Schrempp
Kein böses Wort
Mercedes-Benz SLR (auf der IAA in Frankfurt): Belastende Dokumente überall in Europa
126
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
W. WILDE / AGENTUR FOCUS
Schwere Vorwürfe der EU-Kommission gegen DaimlerChrysler: Der Konzern soll systematisch
den Wettbewerb in Europa behindert haben. Höchstmögliches Bußgeld: 2,3 Milliarden Mark.
K.-B. KARWASZ
Viele europäische Autokonzerne wollen
nach Meinung der Kommission verhindern,
dass ihre Kunden jenseits der Grenzen billiger einkaufen. Diese Abschottung des
Marktes ist illegal. Die Kommission ermittelt deswegen auch gegen Opel und
Renault.
Mit politischem Druck und herrischem
Auftritt glaubten die VW-Manager, einer
Strafe durch die EU zu entgehen. Ferdinand Piëch setzte Kanzler Helmut Kohl
und diverse Minister als Lobbyisten ein –
mit katastrophalem Resultat. Ende Januar
1998 kassierte Van Miert bei VW 200 Millionen Mark Bußgeld wegen grober Behinderung des Wettbewerbs im EU-Binnenmarkt.
Schrempp überließ den Dialog mit Brüssel von Anfang an professionellen Streitern, den Experten und Advokaten. Seine
Berater hofften, Van Mierts Nachfolger
Monti werde flexibler sein.
Welch ein Irrtum: Der Bußgeldbescheid
gegen Daimler ist, bis auf Formalien, fertig
gestellt. Gleiches Unrecht wird, so der Tenor, mit gleicher Härte bestraft. Nach einem letzten Gespräch Montis mit der Bundesregierung Anfang November soll die
EU-Kommission die Vorlage billigen und
die Höhe des Bußgeldes festlegen.
Monti hatte keine andere Wahl. Zu ähnlich sind die Machenschaften, die beiden
Autobauern vorgeworfen
werden. Das Beweismaterial, das die Kommission
durch Beschlagnahmung
und durch Mithilfe des
Daimler-Konzerns sicherstellte, zeigt das Bild eines
Unternehmens, das vom
Preiswettbewerb zwischen
seinen Händlern nicht allzu viel hält.
Den europäischen Autokonzernen ist bis 2002 erlaubt, ihre Autos ausschließlich über vertraglich
gebundene Händler zu festen Preisen zu vertreiben.
Diese Regelung soll auch
dem Verbraucher nutzen,
weil angeblich nur so ein
hoher Qualitäts- und Wartungsstandard gesichert
werden kann.
Daimler darf seinen
Händlern auch verbieten,
Autos an berufsmäßige
Wiederverkäufer außerhalb
des eigenen Landes zu verkaufen. Strengstens untersagt ist aber, Privatleute am
Kauf eines Autos außerhalb
ihres eigenen Landes zu
hindern.
Anreiz zu solchen Geschäften bieten die unterschiedlich langen Lieferfristen und erhebliche Preis-
An Beispielen für solche
Praktiken mangelt es
in den „streng verC 180
S 320
EU-Preisunterschiede
traulichen“, Daimbei MercedeslerChrysler
vor
Limousinen
knapp zwei Moin Mark
naten zugesandten „BeschwerdeQuelle:
EU-Kommission;
punkten“ nicht,
Stand: 1.Mai 1999,
etwa in Spanien.
Preise sind gerundet, ausIn einem Schreistattungsbereinigt, vor Steuern
Preisdifferenz gegenüber Deutschland
ben von MerceNeupreis
Neupreis
des-Benz España S. A.
(MBE) vom 27. Oktober
40900
98500
Deutschland
1993 an Auto Juncosa in
Barcelona wird der Partner
40779
– 121 100766 +2266
Belgien
ermahnt, Aktivitäten in
Osteuropa zu unterlassen
Dänemark
36846 – 4054
99740 + 1240
und „seine Geschäftstätigkeit
auf das in seinem VerFinnland
39639 –1261 105591 +7091
trag festgelegte Gebiet“ zu
beschränken.
39254 – 1646 100273 + 1773
Frankreich
Ein anderer Erlass von
Mercedes-Benz España
40679
– 221 109 276 +10776
Griechenland
vom 1. Februar 1994 beGroßbritannien 42242 +1342 105685 +7185 scheidet die Händler: „Bezüglich der Exportationen
sind wir der Meinung, dass
40656
– 244
97424 – 1076
Irland
diese nicht durchgeführt
38444
– 2456 100252 +1752
werden dürfen. MBE wird
Italien
unter keinen Umständen
40515
–385
99198
+698
Luxemburg
Bonifikationen für Flotten
gutschreiben, die exportiert
37 319
–3581 100193 +1693
Niederlande
werden.“
Auf Bitten von Daim40822
– 78 100 479 +1979
Österreich
lerChrysler in Stuttgart
versandte Mercedes-Benz
40652
– 248 105889 +7389
Portugal
España diesen Text – offenbar, weil es nötig war –
37 122
– 3778 100244 +1744
Spanien
noch einmal an die spanischen Händler, „auch wenn
38827
–
2073
99059
+559
Schweden
unsere Rechtsabteilung mit
dieser Art von Mitteilundifferenzen in den EU-Staaten. Je mehr gen auf Grund der geltenden EGVO-GeKunden versuchten, von diesem Preisge- setze nicht einverstanden ist“. Der Zusatz
fälle zu profitieren und im billigsten Land entstammt einem Telefax aus Madrid an
zu kaufen, desto schwerer musste es für die DaimlerChrysler-Zentrale. Diese und
den Konzern werden, die Abschottung der ähnliche Vermerke bestärkten die KomMärkte durchzuhalten und hohe Profite zu mission in dem Verdacht, dass Daimlerbewahren. Es geht für den Konzern nicht Chrysler vorsätzlich und gewohnheitsum Peanuts. In einem Daimler-Papier wird mäßig EU-Recht gebrochen habe.
der gesamte „graue Export“ auf insgesamt
Zuweilen handelte der Konzern auch
30 000 Fahrzeuge geschätzt.
auf Druck der Händler. Die „schädlichen
Brüsseler Rechercheure fanden Papiere, und parasitären Einwirkungen des Paraldie für DaimlerChrysler außerordentlich lelmarktes in Belgien“ veranlassten die
peinlich sind. Danach versuchte der Kon- dortigen Händler zu einer Beschwerde.
zern, das unerwünschte Geschäft einzuMit Datum vom 25. Januar 1993 teilten
dämmen durch
sie der Stuttgarter Zentrale mit, im Jahr zuπ geringere Provisionen an Händler, die vor seien wiederum 2000 Fahrzeuge außerder Versuchung erlägen;
halb des etablierten Händlernetzes nach
π Aufforderungen und Abmahnungen an Belgien geliefert worden, davon 800 aus
Verkäufer, nicht „an ausländische Kun- Deutschland. Daimler-Benz wird aufgeforden zu verkaufen“;
dert, etwas gegen diese „Jäger des grauen
π Lieferverweigerungen und -beschrän- Marktes“ zu tun.
kungen und damit Eingriffe in die wirtDiese „Jäger“ aber pirschten zum Verschaftliche Existenz unbotmäßiger Mer- druss der deutschen Zentrale auch in Belcedes-Agenten;
gien und lieferten von dort – rechtens, aber
π Errichtung bürokratischer Hürden ge- unerwünscht – in andere Länder. Die „Gagen Auslandsverkäufe.
rage Etoile“ in Wavre beispielsweise brach-
Sterntaler
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
127
Wirtschaft
Die Kommission wird stur
bleiben, die Einwände gelten
als Abwehrreflex
nigten Königreiches auftauchen.“ Tatsächlich fanden sich Belege für die Ablehnung
von Rechtslenker-Käufen. „Entsprechend
diesem Verzicht auf Export“, heißt es in
den „Beschwerdepunkten“ der Kommission, habe Mercedes-Benz Belgien zum
Beispiel 1995 drei Kundenanfragen nach
Rechtslenkern mit dem Hinweis abgelehnt,
man sei nicht in der Lage, solche Autos zu
liefern.
Ausgeschwärmt waren die Wettbewerbsdetektive zuerst Anfang Dezember
1996. Sie forschten in der Stuttgarter Daimler-Zentrale sowie in Mercedes-Benz-Niederlassungen in Belgien, den Niederlanden
und Spanien, sie suchten auf Festplatten
und in Aktenordnern nach Belegen. Gut
anderthalb Jahre lang prüften sie anschließend in ihren Brüsseler Amtsstuben
die Funde.
Der Konzern versuchte in einem nichtöffentlichen Hearing, die Vorwürfe zu entkräften. Die Kommission habe die Zufallsfunde falsch eingeordnet, trotz der schriftlichen Drohungen sei es in der Realität fast
nie zur Abstrafung von Händlern gekommen. Und außerdem habe die Kommission
die im Schriftwechsel verwandten Begriffe wie „Graumarkt“, „Parallelimport“ und
habe zur Kenntnis genommen, „dass Sie
uns verbieten, an Kunden in Spanien zu
verkaufen“. Aber es werde mit „zweierlei
Maß gemessen“. Andere Händler verkauften ins Ausland, ohne abgestraft zu werden.
Es sei eben die ewige Geschichte von den
Kleinen, die stets das Nachsehen hätten.
Insgesamt aber scheinen die belgischen
Daimler-Verkäufer mit ihrem Erfolg im
Kampf gegen „Schleuderei“ zufrieden gewesen zu sein. Sie jagten die Übeltäter in
ihren Reihen, wollten nun aber nicht länger
„Invasionen“ aus Deutschland dulden.
Am 17. Oktober 1995 legten sie gegenüber Stuttgart
beflissen Zeugnis über ihr
Wohlverhalten ab: „Wir tun
alles Mögliche, um unsere
Arbeit korrekt auszuführen
(wir verzichten auf Export), wir versuchen unsere
Durchschnittspreise auf einer hohen Preisebene beizubehalten.“
Eine regelwidrige Behinderung des Verkaufs von
Daimler-Limousinen
an
Ausländer sieht die Kommission auch in einer unauffälligen Vertragsklausel
begründet, die den Daimler- Wettbewerbskommissar Monti: Viel Freiheit nach oben
Händlern jeweils nur Anspruch auf die Lieferung von Autos „in den „Einlieferungen“ überinterpretiert. In fast
jeweiligen Landesausführungen“ zubilligt. allen Fällen sei es um professionelle AutoDie Bedeutung dieser Bestimmung er- exporteure gegangen – und deren Geschäft
schließt sich aus einer E-Mail der britischen ist nun mal offiziell verboten. Der PrivatDaimler-Repräsentanz nach Stuttgart. In kunde sei nur ausnahmsweise betroffen geDeutschland stationierte britische Solda- wesen.
ten, klagt Mercedes-Benz London, könnten
Die EU-Kommission in Brüssel wird stur
die Wagen mit dem Stern über ein Nato- bleiben, die Einwände des Stuttgarter AuProgramm erwerben, in das Vereinigte Kö- tomobilkonzerns gelten als üblicher Abnigreich importieren und dort „mit riesi- wehrreflex eines ertappten Sünders. Für
gem Profit“ verkaufen.
den italienischen Wettbewerbskommissar
Der Autor des Schreibens weiter: „Ich Monti geht es jetzt nur noch um die Höhe
weiß, dass es jemanden gibt in der Daim- des Bußgeldes.
ler-Benz AG, der alle Rechtslenker-BestelDas Mindestmaß gibt der Fall VW mit
lungen in den Niederlassungen abblockt, der 200-Millionen-Buße vor. Nach oben
aber was ist mit den Nato-Orders? Kann aber hat Monti viel Freiheit. Der Höchstsich jemand darum kümmern, weil wir satz liegt bei zehn Prozent des Daimlerempfindlich berührt sind, wenn diese im- Umsatzes in Europa – das wären 2,3 Milportierten Autos auf dem Markt des Verei- liarden Mark.
Winfried Didzoleit
128
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
JARDAI / MODUS
te 1995 „nach eigenen Angaben“ zehn
Fahrzeuge an spanische Endverbraucher.
Mercedes-Benz Belgien rapportierte
sein Bedauern nach Stuttgart und schrieb:
„Wir haben unseren Dealer ausdrücklich
gebeten, diese Handlungen zu unterbinden, andernfalls müsste er mit einer Strafe rechnen“ – eine aus Sicht der Kommission illegale Sanktionsdrohung.
Die Garage Etoile schrieb dann auch erbittert an Mercedes-Benz Belgien, man
Werbeseite
Werbeseite
T E L E KO M M U N I K AT I O N
Kauf aus Panik
Für die Rekordsumme von 67 Milliarden Mark will Mannesmann
den britischen Mobilfunkbetreiber
Orange kaufen – um sich so
vor einer Übernahme zu schützen.
W
S. WIELAND / LAIF
erner Müller war voll des Lobes.
Der Einstieg von Mannesmann in
die Telekommunikationsbranche
sei eine Erfolgsstory ohnegleichen, so der
Wirtschaftsminister auf einem Symposium,
zu dem der Düsseldorfer Traditionskonzern am vergangenen Mittwoch ins noble
Berliner Hotel Adlon geladen hatte.
Durch „geschicktes Marketing, Risikofreude und eine kluge Internationalisierungsstrategie“, schwärmte der Wirtschaftsminister, habe sich der Röhrenhersteller in nur wenigen Jahren zu einem
„ernst zu nehmenden Player“ in der europäischen Telekommunikationsbranche gewandelt. Dafür zolle er dem Management
„großen Respekt“.
Hätte Müller gewusst, was sich fast zeitgleich einige Etagen höher im Adlon abspielte, wären seine Lobeshymnen wohl
vorsichtiger ausgefallen. Dort nämlich
zurrte Mannesmann-Chef Klaus Esser, 52,
in hektischen Telefonaten die letzten Details eines Mega-Deals fest, der die gesamte Telefonbranche und die internationalen
Finanzmärkte am Tag darauf in helle Aufregung versetzte.
Für rund 67 Milliarden Mark, verkün- Mannesmann-Zentrale in Düsseldorf
dete Esser freudestrahlend am Donners- Die Verschuldung steigt gewaltig
tag vergangener Woche, wolle sein Unternehmen den drittgrößten englischen Mo- nerstag um über acht Prozent von 158 auf
bilfunkbetreiber Orange kaufen. Der rund 145 Euro ab.
Hauptaktionär der Handy-Firma, der in
Grund für die hektischen Reaktionen an
Hongkong ansässige Milliardär und Im- den Finanzmärkten ist der Preis, den Esser
mobilienunternehmer Li Ka-Shing, 71, für das englische Mobilfunkunternehmen
habe das Angebot, bei dem Mannesmann bezahlen will. Niemals zuvor wurde in Eurund 40 Prozent des Preises in bar und 60 ropa ein höherer Betrag für eine TelefonProzent in Form eines Aktientauschs bezahlen will,
Wichtige Telekommunikationskäufe der Firma
bereits unwiderruflich akMannesmann seit 1997
zeptiert.
Doch was als genialer
TELERING
53,8 % für
Coup gedacht war und den
ORANGE
Aufstieg von Mannesmann
0,28 CEGETEL
100 % (geplant) für
Milliarden
15 % für
zum führenden MobilMark
1,5
funkanbieter Europas beMilliarden Mark
Milliarden Mark
siegeln sollte, endete für
Esser und seinen Konzern
zunächst einmal in einem
mittleren Erdbeben. Tausende von Aktionären reaOTELO
gierten auf das Übernah100 % für
OMNITEL INFOSTRADA
meangebot mit fast panik2,25
100 %
55 %
artigen Verkäufen.
Milliarden Mark
für
In nur wenigen Stunden
14,9 Milliarden Mark
sackte der MannesmannKurs am vergangenen Don-
67
130
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Wirtschaft
Anfang des Jahres eine beispiellose Einkaufstour für den glitzernden Zukunftsbereich Telekommunikation.
So sicherte sich Esser im Februar für
rund 15 Milliarden Mark eine Beteiligung
an der aufstrebenden italienischen HandyFirma Omnitel und der Festnetzgesellschaft Infostrada. Wenig später kaufte er
den Energiekonzernen Veba und RWE für
2,25 Milliarden Mark die angeschlagene
Telefonfirma Otelo ab und schluckte auch
noch den Düsseldorfer City-Betreiber Isis.
Die konsequente Neuausrichtung des
Konzerns und die geschickte Einkaufspolitik
wurden von den Börsianern belohnt. Der
Kurs des Mannesmann-Papiers kletterte in
den vergangenen Monaten kontinuierlich.
Vor zwei Wochen erreichte das Papier seinen Spitzenwert von über 161 Euro. Je teurer die Aktie, desto schwerer wird es für einen Angreifer, den Konzern zu schlucken.
Mit dem Kauf von Orange könnte Esser
sich jedoch verkalkuliert haben. Denn zusätzlich zu den unsicheren Geschäftserwartungen muss er für den Kauf der englischen Firma einen Kredit über rund 23
Milliarden Mark aufnehmen.
Zwar soll das Geld schon im nächsten
Jahr durch den Börsengang der Maschinenbausparte und eine Kapitalerhöhung
wieder zurückgezahlt werden.
Doch bis dahin, monieren
Analysten, steige die Verschuldung des Konzerns zusammen mit alten Verbindlichkeiten auf 50 Milliarden
Mark. Kleine Managementfehler können da schnell zur
Katastrophe führen.
Esser kann den Wirbel um
seinen Milliarden-Deal nicht
verstehen. Der Kauf von
Orange mit seinen Auslandsbeteiligungen in Österreich,
Belgien und der Schweiz, beteuert er tapfer, habe für den
Orange-Hauptaktionär Li: Für jeden Kunden 19 000 Mark Mannesmann-Konzern „hohen strategischen Wert“. Auch
Super-Deal wolle Esser den Konzern künst- die Börse werde das bald einsehen und mit
lich verteuern, um sich so vor einer Über- wieder steigenden Kursen honorieren.
Am Freitag zumindest war davon noch
nahme durch den ehrgeizigen Mobilfunkriesen Vodafone Airtouch zu schützen. Das nicht viel zu spüren. Bei steigendem Dax
Interesse der Aktionäre bleibe dabei auf rutschte der Kurs des Mannesmann-Papiers
sogar noch einmal kräftig ins Minus. Für
der Strecke.
Tatsächlich wehren sich Esser und sein Esser wächst damit die Gefahr, dass genau
Vorstand seit Monaten gegen Begehrlich- das passiert, was er mit seinem Super-Deal
keiten des britisch-amerikanischen Mobil- verhindern wollte: von Vodafone Airtouch
funkgiganten (Börsenwert: rund 250 Mil- geschluckt zu werden.
Dort zumindest haben die Manager daliarden Mark), der an der MannesmannMobilfunktochter D2 schon mit etwa 35 mit begonnen, eifrig nachzurechnen. SollProzent beteiligt ist und die englischen Ex- te der Kurs von Mannesmann weiter fallen,
pansionspläne seines Partners missbilligt. hieß es am Freitag in der Londoner ZenUm eine Übernahme zu erschweren, trale des Mobilfunkgiganten, sei man bestutzte der Mannesmann-Chef bereits den reit, den Mannesmann-Aktionären ein
traditionellen Maschinen-, Anlagen- und großzügiges Übernahmeangebot zu unterRöhrenbau auf wenige Kerngeschäftsfelder breiten. Rund 120 Milliarden Mark, so heißt
zusammen, die er im nächsten Jahr als es, wollen die Aufkäufer aus England dafür
eigenständige Aktiengesellschaft an die springen lassen.
Frank Dohmen,
Klaus-Peter Kerbusk
Börse bringen will. Gleichzeitig startete er
REUTERS
firma gezahlt. Die gewaltige Summe von
fast 67 Milliarden Mark steht nach Ansicht
vieler Experten in keinem Verhältnis zum
tatsächlichen Wert der englischen HandyFirma mit ihren 3,5 Millionen Kunden.
Vor wenigen Wochen erst hatte Telekom-Chef Ron Sommer für rund 25 Milliarden Mark den nur unwesentlich kleineren Orange-Konkurrenten One-2-One
geschluckt und sich für diese Summe
bereits herbe Kritik seines Finanzvorstands und zahlreicher Aktionäre anhören
müssen.
Im Vergleich zu Esser, der beim Milliarden-Poker um One-2-One überraschend
ausgestiegen war, hat der Telekom-Chef
jedoch geradezu ein Schnäppchen gemacht. Während Sommer für jeden One-2One-Kunden umgerechnet rund 9000 Mark
zahlt, legt Esser für jeden Kunden von
Orange-Chef Hans Snook fast 19 000 Mark
auf den Tisch. Ein Betrag, der selbst auf
dem boomenden Handy-Markt nur schwer,
vielleicht gar nicht zu verdienen ist.
Analysten und Experten wie der Bonner
Telekommunikationsberater Bernd Jäger
wittern hinter dem Milliarden-Deal denn
auch ganz andere Beweggründe. Das Angebot von 67 Milliarden Mark, so Jäger,
sei „Ausdruck höchster Panik“. Mit dem
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
131
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
FERNSEHEN
Dokument des Grauens
T. EINBERGER / ARGUM
Im Pay-TV hat der Pionier Leo Kirch Zahlungsverpflichtungen von 4,5 Milliarden Mark. Ein von
ihm selbst in Auftrag gegebenes Dossier zeigt: Ohne Hilfe ist seine Firma nicht überlebensfähig.
TV-Unternehmer Kirch: „Geschichte von Betriebsverlusten“
I
n der Öffentlichkeit geht Dieter Hahn,
38, das brisante Thema gern locker an.
„Die Verbindlichkeiten waren nie ein
Grund zur Sorge“, sagt er über das Reich
des Medienunternehmers Leo Kirch, 73.
Als Hahn, zweiter Mann hinter Kirch in
der Geschäftsführung, vor zwei Monaten
die erste Bilanzpressekonferenz in der Geschichte der Kirch-Gruppe eröffnete, witzelte er selbstbewusst: „Bisher wurde nur
über die Verschuldung der Gruppe geschrieben, jetzt können die Journalisten
mal was anderes schreiben.“
Unermüdlich arbeitet Hahn daran, das
verschachtelte Imperium seines Chefs zu
ordnen und zum bedeutendsten europäischen Fernsehkonzern auszubauen – und
die vielen Gerüchte über die Finanzkraft
der Gruppe zu zerstreuen.
Für das schwierige Zukunftsgeschäft des
Pay-TV mit den erforderlichen massiven
Investitionen dachte sich Stratege Hahn etwas Neues aus: den Gang auf den internationalen Kapitalmarkt. Der Plan sah vor,
dass eine Anleihe der Zwischenholding
KirchPayTV zwei Milliarden Mark erlöst –
es wäre eine der größten Anleihe-Emissionen europäischer Firmen gewesen. Anschließend beabsichtigte Hahn, sich weltweit bei Banken weitere vier Milliarden
Mark zu leihen.
Das Geld sollte endgültig den Ausbau
des deutschen Bezahlfernsehens rund um
den Sender Premiere World sichern. Das
Unternehmen könnte dann zum Kern einer
neuen Fernsehwelt werden, mit exklusiven
134
Programmen und Filmen auf Abruf, mit
Internet und Multimedia, alles auf hunderten von Kanälen.
Doch die schöne Idee mit der Anleihe ist
geplatzt. Nach den Präsentationen der
Kirch-Truppe in Europa und an der Wall
Street winkten die umworbenen Investoren einhellig ab. Die Anleihe, die Kirch mit
rund zwölf Prozent verzinsen wollte, war
zu diesen Konditionen nicht an den Mann
zu bringen.
Die Bedenken der Banker hatte ein Prospekt geweckt, den das renommierte New
Yorker Investmenthaus Morgan Stanley
Dean Witter im Kirch-Auftrag einem handverlesenen Kreis finanzstarker Interessenten reichte. Das brisante Papier („Strictly
confidential“) durfte nicht kopiert werden
und war nach Lektüre unverzüglich an
Morgan Stanley zurückzugeben.
Denn es bietet un-
Kirchs
Milliardengrab
Verluste im
Pay-TV 1998
nach einer vorläufigen internen Bilanz der Kirch-Gruppe
nach Übernahme von
Premiere und Zusammenlegung mit DF-1
(konsolidierte Zahlen)
Angaben in Millionen Mark
mit Beta Digital
Einnahmen
Gesamt
957,7
129,1
836,3
– 347,5
– 189,7
– 22,3
– 13,6
– 90,1
– 17,3
– 559,7
– 96,7
–72,3
– 163,5
–196,7
– 50,9
–907,1
–278,7
–94,5
–177,1
–286,9
–196,8*
– 551,4
– 303,5
–983,4
– 130,1
– 8,9
+ 0,7
–18,4
–5,0
–128,1
–672,9
–362,0
aus Abonnements
abzüglich Betriebsausgaben
Film- und Programmkosten
Sendetechnik und Übertragung
Abonnentenbetreuung u.a.
Kosten für Decoder
Vertriebskosten
Verwaltung und Sonstiges
Betriebsergebnis
Weitere Verluste
Beteiligungsgewinne/-verluste bei Töchtern
Zinszahlungen für Kredite
weitere Fehlbeträge und Gewinne eingerechnet, ergibt sich nach Steuern ein
Gesamtverlust
Quelle: Morgan Stanley Dean Witter
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
–1122
Millionen Mark
*einschließlich
Abschreibung
auf Vermögenswerte
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
rangig an Fakten interessiert.
gewohnt intime Einblicke in das
Und deren Sprache ist deutlich:
bisher verschwiegene UnternehLaut dem internen Finanzstatus
men des Leo Kirch.
lagen die ZahlungsverpflichtunErstmals waren interne Paygen von KirchPayTV zum StichTV-Bilanzen nach den strengen
tag 31. März 1999 bei 4,56 Milamerikanischen Regeln erstellt
liarden Mark.
worden, erstmals bekommen
Diese Zahl überrascht selbst
Außenstehende einen präzisen
Kirch-Kenner. Als 1997 ein inÜberblick über die Geschäfte.
terner Finanzstatus via „ManaSchonungslos seziert das „Ofger Magazin“ den Weg in die Öffering Memorandum“ vom 31.
fentlichkeit fand, war von drei
August das Unternehmen Kirch,
Milliarden Mark Bankschulden
es referiert einfach alles: Vermödie Rede – für den Gesamtkongen und Schulden, Verluste und
zern. Mittlerweile hat sich die
Verpflichtungen, Chancen und
Lage offenbar zugespitzt.
immer wieder die Risiken.
Der Grund sind die AktivitäSo entstand auf 160 Seiten ein
Dokument des Grauens: Kirchs Kirch-Memorandum (Ausriss): „Hohes Niveau der Verschuldung“ ten im Pay-TV. 1998 hatte das
Münchner Medienhaus nach der
Finanzen sind demnach aufs
Natürlich schreiben die Kirch-Strategen für die Wall Street und die Londoner City
Äußerste angespannt, dicht an der Grenze
zur Schieflage. An vielen Stellen klaffen in dem Papier für die Investoren voller Be- erstellten Bilanz auf diesem Gebiet genau
Löcher, drohen finanzielle Risiken, deren geisterung, wie sie die Konkurrenz des 1,122 Milliarden Mark Verlust gemacht –
Free-TV, wo Sender wie ARD oder RTL die Summe liegt um fast ein Drittel über
Bewältigung allein kaum zu schaffen ist.
Selbst die Anleihe sollte lediglich der das Publikum locken, künftig mit den bes- den Umsätzen. Tag für Tag verliert Kirch
Umschuldung dienen. Der Zweck: die Til- seren Programmen klein halten wollen: im Pay-TV-Geschäft demnach über zwei
„Wir glauben, die Attraktivität von Fern- Millionen Mark.
gung alter Kredite.
Innerhalb des Bezahlfernsehens ist die
Auch die an das Anleihegeld geknüpften sehprogramm-Inhalten ist der einzige entneuen Milliarden-Bankkredite sollten teil- scheidende Wettbewerbsfaktor im deut- Hauptursache für die Horrorzahlen das
weise Belastungen aus der Übernahme des schen Fernsehmarkt.“ Premiere World alte Kirch-Pay-Unternehmen DF 1. Damit
Senders Premiere (Kaufpreis: insgesamt solle, so das Dokument, die „führende führte der Medienunternehmer Mitte 1996
2,356 Milliarden) finanzieren. Ein Gebilde Marke für Fernsehunterhaltung“ werden. das Digitalfernsehen in Deutschland ein. Es
Die umworbenen Investoren jedoch wa- hat den Pay-Pionier bis Anfang April knapp
wäre entstanden, dass vom Fundament bis
ren weniger an Verheißungen, sondern vor- 1,8 Milliarden Mark gekostet. Jahr für Jahr
zum Dachstuhl aus Krediten besteht.
AP
die steckt offenbar voller
türmten sich die FehlbeträRisiken. Auf zehn Seiten
ge (1997: 719 Millionen,
werden all die großen und
1998: 673 Millionen Mark).
kleinen Unwägbarkeiten
„Wir haben eine Geschichaddiert.
te bedeutender BetriebsRisikofaktor Nummer
verluste“, erklärt der Proeins ist demnach die Exspekt lapidar. Der dafür
pansion auf Pump: „Wir haverantwortliche Geschäftsben ein hohes Niveau der
führer Gottfried Zmeck
Verschuldung“, heißt es auf
räumte mittlerweile den
Seite 16 des Dokuments,
Posten.
„unsere namhafte SchulZu den Lasten bei DF 1
denmenge könnte eine Last
addieren sich die Verluste
für unsere Operationen und
bei dem Sender Premiere.
Profitabilität bedeuten.“
Dort hielt Kirch jahrelang
Dazu gehört etwa, „dass
nur einen Minderheitsanwir vielleicht einen bedeuteil von 25 Prozent, ehe er
tenden Teil unserer Resim Frühjahr 1999 endgültig TV-Tycoon Murdoch
sourcen abtreten müssen,
die Mitgesellschafter Canal
plus und Bertelsmann auskaufte. Seit um Schulden zu bezahlen“ – ein Teilver1. Oktober ist der Kanal mit DF 1 zum neu- kauf also nötig werden könnte.
Vor allem für weitere Investitionen steht
en Premiere World fusioniert. 1998 machte das alte Premiere 836 Millionen Mark angesichts dieser Kassenlage das nötige
Umsatz – und 362 Millionen Mark Verlust. Geld anscheinend kaum zur Verfügung.
Dicke Programmpakete aus Hollywood, Damit hätte die Kirch-Gruppe, so das ineine schwierige neue Technik, teure Satel- terne Dossier, „nur eine begrenzte Flexilitenplätze, aufwendige Marketingaktionen bilität, um auf veränderte Markt- und Ge– die Kosten setzen Kirch erkennbar zu. schäftsbedingungen zu antworten“.
Neue Kredite, dieses Risiko wird eigens
Die Einnahmen lassen auf sich warten.
Der Bankenprospekt von Morgan Stan- aufgeführt, seien womöglich nicht mehr zu
ley Dean Witter listet nicht nur Kredite ergattern. Im Dokument heißt es: Die
und operative Verluste auf. Es wird auch Kirch-Gruppe sei „vielleicht nicht in der
ein Blick in die Zukunft gewagt – und auch Lage, zur Finanzierung des laufenden Ge-
schäfts oder zur Expansion mehr Geld zu
leihen, zu attraktiven Zinssätzen oder
überhaupt“.
Schon die bisherigen Kredite machen
der Firma schwer zu schaffen. Sie sind in
ihrer künftigen Wirkung auf die Bilanz nur
schwer zu kalkulieren, so das Investorenpapier, „da für einen Teil unserer Schulden
ein variabler Zinssatz gilt“. Das heißt: Steigen an den Finanzmärkten die Zinsen,
wächst die Belastung für das Münchner
Unternehmen automatisch mit – eine Scala
mobile nach unten.
„Die Fähigkeit von KirchPayTV, weiterzumachen, hängt von den künftigen Betriebsergebnissen ab und von der Frage,
ob zusätzliche Finanzen von der KirchGruppe oder aus externen Quellen kommen“, bilanziert das Papier folgerichtig.
Die Warnungen wirkten auf ausgewiesene Finanzexperten in Großbanken alarmierend. Die Anleihe zu den von Kirch
angebotenen Konditionen war allen zu riskant. „Das war eine der schlimmsten Neuemissionen, die dieses Jahr auf meinen Tisch
kamen“, sagt ein Frankfurter Banker.
Kirchs offenkundige Finanzprobleme
zeigen sich auch beim Verwendungszweck
der Anleihe. Das Kirch-Team hatte die erbetenen zwei Milliarden nicht etwa für den
Kauf von Kinoknüllern oder für Investitionen in die Technik eingeplant, sondern
schlicht zur Bewältigung alter Lasten. Die
Wirtschaft
Geldgeber hätten in die Vergangenheit inDie nächsten großen Rechnungen ste- sächlich fand er im Frühjahr bereits Minvestiert, ohne allzu viel Zukunftsphantasie. hen schon fest: So sind ausweislich der ver- derheitsgesellschafter für die profitable
Von dem frischen Geld sollten 600 Mil- traulichen Finanzaufstellung in den nächs- KirchMedia: Den italienischen TV-König
lionen Mark für einen Kredit der Bayeri- ten fünf Jahren rund 880 Millionen Mark Silvio Berlusconi, den saudischen Prinzen
schen Landesbank sowie gut 1,3 Milliar- für Satelliten, Kabelkanäle und Gebäude Walid sowie die Investmentbank Lehman
den Mark für ein Darlehen Kirchs bezahlt sowie 1,457 Milliarden Mark für Pro- Brothers. Die dortigen Verbindlichkeiten
– ebenfalls mehrere Milliarden Mark –
werden. Der Alleineigentümer hat über die grammlizenzen fällig.
Obergesellschaft KirchVermögensverwalVom Jahr 2000 an stehen daher in der konnten die Harmonie nicht trüben.
Auch an der neuen Zukunftsfirma Kirch
tung seiner KirchPayTV insgesamt 1,682 Kirch-Gruppe Börsengänge fest auf dem
Milliarden Mark zu 5,5 Prozent Zins ge- Programm, so zumindest wurde es den New Media sollen sich bald Investoren beteiligen. Dort bereitet Kirch neue Dienste
liehen – und sich dieses Geld wiederum potenziellen Geldgebern avisiert.
anderweitig besorgt.
Erster Kandidat ist die Holdinggesell- vor: beispielsweise den Zugang zum InterEine zentrale Rolle spielt dabei die schaft KirchMedia: Dort sind das ange- net, das Abrufen von Filmen und MusikBayerische Landesbank, auch das wird stammte Geschäft des Filmhandels, die titeln sowie interaktive Computerspiele.
„Wir beabsichtigen, einen
aus dem Dokument eroder mehrere strategisichtlich.
sche Partner aufzunehmen“,
In der Vergangenheit hatheißt es im Finanzprospekt.
te das Staatsinstitut 500 MilTopmanager Hahn sieht
lionen Mark für den laufensich durch die jüngste Geden Betrieb bereitgestellt.
schäftsentwicklung bei PreDoch in diesem Jahr musste
miere World bestätigt, die
die Bank kräftiger ran, ofSituation bei Kirch sei keifenbar in einer relativ drinnesfalls dramatisch, erklärt
genden Stützungsaktion.
er. Seit dem Neustart am
Am 29. April bürgte die
1. Oktober gewann das
Bank für 1,565 Milliarden
Pay-TV-Unternehmen über
Mark. Von der Kreditlinie
80 000 Neukunden – und
nahm Kirch bis September
läge damit „deutlich über
600 Millionen in Anspruch,
Plan“. Mit Marketingausgadieses Geld aber muss er bis
Jahresende zurückzahlen –
das geht aus dem „Offering
Memorandum“ hervor. Es
handelt sich also um eine so
genannte Brückenfinanzie- Kirch-Werbung für Erotikprogramm: Über 80 000 Neukunden
rung – und das zum Niedrigzins von derzeit 4,2 Prozent. Der Durchschnitt in
Deutschland für Firmenkredite liegt bei 5,5 Prozent.
Firmenzeichen
Die Anleihe ist zwar geben von 300 Millionen
platzt, aber der KapitalbeMark für die Jahre 1999 und
darf von Kirch ist nach wie
2000 will Hahn das Publivor ungestillt.
kum von den ProduktvorAuch deshalb wird seit
teilen überzeugen: Top-Filneuestem wieder eindringme wie „Titanic“, exklusive
lich mit dem internaSportsendungen wie die
tionalen TV-Unternehmer
Boxkämpfe von Mike TyRupert Murdoch über seison, Familienfreundliches
nen Einstieg ins deutwie den Disney Channel
sche Pay-Geschäft geredet.
und Erotik-TV.
Er soll eine Milliarde Mark
Den Flop mit der Anleihe
für rund 20 Prozent an
hat Kirchs Stellvertreter
KirchPayTV zahlen, so zulängst abgehakt, der Promindest der Wunsch der
Kirch-Leute. Doch Mur- KIrch-Sportangebot mit Mike Tyson: „Von Zeit zu Zeit die Preise erhöhen“ spekt sei mit Rücksicht auf
eventuelle Rechtsstreitigkeidoch pokert – er dürfte
den Deal weniger nötig haben als sein Produktionen von Kino- und Fernseh- ten extrem vorsichtig verfasst worden, sagt
Partner in spe.
stücken sowie die Sender Sat 1, Pro Sieben, er. „Man kann ihn nicht isoliert sehen.“
Einer wird beim Pay-TV vermutlich in
Lange kann das Unternehmen, das noch DSF und Kabel 1 vereinigt. Im Jahr 2001
im Mai eine Aufnahme von Gesellschaf- dürfte dann auch KirchPayTV so weit sein. jedem Fall zahlen, von dem bisher eher
tern strikt ablehnte, ohne weitere fremde Nur die Beteiligungsholding KirchInvest – selten die Rede war: der Kunde. Der UmGelder nicht auskommen. Für das Nötigste zu der etwa ein dickes Aktienpaket am satz pro Pay-Abonnent solle nach oben gesorgt seit Wochen ein Kredit der US-Bank Axel Springer Verlag gehört – soll nicht an schraubt werden, erklärte das Kirch-Management in dem vertraulichen Prospekt:
Morgan Stanley Dean Witter über 1,5 Mil- die Börse gebracht werden.
liarden Mark. Sie erhofft sich offenbar lohMit der Dreiteilung sei die Kirch-Grup- „Von Zeit zu Zeit planen wir, neue Diensnende Folgegeschäfte bei einem Anteils- pe „transparent für neue Partner, Investo- te einzuführen und dabei die Preise zu erverkauf und einem Börsengang.
ren und Aktionäre“, erklärte Hahn. Tat- höhen.“
Hans-Jürgen Jakobs
138
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
schäftigte – wundern sich. Seit der promovierte Jurist 1992 an die Spitze des Telefonund Elektromultis rückte, kämpft der Siemens-Chef gegen den Ruf, er sei konfliktscheu und entscheidungsschwach.
Weil der umgängliche Aufsteiger sich
standhaft weigerte, im großen Stil Betriebe
zu schließen oder unrentable Geschäftszweige abzugeben, galt er in Wirtschaftskreisen als Softie. Vorstandsheroen wie
DaimlerChrysler-Chef Jürgen Schrempp
oder General-Electric-Chef Jack Welch
(„Neutron Jack“) dagegen griffen beherzter zu. Sanieren, schließen oder verkaufen,
„Fix it, close it, or sell it“, heißt das Motto
von Welch. Schrempp brachte sein Unter-
Die Aufholjagd
400
Siemens Aktienkurs
im Vergleich zum Dax
350
1. Oktober 1992 = 100
300
1. Oktober 1992
Heinrich von Pierer
wird Vorstandschef
der Siemens AG
250
200
DAX
D. REINARTZ / PLUS 49 / VISUM
150
19. Februar 1998
Hermann Franz
scheidet aus dem
Aufsichtsrat aus
SIEMENS
Konzernchef Pierer
Quelle: Datastream
1992 93
M A NAG E R
Ende eines Softies
Siemens-Chef Heinrich von Pierer, bisher der sanfteste unter
Deutschlands Top-Bossen, greift neuerdings hart durch.
Vorstände werden gefeuert, Firmen verkauft, Jobs abgebaut.
I
hr letztes Arbeitstreffen Ende Juli im
Berliner Hotel Interconti wird den
obersten Führungskräften des Münchner Siemens-Konzerns noch lange in Erinnerung bleiben. So angriffslustig wie bei
dem zweitägigen Seminar hatten die 500
Top-Manager ihren Chef Heinrich von Pierer, 58, noch nie erlebt.
Viele der hoch dotierten Bereichs- und
Abteilungsleiter zuckten zusammen, als
der Konzernboss Fehlleistungen seiner leitenden Mitarbeiter anprangerte. „Die Qualitätsprobleme haben in den letzten Monaten ein Ausmaß angenommen, das nicht
mehr akzeptabel ist“, wetterte Pierer. Statt
„bei allem und jedem nach externen Be142
ratern zu rufen“, kritisierte der sonst so
verbindliche Vorstandschef, sollten sie
künftig „wieder selbst handeln“.
Auch mit teuren Lustreisen zu ausländischen Tochtergesellschaften müsse endlich
Schluss sein. „Das schafft doch keine Mark
mehr Umsatz oder Geschäftswert“, hielt
der Siemens-Chef den Spesenrittern vor.
Noch abends an der Hotelbar standen
die Zuhörer sichtlich unter Schock. „Was
ist nur mit unserem Chef los?“, fragte einer den anderen.
Auch Analysten und Konkurrenten des
drittgrößten deutschen Industriekonzerns
– 133 Milliarden Mark Umsatz im abgelaufenen Geschäftsjahr und 440 000 Bed e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
94
100
50
95
96
97
98
99
nehmercredo auf die Einfachformel: „Profit, Profit, Profit.“
Der ehemalige CSU-Kommunalpolitiker
Pierer hielt jahrelang dagegen. Der Konsens ist unverzichtbar, lautete seine Maxime. Das Interesse der Aktionäre sei für ihn
nicht der alleinige Maßstab. Er betrachtete den Siemens-Vorstand stets auch als ein
politisches Gremium, das im Geflecht von
Kunden, Mitarbeitern und Aktionären zu
vermitteln hätte und auch die Interessen
der Gesellschaft berücksichtigen müsse.
Mit derlei Rhetorik ist jetzt Schluss. Nun
beeilt sich auch der Siemens-Mann, den
Anschluss an die neue Zeit zu finden. Pierer baut um, kauft auf und stößt ab, als hätte er nie zuvor etwas anderes gemacht. Die
„Welt“ feierte den Spätstarter bereits als
„Shooting Star“ der deutschen Wirtschaft.
Auch bei seinen Führungskräften greift
der Siemens-Chef neuerdings durch. Wer
nicht spurt, muss empfindliche Gehaltseinbußen hinnehmen. Erfolgreiche Bereichsleiter können ihr Millionen-Salär dagegen um bis zu 600 000 Mark aufbessern.
Der neue Kurs schlägt sich längst auch
im Börsenkurs nieder. Kaum ein anderes
Wirtschaft
des Betriebsrats hält sich in Grenzen. „Fundamentalopposition bringt uns bei Siemens
zurzeit nicht weiter“, sagt Konzernbetriebsratschef Ralf Heckmann.
Erst Freitag vergangener Woche erfuhren die Mitarbeiter der Geldautomatensparte, dass sie bald neue Eigentümer bekommen, zwei US-Investmentfirmen. Auch
die Beschäftigten der Verkehrs- und Medizintechnik sowie der Kernkraftsparte
müssen künftig wohl mit Kollegen von
Partnerfirmen zusammenarbeiten.
Verstärkung erhalten soll dagegen der
Handy-Bereich, auch bei der SiemensEDV-Dienstleistungstochter SBS stehen
Zukäufe an. Weil beide Sparten im vergangenen Jahr erfolgreich gearbeitet haKonzern in Bewegung Die Siemens AG im Umbau
ben, dürfen die Chefs auf Shopping-Tour
Ausgewählte
gehen. Im Visier haben die Bayern bereits
Transaktionen
Teile des EDV-Geschäfts der Daimlerin der KonzernChrysler-Tochter Debis. Kräftig aufgeführung
mischt wird auch im Management. Seit
einem Jahr müssen die 17 Bereichsleiter
Oktober 1997
September 1999
regelmäßig zum Rapport antreten. Wer
Walter
Kunerth
Juli 1998
Elektromechanische
Zentralvorstand
sein Planziel nicht erreicht, muss gehen.
Energiekabel
Komponenten
Oktober 1998
Knapp ein halbes Dutzend SpitzenDie Energiekabelproduktion
Der Bereich soll für
Wolfram Martinsen
wird für 500 Mio. Mark von
2 Mrd. Mark an Tyco
manager hat es bislang schon erwischt, so
Vorstand Verkehrstechnik
Pirelli (Italien) übernommen
(USA) verkauft werden
erst kürzlich den glücklosen
September 1998
Horst Langer
Oktober 1999
KWU-Chef Adolf Hüttl. Bereits
Zentralvorstand
Chipfabrik
Bauelemente
im April schickte Pierer den ehe(vorzeitiger Ruhestand)
Stilllegung der Halbleiterfabrik in Börsengang unter
maligen Chef der Handy-Sparte,
North Tyneside (Großbritannien) dem Namen Epcos
April 1999
April 1999
Dietrich Botsch, vorzeitig aufs
Dietrich Botsch
Geldautomaten
Halbleitertechnik
Technologiebeauftragter
Altenteil. Selbst vor einem KonUS-Investmentfirmen
Der Halbleiterbereich wird als
des Zentralvorstands
kaufen die Siemens Nixdorf
flikt mit der Siemens-Familie
Infineon Technologies ausgeRetail and Banking Systems
Oktober 1999
schreckt Pierer nicht zurück. Auf
gliedert und im Frühjahr 2000
für 1,44 Mrd. Mark
Adolf Hüttl
der Hauptversammlung im Fean die Börse gebracht
Vorstand Kraftwerkstechnik
Glasfaserbereich
bruar wurde beschlossen, SonJuni 1999
(vorzeitiger Ruhestand)
Geplanter Verkauf der Siederrechte der Erben des Siemens-GrünComputersysteme
mens-Anteile am GlasfaserGründung eines Gemeinschafts- produzenten Siecor an
ders für einen Teil ihrer Aktien abzuunternehmens mit Fujitsu (Japan) Corning (USA)
schaffen. Einige von ihnen haben die Entscheidung inzwischen angefochten und
verlangen einen Ausgleich.
Doch Pierer denkt gar nicht daran, freitrolleur saß bei Pierer im Büro gegenüber, rer die Balance finden – nur haben sich
beide teilten sich ein Sekretariat. Das mittlerweile die Gewichte im Aufsichtsrat willig Geld rauszurücken. „Die Familie hat
gehört bei Siemens zur Tradition.
deutlich verschoben. Mit dem Abgang von dank der Kurssteigerung der vergangenen
Franz hatte den weithin unbekannten Franz ging auch ein Stück der Siemens- Monate doch klotzig verdient“, meint ein
Pierer-Berater.
KWU-Manager Pierer Anfang der neunzi- Kultur in den Ruhestand.
Gefährlich werden könnte dem Sieger Jahre überraschend an die SiemensIn einer Nacht-und-Nebel-Aktion entSpitze geholt. So konnte er weiter über die warf Pierer vor gut einem Jahr ein Zehn- mens-Chef nur noch ein Problem, der
Geschäftspolitik bestimmen, der Kontrol- Punkte-Programm, in dem er einen radi- Siegeszug des Internet. Die Siemensleur als Macher. „Wir wollen nicht als die kalen Kurswechsel und die Trennung vom Manager versäumten, rechtzeitig in die
großen Brutalos dastehen“, wehrte er sich Chipgeschäft ankündigte. Baumann und neue Technologie zu investieren oder
gegen Forderungen, den Konzern stärker Neubürger konnten das Papier nur noch Internet-Unternehmen aufzukaufen. Nun
auf die Interessen der Aktionäre auszu- abnicken. „Seither ist klar, wer bei Sie- sind die neu gegründeten Firmen so
richten. „Wenn man sich so einseitig auf mens die unangefochtene Nummer eins teuer geworden, dass ein Kauf die Bilanz
auf Jahre hinaus ruinieren
den Shareholder fokussiert“, bekannte ist“, meint ein Aufsichtsrat anwürde.
Franz, „bereitet es mir Unbehagen.“
erkennend.
Inzwischen haben die MünchPierers Spielraum war damit begrenzt.
Viele Siemens-Mitarbeiter
ner zwar für eine Milliarde
Einerseits entsprach der sanfte Ton eher hofften, dass nach der spektaMark einige kleinere Unterseinem Naturell, doch es ging immer auch kulären Ausgliederung des Baunehmen in den USA gekauft.
um die Machtbalance, um den Einfluss sei- elemente-Geschäfts im verganDoch das wird nicht reichen:
nes Förderers, den zu respektieren er sich genen Herbst erst einmal Ruhe
„Hier mitzuhalten oder gar
entschlossen hatte. „Ein Unternehmen wie im Konzern einkehren würde.
wieder an die Spitze zu marSiemens, von dem allein in Deutschland Doch ihr Boss bastelte bereits
schieren“, beschwor Pierer seieine Million Menschen direkt oder indirekt an neuen Plänen.
ne Top-Manager in Berlin, „das
abhängen“, verkündete er im SPIEGEL,
Allein bei der Siemens-Tochist die größte Herausforde„hat auch eine gesellschaftspolitische Ver- ter KWU sollen in den komrung, die wir zu bewältigen hapflichtung.“ Dem Drängen angelsächsi- menden zwei Jahren über 1200
scher Analysten, den unübersichtlichen Jobs wegfallen. Der Widerstand Pierer-Förderer Franz ben.“
Dinah Deckstein
NUNG
N
E
E
W. v. BRAUCHITSCH
N
ÄU F E e t c
K
R
.
VE
Konzern zu zerschlagen, erteilte er eine
klare Absage. „Wir schöpfen unsere Stärke aus unseren Synergien“, bürstete er
Kritiker ab.
Heute sieht der Siemens-Chef das offenbar anders. Kaum war Franz im Februar
1998 ausgeschieden, legte Pierer los. „Seither“, sagt ein enger Vertrauter, „hat er endlich die Luft, die er braucht.“
Doch so ganz freiwillig, wie es scheinen
soll, ist der Kurswechsel nicht. Der neue
Aufsichtsratschef Karl-Hermann Baumann,
ein bekennender Shareholder-Value-Anhänger, und der frisch gekürte Finanzchef
Heinz-Joachim Neubürger drängen hartnäckig auf mehr Profit. Wieder muss Pie-
TR
Unternehmen unter den deutschen DaxWerten legte in den vergangenen Monaten
so kräftig zu wie das lange Zeit dümpelnde Siemens-Papier (siehe Grafik).
Demnächst könnte die Aktie noch weiter steigen. Am 3. November will Pierer
dem Aufsichtsrat das Ergebnis für das
gerade abgelaufene Geschäftsjahr präsentieren. Und das liegt mit einem Jahresüberschuss von 3,1 Milliarden Mark deutlich höher als erwartet.
Allmählich wird klar, was den Umschwung bewirkte. Solange Pierers Förderer Hermann Franz an der Spitze des Aufsichtsrats stand, konnte sein Zögling nicht
gegen den Übervater aufmucken. Der Kon-
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
143
Wirtschaft
Heiss daraufhin erklärt, „abweichende Kalkulationen“ zu den Risiken „seien unerwünscht. Diese sollten überhaupt gar nicht
gemacht werden“.
Auch interne Revisionsberichte wiesen
auf die hohen Risiken hin. Den Erhalt zumindest eines dieser Papiere haben Martini und sein Bilanzchef Münstermann mit
ihrer Unterschrift bestätigt, so die GutEin neues Gutachten enthüllt:
achter. Dennoch beschlossen die VorstänMit halsbrecherischen
de, die Berichte zu ignorieren und nur 1,5
Tricks versteckte die Hypobank
Milliarden Mark in die Risikovorsorge aufzunehmen. Dabei hatten Immobilien-Fachein 3,6-Milliarden-Loch.
leute der Bank den Vorständen ausdrückDie 97er Bilanz ist nichtig.
lich erklärt, dass zu den höheren
Risiken möglicherweise noch
m Ende ihrer Arbeit fanweitere hinzukommen würden.
den sich die Bilanzprofis
Die Anmerkung der BDOder WirtschaftsprüfungsLeute zu diesem Vorgang wird
gesellschaft BDO in einer ungewohl in die Annalen des deutwohnten Rolle wieder: als Obschen Finanzgewerbes eingehen.
jektschützer.
Sie sprechen von einem „TopZwei von ihnen bewachten
Down“-Ansatz der Hypo bei
die Tür des Zimmers im ersten
der Ermittlung der RisikovorStock des Hypohauses-Ost im
sorge. Deren Höhe habe sich
Münchner Arabellapark. Drei
nicht an den tatsächlichen Risiweitere schirmten das Kopierken orientiert, sondern sei nach
gerät ab, während ein Kollege
„bilanz- und dividendenpolitidie Dokumente vervielfältigte –
schen Gesichtspunkten“ erstellt
so brisant ist das Material.
worden. Die Vorstände zogen
Sechs Monate lang hatten die
demnach die von den AktioPrüfer die 97er Bilanz der ehenären – allen voran der Allianz
maligen Hypobank untersucht.
– erwartete Dividende vom GeDie Aktionäre der HypoVereinswinn ab. Die Risikovorsorge war
bank, in der die Hypo 1998 aufdann eine Art Restposten.
gegangen ist, wollten offene FraNüchtern erklären die Gutgen verbindlich geklärt wissen.
achter, dass die wahren Risiken,
Hatte die Hypo tatsächlich
die der Vorstand hätte erkennen
3,5 Milliarden Mark ungedeckmüssen, ein Mehrfaches des Jahter Immobilien-Risiken in ihresüberschusses und ein Drittel
ren Büchern, wie der Chef der
des bilanziellen Eigenkapitals
HypoVereinsbank, Albrecht
überstiegen. Die 97er Bilanz der
Schmidt, im Oktober 1998 lautHypo sei deshalb nichtig.
stark verkündete (SPIEGEL
Ganz ohne personelle Konse45/1998)? Oder war die Errequenzen wird das Desaster nicht
gung des Bankers nur ein Trick,
abgehen. So ist der in dem Gutum Kollegen und Ex-Konkurachten mehrmals kritisierte Birenten zu diskreditieren?
lanzchef Münstermann noch
Die Antwort steht im 140heute im Amt: als Vorstandschef
seitigen Sondergutachten der
der Vereins- und Westbank in
BDO, das den Aufsichtsräten der
Hamburg, einer Tochter der
Bank am Samstag per Boten zugestellt wurde. Das Ergebnis: Ehemalige Hypobank-Zentrale in München: Alles ist noch schlimmer HypoVereinsbank.
Und Martini sitzt noch im
Schmidt hatte Recht, alles ist
Aufsichtsrat des bayerischen Ineher noch schlimmer, als von
stituts. Für seinen oder Münsihm angenommen. Die Prüfer
termanns Rücktritt sah er vertestieren eine „Unterdotierung“
gangene Woche keinen Anlass.
der Bilanz um 3,634 MilliarDoch die Zeit von Martini
den Mark.
und Münstermann, da sind sich
Doch damit nicht genug: Die
Insider einig, ist abgelaufen. Der
Gutachter kommen zu dem
neue Aufsichtsratschef Kurt
Schluss, dass die Hypo-VorstänViermetz wird die beiden in den
de ihre Sorgfaltspflicht verletzt
nächsten Tagen wohl zu sich ruhaben – und zwar wider bessefen. „Früher hätte man ihnen
res Wissen. Um das herauszueine Pistole auf den Tisch gefinden, hatten sich die BDOlegt“, sagt ein hochrangiger HyLeute die VernehmungsprotopoVereinsbanker, „heute ist es
kolle der Staatsanwaltschaft benur die Rücktrittserklärung.“
sorgt. Seit März wird gegen den
ehemaligen Hypo-Chef Eber- Banker Martini, Schmidt: Das Desaster wird Konsequenzen haben
Wolfgang Reuter
BANKEN
Risiken
unerwünscht
hard Martini und weitere ehemalige Vorstandskollegen wegen des Verdachts auf
Untreue und Bilanzfälschung ermittelt.
Aus den Vernehmungen geht hervor,
dass die zuständigen Hypo-Vorstände Werner Münstermann, Klaus Heiss und Hans
Fey von den Geschäftsführern der Tochtergesellschaften Hypo-Tecta und HypoReal – bei ihnen waren die Risiken angefallen – seit September 1997 des Öfteren,
auch schriftlich, über die wahre Höhe des
Desasters informiert wurden. Einem der
Geschäftsführer hat, laut Vernehmungsprotokoll, der damals zuständige Vorstand
T. GEIGER / TANDEM
C. LEHSTEN / ARGUM
A
144
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
HIGHTECH
Schnell sein, reich werden
Amerika im Ideenrausch. Schulen veranstalten Businesswettbewerbe, Teenager werden Unternehmer, jede Stunde entstehen
über hundert neue Firmen. Die Losung heißt: Risiko macht Spaß.
Teenager-Idol Yang: Nirgendwo setzen Junge so unbefangen Ideen um wie in den USA
D
as Hauptquartier der Firma Taoti ten für die Industrie und entwickelt SoftEnterprises sieht nicht gerade aus ware – eine hohe fünfstellige Summe hat er
wie eine seriöse Firmenzentrale. An im vergangenen Jahr damit verdient.
Eigentlich dürfte es eine Unternehmung
der Wand des Chefzimmers hängen Poster
von der Dave Matthews Band, ein mexi- wie Taoti nach den Regeln ordentlicher
kanischer Teppich und ein paar Verkehrs- Betriebswirtschaft gar nicht geben. Als Firmengründer Lightner
Lightner vor ein paar Jahren Sein jüngster Mitarbeiter ist 14
schilder, die der Firmengründer mit Freunanfing, hatte er kein Geld
den nächtens irgendwo abgeschraubt hat.
für Angestellte, nicht einSie sitzen zu Hause, bei ihren Eltern
In der einen Ecke der 20 Quadratmal ein paar Dollar für oder im Studentenheim, in Kalifornien, Kameter großen Kammer türmt
einen Büroraum und erst nada, Island oder England. Verbunden sind
sich eine Stereoanlage mit
SA
Recht kein Budget sie über das weltweite Datennetz, gesehen
zwei hüfthohen LautspreU
8,4
für Werbung. Mit haben sich die meisten noch nie. „Taoti“,
chern, am anderen Ende
19 Jahren auf diese berichtet der Gründer stolz, „ist eben eine
steht ein Bett. Auf dem
Lust am
Weise eine Soft- virtuelle Firma.“
Boden liegen Gitarren
a
d
ware-Firma in
Lightners globaler Studentenbetrieb ist
herum, daneben ein Keyana
Risiko
K
6,8
Gang zu brin- eine der vielen tausend Geschäftsideen,
board. Auf Arbeit deuten
Anteil der
gen, dazu noch mit denen junge Amerikaner derzeit verhier nur ein paar Hocherwachsenen
im bergigen suchen, den üblichen Aushilfsjobs bei Pizza
leistungscomputer hin, die
rael
s
I
Bevölkerung,
,4
5
Hut oder McDonald’s zu entkommen. Galt
auf einer zerfurchten
die erstmals
es vor Jahren an den High Schools als cool,
Schlachterbank ruhen und
ein Unternehmen
kein Geld zu haben und mit einer eigenen
leise sirren.
gegründet hat
nien
ien
l
n
Band den Weltuntergang herbeizutromHier schläft, feiert und
a
a
t
t
I
i
r
in Prozent
3,4
roßb
meln, gilt die Bewunderung heute den
schafft der Medizin-StuG
3,3
d
jungen Hightech-Gründern – je
dent Brent Lightner, 22.
n
chla
waghalsiger, umso besser.
Wenn er sich nicht gerade
k
r
euts
a
D
em
n
Ihre Idole heißen Jerry
mit Anatomie beschäftigt
h
ä
2,2
c
i
D
re
2,0
Yang, der 1993 als 24-Jährioder mit seinen Kumpels
rank
F
pan
1,8
ger mit einem Kumein paar Biere zischt, küm6 Ja
nd
,
1
pel die Suchmaschimert er sich ums Geldverinnla
F
1,4
ne Yahoo! entwickelte
dienen. Er entwirft Web-Sei146
C. E. MITCHELL / BLACK STAR
R. HOLMGREN / TIME / INTER-TOPICS
Hinterland von Pennsylvania, schien so
verwegen wie die Eröffnung eines Eisstandes in der Arktis.
Der Teenager schaffte es dennoch, ihm
half seine Phantasie. Seine Mannschaft
suchte er sich übers Internet zusammen, Schüler und Studenten, hungrig nach
Geld wie er. Als Lohn versprach er ihnen Prozente vom Gewinn, die Kunden
waren zunächst Firmen in der Nachbarschaft. 40 bis 60 Designer gehören heute
zum Taoti-Team, der jüngste ist gerade
14 Jahre alt.
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
R. RAHN
T. DALLAL
Das World Wide Web vergrößert den
Abstand zur alten Welt noch rascher.
Nahezu jedes Online-Geschäftskonzept
kommt aus den Vereinigten Staaten, oftmals von Studenten oder Jungunternehmern unter 30. Während deutsche Konzerne mit aller Macht versuchen, das Netz
in den Griff zu bekommen, nehmen jenseits des Atlantiks neue Firmen den etablierten Konzernen Milliardengeschäfte
ab: Online-Kaufhausketten wie Amazon,
Online-Broker wie E-Trade oder Auktionshäuser wie eBay.
Die Kommunikationskonzerne der Zukunft, wie AT&T oder MCI- Worldcom,
liegen ebenso in den USA wie die Baumeister der Internet-Infrastruktur, etwa
der Computerkonzern Cisco. Auf der größten Messe der Telekomindustrie, der
„Telecom 99“ vorvergangene Woche in
Genf, gab es unter 400 Rednern einige
wenige Deutsche.
Vom Wachstum ohne Arbeitsplätze, wie
es der Sozialdemokrat Peter Glotz den
Deutschen seit Jahren prophezeit, ist in
Schüler beim Börsentraining: Traumziel ist der Boss in der eigenen Firma
den USA nichts zu merken. Seit
1980 bauten die 500 größten USund heute Milliardär ist, oder Justin FranKonzerne fünf Millionen Stellen
kel, 20, der kürzlich seine Internet-Muab. Doch prosperierende Firmen,
sikfirma für 100 Millionen Dollar an AOL
Gründer und Servicebetriebe
verkaufte.
schufen in der gleichen Zeit 34
In keinem Land der Welt werden so vieMillionen neue Jobs – besonders
le Ideen entwickelt und zu Geld gemacht
in den vergangenen Jahren, in
wie jenseits des Atlantiks. Und nirgendwo
der Mehrzahl mit überdurchfangen Menschen so früh damit an. Über
schnittlichem Verdienst.
70 Prozent der Schüler an den amerikaniJede Stunde entstehen in den
schen High Schools wünschen sich eine
USA über 100 neue Firmen, die
Zukunft als Boss in der eigenen Firma – in
Angestellte beschäftigen – über
Deutschland ist der Traum vieler Teen900 000 allein im vergangenen
ager noch immer eine Beamtenkarriere mit
Jahr, selbständige Berater und
gesichertem Lohn, Urlaub und hoher Penandere Einzelkämpfer nicht einsion. Hier sind Leute wie Paulus Neef, 39,
gerechnet. Jeder Zwölfte verder 1991 das Multimedia-Unternehmen
sucht derzeit, seinen eigenen
Pixelpark gründete und es vergangenen
Betrieb in Gang zu bringen, in
Monat an die Börse brachte, noch immer
Deutschland ist es nur einer
die Ausnahme.
von 45.
Bis zu 10 000 Geschäftsvorschläge pro
Immer mehr junge AmerikaJahr bekommen Risikofinanzierer im Siliner begeistern sich für den neucon Valley oder in New York, oftmals noch
en Kapitalismus: schnell sein,
von Teenagern. Kein Plan scheint zu verSpaß haben, reich werden.
wegen: weder die Massenproduktion von
Business gehört heute zur ameblinkenden Badekappen noch ein Tisch- Jungmillionär Frankel: Firma gegründet und verkauft
rikanischen Popkultur wie Dissalz mit Zuckergeschmack oder ein
Schwimmcomputer für die Badewanne – unten an, ohne Erbe, ohne Millionen. Ihre ney, MTV oder der Rap-Star Puff Daddy.
Geschichten lesen sich wie ein Vermächt- „Meine Generation glaubt, dass wir fast alein Land im Ideenrausch.
Die Bostoner Firma Invention Machine nis des Ökonomen Joseph Schumpeter und les erreichen können, was wir wollen“, sagt
hat sich sogar schon eine Innovationsma- seinem Gesetz von der Notwendigkeit Kevin Smith, 29, Autor des Kultfilms „Chasing Amy“: „Die Charaktere in meinem
schine patentieren lassen: eine Software, „kreativer Zerstörung“.
Noch vor 15 Jahren dominierten Fabri- Film sind frei: Keine Moral hält sie zurück.“
die beim Ausbrüten von Ideen hilft. Und im
Früher als irgendwo sonst in den
Internet werden bereits Ideen und Paten- kanten, Ölbarone und Immobilien-Clans
die Liste, war der reichste Amerikaner ein Industrieländern lernen Kinder, sich mit
te in Online-Auktionen versteigert.
Immer mehr Universitäten veranstalten Öl-Erbe namens Gordon Getty. Heute sind guten Ideen auf eigene Faust durchs Leben
Businesswettbewerbe, Gewinn: ein paar die Traditionsnamen fast alle verschwun- zu schlagen. Wo anderswo der Staat hilft,
zehntausend Dollar. Die Schulen ziehen den, stehen die Gettys, Fords und Rocke- ist in den USA Kreativität gefragt.
fellers unter „ferner liefen“.
Teenager brüten Geschäftsideen aus,
nach, das Fernsehen auch.
Von den reichsten 30 haben 17 ihr Ver- um Geld für die Schulbibliothek zu samNirgendwo setzen junge Leute so unbefangen neue Ideen um, selbst wenn es mögen in neuen Industriezweigen ge- meln oder bessere Schulcomputer zu
gegen übermächtige Traditionskonzerne macht, zumeist in den vergangenen zehn finanzieren. Pfadfinder veranstalten Ungeht. Und viele haben Erfolg: Von den Jahren: mit Kabelfernsehen, Mobiltelefon, ternehmerkurse und Ideenwettbewerbe.
400 reichsten Amerikanern fingen 251 ganz Computer oder neuerdings dem Internet. Bereits an High Schools wird das Fach
148
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
K. THIELKER
personal für junge Firmen bereitzuhalten,
wie etwa den Finanzchef oder Marketingspezialisten. Wegen des chronischen
Personalmangels in den neuen Industrien
arbeiten erfahrene Manager immer häufiger für mehrere neue Betriebe gleichzeitig – die klassischen Firmengrenzen lösen
sich auf.
Nicht immer waren die Amerikaner so
unternehmungsfreudig. Noch Anfang der
achtziger Jahre träumten Studenten zumeist von einer Karriere bei einem prestigeträchtigen Konzern wie der Limonadenfirma Coca-Cola.
Das änderte sich, als sich die US-Konzerne für Globalisierung und ComputerÖkonomie fit machten. Plötzlich waren
Massenentlassungen alltäglich.
Andererseits erlebten die Kids, wie junge Leute plötzlich teure Autos fuhren und
immer genug Geld hatten. Fernsehen, Kino
und Internet-Redakteure hämmerten ihnen seither Tag für Tag die Botschaft ein:
Pixelpark-Gründer Neef: In Deutschland sind junge Hightech-Unternehmer selten
Auch du kannst es schaffen, wenn du nur
„Entrepreneurship“ – Unternehmertum –
Anders als in Europa, wo Neuerungen hart genug kämpfst.
Für die meisten ist ihr Leben längst zu
gelehrt, an den Universitäten gehört es oft Angst auslösen, hilft den jungen Grünzu den gefragtesten Neuerungen: Über dern eine uramerikanische Lust an der einem Extremsport geworden. 82 Prozent
750 Colleges und Universitäten bieten Veränderung, Aufbruchsgeist und Spaß der Jugendlichen bejahten in einer Umfradas Lehrfach an. In Deutschland soll es am Risiko. Und ein anderer Begriff von ge den Satz: „Ich schätze den Wettkampf,
bis Ende des Jahres gerade mal 20 Lehr- Misserfolg: Während in Deutschland eine er macht mich besser.“ Zwei Drittel sagen:
stühle geben.
Pleite wie ein Vernichtungsurteil behan- „Ich muss alles nehmen, was ich in dieIn der Aquina High School im New delt wird, gilt ein Fehlgriff in den USA sem Leben kriegen kann. Denn niemand
Yorker Armenbezirk South Bronx lernen eher als eine Auszeichnung. „Wir nennen schenkt mir etwas.“
Erleichtert wird der Schritt
Zwölfjährige, wie sie an der Wall Street es nicht Scheitern“, sagt der
in die Unabhängigkeit durch
Geld verdienen können. Zu Beginn des New Yorker Investmentbanker
10491 USA
einen Überfluss an RisikoSchuljahres muss jeder Schüler für min- Seth Goldstein: „Wir sagen: Er
Kapital. Allein 3,8 Milliarden
destens einen Dollar einen Anteil am ist ein Risiko eingegangen.“
Dollar steckten Finanziers
schuleigenen Aktienfonds kaufen. Später
Während deutsche Hightechzwischen April und Juni dieses
entscheiden die jungen Anleger mit Hil- Firmen im Schnitt knapp vier
Jahres in neue Internet-Ideen,
fe eines professionellen Brokers, in wel- Jahre brauchen, um eine Idee
mehr als im gesamten verche Aktien der Fonds investieren soll. In auf den Markt zu bringen, schafgangenen Jahr. Immer mehr
fünf Jahren vermehrten die Kids den fen es amerikanische VentureEntrepreneure bekommen
Schulfonds von 500 Dollar auf über 3300 Kapitalisten, eine Firma innerneuerdings Kapital, ohne
Dollar.
halb eines Jahres zu gründen, zu
überhaupt eine funktionierenÜber 25 000 Schulen spekulierten im entwickeln und an der Börse zu
de Firma vorweisen zu könvergangenen Jahr bei einem landesweiten verkaufen. An der Harvard-Uninen. „Wir verkaufen Ideen“,
Börsenspiel mit, die Teams mussten zehn versität waren im letzten Ideensagt ein Venture-Kapitalist in
Wochen lang ein Portfolio von je 100 000 Wettbewerb bereits die Hälfte
New York.
Dollar verwalten. In Oregon veranstalteten der Teams von Risiko-Finanziers
Schon planen InvestPädagogen Business-Camps für Kinder, mit gesponsert.
mentbanker den nächsten
Seminartiteln wie „Striking it rich“ – „Auf
Private EntwicklungsgeSchritt. Sie wollen junge
einen Schlag reich werden“.
sellschaften, Brutkästen geTreibsatz
Unternehmer an die Börse
Manches, was Kinder dort vorbrachten, nannt, scannen pausenlos
bringen, die sich dort Kapiklingt nach Größenwahn: Teg Graham, 14 den Markt nach neuen
für Gründer
tal für ihr nächstes Projekt
Jahre alt, plante ein globales Satelliten- Ideen. Haben sie ein Erfolg
Risikokapita
lbeschaffen sollen, selbst
Radionetzwerk. Harutyun Amirya, 17, versprechendes Team entInvestitionen
wenn es noch nicht einmal
wollte mit Qualitätskartoffelchips den deckt, versorgen sie es mit
Hightech-Be im
reich;
eine Idee dafür gibt. „Wargroßen Billigproduzenten des Landes Kapital, Managern, Büroin Millionen
Dollar
um sollten wir nicht die
Marktanteile abknöpfen. Vorsorglich hört raum und jeder Menge Ge1998
besten Business-Schooler sich schon mal einen Vortrag zum The- schäftskontakten. Die erfolgAbsolventen aus Harvard
ma Importkontrollen an.
reichste Firma dieser Art,
1988 Großbr
itannien
und Stanford an die Börse
Andere hatten es schon weit gebracht. das kalifornische „Idealab“,
bringen?“, fragt der InterDer 15-jährige Jono Spiro aus Beverly Hills gebar auf diese Weise in den
net-Investor Goldstein:
beschäftigte in seiner Software-Firma vergangenen drei Jahren
„Die werden mit dem Geld
bereits zehn Leute. Die Verlegerin Jasmin 30 Firmen, darunter Bör756 Deutsch
land
schon etwas GewinnbrinJordan, 15, arbeitete an der neuesten senstars wie die Internet544 Frankrei
gendes auf die Beine stelAusgabe ihrer Zeitschrift „Tools for Li- Spielzeugfirma Etoys.
ch
len.“ Mathias Müller von
ving“, einem Blatt für junge Unternehmer,
Andere Firmen haben
112 Italien
Blumencron
Auflage 16 000 Exemplare.
sich darauf verlegt, Fach150
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
UNTERNEHMER
Toilettenkönig
von Berlin
Das Geschäft mit dem Geschäft:
Hans Wall schenkt den Städten
moderne Toilettenhäuschen und
verdient so Millionen.
BZ
H
ans Wall kann sich an den modernen Toilettenhäuschen gar nicht
satt sehen: „Ist das nicht toll? So
schön! Schauen Sie mal hier.“ Stolz führt
er Besucher durch seine neue Produktionsanlage im brandenburgischen Velten.
In der Hauptstadt feiert ihn die Lokalpresse bereits als „Toilettenkönig von Berlin“ („BZ“). Auch die Bürgermeister anderer Großstädte horchen auf, wenn sich
der selbstbewusste Wall bei ihnen meldet.
Denn sein Geschäft mit dem Geschäft ist
für die Kommunen höchst attraktiv.
Kostenlos stellt der Toilettenkönig seine
250 000 Mark teuren, vollautomatischen
Häuschen Marke „City Toilette“ auf, bevorzugt in attraktiven Innenstadtlagen. Im
Gegenzug darf er Werbeflächen vermieten, darunter natürlich auch die Außenwände seiner Pissoirs, was ihm einen ordentlichen Gewinn beschert.
Stadt und WC-Aufsteller, beide profitieren also, Ökonomen nennen das eine „Winwin-Situation“. Der Berliner Senat, mit
WC-Aufsteller Wall: „Jetzt geht’s los“
K. THIELKER
schüre ist konsequenterweise
von der „Wall Vision“ die
Rede – die Vision von der Verschönerung der Städte, wozu
eigens eine „Wall-Methode“
entwickelt worden sei, nach
der „erfahrene Stadtplaner
und Architekten“ das Stadtbild analysierten, „zur Erfassung der gestaltprägenden
Rahmenbedingungen“.
Dass in ihm ein echter Unternehmer steckt, will der
WC-Experte schon früh verspürt haben. Auch Misserfolge konnten ihn nicht stoppen.
Die verpatzte AufnahmeprüWall-Produkt: „Dafür müsste ich einen Orden kriegen“
fung für das Maschinenbaudem Wall 1993 sein erstes großes Geschäft studium dient ihm heute als Beweis, dass
einfädelte, spart jährlich 30 Millionen Mark „es auch ohne gute Noten geht“.
an Reinigungs- und Wartungskosten für
Er jobbte zunächst als Hausmeister,
alle öffentlichen Toiletten. „Dafür“, sagt dann ging er zu einer Baufirma nach
Wall, „müsste ich eigentlich einen Orden Karlsruhe, schließlich gab er eine Kleinankriegen.“
zeige auf: „Konstrukteur übernimmt AufBerlin ist überall, zumindest für WC- träge aller Art.“ Er geriet in ein WerbeunExperte Wall. In mittlerweile sieben ternehmen, und bald fiel ihm auf, dass mit
deutschen Städten, in Istanbul, Moskau, dem Vermarkten von Reklameflächen
St. Petersburg und Amsterdam installierte schönes Geld zu verdienen ist. 1976 grüner seine Örtchen, die er großspurig „Stadt- dete er im badischen Ettlingen seine Firma,
möbel“ nennt. In der Unternehmensbro- die Wall Verkehrsanlagen GmbH.
154
Angeblich hat er mit geborgten 5000 Mark von seinem
Vater mehr als 100 Millionen
Mark Kredit bei der Bank losgeeist, sagt er zumindest. Und
schiebt gleich hinterher: „Fragen Sie nicht, wie ich das angestellt habe.“
Fest steht: Wall ging nach
Berlin und expandierte. Aus
dem 15-Mitarbeiter-Unternehmen ist ein 400-Mann-Betrieb
geworden, 1000 Mitarbeiter sollen es werden. Der Umsatz der
noch nicht börsennotierten AG
soll im laufenden Jahr bei 120
Millionen Mark liegen, im
nächsten sind 145 Millionen angepeilt.
Schon sinniert Wall über die
W-Aktie. Beim Gedanken daran wird es ihm wohlig zu Mute.
Er lacht sein Siegerlachen, das
ihm auch nach einer Herzklappenoperation nicht abhanden
kam: „Ich bin erst am Anfang,
jetzt geht’s erst los.“
Mit dem Erfolg allerdings
setzt auch die Kritik an seinem
Geschäftsmodell ein. Nicht alle
Bürgermeister lassen sich vom
edlen Klohäuschen-Design beeindrucken, einige sehen ein
Monopol entstehen.
Vor allem in Berlin setzt es
von mehreren Bezirkspolitikern herbe Kritik, sie warnen
vor einer Werbeflut. In der
ganzen Stadt darf Wall über
1200 Reklametafeln und Litfaßsäulen aufstellen, was einige Kommunalentscheider
als „Verschandelung“ empfinden.
Der WC-Mann kontert hart: „Kritiker,
die mich Monopolist schelten, bringen
mich auf die Palme. Die sehen nicht, dass
ich die besten Angebote mache“, sagt er.
Bezirksbürgermeister, die sich gegen WallWerbung wehrten, hätten sich wohl schon
„an den Dreck und das Unästhetische
gewöhnt“.
Der Unternehmer sieht sich als Wohltäter in offensiver Mission, dem niemand
das Wasser reichen kann. Sein Konkurrent,
die Deutsche Städte-Reklame in Frankfurt
am Main, diffamiert er nach Kräften: „Die
arbeiten auf dem Niveau eines kleinen
Negerdorfs.“
Auch den Toiletten-Marktführer Decaux
aus Paris, der zehnmal so groß ist wie
die Wall-Firma und der ihm in der Vergangenheit einige Städte (wie Hamburg)
vor der Nase weggeschnappt hat, lässt er
nicht gelten. „Wir sind besser als de Franzos“, sagt er.
Selbstverständlich widerstand er schon
vor Jahren einem Übernahmeangebot.
„Das war verlockend, aber ich wollte mein
eigener Herr sein und wusste: Ich bin
besser.“
Chris Löwer
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Medien
Trends
RTL
Flirt mit n-tv
Otto
PRESSE
„Extreme Schwankungen“
Medienunternehmer Frank Otto, 42, über
den Kauf der „Hamburger Morgenpost“
SPIEGEL: Sie treten künftig mit der „Hamburger Morgenpost“ gegen die „Bild“-Zeitung an. Was können Sie besser als der
bisherige Eigentümer Gruner + Jahr?
Otto: In komplizierten Zeiten kommt es
auf schnelle Entscheidungswege an, und
die haben wir. Ein Konzern ist ein weich
gemachtes Bett, da fehlt es manchmal an
Schwung und Motivation. Die Manager
dort denken gern über bundesweite Strategien und Synergien nach – wir wollen
lokal gute Geschäfte machen.
M. YILMAZ / PAPARAZZI
n-tv-Studio
schaftsberichte sorgen. Mit solchen Sendungen, moderiert etwa
von Carola Ferstl, gewann n-tv an Profil. HandelsblattGeschäftsführer Heinz-Werner Nienstedt sieht keinen Grund
zur Eile: „Wir haben eine Reihe von Kooperationsersuchen.
Bertelsmann ist einer der Interessenten.“ Bislang scheiterte
die Aufnahme von Partnern an Time Warner: Der US-Konzern
taxiert den Senderwert auf hohe 300 Millionen Mark.
SPIEGEL: Liegt es also an der Konzernstruktur, dass die „Hamburger Morgenpost“ seit Jahren Geld verliert?
Otto: Die wirtschaftlichen Ergebnisse
schwankten extrem. Ein Grund sind sicherlich die vielen Korrekturen an der
Zeitung, sie scheint mit einer gewissen
Nervosität geführt worden zu sein.
SPIEGEL: Was wollen Sie ändern?
Otto: Ein genaues Konzept liegt noch nicht
vor, schließlich beschäftige ich mich erst
seit kurzem mit dem Kauf. Ich glaube
aber, neue Impulse geben zu können. Jeder Mitarbeiter weiß nun, dass ich ihm nur
die eine Position bei der „Mopo“ bieten
kann – und keine andere in einem
Großverlag.
SPIEGEL: Bundesweit liegen Boulevardblätter im Abwärtstrend. Wieso sollte sich die
„Mopo“ davon abkoppeln?
Otto: Sicher ist es schwer, unsere Auflage
von 140 000 zu steigern. Die Zeitung liegt
wirtschaftlich aber im positiven Trend, auf
der Kostenseite ist schon viel getan worden. Und ich glaube, wir können durch
unsere Kenntnis der lokalen Werbemärkte
einiges bewegen.
SPIEGEL: Bisher investierten Sie bewusst in
kleine Nischen des Medienmarkts, etwa
bei Hamburg 1 ins Regionalfernsehen oder
bei Radio Kiss FM im Berliner Hörfunkmarkt. Ändern Sie die Strategie?
Otto: Ich investiere seit Jahren in tagesaktuelle lokale Medien, so groß ist der
Sprung nicht. Ich kann Sie aber beruhigen:
Aus mir wird kein Medientycoon – ab und
zu stoße ich auch zum Erfolg gebrachte
Beteiligungen wieder ab.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
FERNSEHEN
Beckmann wieder
Fußball-Moderator
A
RD-Star Reinhold Beckmann
kommt im Sport zum Einsatz. Der Entertainer („GuinnessShow“) präsentiert vom Dezember
an Fußball-Pokalspiele. Und bei
der Olympiade in Sydney tritt
er im Jahr 2000 als Moderator und
als Interviewer von Sportlern an.
„Fallweise“ soll Beckmann auch
bei Fußball-Länderspielen arbeiten, beschloss die ARD-Programmkonferenz – wahrscheinlich als
Reporter, während das Team Gerhard Delling/Günter Netzer weiterhin die Spiele analysiert. Der
frühere Sat-1-Fußball-Moderator
soll jüngere Zuschauer zur ARD
holen. In dieser Gruppe habe
er ein „positives Ansehen“, sagt
NDR-Programmchef Jürgen Kellermeier. Er hofft auf
einen „Imagetransfer“. Beckmann, der für Produktionen und
Auftritte auf vier
Jahre 46 Millionen
Mark bekommt,
sei „geradezu
imprägniert vom
Sportaroma“.
Beckmann
B. BOSTELMANN / ARGUM
C. AUGUSTIN
er Privatsender RTL denkt an einen
Einstieg beim Nachrichtenkanal n-tv.
„Auf Dauer wird man unsere Newskompetenz in einem eigenen Kanal sehen“,
so RTL-Informationsdirektor Hans Mahr:
„Entweder wir machen ihn selbst oder
mit Partnern.“ Zwischen n-tv und dem
neuen Mitbewerber N 24 (Kirch-Gruppe)
werde es heftige Konkurrenz geben – „da
brauchen beide Verbündete“. RTL will mit
n-tv sein eigenes Newssystem stärken, das Ferstl
etwa RTL 2 eine Nachrichtensendung zuliefert. Zwischen der Bertelsmann-Tochter RTL und n-tv-Gesellschaftern wurden Vorgespräche geführt. Geplant ist eine Bereinigung der zersplitterten Eigentümerstruktur von n-tv: Dabei würden kleinere Investoren wie die Familie Nixdorf (18,6
Prozent) oder Com 2i Compagnie (0,7 Prozent) aussteigen und
Haupteigner Time Warner (49,8 Prozent) Anteile abgeben. Die
Handelsblatt-Gruppe (27,8 Prozent) soll weiter für Wirt-
J. L. CHOLET / ACTION PRESS
D
157
Medien
HORROR-TV
158
A
usgerechnet die neue Welt gibt sich
wüstem Spukglauben hin – das
wurde in Deutschland vor wenigen Jahren noch belächelt. Jedes Jahr am 31.
Oktober maskieren sich ansonsten unbescholtene Amerikaner als Draculas,
Frankensteins Monster und Hexen, traktieren friedfertige Nachbarn mit üblen
Scherzen, stellen, um selbst verschont
zu werden, unheimlich glimmende Kürbisköpfe in ihre Fenster – ein einziger
PWE VERLAG
ass die Welt schlecht und gemein
ist, wissen die Menschen zwischen Weimar und Wuppertal. Doch
nur die Leser der „Neuen Revue“ erfahren, wer schuld daran ist: Joschka
Fischer, grüner deutscher Außenminister, Hauptfeind der friedliebenden
Menschheit, Verräter und Plattmacher des Planeten Erde, den wir von
unseren Kindern doch nur geleast haben – böse, böse, böse. „Wir hatten
einen Traum“, schluchzt Jutta (von)
Ditfurth, adliger Spross der Fernsehlegende Hoimar von Ditfurth, im Vorspann zu ihrer finalen Enthüllungsserie „Zahltag, Junker Joschka!“, der
absolut exklusiv „wahren Geschichte der Grünen“: „Wir wollten eine
Welt ohne Atomkraftwerke, ohne
Unterdrückung, ohne Hunger“, erinnert sie zitternd die Leser des TittenMagazins, das von einem Ex-Chefredakteur der „Bild“-Zeitung derzeit
behutsam alphabetisiert wird. Er
aber, Junker Joschka mit dem Siegelring, hat den Traum zerstört. Er
wollte immer nur eines: Macht,
Macht, Macht und sonst gar nichts.
Das aber verabscheut Jutta gutes
Menschenkind, die einst als „schüchterne Delegierte“ die „Gefahr einer
grünen Nazi-Partei abwehren“ wollte, eine Gefahr, die außer ihr niemand gesehen hatte. Und nun das.
Alles ist so anders
geworden. Früher
kämpfte man auf
der Straße gegen die
Nato-Raketen, heute feuert man sie
selber ab. Doch Junker Joschka hat viele fiese Mitstreiter.
Etwa Cem Özdemir, der Türken-Fischer, dem „ein fusselfreies gelacktes
Outfit wichtiger ist als die Dritte
Welt“. Oder Rezzo Schlauch, dem
Maultaschen auf dem Teller wichtiger sind als Tellerminen in Angola.
Oder Daniel Cohn-Bendit, dem das
süße Leben in Frankreich wichtiger ist als der Tod der kubanischen
Revolution. Doch der Kampf geht
weiter. Mit der „Neuen Revue“ gegen Opportunismus und Konterrevolution. Auch wir haben einen
Traum: eine Welt, in der „Bunte“,
„Playboy“ und die „Wahrheit“-Seite der „taz“ mit der Doppelspitze
Jutta Ditfurth/Wiglaf Droste dafür
sorgen, dass das Böse nie mehr eine
Chance hat. Nie mehr.
Szene aus „Die Hexen von Eastwick“
Jamie Lee Curtis in „Halloween“
fröhlicher Untotentanz. Seit ein paar
Jahren sind nun auch die Deutschen zunehmend vom Spuk-Groove befallen:
In Kindergärten und Kegelvereinen feiert man Halloween. Das Fernsehen
steigt jetzt ein. Pro Sieben hat die kommenden Tage zur „Unheimlichen Woche“ erklärt. Am Mittwoch kommt etwa
der amerikanische Spielfilm „Die Hexen
von Eastwick“, am Freitag der MysteryThriller „Biikenbrennen“ (eine Eigenproduktion des Senders), am Sonntag
der Klassiker „Halloween“. Schreck,
lass nach.
Zeitung“ eine Zusammenarbeit mit der
„International Herald Tribune“ (IHT)
an. Ein englischsprachiger Deutschlandteil, sechs bis acht Seiten stark, mit
Nachrichten- und Kommentarteil, soll
dem internationalen Leser geboten werden. Derartige Kooperationen praktiziert die IHT bereits in Israel, Italien
und Griechenland. Ganz eigene Wege
geht Springers „Welt“: Sie beglückt
ihre Berliner Leser seit Anfang Oktober
mit einer englischsprachigen Lokalseite,
Titel: „The New Berlin“.
ZEITUNGSMARKT
Run auf globale Leser
D
er flexible Mensch, der den Globus
umrundet, braucht neue, globale
Zeitungen. Das „Handelsblatt“ wird bereits durch Texte aus dem „Wall Street
Journal“ ergänzt, Gruner + Jahr plant
gemeinsam mit dem britischen PearsonKonzern eine deutschsprachige „Financial Times“, und vergangene Woche
kündigte die „Frankfurter Allgemeine
ZDF
„Kein Gequatsche, kein Türen-Einrennen“
Thomas Kretschmann, 37, über
seine Titelrolle im Auftaktfilm der
ZDF-Krimireihe „Der Solist“
SPIEGEL: Der „Solist“ Philip
Lanart ist ein Polizist, der von
eigenen Kollegen verfolgt
wird. Warum?
Kretschmann: Weil er einen
Fall angenommen hat, in den
korrupte Kollegen verwickelt
sind – und er weiß nicht, wer
involviert ist.
SPIEGEL: Was reizte Sie an der
Rolle?
d e r
s p i e g e l
Kretschmann: Die Figur ist kernig, doch
nicht durch Gequatsche und Türen-Eingerenne, sie ist altmodisch in Bewegung
und Sprache – und dadurch
eine zeitlose Figur.
SPIEGEL: Polizisten bringen
sich gegenseitig um – ist das
glaubwürdig?
Kretschmann: In Amerika
durchaus, in Deutschland
eher nicht. Aber ein Film ist
auch eine Spekulation: Was
passiert, wenn? Den normalen Polizeialltag zu erzählen
„Solist“ Kretschmann ist nicht so abendfüllend.
4 3 / 1 9 9 9
ZDF
D
Fröhlicher Untotentanz
CINETEXT
Böse, böse, böse
Das Magazin der Reporter
Von dieser Woche an gibt es SPIEGELreporter, das neue Monatsmagazin für
Reportage, Essay, Interview. Die Idee: 20 Reporter und 12 Korrespondenten durchstreifen die Welt auf der Suche nach Wegen in die Zukunft und liefern Storys
für ein neues Jahrhundert.
Titelbild, Seiten aus SPIEGELreporter
I
rritiert werden die Zuschauer der
Harald-Schmidt-Show in dieser Woche auf die Werbeblöcke während
der täglichen Sendungen schauen. Zwischen den Spots ist immer wieder der
Showmaster zu sehen – lesend. Er studiert in aller Ruhe ein Magazin, beobachtet von Fernsehzuschauern, die
denken müssen, ein Schaltfehler ermögliche ihnen zu sehen, was Harald
Schmidt macht, während der Werbeblock läuft. Der Moderator liest
im neuen Magazin SPIEGELreporter,
und der 30-Sekunden-Spot wirbt mit
Harald Schmidt für das neue Produkt
aus dem SPIEGEL-Verlag.
Das Monatsmagazin SPIEGELreporter soll mit Reportagen, Essays und
Interviews „Pfade in die Zukunft“
beschreiben, will Ideen, Projekte und
Pioniere finden, „die die Welt verändern“, wie es im Editorial des Blattes heißt. 20 Reporter schreiben für
SPIEGELreporter, 13 von ihnen sind
mit dem renommierten Egon-ErwinKisch-Preis ausgezeichnet, und 12 Korrespondenten liefern Storys aus den
alten und neuen Metropolen.
Vor allem mit Reportagen, optisch
großzügig präsentiert, will das Monatsmagazin die Wirklichkeit des
21. Jahrhunderts spiegeln und mit
Porträts und Interviews „Abenteurer
und Erfolgsmenschen, Entdecker und
Lebenskünstler“ vorstellen. In der ersten Ausgabe wird unter anderem
Donald Trump und seine New-YorkVision beschrieben; wird das Zucht-
„Spiegel des 21. Jahrhunderts“
das Auto der Zukunft präsentiert. Eine
Kurzgeschichte von Stewart O’Nan,
Ingo Schulze, Johannes Mario Simmel
oder anderen prominenten Autoren behausexperiment von Palmasola vorge- schäftigt sich jeweils fiktional mit der
stellt, wo 2300 Schwerkriminelle ohne Zukunft. Ein ausführlicher Kultur- und
Wärter und Gesetz sich selbst überlas- Programmteil informiert über die
sen sind, und wird „die Zukunft des Avantgarde in Film, Theater, Musik und
Krieges“ analysiert: Bundeswehr Literatur. Und ein Hauptstadtteil beund U. S. Army proben die Großstadt- schreibt das Wachsen Berlins zum poschlachten von morgen, ausgerüstet litischen und kulturellen Mittelpunkt
mit Hightech und logistisch auf Gegner der Republik.
Die Titelgeschichte des ersten Hefts
eingestellt, die Banden sind und keine
von SPIEGELreporter: Joschka FiArmeen.
„Spiegel des 21. Jahrhunderts“ nennt scher, Außenminister der Nation, und
sich diese Serie, die in jedem Heft das Harald Schmidt, Maulheld der Nation,
Wohnen oder Reisen, die Stadt oder reden über die Lage der Nation und
über die neuen Helden der
Republik, also über sich
selbst. Und eine Reportage
über die Kleingärtner der
Kolonie „Potsdamer Güterbahnhof“ erklärt, warum die Ur-Berliner Angst
vor der neuen Hauptstadt
und der neuen Republik
haben.
Das neue Monatsmagazin SPIEGELreporter tritt
an die Stelle von SPIEGEL
Spezial, das sich bisher in
jedem Heft schwerpunktmäßig mit einem Thema
beschäftigt hat, und ist von
Dienstag dieser Woche an
im Handel erhältlich.
TV-Spot für SPIEGELreporter: Pioniere finden
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
159
Medien
Vorschau
Einschalten
Bittere Unschuld
Montag, 20.15 Uhr, ZDF
Was für ein fabelhafter Psychothriller:
Es beginnt mit dem Finale, bevor beklemmend erzählt wird, wie eine Familie zerfällt und auf eine Katastrophe
zutreibt. Andreas Brandt (Elmar Wepper) leitet die Forschungsabteilung einer Pharmafirma, sein Feind Larssen
(Michael Mendl) will diese Abteilung
dichtmachen. Brandt entdeckt Unterlagen, die Larssen schwer belasten,
und beobachtet ihn, ohne einzuschreiten, als er ein Mädchen vergewaltigt.
Die Männer versuchen sich an Niedertracht zu überbieten, was Erpressun-
Szene aus „Bittere Unschuld“
Fernsehen
gen, Treuebrüche und Lügen
nach sich zieht. Brandts Tochter
Eva, 15, betrachtet die Verhärtungen ihrer Eltern zunehmend
verstört und holt schließlich zum
radikalen Befreiungsschlag aus.
Regisseur Dominik Graf, einmal
mehr in Bestform, erzählt mit
präzisen Bildern und präzisen
Darstellern eine menschliche
Tragödie.
Ally McBeal
Dienstag, 22.05 Uhr, Vox
Wer hier nicht hinguckt, ist
selbst schuld: die wohl verrück- „Bodyguard“-Stars Ochsenknecht, Szyszkowitz
teste Anwaltsserie der Welt
zeigt mit viel Sinn und Seele universale
Nadja (Aglaia Szyszkowitz) eine PerGeschlechterwirrnisse und kommentiert
sonenschutz-Agentur in Berlin besie respektlos-ironisch. Die arg gezauste
treibt und gerade den Unternehmer
Ally ist scharf auf Männer und Sex, ihre
Gilbert Metz (Uwe Ochsenknecht) beKollegen dito, wenn sie nicht gerade eitreut. Der Entführer fordert von der
nen Frosch lieben. Auch in dieser Folge,
Leibwächterin, den Millionär zu erin der es um Frauen-Schlammcatchen
schießen, will sie ihre Schwester leund bedauernswerte, triebgesteuerte
bend wieder sehen. Ochsenknecht
Wesen geht, schlägt die Truppe in gesieht auch mit dunklen Haaren gut aus
wohnt komödiantischer Hemmungslound spielt den reichen Widerling mit
sigkeit über die Stränge. Möge dieser
offensichtlichem Vergnügen, der schöwunderbare Serien-Irrsinn nie enden!
nen Aglaia Szyszkowitz schaut man
gern zu, wie sie mit kühlem Charme
Bodyguard – Dein Leben in
und heißem Herzen herumschießt und
Hummer mit der Pistole traktiert. Die
meiner Hand
Geschichte ist spannend, voller verMittwoch, 20.15 Uhr, RTL
blüffender Wendungen und präsentiert
Der Finsterling (Helmut Rühl) kidnappt
einen überraschenden Schluss.
die taubstumme Nele, deren Schwester
Ausschalten
Hallo, Onkel Doc!
Donnerstag, 20.15 Uhr, Sat 1
Krankenhausserien sind beliebt, folglich sind Krankenhausserien mit Kindern noch beliebter, denn die Schicksalsschläge der lieben Kleinen lassen
bei den Zuschauern noch mehr Mitleidstränen rollen. „Hallo, Onkel
Doc!“ war so ein Highlightmix in
Mull. Doch der alte Arzt stieg nach
fünf Staffeln aus, vielleicht machten
seine Nerven das viele Geflenne nicht
mehr mit. Nun wird in einer Staffel
von weiteren 13 Folgen mit einem neuen Helden in Weiß wieder heftig gelitten. Gutmensch Dr. Ritter (Andreas
Maria Schwaiger) ist blond, jünger,
heldenhafter. Kein Wunder, dass sich
Melanie, 15 (Judith Rohde), unsterblich in ihn verknallt, die Krücken fallen lässt und in seine Arme stürzt.
Dem todkranken Pepi gibt sie heimlich Kekse zu essen, was diesen direkt
auf den OP-Tisch befördert. Doch der
Wunderdoktor rettet ihn mit einer
160
dramatischen Dünndarmtransplantation
– natürlich in allerletzter Sekunde. Und
weil sich alle so mögen, assistiert ihm
der Professor höchstpersönlich. Wahrlich: Operation Kitsch. Zum Heulen.
Heimlicher Tanz
Mittwoch, 20.15, ARD
Wenn sich Mann und Frau im Regen begegnen, ist das schon verdächtig. Wenn
sich tags darauf herausstellt, dass er ihr
beruflicher Aufpasser sein soll und beide
sich von Herzen hassen, kann daraus
nur eine heftige Liebesgeschichte werden (Regie: Angeliki Antoniou). Verzweifelt versucht Helen (Uschi Glas), ihr
Obstgeschäft vor dem Ruin zu bewahren. Die Bank schickt ihr den Consulting-Manager Dominik Larsen (Michael
von Au) in den Familienbetrieb, um die
finanzielle Situation zu prüfen. Das passt
ihm nicht und ihr schon gar nicht. Was
folgt, ist viel Gezanke, Streit und Schreierei. Vor allem sind beide damit beschäftigt, immer wieder Akten in Obstkisten
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
aus der Großmarkthalle hin und her
zu schleppen. So schleppt sich der
Film dahin und ist nach 90 Minuten
gnädig zu Ende. Denn irgendwann,
gottlob, schafft es Larsen, das Herz der
15 Jahre älteren Frau zu gewinnen. Nebenbei haben sich beide noch tränenreich von ihren Partnern getrennt. Man
wünscht beiden von Herzen alles Gute, aber eigentlich ist die Romanze einem ziemlich schnuppe. Und die Firma
wird am Ende natürlich auch gerettet. Nicht heimlich, eher vorhersehbar.
Glas, von Au in „Heimlicher Tanz“
Werbeseite
Werbeseite
Medien
FILMINDUSTRIE
Hollywood in Babelsberg
Der französische Starregisseur Jean-Jacques Annaud will im kommenden Jahr die Schlacht
um Stalingrad verfilmen – ausgerechnet in Brandenburg. Dem Not leidenden
Studio Babelsberg ist es gelungen, die Megaproduktion nach Deutschland zu holen.
E
Zerstörtes Stalingrad (1942): „Als Regisseur sucht man immer den idealen Ort, aber den gibt
D. LAUBNER
in Hollywood-Produzent darf so etwas sagen. Ein Mann wie Peter
Strauss sowieso, der schon 59 Jahre
alt ist und in den siebziger Jahren mit „Cabaret“ seinen ersten Welterfolg schaffte.
Nur so einer darf sich in der Lobby eines
Münchner Luxushotels in den Biedermeiersessel zurücklehnen, an seinem Cappuccino nippen und dann – ohne jede Ironie –
leise sagen: „Filme zu drehen ist so, als
würde man Krieg führen.“
Er hat seine Schlacht geschlagen, gerade eben wieder. Er legte der Chase
Manhattan Bank stapelweise Dokumente
vor, um an einen Millionen-Kredit heranzukommen. Er hat seinen nächsten
Film vorab in einem halben Dutzend Ländern verkauft und damit sichergestellt,
dass er mindestens 60 Prozent seines
90-Millionen-Dollar-Budgets wieder einspielen wird.
Jetzt genießt er es, seine Truppen zu inspizieren. Mit einem schwarzen 500er Mercedes wird der mächtige Mann aus Hollywood aufs Schlachtfeld gefahren. Er ist
Gelände Studio Babelsberg
ausgestiegen, hat seinen Schlips gelockert,
die schwarzen Schuhe sofort mit weißem
Staub verdreckt und dabei immer wieder
ein Wort wiederholt: „Fantastic!“
Obwohl hier, in einer verrotteten Zementfabrik am Rande Berlins, seine Millionen verpulvert werden sollen. Ein mittelgroßer Franzose mit weißen Haaren und
Hornbrille ist dabei, das Geld mit vollen
Händen auszugeben. „Da hinten der
Schornstein“, sagt Regisseur Jean-Jacques
Annaud, „den werden wir in die Luft jagen.“ Die Aktion wird tausende kosten,
doch Peter Strauss ist begeistert.
Er stapft seinem Regisseur hinterher,
kriecht unter riesigen, verrosteten Stahlrohren durch, klettert über verdreckte Leitern an gewaltigen Maschinen vorbei unter
das Hallendach, sein dunkelblaues Jackett
ist voller weißer Zementstreifen, immer
wieder murmelt er: „Fantastic!“
Unten steht ein Mann in hellbraunem
Kamelhaarmantel und lächelt leise vor sich
hin: Rainer Schaper, einer der drei Geschäftsführer von Studio Babelsberg, feiert
still seinen Triumph. Über ein Jahr lang
Babelsberger Filmstudios
Geschäfte dank TV-Serien
hat er auf diesen Moment hingearbeitet.
Jetzt sind sie da, die Filmleute aus Hollywood. Sie sind nicht nach London gegangen, nicht nach München, sie werden
ihren Mammutfilm in Babelsberg drehen.
Das legendäre Studio hat eigentlich seine großen Zeiten schon lange hinter sich.
In den zwanziger Jahren wurde hier der
„Blaue Engel“ mit Marlene Dietrich verfilmt, Fritz Lang drehte sein berühmtes
„Metropolis“ in Babelsberg.
Inzwischen hält sich das Studio, das nach
der Wende von dem französischen Misch-
den Schatten stellen. „Enemy at the gates“ zu suchen. Doch der Regisseur hatte sich
ist die Geschichte des russischen Bauern- längst in Rumänien verliebt. „Wissen Sie“,
jungen Wassilij, der als Scharfschütze sagt Annaud, „ich bin ein Verrückter, und
während der Schlacht um Stalingrad von deshalb fand ich Rumänien am authender sowjetischen Propaganda entdeckt tischsten.“
und zum Helden hochgejubelt wird. Die
Die verrotteten Fabriken, die herunterDeutschen setzen den besten Schützen gekommenen Städte, der morbide Charme
des Reiches, einen adligen Major, auf des verarmten Landes hatten es ihm angeWassilij an, und in den Ruitan. Russland dagegen hatte er
nen des brennenden Stalingrad
schnell abgehakt. „Da herrscht
Mit dem Film das Chaos, die Leute sind korkommt es zum finalen Shootkönnte
out – nachgestellt in der herunrupt, und die Mächtigen stehlen
tergekommenen Zementfabrik
dem Volk das Geld.“
Babelsberg
in Rüdersdorf bei Berlin.
Annaud kam im September
der Aufstieg
Der Film mit Ed Harris, Jude
vergangenen
Jahres nach Berlin,
in die
Law, Joseph Fiennes und Rachel
traf sich mit Schaper, reiste aber
Weisz in den Hauptrollen soll im Überlebenszone mit dem festen Gefühl wieder
gelingen
Dezember kommenden Jahres in
ab, in Babelsberg auf keinen Fall
die Kinos kommen. Er beruht
drehen zu wollen. Russen, Polen,
auf einer wahren Geschichte, und so hat Ungarn, Tschechen, Rumänen, Litauer,
Annaud den Ehrgeiz, so authentisch wie Weißrussen und Engländer bemühten sich
möglich zu drehen. Am liebsten wollte er um den Film, doch Annaud konnte sich
in Wolgograd einrücken, dem früheren nicht entscheiden. „Als Regisseur sucht
Stalingrad.
man immer nach dem idealen Ort“, sagt er,
Im Juli vergangenen Jahres ließ er an „aber irgendwann realisiert man, dass es
alle großen europäischen Filmstudios ein diesen Ort nicht gibt und man ihn irgenddünnes „Location Quickbook“ ver- wo nachbauen muss.“
schicken, eine Sammlung historischer FoAnnaud fuhr zurück nach Paris und artos von Stalingrad, die den Studios als Vor- beitete weiter an dem Drehbuch. In die-
konzern Vivendi übernommen wurde, mit
TV-Serien („Gute Zeiten, schlechte Zeiten“) und billigen Talkshows („Vera am
Mittag“) mehr schlecht als recht über
Wasser. In diesem Jahr wird ein Umsatz
von 55 Millionen Mark angepeilt, und man
hofft, den Verlust von 8 Millionen im vergangenen auf etwa 2 Millionen Mark in
diesem Jahr reduzieren zu können.
Kein Wunder, dass Schaper alles unternommen hat, um Annauds Riesenprojekt
in sein Studio zu lotsen. Mit seinem 90Millionen-Dollar-Etat ist die StalingradVerfilmung wahrscheinlich der teuerste
Film, der jemals in Europa gedreht wurde.
Babelsberg könnte endlich der Aufstieg in
die Überlebenszone gelingen.
Regisseur Jean-Jacques Annaud ist für
seine aufwendigen Filme berühmt geworden. Als er Umberto Ecos „Der Name der
Rose“ mit Sean Connery verfilmte, ließ er
auf einem Berg in der Nähe von Rom ein
komplettes mittelalterliches Kloster aufbauen. Seinen letzten Film („Sieben Jahre
in Tibet“ mit Brad Pitt) drehte er in den argentinischen Anden.
Doch mit seinem neuesten Projekt wird
der 56-jährige Starregisseur und OscarPreisträger alle seine bisherigen Filme in
FOTEX
es nicht“
Regisseur Annaud (bei Dreharbeiten in Argentinien): „Ich bin ein Verrückter“
lage dienen sollte, um geeignete Drehorte
vorzuschlagen.
Als Rainer Schaper die Bilder in die
Hand bekam, war er wie elektrisiert. Der
gelernte Filmarchitekt kannte Annauds Arbeitsweise von gemeinsamen Dreharbeiten an „Der Name der Rose“ und kapierte schnell, dass es sich bei dem neuen Film
um ein Riesenprojekt handeln würde. „Ich
habe die Bilder gesehen und wusste, dass
wir alles daransetzen mussten, den Film
nach Babelsberg zu bekommen.“
Schaper und ein Team von sechs Leuten
zogen los, um nach geeigneten Drehorten
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
sem Frühjahr ging die Suche wieder los.
Peter Strauss und die Hollywood-Firma
Mandalay hatten John Schofield als Produzenten für die eigentlichen Dreharbeiten angeheuert. Der ergraute Brite gilt in
der Branche als Spezialist für komplizierte Fälle.
Wochenlang reiste er zusammen mit einem Filmarchitekten durch Europa. In Russland bekamen sie schnell das Gefühl, von
den Funktionären der Mosfilm nur gemolken zu werden, in England wurden sie von
der staatlichen Filmkommission unfreundlich behandelt („Das war schlimm“) und
163
Medien
Film-Wolga in der Lausitz: Tagelang mit dem Hubschrauber nach Drehorten gesucht
164
kurrierenden Studios hatte die Wolga zu
bieten, die in Annauds Drehbuch eine entscheidende Rolle spielt.
Schaper war den ganzen Rhein abgeflogen, er hatte die Donau auf ihre WolgaTauglichkeit untersucht, die Elbe und die
Oder. Doch keiner der Flüsse verfügte über
das typische Steilufer der Wolga in Stalingrad.
Schließlich wurden die Babelsberger in
der Lausitz fündig. Die vom Braunkohletagebau verwüstete Landschaft in der
Nähe von Cottbus gibt eine ideale russische Steppe her, die riesigen Baggerlöcher
W. BELLWINKEL
nicht richtig ernst genommen („Das war
schlimmer“). Die Rumänen taten zwar vieles, um den Film zu bekommen, doch Schofield und sein Partner waren angenervt,
weil sie stundenlang in alten Autos über kaputte Landstraßen von einer Kulisse zur
nächsten fahren mussten.
In Budapest schließlich bekamen sie einen Anruf aus Babelsberg. Schaper fragte
an, ob er vorbeikommen könne, um eine
bessere Vorstellung von dem Projekt zu
bekommen. Schofield war positiv überrascht. Unauffällig, so dass es die ungarischen Gastgeber nicht mitbekamen, traf
man sich zum gemeinsamen Abendessen
im Hotel Marriott. Am nächsten Morgen
reiste Schaper wieder ab, um mit Hochdruck den bevorstehenden Besuch der beiden Filmleute vorzubereiten.
Tagelang flog er mit seinem Team im
Hubschrauber durch die Republik. „Quadratkilometerweise haben wir alles nach
möglichen Drehorten abgesucht“, sagt der
Studiomanager, „von Rostock bis ins Ruhrgebiet.“
Als Schofield und sein Szenenbildner
wenig später in Berlin ankamen, wurden
sie zum ersten Mal in Europa so behandelt,
wie sie es aus den Vereinigten Staaten
kannten. „Angenommen, man fährt in ein
kleines Kaff nach Idaho“, sagt Schofield,
„dann holen sie dich mit einer dicken Limousine vom Flughafen ab, geben ein
großes Bankett, fahren dich zu einem Hubschrauber und versuchen alles, um dich in
ihr Kaff zu holen.“ Eine bessere Wirtschaftsförderung für eine Region sei angesichts der gewaltigen Filmbudgets doch
gar nicht möglich, meint der Brite selbstbewusst.
Drei Tage lang flog Schaper seine Gäste
von einem möglichen Drehort zum nächsten, zeigte ihnen stapelweise Fotos und
erreichte schließlich, dass Schofield zusagte, wenig später noch einmal nach Babelsberg zu kommen.
Doch ein entscheidendes Problem war
nach wie vor nicht gelöst: Keines der kon-
lassen sich so fluten, dass sie der Wolga erstaunlich ähneln.
Die Lausitz-Wolga gab schließlich den
Ausschlag. Ende Juni reiste Annaud zum
zweiten Mal nach Babelsberg und war
begeistert. „Hier haben wir alles, was wir
brauchen“, sagt der Regisseur, „die alten
russischen Kasernen, die alten Fabriken,
die nach russischem Vorbild gebaut wurden, die Nähe zu Berlin und eine moderne Infrastruktur.“
Babelsberg bekam den Zuschlag. Inoffiziell, denn drei Monate vor dem geplanten Drehbeginn im Januar ist immer
noch kein Vertrag unterzeichnet. Dabei
haben Schofield und seine Leute schon
längst eine komplette Büroetage auf dem
Babelsberger Studiogelände bezogen, in
der alten Russenkaserne in Krampnitz bei
Potsdam bauen Techniker den zentralen
Platz in Stalingrad nach – eine gigantische
Kulisse, die nach jetzigen Planungen allein schon fast zehn Millionen Mark kosten wird. Demnächst soll die Rüdersdorfer
Zementfabrik in das Stalingrader Panzerwerk „Roter Oktober“ verwandelt werden, doch immer noch sind die Verträge
nicht unter Dach und Fach. Beinhart wird
um jede Mark gefeilscht.
„Die Amerikaner versuchen uns gegenseitig auszuspielen“, sagt Thilo Kleine, der
Chef der Bavaria Filmstudios in München,
die sich ebenfalls um das Mammutprojekt
beworben haben. Doch Kleine wird nur
wenige Drehtage abbekommen, für Szenen, die in Bayern spielen, und vermutlich den Auftrag für die Postproduction, also für Schnitt, Mischung
und Musik.
Die Amerikaner klagen über die
hohe Steuerlast in Deutschland, die
jede Filmproduktion immer teurer
mache. Produzent Strauss versucht
in letzter Minute ein Fünf-MillionenDollar-Loch in seinem Etat zu stopfen, der Babelsberger Studio-Manager Schaper ist mit seinen Nerven
zunehmend am Ende, doch allen
Beteiligten ist klar, dass der Punkt
längst überschritten ist, an dem man
das Projekt noch an einen anderen
Ort verlegen könnte.
Etwa 50 Millionen Mark werden
demnächst nach Brandenburg gepumpt. Schätzungsweise 20 Millionen davon wird das Studio kassieren
– ein gewaltiger Brocken angesichts
von nur 55 Millionen Mark Jahresumsatz.
„Der Film wird ein Einzelfall bleiben“, behauptet Bavaria-Boss Kleine, doch in der ostdeutschen Filmstadt hofft man auf Folgeaufträge.
Zumindest die Stalingrad-Crew
macht den Babelsbergern Mut:
„Wenn es bei uns gut läuft“, sagt
Regisseur Annaud, „dann werden
wir nicht die Letzten hier gewesen
sein.“ Konstantin von Hammerstein
Partner Schaper, Annaud: Stiller Triumph
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Medien
ZEITUNGEN
Wie viel Bedeutung braucht Berlin?
In ihrem neuen Hauptstadt-Teil versucht sich die ansonsten hoch seriöse
„Frankfurter Allgemeine“ in ungezogenem Metropolen-Journalismus. Von Andreas Lebert
bitterten Kampf der Zeitungen in der
Hauptstadt, einem Kampf um Leser und
um Meinungsführerschaft.
Außerdem will sie ihren größten Feind,
die auflagenstärkere „Süddeutsche Zeitung“, wieder dorthin zurückdrängen, wo
sie nach Meinung der Frankfurter hingehört: in die Region südlich der Donau.
Die „SZ“ hatte schon 1990 eine wöchentliche Berlin-Seite eingeführt, allerdings die
Initiative des damaligen Chefredakteurs
Dieter Schröder (heute Herausgeber der
„Berliner Zeitung“) nicht entschlossen weiterverfolgt. Erst seit Frühjahr 1999 gibt es
die Seite täglich, ergänzt um einen Service-Teil. Der Eindruck, verglichen mit der
„FAZ“: sparsam.
Von hinten: Die beste Idee des neuen
Teils der „FAZ“ findet man auf der letzten
F
168
FOTOS: P. LANGROCK / ZENIT
Seite. Das „Register“ listet jeden Tag die
Prominenten auf, die auf den „Berliner
Seiten“ erwähnt werden oder einen Artikel verfasst haben – Namen, in alphabetischer Ordnung, ohne Wertung, nur mit Angabe der Seitenzahl versehen. Arafat, Yassir ... 2; Glas, Uschi ... 5; Schröder, Gerhard
...3. Eine kleine Tabelle, auf die jeder Journalist neidisch ist, der schon nach solchen
Ideen gesucht hat. Elegant wird der Leser
ins Blatt gezogen. Sogar wenn er die Lektüre hinter sich hat, kehrt er gern noch einmal um.
Auf den „Berliner Seiten“ hat Helge
rank Schirrmacher hat einen Traum.
Schneider Platz, „seinen“ Reichstag zu
Und wie alle Menschen, die einen
zeichnen, Christoph Schlingensief ist auf
Traum haben, geht der „FAZ“-Herder Suche nach Deutschland, Auszüge aus
ausgeber damit gelegentlich anderen MenBret Easton Ellis’ Roman „Glamorama“
schen auf die Nerven: Die Handys seiner
werden auf einer ganzen Seite mit Fotos
Mitarbeiter in Berlin läuten dauernd, der
aus dem Luxustempel „Quartier
Chef aus Frankfurt hätte da
206“ kombiniert. Dieter Thomas
noch eine Idee, wehe, sie sind
Heck begrüßt den Sänger Heinz
nicht erreichbar, dann meldet
Rudolf Kunze mit einer Liebesdie Mailbox mitunter schon
erklärung, unter der Rubrik
nach einer Stunde „sieben neue
„Neues aus dem Politbüro“ erNachrichten“.
innern Sitzungsprotokolle an
Ein Berliner Großstadt-Feuilden Mauerfall vor zehn Jahren.
leton, eine bedeutende Stimme
Einerseits arbeiten die Redakin der Hauptstadt – das hat sich
teure aus Frankfurt also mit moSchirrmacher in den Kopf gedernem Magazin-Journalismus,
setzt. Und im Gegensatz zu anandererseits knüpfen sie an die
deren Menschen hat er die
Tradition des Feuilletons der
Macht, seinen Traum zu verzwanziger und dreißiger Jahre an,
wirklichen. Oder es jedenfalls zu
das Feuilleton eines Alfred Kerr
versuchen. Die neuen „Berliner
und Joseph Roth. Dabei scheint
Seiten“ der „Frankfurter Allgealles möglich, Betrachtungen,
meinen Zeitung“ sind seine ErGlossen, Ich-Erzählungen, Krypfindung. Aber auch Berlin erfintisch-Unverständliches wie die
det sich gerade neu – und reaAnsichten des Autors Benjamin
giert genervt auf bedeutende
von Stuckrad-Barre über Günter
Stimmen. Besonders, so scheint
Grass oder Poetisches wie das
es, auf die von Zeitungen. Die
„Flittchenbar“-Porträt von David
Auflagen sinken oder stagnieren.
Wagner. Bewusst wird die GrenIm Himmel über Berlin, auch
ze zwischen Schriftstellerei und
über dem traumhaften neuen
Journalismus aufgehoben.
„FAZ“-Büro, schwebt die FraMan liest Gerichtsberichte,
ge: Spielen Zeitungen in einer
aber keine Polizeimeldungen,
Metropole des 21. Jahrhunderts
bildungspolitische Themen, aber
überhaupt noch eine Rolle?
keine Wiedergabe von PresseVon vorne: Seit Mittwoch,
konferenzen, und viele Hinweidem 1. September, erscheint die
se (sogar die Fütterungszeiten
„Frankfurter Allgemeine Zeider Berliner Tiergärten sind
tung“ täglich in Berlin und Branangegeben). Ein ungezogener
denburg mit einer neuen SekSprössling des ernsten „FAZ“tion, die mindestens sechs, am
Feuilletons: ein bisschen wirr, ein
Samstag acht Seiten umfasst.
bisschen stürmisch. Und ein weMit den „Berliner Seiten“ zieht
nig lustig. Ungewöhnlich für die
die „FAZ“ das Schwert im er- „FAZ“-Werbung am Kurfürstendamm: Alles scheint möglich
Lebert, 43, war MitErfinder und bis
1996 Chefredakteur des
„SZ-Magazins“, danach ein halbes Jahr
lang stellvertretender Chefredakteur des
„Stern“. Derzeit betreut er das unter
seiner Leitung konzipierte „Leben“-Ressort der „Zeit“ in
Berlin.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Medien
humorfreie „FAZ“ – sogar die gefährlichen
Wildschweine im Grunewald waren einen
Wochenend-Aufmacher wert.
Auf den ersten Blick erkennt man das
Muntere allerdings nicht, auch nicht auf
den zweiten. Die Gestaltung der Titelseite
erinnert an eine Todesanzeige, die Überschriften der Artikel lassen uns im Dunkeln, worum es gehen könnte. Lies mich,
PETERS / ULLSTEIN BILDERDIENST
an diesem Tag etwas fehlte? Kümmert es
die Berliner, ob ihr Großstadt-Feuilleton
erscheint oder nicht? Und dabei sind nicht
die Berliner Bürger in Marzahn oder Neukölln gemeint, sondern durchaus die Zielgruppe: die Galeristen, die Politiker, die
Professoren, die Unternehmer, die Regisseure, die Clubs, die Radiomoderatoren
und Sponsoring-Agenturen. In den zwanziger Jahren hatten Zeitungen eine
andere Bedeutung. Man kann diese Bedeutung für eine Metropole,
die sich am Ende des Jahrhunderts
neu erfindet, wieder fordern, man
kann sie sich wünschen.
Aber wird die Stadt reagieren?
Abgesehen von den zehn lokalen
Zeitungen, die hier jeden Morgen
die Kioske verkleiden und jeden
Abend die Müllcontainer verstopfen: Wie viele Websites werden täglich in Berlin neu aufgebaut, wie
viele Flyer verteilt, wie viele Radiosender funken, wie viele Events
gleichzeitig werden auf VideoPandabärin Yan Yan im Berliner Zoo
Walls geworfen? Vieloder lies mich nicht: die
leicht erleben wir ja im
Arroganz des FeuilletoBerliner Zeitungsmarkt
nisten, der sich seiner
das, was wir beim FernBedeutung sicher ist.
sehen hinter uns haben:
Von ganz unten beDort geht es längst nicht
trachtet, also aus der
mehr um Bedeutung für
Perspektive der Leser,
den intellektuellen Disdie man vielleicht gekurs, gekämpft wird nur
winnen möchte, könnte
noch um Schnipsel undas ein Fehler sein – in
serer Aufmerksamkeit,
einer Stadt, in der man
Minuten, ja Sekunden.
dem Pförtner des Bun- „FAZ“-Fütterungshinweise
Und die Waffe ist nicht
destags den Namen
das Schwert.
Norbert Blüm erst buchstabieren muss, um
Von gegenüber, ein Gruß: Die Redakihn von der Existenz dieses Abgeordneten tion der „Berliner Seiten“ der „FAZ“ und
auf seiner Liste zu überzeugen.
die „Leben“-Redaktion der „Zeit“ liegen
Von oben: Frank Schirrmacher schuf ein nur hundert Meter auseinander, getrennt
teures, elitäres Produkt für ein paar tau- durch die Friedrichstraße und eine unsend Leser. Dafür ließ er das „FAZ-Maga- überwindliche Baustelle. Das „Leben“ ist
zin“ sterben. Und er greift selbst in die oft für den Ansatz kritisiert worden, mit
„Berliner Seiten“ ein, redigiert, schreibt Absicht auf die „Bedeutung“ zu verzichum. Dabei soll es gelegentlich auch zum ten, die der „Zeit“ sonst zu eigen ist. Aber:
Streit mit den verantwortlichen Redak- Zeigen sich in der Hauptstadt nicht gerade
teuren kommen. So hört man jedenfalls neue Codes der Kommunikation? Müssen
im Dreieck zwischen dem Restaurant sich die „Berliner Seiten“ nicht noch entBorchardt, dem Café Einstein und dem schiedener gegen die althergebrachten ForS-Bahnhof Friedrichstraße, wo sie alle ihr meln des Feuilletons zur Wehr setzen?
Im Märkischen Museum in Berlin wurSteak essen, ihren Espresso trinken oder
ihre Sachen in die Reinigung bringen, die de anlässlich des 125. Geburtstags am
„Stern“-, „FAZ“-, „Zeit“- und SPIEGEL- 9. Oktober eine Dauerausstellung eröffRedakteure: Schirrmachers Glosse über net, in der die Stadtgeschichte zu besichden Wechsel des Feuilleton-Chefs Jens Jes- tigen ist. Auf den „Berliner Seiten“ der
sen von der „Berliner Zeitung“ zur „Zeit“ „FAZ“ warf Kai Michel dazu die Frage
soll bei seinen Redakteuren auf so heftigen auf, ob das Museum gegen die „kommerWiderstand getroffen sein, dass bei der Dis- zielle Geschichtsshow The Story of Berlin“
kussion darüber ein Drucktermin ver- bestehen könne, ob dort „der wackelnde
passt wurde. Offiziell wurde das Fehlen ei- Boden, der über ‚head phones‘ eingespielner ganzen Ausgabe des neuen Teils (am te Fabriklärm“ die Geschichte der InduDonnerstag, 30. September) mit techni- strialisierung nicht wirkungsvoller verdeutliche als die Wandgemälde Paul Meyschen Problemen entschuldigt.
Der Alptraum eines Zeitungsmachers: erheims aus der Borsigvilla – „in einer
Das Blatt erscheint nicht – und keiner Zeit, in der das Erlebnis an die Stelle der
™
merkt es. Hat Berlin wahrgenommen, dass Bedeutung tritt“.
170
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Medien
I N T E R N E T- T V
„Du bist so süüüß“
FOTOS: M. WOLTMANN
NBC Giga ist das erste wirklich interaktive Programm,
es läuft im Fernsehen und parallel im Web –
die Zuschauer sind via Internet Teil des Programms.
„Simpsons“ ihren zehnten Geburtstag feiern oder die Firma Sun eine neue „Java“Software auf den Markt bringt, bei Giga
wird es Teil des Programms.
„Die Leute da draußen“ (Giga-Slang)
müssen all das nicht widerstandslos über
sich ergehen lassen. Mit einer E-Mail direkt
an das Bildschirmpersonal können sie sich
jederzeit einmischen.
So wird das Programm fast zum Perpetuum mobile. Alle paar Minuten geben die
Giga-Animateure im Fernsehen
ein Thema vor und laden die Zuschauer zum Chat im Internet.
Eine Viertelstunde später verlesen sie dann die geistreichsten
Beiträge im TV und animieren
sogleich zum nächsten OnlinePlausch.
Zwischendurch gibt es Musikvideos und Plaudereien mit
Studiogästen. Punk-Diva Nina
Hagen war schon da, RTL-Talkerin Bärbel Schäfer und die
Deutsch-Musiker „Die Prinzen“. Häufiger kommen aber
Sternchen aus der zweiten oder
dritten Reihe, zum Beispiel eine
Band mit dem unaussprechbaren Namen „Oomph“, die es mit
einer Single immerhin auf Platz
51 der Charts geschafft hat.
Auch Sportler tauchen gelegentlich im Giga-Studio auf. Der
Prominenteste war bislang SurfWeltmeister Josh Stone aus Hawaii. Den Besuchern dürfen die
Zuschauer via Internet-Chat
Löcher in den Bauch fragen: ob
sie eine Lieblings-Website haben, welche
Musik sie hören und welche Fernsehserien
sie am liebsten gucken.
Zwischen 6000 und 8000 E-Mails prasseln jeden Tag auf den Sender ein: Themenvorschläge, Fragen zu Computerspielen, Hilferufe bei Rechnerabstürzen. Ohne
diese Mengen an elektronischer Post wären
die Netzreporter aufgeschmissen. Denn
nur maximal die Hälfte des täglichen FünfStunden-Marathons ist vorher geplant, der
Rest entsteht während der Sendung.
Der direkte Draht zum Publikum hat
aber auch seine Tücken: „Wenn ich mich
mal verspreche, habe ich Sekunden später
Kommentare auf dem Bildschirm“, erzählt
Netzreporterin Emily Whigham. Die 23Jährige, die früher beim Musiksender Viva
als Redaktionsleiterin arbeitete, bekommt
allein zwischen 300 und 500 Mails pro Tag.
Manche klingen wie von alten Freunden:
„Hey Emily, wie war Dein Wochenende“,
will zum Beispiel Markus wissen, „meins
war so lala.“ Matthias teilt Emilys Kollegin
Kerstin Linnartz, 23, mit, was er von ihr
denkt: „Du bist so süüüß!!!“
Seit dem 30. November vergangenen
Jahres beglückt Giga die Zielgruppe mit
diesem Programmsalat. Haupteigentümer
ist die mittelständische DFA. Die wieder-
NBC-Giga-Studio: Jeden Tag prasseln 6000 bis 8000 E-Mails auf den Sender ein
D
er Mann hat noch nicht mal eine eigene E-Mail-Adresse, kein Computer stört die Ordnung auf seinem
Schreibtisch. „Den brauch ich nicht“, sagt
Helmut Keiser, Chef der Deutschen Fernsehnachrichten Agentur (DFA).
Ausgerechnet diesem Technik-Abstinenzler ist eine kleine Fernsehrevolution
gelungen: Keiser hat Fernsehen und Internet miteinander verschmolzen. Das Ergebnis ist der TV-Kanal NBC Giga – „der
erste wirklich interaktive Sender der
Welt“, schwärmt Programmdirektor Ollie
Weiberg.
Mit normalem Fernsehen hat das Programm wenig zu tun. NBC Giga ist eine
fünfstündige Internet-Orgie, live zelebriert
von montags bis freitags zwischen 15 und
20 Uhr im Kabel-TV und parallel im Web
unter www.giga.de.
Seiner jugendlichen Zielgruppe will Weiberg den „Weg in die digitale Zukunft“
weisen. Basisstation ist ein Großraumbüro
im Düsseldorfer Hafengelände, gleichzeitig
das einzige Sendestudio. Dort hocken zehn
so genannte Netzreporter vor InternetRechnern und Fernsehkameras.
Die Jungs und Mädels, knapp jenseits
der Volljährigkeit, surfen den ganzen Tag im
Web und brabbeln dabei gut gelaunt
174
drauflos – über alles, was Leute zwischen 14
und 29 „bewegt und begeistert“, so Keiser.
Hauptsächlich geht es ums Internet und um
Stars, geredet wird über Sport und Computerspiele. Egal, ob es eine verschrobene
Website über den Stimmbruch ist, die
Programmdirektor Weiberg
„Weg in die digitale Zukunft“
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Medien
um gehört mehrheitlich den Regionalzeitungen „Bonner General-Anzeiger“ und
der Düsseldorfer „Rheinischen Post“. Der
US-Gigant NBC hält zwar als Namensgeber her, ist aber lediglich mit einer Minderheitsbeteiligung dabei.
Die DFA (500 Mitarbeiter) produziert
unter anderem Nachrichtenbeiträge für
n-tv und liefert die deutschen Sendungen
für CNN. Die Idee mit NBC Giga hatte
DFA-Geschäftsführer Keiser schon jahrelang mit sich herumgetragen – seit einem
flüchtigem Blick in den Online-Dienst
Netzreporterin Linnartz
Fan-Post über das Internet
AOL. „Ich habe mir sofort gedacht:
Mensch, das müsste man mit Fernsehen
verbinden.“
Weil aber kein Sendeplatz im Kabelfernsehen zu kriegen war, lag das Projekt
zunächst auf Eis. Das änderte sich erst, als
die DFA im Juni vergangenen Jahres 75
Prozent von NBC Europe übernahm und
damit Zugriff auf den Kabelplatz von
NBC bekam. Auf diesem Wege erreicht
NBC Giga jetzt fast alle deutschen Kabelhaushalte.
Eine bunte Truppe von inzwischen 60
Leuten, zurzeit noch auf einem Parkplatz
im Düsseldorfer Hafengelände in 18 Bürocontainer gepfercht, macht das Programm.
Bald bekommen die Interaktivarbeiter immerhin ein festes Dach über dem Kopf:
Möglichst noch in diesem Jahr zieht Giga
in ein entkerntes ehemaliges Lagerhaus im
Hafen um.
Vor ihrem Einstieg bei Giga hatten die
meisten Netzreporter keine Fernseherfahrung. Ganz bewusst habe er solche Leute
ausgesucht, berichtet Keiser, denn „die sind
authentischer vor der Kamera“.
d e r
So wie George Zaal zum Beispiel: Der 25jährige Glatzkopf wollte es nach einem abgebrochenen Informatik-Studium eigentlich
mit Betriebswirtschaftslehre noch mal an
der Uni versuchen. Dann kam ihm Giga dazwischen. George ist für „Games“ zuständig, in der Sendung führt er neue Computerspiele vor. Texte für seine Kameraauftritte legt er sich vorher nie zurecht. „Ich
überlege mir nur den ersten Satz, alles Weitere ergibt sich dann von alleine.“
Netzreporter Mirko Teichmeier, 26, gelernter Groß- und Einzelhandelskaufmann,
wollte eigentlich gar nicht ins Fernsehen. Der Computerspezialist hatte sich für einen Job hinter den
Kulissen beworben. Dass er am
„Helpdesk“ vor laufender Kamera
die Computerprobleme der GigaZuschauer lösen sollte, erfuhr Mirko erst, nachdem er bei seinem alten Arbeitgeber gekündigt hatte.
„Da habe ich wirklich Muffensausen gekriegt“, erinnert sich Mirko,
„ich hätte nie gedacht, dass ich das
kann.“ Doch Mirkos Computer-Notdienst war von der ersten Sendestunde an bei den Zuschauern besonders beliebt.
Weil alles so gut läuft, will DFAChef Keiser das Programm erweitern: Er plant eine Frauensendung
am Vormittag und ein Prime-TimeProgramm für die Abendstunden.
Schon jetzt sei Giga wirtschaftlich
„ein voller Erfolg“. Spätestens 2001
werde der Sender schwarze Zahlen
schreiben.
Zwar befinden sich die Einschaltquoten – wie bei anderen Spartenkanälen – im nicht messbaren Bereich. Aber die Produktionskosten
sind lächerlich gering: Weil es kaum
teure Außendrehs gibt, kommt der Sender
mit einem Minimalbudget von zwölf Millionen Mark pro Jahr aus. Und die Werbeeinnahmen sind mit acht Millionen Mark
im ersten Jahr mehr als doppelt so hoch
wie erwartet.
Um die tägliche Seifenoper im Internet hat sich eine eingefleischte Guck-Gemeinde gebildet. Im Web gibt es inzwischen rund 50 verschiedene Fan-Seiten
für den Kanal. „Giga macht süchtig“,
warnt ein Zuschauer auf der Homepage
des Senders.
Ganz Hartgesottene sind schon ab zwölf
Uhr mittags dabei, wenn die tägliche Redaktionskonferenz live im Internet übertragen wird. Im Netz können sie während
der Sendung das Geschehen in der Regie
verfolgen.
Zudem schicken 14 verschiedene Webcams im Minutentakt aus fast jedem
Winkel vor und hinter den Kulissen
Standbilder ins Internet. Nur auf der Toilette dürfen sich die Programm-Schaffenden wirklich unbeobachtet fühlen.
s p i e g e l
Olaf Storbeck
4 3 / 1 9 9 9
177
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
L. GRINKER / CONTACT / AGENTUR FOCUS (o. l.); INTERFOTO ( u. l.); R. E. A. / LAIF (u. r.)
Das 20. Jahrhundert geht zu Ende, das dritte Jahrtausend beginnt.
Der SPIEGEL würdigte die prägenden Ereignisse der vergangenen 100 Jahre.
Zum Abschluss der Serie: Joachim Fest über die Schreckensgestalt Adolf Hitler.
Gebeine von Opfern der Roten Khmer in Kambodscha; „Führer“ Adolf Hitler; Stalin (Gemälde von 1939); serbische Milizionäre, Opfer (1992)
Das Jahrhundert
der Diktatoren
Keine Epoche brachte so viele Staatsverbrecher hervor
wie das 20. Jahrhundert. Doch Hitler bleibt
bis heute einzigartig im Bestiarium der Tyrannen. Seine
Gewaltherrschaft zerstörte das zivilisatorische
Grundvertrauen, er wurde die Symbolfigur eines Kulturbruchs.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
181
Titel
Das Böse als reale Macht
SAMMLUNG DR. RUDOLF HERZ
Hitlers noch immer verleugnetes Vermächtnis / Von Joachim Fest
Tyrann Hitler, Freund (1925): Einzigartige Radikalität des Aggressionswillens
182
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
M. ZUCHT / DER SPIEGEL (l.); AKG (r.)
KZ Auschwitz (nach 1945), deutsche Gräuel in der Ukraine (1942): Hass mit mörderischer Konsequenz
K
ein Jahrhundert hat mit so großen
Erwartungen begonnen wie dieses.
„An der Schwelle des 20. Jahrhunderts sieht es so aus, als könne es das Jahrhundert der Humanität und der Brüderschaft aller Menschen werden“, schrieb
die „Chicago Tribune“ vom 1. Januar 1901.
Aber der lange Traum zerstob in wenigen
Jahren und war bereits zur Mitte des
Jahrhunderts ausgeträumt. Alle Versuche,
ihn zurückzuholen oder in veränderter
Form fortzusetzen, sind Stückwerk geblieben.
An der großen Entzauberung, die der
Nenner der Epoche ist, hat vieles mitgewirkt: die Wissenschaften und die Künste, Ideologien, die Prozesse gesellschaftlichen Wandels, politische Erschütterungen und anderes mehr. Wer auf die
Stichwortgeber am Beginn der zahlreichen
Kulturschocks sieht, die das Zeitalter ereilten, kann mit nur geringer Vereinfachung
von einem mehrdeutig „deutschen“ Jahrhundert sprechen.
Am Anfang steht das Erbe von Karl
Marx, es folgten Nietzsche, Freud und Einstein bis hin zu Otto Hahn, und am Ende
kommt man an Adolf Hitler nicht vorbei. Sein Platz in dieser Jahrhundertgalerie hat weniger mit den Veränderungen
auf der Weltkarte zu tun, die auf ihn
zurückgehen. Vielmehr hat er dem zivilisatorischen Grundvertrauen, das die
Menschen bis dicht an die Gegenwart getragen hat, auf lange Zeit den Boden entzogen.
Er ist geradezu zur Symbolfigur des
Epochenbruchs geworden. Zwar hat das
Jahrhundert so viele Staatsverbrecher hervorgebracht wie kein anderes. Das beginnt
schon an seinem Anfang mit den Kolonialmächten, in deren Ausrottungsfeldzügen
und Konzentrationslagern Tote bereits
nach Zehntausenden gezählt werden. Was
damals einsetzte, war der massenhafte Tod,
dessen Opfer keine Namen haben und nur
noch als Ziffer in irgendwelchen Statistiken
fortdauern.
Lenin und Stalin erweiterten das Mordgeschäft nach den summarischen Metzeleien der Bürgerkriegsjahre zum Terror als
Herrschaftsinstrument. Ihr Beispiel wirkte
auf die eine oder andere Weise fort im Gewimmel der Dutzenddiktatoren während
der zwanziger und dreißiger Jahre bis
hin zu Mao, Pol Pot, Batista, Pinochet oder
dem „Genius der Karpaten“ Nicolae
Ceau≠escu und zu Saddam Hussein. Doch
in diesem Bestiarium behauptet Hitler unangefochten die Spitze.
Es ist nicht so sehr die Zahl der Opfer,
die ihm den Vorrang eingetragen hat. Das
„Schwarzbuch des Kommunismus“ hat
enthüllt, dass Stalin und Mao ihn um etliche Millionen hinter sich lassen. Und
andere Gewaltherrscher wie Papa Doc
Duvalier oder Kim Il Sung haben womöglich mehr persönliche Grausamkeit offenbart, wieder andere wie Idi Amin mehr
Rachsucht und Brutalität.
Was Hitler einzigartig machte und den
mit seinem Namen verbundenen Schrecken nicht enden lässt, waren die Radikalität seines Aggressionswillens und die
Unverhohlenheit, mit der er alle Gesittungsnormen eines Kulturzusammenhangs
verwarf, dem er immerhin selbst entstammte. Sein Programm, hatte er schon
früh erklärt, sei „die Formulierung einer
Kriegserklärung … gegen eine bestehende
Weltauffassung überhaupt“.
Nahezu sämtliche Despoten der Zeit
haben ihren Machtwillen mit einem ideologischen Überwurf drapiert, wie löchrig
er sich auch ausnehmen mochte. Lenin
beispielsweise und auch Stalin haben
ein durchaus zynisches Verhältnis zu den
Verheißungen gehabt, die sie verkündeten, und, wie eine lange Zeit vorherrschende Auffassung gerade über Hitler
behauptet hat, keine Glaubensgewissheiten anerkannt, sondern solche Gewissheiten nur zur Eroberung, Sicherung und
Dem Optimismus des Menschenbildes der Aufklärung
hat Hitler ein Ende bereitet.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
183
Titel
kern … Wenn die Menschen im Garten
Eden lebten, würden sie verfaulen.“
Aller Widerspruch gegen dieses „Urgesetz des Lebens“, zumal im Namen der
Menschlichkeit, sei nichts anderes als „Naturverrat“, behauptete er, ebenso sinnlos
wie verlogen, und die so genannten Tischgespräche im Führerhauptquartier sind voll
von Hohn über jedwede Moral als Ausdruck von Feigheit oder Schwäche.
Dieses Weltbild wies indessen einen
unübersehbaren Widerspruch auf, der aus
Hitlers Judenhass kam. Denn die Juden
waren, wie er fand, vom Grundgesetz
des Daseins ausgenommen: Unfähig zur
Staatenbildung, hätten sie sich seit Menschengedenken dem ewigen Kampf um Lebensraum entzogen und alle Schöpfungsregeln unterlaufen, um sich auf ihre Weise
die Weltherrschaft zu sichern, angefangen
von Moses, Paulus und dem Christentum
bis zu Lenin, wie Hitler in einem Gespräch
mit dem Dichter Dietrich Eckart versicherte.
Zu ihrem vielarmigen Zangenangriff
gehörten der Kapitalismus und, in absurder
Nachbarschaft dazu, der Bolschewismus,
die Demokratie und der Pazifismus eben-
Steigerung ihrer persönlichen Macht eingesetzt.
Im Unterschied zu ihnen hat Hitler auf
große geschichtstheoretische Verbrämungen seiner Herrschaft verzichtet, sieht man
von dem einzigen Prinzip ab, das er gelten
ließ und dessen Gefangener er bis zuletzt
blieb: dem Gedanken vom Dauerkampf
des Einzelnen wie der Völker um Selbstbehauptung und Unterwerfung.
Schon in seiner Programmschrift „Mein
Kampf“ hat er den „Sieg des Stärkeren
und die Vernichtung des Schwachen“ als
„unumstößliche Wahrheit“ ausgegeben
und sich in der Folgezeit immer wieder
dazu bekannt. Mitunter verfiel er dabei in
eine gehobene, ungewohnt poetisierende
Tonlage, die aber deutlich macht, dass dies
der Kern seiner Überzeugungen war.
Bald nach Beginn des Krieges und wie
zur Rechtfertigung der Anstalten, mit denen er den Konflikt herbeigeführt hatte,
erklärte er einem ausländischen Diplomaten gegenüber: „Solange die Erde sich um
die Sonne drehe, solange es Kälte und Wärme gebe, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, so lange werde der Kampf dauern,
auch unter den Menschen und den Völ-
so wie die Kriegstreiberei sowie überhaupt
jene verderbliche Botschaft von der
Gleichheit aller Menschen, die einer universellen „Bastardisierung“ Vorschub leistete. Wo immer man den Verhältnissen auf
den Grund ging, kam der „Weltvergifter
der Völker“ zum Vorschein, der sich gleichsam außerhalb der für alle geltenden Regeln gestellt und folglich jedes Daseinsrecht verwirkt hatte.
Es war ein aberwitziges und weithin
krankhaftes Weltbild, das die Obsessionen
der rassekundlichen Traktatliteratur um die
Jahrhundertwende, durchsetzt von eigenen Verdrehtheiten, widerspiegelte. Gemeingut hingegen war es nicht. Zwar gab
es im Deutschland der Jahrhundertwende,
nicht anders als fast überall in Europa, einen jederzeit abrufbaren Antisemitismus,
und die radikalen völkischen Ideologen
hatten ihn virulent gemacht, indem sie die
Schuld für die nie begriffene Niederlage
vom Herbst 1918, die Revolution und die
folgende Währungszerrüttung mitsamt
dem sozialen Absturz ganzer Schichten
den Juden zuschoben.
Zählbare Erfolge hatten sie damit vor allem in dem aufgebrachten, von den Tur-
AKG
J. TORREGANO / SIPA
Moderne Barbaren Staatsverbrecher im 20. Jahrhundert
FRANÇOIS DUVALIER errichtete in Haiti
vom „Großen Sprung nach vorn“
mindestens 30 Millionen Chinesen.
mit Hilfe seiner Mördertruppe
Tontons Macoutes eine Voodoo-Diktatur.
C. SALMANI / CORBIS SYGMA
MAO TSE-TUNG opferte allein seiner Idee
IDI AMIN terrorisierte zwischen 1971
AUGUSTO PINOCHET putschte in Chile
1973 und ließ tausende politischer Gegner
verschwinden.
184
SLOBODAN MILOEVI± zettelte auf dem
Balkan vier Kriege an, in denen
mindestens 200 000 Menschen starben.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
SABA
ULLSTEIN BILDERDIENST
ULLSTEIN BILDERDIENST
und 1979 die Ugander und wurde sogar
des Kannibalismus verdächtigt.
SADDAM HUSSEIN bekämpfte die Kurden mit Giftgas und lässt seine Iraker lieber hungern, als der Uno nachzugeben.
ULLSTEIN BILDERDIENST
Hitler, Österreicherinnen auf dem Obersalzberg (1937): Verlangen nach einem gebieterischen Willen
BUNDESARCHIV KOBLENZ
bulenzen der Räteherrschaft Anfang 1919 kenntnisbuch „Mein Kampf“ distanziert: vor den Chefredakteuren der deutschen
mitgenommenen München. Neuere For- Es sei ein Fehler gewesen, erklärte er, so Presse versichert, die mangelnde Kriegsschungen legen nahe, dass selbst Hitler viele eigene Zielsetzungen so frühzeitig lust der Deutschen habe ihn durch die Jahdie Juden damals erst als den nützlichen preiszugeben, und über sein so genanntes re hin zu Maskeraden der Friedwilligkeit
Feind ausmachte, der es ihm ermöglichte, Zweites Buch, das damals unveröffentlicht gezwungen.
Natürlich ist das keine halbwegs zureiähnlich wie der marxistische Gegner, alle blieb und erst in den sechziger Jahren beverwirrenden Nöte und Ängste des Ta- kannt wurde, hat er geäußert, er sei „heil- chende Antwort auf die mühevolle Frage
nach den Ursachen dessen, was 1933 geges auf einen einzigen, zu mythischer froh“, es zurückgehalten zu haben.
Überhaupt war beim Aufstieg Hitlers schah. Aber es liefert eine erste VerständGröße aufgeblähten Widersacher zurückmehr Täuschung im Spiel, als die stand- nisbrücke, wenn man wissen will, warum
zuführen.
Dennoch hat Hitlers Judenhass bei sei- punktfeste Klugheit von heute sich träu- der tiefe moralische Bruch nicht wahrgenem Aufstieg keine so ausschlaggebende men lässt, aber sicherlich auch viel Be- nommen wurde, den viele heutige BeRolle gespielt, wie im Rückblick oft be- reitschaft, sich täuschen zu lassen, poli- trachter im Machtantritt Hitlers erkennen.
hauptet wird, zumal dessen verzwickte Be- tische Verantwortungsscheu und soziale Die Masse der Mitlebenden jedenfalls hat
gründungen ganz überwiegend unbekannt Erbitterung. Selbst die Kriegsabsichten, diesen Bruch nicht empfunden. Der Frakblieben. Zu Teilen sind sie zudem erst ge- mit denen Hitler bei einem Teil der jahre- tionsvorsitzende der SPD im Reichstag,
raume Zeit nach dem Untergang des Drit- lang gedemütigten Nation noch am ehes- Rudolf Breitscheid, der im Konzentraten Reiches von den Historikern aus bis ten auf Widerhall rechnen konnte, hat er tionslager Buchenwald endete, klatschte
dahin nicht zugänglichen oder noch nicht die längste Zeit hintangehalten. Rund ein am Mittag des 30. Januar 1933 begeistert in
entstandenen Quellen erschlossen worden, Jahr vor Ausbruch des Krieges hat er sei- die Hände, als die Nachricht von der Erjedenfalls hat von den Zeitgenossen kaum ne Verharmlosungstaktik eingeräumt und nennung Hitlers zum Reichskanzler eintraf; endlich habe man nicht
jemand die mörderischen
mehr gegen die Phantome
Konsequenzen erkannt, die Boykott gegen Juden in Berlin (1933): Schwache Dämme der Moral
leerer Versprechungen zu
daraus folgten.
kämpfen, mit denen Hitler
Als mit den Septemberdie Öffentlichkeit aufrühre,
wahlen von 1930 erstmals die
innerhalb weniger Monate
Chancen zum Machtgewinn
werde er sich blamieren und
in greifbare Nähe rückten,
abtreten.
hat Hitler sogar die antisemiNahezu niemand war sich
tischen Parolen, die bis dahin
auch nur halbwegs bewusst,
eine Art Kennung seiner
was kommen würde. Zwar
Redeauftritte gebildet hathatte Hitler nach allen Seiten
ten, zurückgestellt oder doch
wilde Drohungen verbreitet,
dem Radauwesen seiner Unund viele hätten gewarnt
terführer überlassen. Und
sein können. Aber Politikernach der Machtübernahme
worte waren in dem aufgehat er sich bezeichnenderwühlten, seelisch zermürbweise sogar von seinem Be185
ULLSTEIN BILDERDIENST
Titel
Hitler, Gehilfen im Führerhauptquartier (1942)*: Durch persönliche Verstrickung jeden Ausweg abgeschnitten
ten Lande billig, und keine schienen billiger als die seinen.
Gleichwohl waren er und der „FührerMythos“, den eine einfallsreiche Selbstanpreisungskunst verbreitete, der Gegenstand vieler, oft unklarer Hoffnungen.
Doch sie richteten sich keineswegs auf die
kontinentweiten Eroberungszüge, die im
Nachhinein das Bild beherrschen, auf ein
Riesenreich bis zum Ural oder gar die genetische „Flurbereinigung“ in Osteuropa
mitsamt den Übermenschenträumen, die
durch die Visionen des engeren Kreises
spukten.
Vielmehr richteten sich die Erwartungen der von Krise zu Krise stolpernden
Nation auf weit näher liegende Ziele wie
die Überwindung der Arbeitslosigkeit, die
Rückgewinnung des Ansehens in der Welt
sowie auf die Wiederkehr der in den anarchischen Weimarer Jahren vermissten
staatlichen Autorität.
Der Anspruch der Hitlerleute, die beiden
machtvollsten Strömungen des 19. Jahrhunderts, den Nationalstaat und den Sozialismus, in einem zukunftsweisenden
dritten Weg jenseits von Kapitalismus und
Kommunismus zu versöhnen, weckte über* Oberstleutnant Eckhard Christian, Generäle Alfred
Jodl, Wilhelm Keitel.
dies beträchtliche Hoffnungen auf die
Beseitigung der noch immer starren gesellschaftlichen Schranken, auf größere
soziale Gerechtigkeit und die Einlösung
zahlreicher unerledigter Sehnsüchte nach
einem Wandel der Verhältnisse. Die Vorgänge von 1933 bleiben unverständlich,
wenn man aus Hitlers Programm die
Ankündigung einer Schreckensherrschaft
herausliest und, wie Fritz Stern dargelegt
hat, die „Versuchung“ nicht begreift, die er
für eine im Wirtschaftschaos versinkende
Gesellschaft bedeutete.
Aber auch Zweifel und Besorgnisse gab
es mehr, als das meist grobkörnige Bild
von heute wahrhaben will. Die frühzeitig
einsetzende Verfolgung von Regimegegnern, die Gewaltakte auf den Straßen und
die schon vier Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verfügte
Aussetzung wichtiger Grundrechte schufen Beklemmungen, die selbst von der pausenlos erzeugten Feierstimmung der neuen
Machthaber, dem geputschten Jubel mit
den Parolen von nationalem Erwachen und
Fahnen heraus! nicht zum Schweigen gebracht werden konnten.
Doch die in den Jahren der untergehenden Republik eingetretene Verwilderung
des politischen Kampfes mit den bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten und
den „Blutsonntagen“ hatte weithin die Bereitschaft erzeugt, das rücksichtslose
Durchgreifen als Zeichen der endlich in
ihr Recht zurückkehrenden Staatsgewalt
zu deuten.
Überhaupt war die „Machtergreifung“,
wie es dem alsbald in Umlauf gebrachten
paradoxen Begriff der „legalen Revolution“ entsprach, ein komplexer, in oftmals
konfusem Stimmungsdurcheinander wahrgenommener Vorgang, und erst allmählich
haben die rasch spürbaren, mit ungläubigem Staunen wahrgenommenen Erfolge
des Regimes das große Überlaufen bewirkt.
Weder in der Geschichtsschreibung noch
in der Literatur hat der Gefühlszwiespalt,
der viele erfüllte, bislang eine annähernd
zutreffende Darstellung gefunden. Jedenfalls haben die Deutschen sich damals
nicht, dem noch immer weit verbreiteten
Bild entsprechend, wie Richard III. entschlossen, gleichsam über Nacht vom rechten Weg abzugehen und zum Bösewicht
zu werden.
Eben darauf freilich liefen die ersten,
schon während des Krieges entwickelten
Theorien über den Aufstieg Hitlers hinaus.
Verschiedentlich sind lange Ahnenreihen
konstruiert worden, die den Diktator zum
Vollender einer in einigermaßen grauer Vorzeit mit Arminius dem Cherusker einset-
Hitlers Bedeutung ist mit seinem Ende von Jahr zu Jahr gewachsen.
186
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
phe des „faustischen“ Prinzips oder als
apokalyptische Endfigur der Moderne gesehen wurde.
In ähnliche Ungereimtheiten führte die
bald zum Glaubenssatz erhobene kommunistische Auffassung, die an die Kominternformel vom Dezember 1933 über
„die am meisten reaktionären, chauvinistischen, imperialistischen Elemente des
deutschen Finanzkapitals“ anknüpfte. Danach war Hitler nichts anderes als der
„mühselig hochgespielte und teuer bezahlte Kandidat einer im Hintergrund wirkenden Nazi-Clique“. Wie eine Antwort
darauf klang die zur Zeit des Kalten Krieges in Umlauf gebrachte These, wonach
der Diktator lediglich eine von Stalin ins
Spiel gebrachte Marionette mit dem Auftrag war, die westliche Welt zu zersetzen.
Und so noch manches, das meiste abwegig, widerspruchsvoll und an der Wirklichkeit vorbei. Gerade die marxistischen
Interpretationen mit ihrer Gleichsetzung
von Kapitalismus und „Faschismus“ haben
indessen nie erklären können, warum
einige Länder wie Großbritannien oder
Frankreich jener „faschistischen Überwältigung“ nicht erlagen, der die Weimarer
Republik zum Opfer fiel.
Selbst Max Horkheimers viel zitiertes
Diktum, wer vom Kapitalismus nicht reden
wolle, solle auch vom Faschismus schweigen, trägt nicht weit und ist, wie zahlreiche
Äußerungen aus seiner Schule, nur ein
gestelzt daherkommender Gemeinplatz.
Denn auf den Kapitalismus gehen in der
einen oder anderen Form alle Erscheinungen im Europa der Neuzeit zurück, die Demokratie und der Liberalismus, der Wandel
der gesellschaftlichen Strukturen und der
Lebensformen sowie Marx und der Kommunismus schließlich auch.
Im Ganzen leiden alle von einem vorgefassten Ausgangspunkt her entwickelten
Theorien über Hitler an der Hilflosigkeit,
die schon das Urteil der Zeitgenossen verwirrt hat. Das gilt, mit Unterschieden im
Einzelnen, auch für die jüngeren, der sozialgeschichtlichen Richtung entstammen-
den Deutungen, die Hitler als bloßen
Vereinigungspunkt gesellschaftlicher Strömungen interpretieren, mehr Mittelsmann
und Repräsentant übermächtiger Gruppen
oder Vorgänge als bestimmender Gestalter.
Erhebliches Aufsehen hat insbesondere
Hans Mommsen mit seiner waghalsigen
These von Hitler als „schwachem Diktator“ erregt. In den Zuspitzungen, zu denen
der intellektuelle Streit neigt, war der Historiker Martin Broszat noch einen Schritt
weitergegangen, indem er Hitler als „Opfer“ des ihm „von der Propaganda und seinem Volk angedichteten Führer-Mythos“
beschrieb, dessen außenpolitische Zielsetzungen überdies vor allem „metaphorisch“
gemeint gewesen seien, das heißt weniger
auf Verwirklichung als auf die Dynamisierung der Gesellschaft angelegt.
In alledem ist ein mehr oder weniger
eingestandenes Bemühen am Werk, die
Person Hitlers aus der Geschichte wegzuerklären, weil sie sich allzu offensichtlich
dem Deutungsmuster von der steuernden
Macht der Strukturen widersetzt: eine
theoriewidrige Erscheinung, die noch einmal die lange überwundene Auffassung
von den Männern zu bestätigen scheint,
die „Geschichte machen“.
Aber weder das Geschehen jener Jahre
noch der gegenwärtige Weltzustand sind
vorstellbar ohne die Figur Hitlers. Das
schließt den Blick auf die seinen Aufstieg
befördernden Bedingungen nicht aus, angefangen von den vielfach verharschten
mentalen sowie strukturellen Traditionsbeständen über die Konventikel der stillen
oder offenen Wegbereiter vor allem aus
den alten Machteliten bis hin zu den orien-
FOTOS: AKG
zenden Politik des Widerstands gegen die
zivilisierende Macht des Westens erhoben
und die Geschichte des Landes zu einer
einzigen Kette von Expansionsakten gegen
das friedliebende Europa umschrieben.
Das gewaltsame Bild tauchte zumal die
Herrscherfiguren der deutschen Vergangenheit in dämonisches Licht und machte
sie allesamt, oftmals bis zum blanken Widersinn, zu Vorläufern Hitlers. Doch die
weitaus längste Zeit wurde die nicht ohne
Mitwirkung der Nachbarn entstandene
deutsche Miniaturwelt mit ihrer Vielzahl kleiner, erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts schrittweise zusammengeführter
Fürstentümer von biederen, vielfach engstirnigen Landesherren regiert, und einzig
Friedrich der Große und Bismarck treten
aus der im Ganzen philiströsen Galerie
heraus.
Obwohl die seriöse Geschichtswissenschaft diese Legenden der Hitlerherrschaft
schon bald verworfen hat, wirken sie bis
heute nach. Nicht nur der allerdings
schlichte General Dwight D. Eisenhower
hielt die Deutschen daraufhin für das „synthetic evil“ der Welt, und viele, bis hin zu
dem exzentrischen Alan J. P. Taylor, dessen
zeitgeschichtliche Darstellungen die britische Vorstellung der deutschen „Vettern“
bis in die Gegenwart prägen, haben der
Bemerkung gern zugestimmt. Auch der intellektuell freilich ebenso schlichte Daniel
J. Goldhagen ist in seinem Buch über
Hitlers willige Vollstrecker dahin zurückgekehrt.
Den ungezählten Theorien, die bald
nach dem Krieg in zunehmend rascherer
Folge erschienen, lag durchweg die Absicht zu Grunde, das unerklärlich Scheinende zu erklären: wie Hitler hatte zur
Macht kommen und sie trotz allen offen
verübten Unrechts, trotz Krieg und Verbrechen hatte behaupten können. Die ersten Deutungen stellten vielfach überzeitliche, nicht selten metaphysisch gestimmte Zusammenhänge her, sei es, dass Hitler
als eine „Strafe Gottes“ für den Allmachtswahn des Menschen, als Katastro-
Arbeitslose (1930), Autobahnarbeiter (1933)
Alle Welt pries die Vollbeschäftigung
187
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Titel
tierungslosen Massen mit ihrer Sehnsucht
nach Führung und strenger Ordnung.
Aber am Ende führen alle Einzelbefunde immer wieder auf Hitler zurück, und
Raymond Aron hat es einmal „idiotisch“
genannt, die Rolle des Diktators herabzudeuten. Das abschließende Wort dazu
stammt von dem britischen Historiker
Hugh R. Trevor-Roper, und es tut seiner
Geltung keinen Abbruch, dass es schon
bald nach dem Untergang des Dritten Reiches geschrieben wurde:
„Emigranten, marxistische Theoretiker
und verzweifelte Reaktionäre haben vorgegeben oder sich selbst eingeredet, dass
Hitler selbst nur eine Schachfigur in einem
Spiel war, das nicht er spielte, sondern
einige andere Politiker oder gewisse kosmische Kräfte. Das ist ein fundamentaler
Irrtum. Welche unabhängigen Kräfte immer er benutzt, welch zufällige Unterstützung er sich erborgt haben mag, Hitler
blieb bis zum Schluss der alleinige Herr
und Meister der Bewegung, der er selbst
Leben eingehaucht, die er selbst gegründet
hatte und die er selbst, durch seine persönliche Führerschaft, vernichten sollte …
Weder das Heer noch die Junker, weder
Hochfinanz noch Großindustrie hatten diesen dämonischen, verheerenden Genius jemals in ihrer Gewalt, welche Hilfe immer
sie zuzeiten gegeben oder empfangen
haben mögen.“
Die womöglich hartnäckigste der Legenden, die um Hitler und seinen Aufstieg gewoben wurden, geht dahin, dass er der
große Gegenspieler seiner Zeit gewesen sei
und die Zeit, zumindest außerhalb Deutschlands, ihn als ihren Widersacher erkannt
habe.Aber die ausländischen Besucher, die,
angezogen von dem „faschistischen Experiment“, in wachsender Zahl nach Deutschland kamen, empfanden zumeist mehr
Respekt und sogar Bewunderung, als sie
später wahrhaben wollten, und unvergessen ist der Hitlergruß hinauf zur Führertribüne, mit dem die französische Mannschaft während der Olympischen Spiele von
1936 in das Berliner Stadion einzog.
Alle Welt pries die vermeintliche Befriedung im Innern, die Vollbeschäftigung
und die sozialstaatlichen Errungenschaften, die Hitler so überzeugungsvoll im
Munde führte. Dahinter verschwanden die
Opfer, mit denen die prosperierende Volksgemeinschaft erkauft war, und die Mehrzahl der Besucher hat die brachialen Züge, die sie keineswegs übersahen, auf die
den Deutschen eigentümliche Ordnungssucht zurückgeführt. Doch dem genaueren
Blick hätte, inmitten der trügerisch arrangierten Idylle, nicht entgehen dürfen, dass
Hitlers Unrast weitergespannten Zielen zustrebte als einem autoritären Wohlfahrtsstaat mitsamt seinem verachteten Kleineleuteglück.
Kaum einer nahm es wahr. Viel eher
schien es, Hitler habe eine Art Zauberformel für ein Zeitalter gefunden, das so und e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
TAURUS-FILM
Französische Olympiamannschaft mit Hitlergruß 1936 (Szene aus dem Leni-Riefenstahl-Dokumentarfilm): Respekt und Bewunderung
wie Mitte der dreißiger Jahre das bedrückende Konferenzpalaver, das jedem
seiner Überrumpelungsmanöver folgte und
aus einer immergleichen Mischung von
Empörung, starken Worten und mutlosen
Gesten bestand. Die ungezählten Offenbarungseide, die damals geleistet wurden,
verleiteten Hitler geradezu, seine Zumutungen ständig höher zu schrauben.
Als sein wirksamster, wenn auch stummer Verbündeter erwies sich dabei ausgerechnet die Sowjetunion. Die große Angst,
die von ihrer unermüdlichen Revolutionsdrohung ausging und im Volksfrontbündnis
in Frankreich, im Spanischen Bürgerkrieg
oder in der großen „Säuberung“ mit rund
einer Million Ermordeten beunruhigendes
Anschauungsmaterial bereitstellte, hat Hitler die Gelegenheit verschafft, sich als
das „Bollwerk“ und der „Wellenbrecher“
aufzuspielen, zu dem er sich auf einem
der Nürnberger Reichsparteitage ausrief.
Gleich vielen anderen Besuchern war
selbst der britische Geschichtsphilosoph
Arnold Toynbee beeindruckt, mit welcher
Klarheit und Überzeugungskraft der Kanzler von der „Wächterrolle“ gesprochen hatte, die er für das gefährdete Europa übernommen habe.
In dieser Rolle hätte Hitler noch geraume Zeit seine sprichwörtlich „leichten Siege“ erringen und dem Reich eine einzigartige Vormachtstellung auf dem Kontinent
sichern können. Doch hatte er zu viel
Verachtung für seine bürgerlichen Gegenspieler, die er als „kleine Würmchen“ bezeichnete. Auch brachte er weder die Geduld noch das Augenmaß auf, die für eine
solche Politik vonnöten gewesen wären.
Vor allem aber wollte er endlich den Krieg.
Schon auf der Münchener Konferenz
vom Herbst 1938 hatte er sich um den militärischen Konflikt betrogen gefühlt, ob-
BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK
verkennbar im Zeichen der Massen, ihrer
Orientierungsnöte, ihrem Verbrüderungsbedürfnis und ihrer Glaubenssehnsucht
stand, und es bescherte den entschlossenen
Hitlergegnern, zumal den Emigranten, immer neue Empfindungen von Bitterkeit
und Zorn, wie der deutsche Diktator, nach
Thomas Mann, zum „Hätschelkind“ der
Epoche wurde.
Kaum war Hitler zum Kanzler ernannt,
setzte denn auch, auf Grund der gleichen
Fehlrechnungen, wie sie den Papens und
den Hugenbergs unterlaufen waren, eine
Art Wettlauf der Mächte um Abmachungen
und Verträge ein, und es gehört zu den Ironien der Geschichte, dass die Sowjetunion
und der Vatikan, die von der Physik der
politischen Kräfte offenbar mehr als andere verstanden, dabei den Anfang machten.
Es folgten Polen und England, und bald
hofierte den neuen Mann, dessen Rechtsverachtung längst offenkundig war, ein
Land nach dem anderen, als dränge jedes
dazu, einen eigenen Beitrag zu Hitlers unverkennbar hervortretender Absicht zu
leisten, die europäische Zwischenkriegsordnung über den Haufen zu werfen.
Wie fast alle Usurpatoren der Geschichte hatte Hitler seine Machtgewinne weniger der eigenen Stärke als der Schwäche
seiner Gegner zu verdanken, ihrem Mangel an Standortbewusstsein, Geschlossenheit und Selbstbehauptungswillen. Das hat
das Ende von Weimar ebenso offenbart
Hitler in Paris (1940)
Schwäche der Gegner
In seinen imperialen Tagträumen war kein einziger
zivilisatorischer Gedanke.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
191
BPK
Münchener Konferenz (1938)*: Trügerisch arrangierte Idylle
wohl inzwischen unstrittig ist, dass er zu
diesem Zeitpunkt eine bewaffnete Auseinandersetzung nur wenige Tage lang durchgehalten hätte. „Aber“, klagte er später,
„sie haben überall eingelenkt. Wie Feiglinge haben sie allen unseren Forderungen
nachgegeben.“ Jetzt war seine Hauptsorge,
wie er inmitten der nächsten von ihm entfesselten Krise gestand, dass ihm „noch im
letzten Moment irgendein Schweinehund
einen Vermittlungsvorschlag vorlegt“.
Seine Befürchtung war unbegründet, so
dass er wenig später, kaum ein halbes Jahr
nach München, in Prag einmarschieren
konnte, und sogar als er gleich darauf auch
noch die polnische Frage aufwarf, meldete
sich kein Vermittler mehr, als habe die Welt
endlich begriffen, was seine Schwüre galten. Aber selbst jetzt noch hätten die Mächte, aller begründeten Vermutung nach, mit
sich reden lassen, jedenfalls kennt man die
Zugeständnisse, auf die sich London vorbereitet hatte.
* Regierungschefs Neville Chamberlain (England),
Edouard Daladier (Frankreich), Hitler, Benito Mussolini (Italien) mit Außenminister Graf Galeazzo Ciano.
Mit dem Moskauer Pakt vom August
1939 hingegen, der ihm das Tor zum Einmarsch in Polen aufsperrte, ging Hitler
noch einen Schritt weiter und warf die
wichtigste der Voraussetzungen um, die
den Westen ein ums andere Mal nachgiebig gestimmt hatten. Jetzt gab er zu verstehen, dass er nicht der unnachgiebige
Gegner der kommunistischen Revolution
war, als der er sich aufgeführt hatte, sondern der Feind aller.
Zugleich enthielt Hitlers Entschluss, den
ungeduldig ersehnten Krieg zu beginnen,
zwei Konsequenzen von kaum absehbaren
Folgen. Die eine war der Verzicht gerade auf
jene Politik, die so viel zu seinen Erfolgen
beigetragen hatte. Schon seit Ende des Jahres 1937 vermittelt sein Verhalten den Eindruck, als sei er des ständigen Lavierens, der
verschlagenen Einverständnisse und falschen Eide überdrüssig und könne es kaum
mehr erwarten, zu den primitiven Rezepten
des Dreinschlagens zurückzukehren, denen
er zu Beginn seiner Laufbahn, als „Held
von München“, gefolgt war.
Jedenfalls gibt es in den nahezu sechs
verbleibenden Jahren seiner Herrschaft kei-
ne einzige halbwegs ernst gemeinte politische Initiative mehr von ihm. Auch rhetorisch versteifte er sich zunehmend auf die
im Grunde apolitischen Gegensatzpaare
von „Sieg oder Vernichtung“, „Weltmacht
oder Untergang“. Am Ende steht dann die
Antwort, mit der er das Ansinnen des Botschafters Walter Hewel im Frühjahr 1945
beschied, in letzter Stunde eine politische
Lösung zu finden: „Politik? Ich mache keine Politik mehr. Das widert mich so an.“
Die andere Folge betraf die Radikalität
seiner Einsätze. Als werfe er mit den diplomatischen Rücksichten, die ihm die Umstände so lange abgenötigt hatten, zugleich
alle anderen ab, gab er wie befreit jedwede Hemmung auf. Bezeichnenderweise hat
er den einzigen schriftlichen Mordbefehl,
der von ihm überliefert ist, den im Oktober 1939 unterzeichneten Auftrag zur Tötung von „unheilbar Kranken“, auf den
Tag des Kriegsbeginns zurückdatiert.
Desgleichen verlegte er, wann immer er
darauf zu sprechen kam, seine öffentliche
Vernichtungsdrohung gegen die Juden, die
tatsächlich vom 30. Januar 1939 stammte,
auf den 1. September des Jahres.Annähernd
vier Wochen nachdem er, seinen eigenen
Worten zufolge, den Krieg „herbeigezwungen“ hatte, beauftragte er Himmler mit der
„rassischen Flurbereinigung“ im Osten,
zehn Tage später löste er die SS und die
Polizei aus der geltenden Gerichtsbarkeit,
und so eines nach dem anderen.
Der Wille zur Verschärfung trat im Fortgang der Jahre immer ungehemmter hervor, und nicht zuletzt deshalb haben ihm
die raschen Triumphe der ersten Feldzüge
nur geringe und alsbald schal schmeckende Befriedigungen verschafft. Zeitlebens
hatte er in der Vermeidung eines Zweifrontenkrieges eine Art Grundgesetz der
SÜDD. VERLAG
Deutscher Einfall in die Sowjetunion (1941)
Rechenschaftslose Barbarei
Titel
deutschen Militärpolitik gesehen. Jetzt
wandte er sich, kaum dass er den Sieg über
Frankreich errungen und Gewissheit darüber erlangt hatte, dass Großbritannien
weder zu besiegen noch für seine Weltteilungspläne zu gewinnen war, dem Krieg
gegen die Sowjetunion zu. Die ersten Hinweise darauf stammen bereits vom Juni
und Juli 1940.
Er führte ihn unbarmherzig, mit kalter
Grausamkeit und sichtlich glücklich darüber, aller politischen, menschlichen oder
gar moralischen Rücksichten enthoben zu
sein. Selbst auf die Befreiungsparolen, deren Nutzen ihm seine Umgebung wiederholt vor Augen stellte, verzichtete er, als
wolle er sich nach Jahren der Verstellung
endlich in seiner ganzen barbarischen Freiheit offenbaren.
Am 30. März 1941, knapp drei Monate
vor Beginn des Russlandfeldzugs, charakterisierte er die bevorstehende Auseinandersetzung vor nahezu 300 hohen Offizieren aller Waffengattungen als einen
„Weltanschauungskrieg“ und „Vernichtungskampf“ gegen ein „asoziales Verbrechertum“, der sich „sehr unterscheiden
(werde) vom Kampf im Westen“. Und rund
zwei Wochen nach dem 22. Juni 1941, dem
Tag des Angriffs, bezeichnete er es als Ziel
des Krieges, eine „Volkskatastrophe“ im
Osten herbeizuführen.
Zwar waren die Spitzen des Militärs, wie
die Berichte ausweisen, über Hitlers Ansprache zum größten Teil tief bestürzt.
Aber keiner protestierte oder entschloss
sich zum Rücktritt, so dass der 30. März
1941 tatsächlich zu einem schuldbegründenden Datum geworden ist.
Was bis dahin als „Irrtum“ oder mit der
Berufung auf Eid und Gehorsam hingehen
mochte, wurde jetzt, zumindest im Blick
auf die Anwesenden, zur Komplizenschaft,
und einiges spricht dafür, dass Hitlers
Eröffnungen ebendiese Absicht verfolgten:
zunächst das Führungspersonal und allmählich, Schritt für Schritt, die gesamte
Nation durch ein gewaltiges Verbrechen
unwiderruflich an sich zu binden. Verschiedentlich hat er beklagt, dass die Deutschen für die ihnen aufgetragene grausame
Mission psychologisch noch nicht gewappnet seien, und vermutlich hat der Zwang,
seine „Zyklopenaufgabe“ unter Tarnvokabeln wie „Evakuierung“,„Sonderbehandlung“ oder „Endlösung“ zu verbergen, ihm
lange Zeit zugesetzt.
Umso nachdrücklicher ergriff er mit dem
Feldzug gegen die Sowjetunion die Möglichkeit, Mitwisser und Mittäter zu schaffen
und ihnen durch das Bewusstsein persönlicher Verstrickung jeden Ausweg
abzuschneiden. Die Überlegung stand ersichtlich hinter der in Russland erstmals
verfolgten Praxis, die Massaker der Einsatzgruppen mit der operativen Kriegführung zu verknüpfen.
In zahlreichen kritischen Lagen hat Hitler beharrt, man müsse sich „die Rückd e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Titel
ULLSTEIN BILDERDIENST
dung befestigter Auffangstellungen hinter
der Front sowie zahlreiche weitere Entscheidungen bis hin zur Ardennenoffensive, mit der
er der an der Oder aufmarschierten Roten Armee den Weg nach Berlin freigab. Den Hinweis
eines seiner Stabsoffiziere auf die unverhältnismäßig hohen Verluste
an jungen Offizieren beantwortete er mit dem
Bemerken: „Was wollen
Sie? Dazu sind die jungen Leute doch da!“
Spätestens mit der
Wende des Krieges jedenfalls drängt sich der
Eindruck auf, dass Hitlers Vorstellung mehr
und mehr von den Bildern eines von ihm selber beförderten und inszenierten Untergangs
beherrscht war. Seit
1939 hatte er immer wieder die Alternative von
Gefangene deutsche Soldaten nach der Schlacht von Stalingrad (1943): „Weltmacht oder Untergang“
„Weltmacht oder Unterzugslinien selbst abschneiden … dann tiger vorangetrieben hat, je aussichtsloser gang“ beschworen, und nichts erlaubte den
kämpfe man leichter und entschlossener“. die militärische Lage wurde. Nicht zufällig Schluss, dass er den Untergang weniger
Mit Vorliebe hat er dabei die Metapher von setzte die Radikalisierung der Judenver- buchstäblich gemeint habe als seinen nunden „abgebrochenen Brücken“ benutzt folgung Ende 1941 ein, als er zu der Einsicht mehr in Stücke gehenden Weltmachtehrund einmal einen Hinweis auf die Leiden gelangt war, dass mit der unvermittelt her- geiz. Von dieser Absicht geleitet, hat er im
der Zivilbevölkerung während des Luft- eingebrochenen Winterkatastrophe vor Herbst 1944, als die gegnerischen Armeen
kriegs mit dem Bemerken abgetan: Jede Moskau sein gesamtes strategisches Kon- sich den deutschen Grenzen näherten, die
Praxis der „Verbrannten Erde“ auch für
zerstörte Stadt sei eine Brücke weniger. zept gescheitert war.
Zur gleichen Zeit erklärte er den Verei- das Reichsgebiet angeordnet und verlangt,
Darüber hinaus hat er den Zusammenhang
zwischen solchen Maximen und den Mas- nigten Staaten den Krieg, auch dabei unter dem Feind lediglich eine Zivilisationswüste
senverbrechen selber hergestellt. „Der jü- anderem von der Absicht geleitet, den letz- zu hinterlassen.
Seither beherrschte ihn einzig der Wildische Hass (sei) sowieso riesengroß“, er- ten Ausweg zu verbauen, und sei es um
klärte er Anfang 1943, so dass „kein Zurück den Preis der Selbstvernichtung. Bezeich- le, das Ende hinauszuzögern – weniger um
auf dem einmal eingeschlagenen Wege“ nenderweise stammt auch Hitlers erste die eigene Lebensfrist zu verlängern, als
Drohung gegen das eigene Volk aus jenen um den doppelten Vernichtungsvorsatz so
möglich sei.
Zwar liegt bis heute kein eindeutiger Be- Tagen. Er werde ihm, erklärte er am 27. lange irgend möglich zu vollstrecken: den
leg für Hitlers Entschluss zur Massenver- November 1941 während eines Empfangs, gegen die Juden und gegen das eigene Volk,
nichtung der Juden vor. Aber die daraus „keine Träne nachweinen“, wenn es in die- das sich in dem großen Schicksalskampf
verschiedentlich hergeleitete Folgerung, die sem Krieg „durch eine stärkere Macht zu als das schwächere erwiesen und folglich
verdientermaßen zum Untergang verurschon in Polen betriebene und mit dem Grunde ginge“.
Als nach den Zwischenerfolgen des teilt hatte. Er ist damit weit gekommen.
Krieg gegen die Sowjetunion systematisierNach allem belegbaren Ermessen hat er
te Mordpraxis gehe nicht auf ihn zurück, Sommers 1942 die Gewissheit der Niedersondern sei eine Konsequenz aus Zu- lage unabweisbar wurde, ist er denn auch sich am Ende keineswegs als gescheitert
ständigkeitschaos und Eigenmacht irgend- zusehends dazu übergegangen, seine An- betrachtet, sondern noch im Untergang nur
welcher Unterführer, verkennt Hitlers Ex- kündigung wahr zu machen, dass „das die Bestätigung des „Urgesetzes“ vom Sieg
tremismus und dass das Grundprinzip sei- deutsche Volk diese Schmach nicht über- des Stärkeren und der Vernichtung des
ner Herrschaft keine Unternehmung von leben“ werde. Allen operativen Entschei- Schwachen gesehen. Einige Militärs aus
solchem Gewicht duldete, die über seinen dungen war seither auch das Motiv ent- seiner Umgebung haben sich gelegentlich
Willen hinwegging. In seinem Tagebuch hat täuschten Hasses gegen das eigene Volk darüber verwundert, dass er kein beGoebbels festgehalten, dass „der Führer“ untergemischt. Es hat schon die Katastro- schreibbares Kriegsziel gekannt habe. Aber
phe von Stalingrad mitbewirkt, desgleichen Krieg war, wie er es sah, zu aller Zeit, und
auch in dieser Frage „der radikalste“ sei.
Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Hitler den von Hitler wider alle Vernunft auf- vielleicht deutet die Tatsache, dass er ihn
seine Ausrottungspläne umso unnachsich- rechterhaltenen Einspruch gegen die Bil- erst nach Osten, dann nach Norden, schon
Hitler wollte die gesamte Nation durch
ein gewaltiges Verbrechen unwiderruflich an sich binden.
194
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Titel
einen Monat später nach Westen und
schließlich nach Süden führte, ehe er sich
wieder dem Osten zuwandte, etwas von
der Richtungsbeliebigkeit seines Aggressionswillens an.
Selbst für „seinen“ Feldzug gegen die
Sowjetunion und den „unendlichen
Raum“, den er dort erobern wollte, besaß
er kein Konzept. Eine Zeit lang geisterte
das Bild eines vorindustriellen „Gartens
Eden“ durch seine Tischtiraden mit einer
„ewig blutenden Grenze“ weiter im Osten,
an der die Auslese der Besten getroffen
und die Rasse im Dauerkampf gehärtet
werden sollte.
Aber auch vom Durchstoß zu den Ölquellen des Nahen Ostens und sogar vom
Griff nach Indien war die Rede, wo er
gegen das Empire antreten wollte, das
sich seinem Werben so spröde widersetzt
hatte: alles nur wilde, vom Augenblick eingegebene Reizvorstellungen, überspannt,
verblendet, infantil, und charakteristischerweise taucht in den imperialen Tagträumen, denen er sich wieder und wieder überließ, kein einziger zivilisatorischer
Gedanke auf, durchweg geht es lediglich um Eroberung, Versklavung und
Ausbeutung sowie um das Weiterhasten
zu neuen Eroberungen, neuen Versklavungen und neuen Ausbeutungen. Anderes
zählte daneben nicht. „Schlagen, schlagen und wieder schlagen“, hat er in einer
Rede vom November 1942 als das „eine
Prinzip“ ausgegeben, dem er lebenslang
gefolgt sei.
Auf diese Weise hat er ein beispielloses
Zerstörungswerk angerichtet. In der Mischung aus Demagogie, Kälte und Phantastik, die ihm eigen war, hat man vielfach
den Ausdruck einer tief gestörten, krankhaften Verfassung gesehen. Weitaus beunruhigender ist aber, dass er für seinen Furor des Vernichtens und Zugrunderichtens
ungezählte Helfer ohne jede psychische
Deformation fand.
Bei Christopher Browning kann man
nachlesen, wie „ganz normale Männer“
eines Polizeibataillons, Familienväter mittleren Alters, die in diesem Fall zumeist aus
dem Hamburger Arbeitermilieu stammten
und keineswegs ideologisch eingeschworen waren, den Befehl erhalten, die Juden
einer kleinen Ortschaft im Distrikt Lublin
umzubringen, und wie sie anfangs entsetzt,
der Kommandeur vor der angetretenen
Einheit sogar mit tränenerstickter Stimme,
reagieren, doch dann bereitwillig das
Mordgeschäft verrichten.
Dergleichen Vorkommnisse sind, bei allen Unterschieden im Einzelnen, ungezählt. So dass das Erschrecken, das sich
mit dem Namen Hitlers verbindet, nicht
einzig auf seine Person zurückzuführen
wäre als vielmehr auf die Wahrheit, die er
über den Menschen und die jederzeit einsetzbare Neigung der meisten zu rechenschaftsloser Barbarei aufgedeckt hat.
Die Unruhe, die diese Einsicht bereitet,
würde die merkwürdige Tatsache erklären
helfen, dass Hitlers Bedeutung mit seinem
Ende von Jahr zu Jahr gewachsen ist. Seit
er bei der Einnahme Berlins in einem Bombentrichter nahe dem Bunkerausgang der
Reichskanzlei, eingestampft in Trümmer
und Unrat, halb verkohlt aufgefunden wurde, ist der Schatten, den er wirft, ständig tiefer und länger geworden und das Grauen
über seine Untaten unablässig größer.
Desgleichen haben die Opfer, die seinen
Weg säumen, all die Abermillionen aus
dem Gedächtnis der Welt verdrängt, die
andere Gewalthaber vor, neben und nach
ihm ermordet haben. Längst gibt es eine
Art Orthodoxie mit der Sünde wider den
Geist. Denn auch die negative Theologie
kennt ihre Gesetze und verlangt, keine anderen Teufel neben dem einen zu haben.
Als Hans Magnus Enzensberger während des Golfkriegs den irakischen Diktator Saddam Hussein als „Hitlers Wiedergänger“ beschrieb, der keineswegs
„einzigartig“ gewesen sei, und einen Zusammenhang zwischen den deutschen und
den irakischen Massen, ihrer Blindheit und
selbstzerstörerischen Ergebung herstellte,
stieß er auf nahezu ungeteilte Empörung,
als habe er nicht eine bedenkenswerte
Überlegung angestellt, sondern einen Akt
der Häresie begangen.
Er bestand sichtlich in der perspektivischen Erweiterung des in die eigenen
NATIONAL AIR AND SPACE MUSEUM
Zerbombtes Nürnberg (1945): Von Hitler selber beförderter Untergang
ULLSTEIN BILDERDIENST
Hitler, Hitlerjungen in Berlin im März 1945: Letztes Aufgebot
schwach die Dämme aus Kultur, Moral und
Rechtsnormen sind und dass sie verstärkter Befestigung bedürfen.
Die Gegenwart hat dieses eigentliche
Vermächtnis jener Jahre nie angenommen.
Sie baut stattdessen die zivilisierenden
Schranken unablässig ab und beglückwünscht sich zu ihrer Lust am Ordinären,
zur Missachtung von Tabus und der Verhöhnung hemmender Normen. Allenfalls
aufkommende Besorgnisse beschwichtigt
sie mit der Behauptung, wie fremd und
folglich chancenlos sich ein Wiedergänger
Hitlers in einer Zeit der extremen Individualisierung und der weltumspannenden
Vernetzung ausnähme.
Doch gibt es in der Anthropologie keine Anachronismen. Das Stück beginnt jeden Tag neu. Nur die Kulissen und die
Stichworte wechseln, und niemand kann
sich einreden, dass eine Figur wie Milo∆eviƒ
der letzte Akteur auf dieser Bühne ist.
Zur weiterwirkenden Bedeutung Hitlers
gehört am Ende auch, dass er eine Vorstellung des Bösen in die Welt zurückgebracht hat, die lange Zeit als hinterwäldlerisches, „ins Fabelbuch geschriebenes“
Denkbild galt: das „so genannte Böse“, wie die
kundigen Köpfe wissen,
mit dem Teufel als Panoptikumsfigur und Kinderschreck.
Aber offenbar benötigt
der Mensch für die
Schrecken, von denen die
Geschichte wie das Leben
voll sind, einen leibhaftigen Begriff und gibt sich
nicht zufrieden mit den
Abstraktionen, die unterdessen dafür stehen: als
sei, was einst „das Böse“
hieß, nur die Funktion
fehlgelaufener Sozialisationsprozesse, gesellschaftlicher Benachteiligungen, „MarginalisieB. BOSTELMANN / ARGUM
Klischees vernarrten Deutungsschemas.
Abweichend davon sah Enzensberger ein
anthropologisches Problem und fragte, was
es mit der Suggestion erkennbar katastrophischer Führerfiguren und ihres Untergangsfiebers auf sich habe, was mit den
kollektiven Kränkungen sowie mit dem
Verlangen, sie von einem Erzfeind her erklärt zu bekommen, und selbst mit der immer neuen Rührung bei Diktatorenhänden
auf Kinderköpfen.
Man kann noch weitergehen und herauszufinden versuchen, woher selbst in
hoch entwickelten Nationen das Hordenglück unter flatternden Fahnen, bei Gemeinschaftsgelöbnissen oder vor rußigen
Eintopfküchen kommt, wie die totalitäre Sehnsucht überhaupt entsteht und ob
vielleicht ein Rest davon die letzten
kampfbesessenen deutschen Soldaten beseelte, die im Frühjahr 1945 für ein erkennbar nicht geheures Regime in den
Tod gingen? In den Lagern des Gulag hat
man Gefangene weinen sehen, als Stalin
starb.
Fragen über Fragen. Sie drängen die
Überlegung auf, ob das nach wie vor herrschende Menschenbild der Aufklärung je
etwas anderes war als gleichsam erlauchte
Literatur, und mit Hitler, wenn er denn die
Symbolfigur der totalitären Epoche ist, seine Widerlegung gefunden hat.
Zwar war die Aufklärung eine vielgesichtige Erscheinung und weniger eine
halbwegs einheitliche Gedankenrichtung
als ein großes, durch hochherzige Erwartungen verbundenes Stimmendurcheinander. Aber bewahrt und ins allgemeine Bewusstsein eingegangen ist daraus die Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus
gut, einsichtig und vernunftgeleitet sei und,
einmal über sich belehrt, das selbstbestimmte Dasein will.
Dem anhaltenden, freilich schon von
Zweifeln angefochtenen Optimismus dieses
Menschenbildes hat Hitler ein Ende gemacht. Wie keiner der demagogischen
Machthaber des Jahrhunderts hat er das
Verlangen der „einsamen Masse“ nach einem gebieterischen Willen, nach Gemeinschaft, Dramatik, Hingebung und in alledem nach einem fremdbestimmten Dasein
aufgedeckt. Die meisten, heißt es bei Alexis de Tocqueville, fürchteten die Vereinsamung mehr als alles andere und nähmen
dafür Täuschung und Wahn in Kauf.
Es kann kein Zweifel sein, dass diese
Einsicht nach wie vor zutrifft. Zwar gibt es
die Ängste und Ressentiments nicht mehr,
die so viel zu Hitlers Aufstieg beigetragen
haben. Aber andere sind an ihre Stelle getreten, angefangen vom Schwinden des Geborgenheitsgefühls unter dem gewohnten
Dach des Nationalstaats über die Migration bis hin zur Globalisierung, und jede
dieser Entwicklungen rührt an eingewurzelte Instinkte. Zur Hinterlassenschaft Hitlers gehört ein Bewusstsein davon, wie
leicht sie mobilisiert werden können, wie
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
rungen“ und was sich sonst noch dazu
sagen lässt.
Im Grunde laufen alle solche Deutungen
auf den Versuch hinaus, das idealisierte
Menschenbild der Aufklärung durch die
Zeit zu retten. Aber das zurückliegende
Jahrhundert hat es widerlegt und eine Ahnung davon vermittelt, dass es das Böse
als reale Macht gibt, wie immer man es
nennen mag. Das ist Hitlers noch immer
verleugnetes Vermächtnis. Es ist in einer
Vielzahl von Erscheinungen sichtbar geworden, und Hitler hat ihm lediglich den
einprägsamsten Ausdruck gegeben.
Damit hat womöglich zu tun, dass der
Mensch sich in ihm eine zeitgerecht umgeformte Gestalt des Bösen zu erschaffen
sucht. Das würde sein auffälliges Nachleben erklären, für das er als Person in
seiner Nichtigkeit und Leere nicht den
geringsten Anhalt hergibt. Auch lieferte es
eine Begründung dafür, warum er in
Debatten, Exorzismen und Mahnmalen
gegenwärtiger ist als irgendein anderer
Gewaltherrscher der Epoche und dem
Bewusstsein der Gegenwart noch immer
näher rückt.
Der Autor
Joachim Fest, 72, ist
Historiker, vielfach ausgezeichneter Publizist
und ehemaliger Mitherausgeber der „FAZ“.
Seine 1973 erschienene
„Hitler“-Biografie wurde in 20 Sprachen übersetzt und erreichte eine
Gesamtauflage in Millionenhöhe. In einer
neuen Biografie beschäftigt sich Fest mit
dem Rätsel Albert
Speer, Hitlers Architekten und Rüstungsminister.
197
Titel
SPIEGEL-GESPRÄCH
„Europa – ein
einmaliges Modell“
B. BOSTELMANN / ARGUM
SPIEGEL: Mr. Garton Ash, wer ist der bedeutendste europäische Staatsmann am
Ende dieses Jahrhunderts?
Garton Ash: Václav Havel, für mich immer
noch eine leuchtende Gestalt. Er hat eine
überzeugende Vision von einer fundamental liberalen Ordnung für Europa und darüber hinaus. Er denkt in langfristigen Perspektiven, was sonst kaum jemand in Europa tut. In diesem Sinne war auch Helmut
Kohl ein Staatsmann.
SPIEGEL: Welche Vision schreiben Sie ihm
zu?
Timothy Garton Ash
lehrt Zeitgeschichte am St. Antony’s
College in Oxford und gilt als einer
der besten Kenner vor allem der osteuropäischen Geschichte und Politik.
1990 erschien sein Buch „Ein Jahrhundert wird abgewählt“, zur Buchmesse dieses Jahr „Zeit der Freiheit.
Aus den Zentren von Mitteleuropa“
(Carl Hanser Verlag, München; 500
Seiten; 49,80 Mark). Die „Financial
Times“ bewertete die Essays von Garton Ash, 44, als „die gewissenhaftesten, bestinformierten und zugleich
lesbarsten“ des letzten Jahrzehnts.
198
Garton Ash: Er hatte ein paar große strategische Ziele: die europäische und die deutsche Einigung, Ziele, die er mit großem
taktischem Geschick über viele Jahre verfolgt hat.
SPIEGEL: Ohne Gorbatschow hätte kein
noch so großer Taktiker oder Stratege die
deutsche Einheit zu Stande gebracht.
Garton Ash: Das ist völlig klar. Aber ich
glaube trotzdem: Die deutsche Einheit
wäre so nicht gekommen, wenn manch
anderer führende deutsche Politiker Bundeskanzler gewesen wäre.
SPIEGEL: Warum nicht? Bei Oskar Lafontaine würden wir Ihnen allerdings zustimmen.
Garton Ash: Vielleicht nicht nur bei ihm.
Ich erinnere mich noch gut an eine Tagung
des Bergedorfer Gesprächskreises in Bonn
im September 1989. Da sagte Egon Bahr,
die Menschen der DDR würden sich ihren
Staat nicht nehmen lassen.
SPIEGEL: Welche Verdienste soll Kohl an
Gorbatschows Kurs gehabt haben?
Garton Ash: Gorbatschow hat mir erklärt,
wie wichtig es für ihn seit 1987 war, dass
Kohl die Bedeutung der deutschen Einigung ihm gegenüber immer wieder herausgestellt hat.
SPIEGEL: Sonst weit und breit kein großer
Staatsmann?
Garton Ash: Im Moment sehe ich sonst keinen in Europa, auch nicht Tony Blair.
SPIEGEL: Aber Blair hat doch Visionen, jedenfalls spricht er davon.
Garton Ash: Das ist zweierlei. In der Bildungs- und Sozialpolitik hat er aber durchaus ein strategisches Ziel: Er möchte
dem Thatcherismus ein menschliches Antlitz geben.
SPIEGEL: Wie beurteilen Sie Schröder?
Garton Ash: Qualitäten eines Staatsmanns
habe ich an ihm noch nicht erkennen
können.
SPIEGEL: Der Staatsmann Václav Havel
konnte immerhin nicht verhindern, dass
seine Tschechoslowakei in zwei Staaten
auseinander fiel.
Garton Ash: Ja, aber das war nicht von ihm
verschuldet. Und wichtig ist nicht, ob es
zehn Staaten oder hundert gibt, ob sie groß
sind oder klein. Wichtig ist, wie sie entstehen und was für Staaten es sind.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
C. HILS / FOCUS PLUS / XXP
Der britische Historiker Timothy Garton Ash
über den alten Kontinent an der Jahrhundertwende
Kanzler Kohl, Ostdeutsche in Leipzig (1990): „Er
SPIEGEL: Ist das auch eine Lehre für den
Balkan?
Garton Ash: Das ist meines Erachtens eine
Lehre aus den neunziger Jahren. Zwischen
1989 und 1999 sind in Europa 15 neue
Nationalstaaten entstanden. Das muss an
sich nicht schlecht sein, sofern sie friedlich
entstehen und demokratisch sind.
SPIEGEL: Diese 15 Staaten sind allesamt ethnisch orientierte Nationalstaaten. Ist das
nicht rückwärts gewandt, reaktionär?
Garton Ash: Ich bin natürlich kein Befürworter ethnischer Nationalstaaten. Aber
zur Demokratie gehört auch, dass eine
Minderheit den Willen der Mehrheit bereitwillig akzeptiert. Und das tut man
lieber, wenn man die gleiche Sprache
spricht – leider. Aber das ist nun mal die
Richtung der neueren europäischen Geschichte gewesen.
SPIEGEL: Belgien und die Schweiz sind interessante Ausnahmen.
Garton Ash: Belgien doch immer weniger!
So bleibt die Schweiz die einzige echte
Ausnahme. Es gibt noch etwas Merkwürdiges: einen Vier-Nationen-Nationalstaat,
Großbritannien.
SPIEGEL: Wird es ebenfalls zerfallen?
Garton Ash: Vor 10 Jahren, geschweige denn
vor 20, wäre ein unabhängiges Schottland
undenkbar gewesen. In letzter Zeit ist es
eine reale Möglichkeit geworden.
SPIEGEL: Holen alle diese Nationalbewegungen jetzt nur nach, was wir in Zentraleuropa im 19. Jahrhundert erlebt haben?
Garton Ash: Ja, der Begriff „nachholende
Revolution“, den Jürgen Habermas 1990
hatte große strategische Ziele, die er mit großem taktischem Geschick verfolgt hat“
geprägt hat, bekommt eine neue Bedeutung.
SPIEGEL: Sie haben kürzlich geschrieben:
„Es steht zu erwarten, dass Europa nicht
fallenden, sondern eher steigenden Spannungen zwischen seinen führenden Staaten
ausgesetzt sein wird.“ Was meinten Sie
damit?
Garton Ash: Das bezog sich vor allem auf
die Europäische Währungsunion und ihre Folgen. Meine These ist, dass wir in
Westeuropa Anfang der neunziger Jahre
die falschen Prioritäten gesetzt haben.
Anstatt uns nach dem Fall der Mauer um
das größere Europa zu kümmern, haben
renden Währungsunion immer eine politische Union vorausgegangen, auch in den
Vereinigten Staaten von Amerika oder in
Deutschland nach der Einigung von 1871.
Daher, glaube ich, wird es zu steigenden
Spannungen kommen.
SPIEGEL: War die Währungsunion nicht
zwingend, wenn man der europäischen
Wirtschaft im globalen Wettbewerb bessere Chancen geben wollte?
Garton Ash: Das war sicherlich der funktionalistische Ansatz – Vervollständigung
des Binnenmarktes. Aber im Grunde war
die Währungsunion eine eminent politische Entscheidung, sie war im Kern der
Preis, den Deutschland für Frankreichs
Einverständnis zur deutschen Einigung
gezahlt hat.
SPIEGEL: Wenn sogar das schon geregelt
werden konnte – welche Art Spannungen befürchten Sie dann? Spannungen unter den Regierungen oder zwischen den
Völkern?
Garton Ash: Wenn in einer Rezession in
irgendeinem Land die Arbeitslosigkeit
explodiert, wird todsicher der Ruf ertönen: Daran ist die Europäische Zentralbank schuld! Oder: Daran ist der Euro
schuld! Dann haben Sie die Spannungen schon.
SPIEGEL: Könnte es nicht eher so sein, dass
sich die europäische Wirtschaft – aber nicht
nur sie – zunehmend konvergent entwickelt? Dass also ein ausscherender Staat
wir die Perfektionierung des westeuropäischen Hauses betrieben, haben ihm sozusagen eine computerisierte Klimaanlage
verpasst.
SPIEGEL: Das war Ihr großer Staatsmann
Kohl.
Garton Ash: Gewiss, ich habe ja nicht gesagt, dass Kohls Prioritäten unbedingt richtig gewesen wären.
SPIEGEL: Warum war die Klimaanlage so
falsch?
Garton Ash: Weil wir in Maastricht bastelten, während Sarajevo brannte. Es war vielleicht das Richtige – aber zur falschen Zeit.
Im Übrigen: Bislang ist einer funktionie-
AFP / DPA
Oppositionspolitiker Havel in Prag (1989)*: „Eine leuchtende Gestalt“
* Vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei.
199
Titel
JARDAI / MODUS
SPIEGEL: Ein neuer Marshall-Plan …
Garton Ash: … hilft angesichts der unum-
Regierungschefs Blair, Schröder*: Vielstimmiges Europa
selbst in größere Schwierigkeiten gerät als
die Gemeinschaft der anderen?
Garton Ash: Ich wäre froh, wenn ich Unrecht hätte. Ich möchte diese Spannungen
natürlich nicht erleben. Ich warne nur vor
dem Glauben, dass der Euro an sich schon
ein Erfolg sei.
SPIEGEL: Gegen das wirtschaftliche Ungleichgewicht der einzelnen Staaten gibt es
ja jetzt schon die berühmten Ausgleichsmechanismen, sprich: den Strukturfonds
für die südlichen Länder.
Garton Ash: Genau da liegt das Problem.
Bis jetzt hat beispielsweise der englische
Wähler akzeptiert, dass ein bedeutender
Teil seiner Steuern nach Wales oder Schottland geht, weil es den Walisern und Schotten schlechter geht. Ob diese Akzeptanz
aber bleibt? Und gesamteuropäisch ist sie
absolut nicht vorhanden.
SPIEGEL: Die von Ihnen so fervent vertretene Erweiterung nach Osten ist unter diesem Gesichtswinkel dann aber besonders
fragwürdig, weil die wirtschaftlichen Unterschiede noch krasser sind.
Garton Ash: Wenn wir die Ost-Erweiterung
nach dem bisherigen Modell der europäischen Integration betreiben wollten, wird
sie tatsächlich sehr spät oder überhaupt
nicht kommen. Es ist natürlich unmöglich,
dass wir den osteuropäischen Ländern Ausgleichstransfers zukommen lassen in dem
* Mit den Außenministern Joschka Fischer und Robin
Cook auf dem Europäischen Ratsgipfel in Köln.
Ausmaß wie den Spaniern, Portugiesen
und Griechen.
SPIEGEL: Aber die osteuropäischen Länder
dort fordern das.
Garton Ash: Ich weiß von den entsprechenden ost- und mitteleuropäischen Politikern,
dass sie für eine schnelle Mitgliedschaft auch
längere Übergangsfristen und geringere
strukturelle Transfers akzeptieren würden.
Das sollten wir anbieten. Das Entscheidende ist die politische Mitgliedschaft – entscheidend, weil sie auch den weiter weg gelegenen Ländern Osteuropas eine Perspektive gibt. Denn die große Herausforderung
des nächsten Jahrzehnts wird nicht in Mitteleuropa liegen, auch nicht in Südosteuropa, sondern in der ehemaligen Sowjetunion.
SPIEGEL: Inwiefern eine große Herausforderung?
Garton Ash: Nach meinem Dafürhalten
könnte die ehemalige Sowjetunion das
nächste Jugoslawien sein.
SPIEGEL: Nur können wir daran leider gar
nichts ändern.
Garton Ash: Vermutlich haben Sie Recht.
Der „worst case“ ist dort nicht mal eine
kommunistisch-nationalistische Machtergreifung, sondern der totale staatliche und
gesellschaftliche Zerfall, und der hat schon
begonnen. Die Provinzgouverneure und
großen Geschäftsleute sind die neuen Feudalherren in einem neuen Regierungssystem: der Kleptokratie.Von ihr muss man
sogar den Verkauf geklauter Atom- und
Chemiewaffen befürchten.
schränkten Herrschaft der Kleptokratie gar
nichts. Für einen solchen Plan bräuchte
man wie in Westeuropa nach 1945 wenigstens einen Motor, der schon da ist und nur
noch Benzin benötigt. Aber ein solcher
Motor ist in Russland nicht vorhanden.
SPIEGEL: Was also ist zu tun?
Garton Ash: Wir sollten uns auf die Politik
konzentrieren und konstruktive Kräfte
stärken, etwa neue Eliten aufbauen helfen,
vor allem in der jüngeren Generation.
SPIEGEL: Der Westen hat für die Menschenrechte in Bosnien, im Kosovo und sogar in Osttimor interveniert. Müsste er
nicht auch gegenüber Moskau auf die Einhaltung der Menschenrechte in Tschetschenien drängen?
Garton Ash: Natürlich, ich bin engagierter
Befürworter eines liberalen Internationalismus, der keine Doppelstandards zulässt. Wir hätten unsere Stimme bereits
eindeutig erheben müssen, als Jelzin zum
ersten Mal gegen Tschetschenien militärisch losschlug. Das hat man unterlassen,
aber damit Jelzin nicht geholfen und der
russischen Demokratie, weiß Gott, schon
gar nicht.
SPIEGEL: Eigentlich erstaunlich, dass Europa nicht mal dazu in der Lage war, wo doch
in den wichtigsten Staaten Sozialdemokraten an der Macht sind.
Garton Ash: Wir leben nicht mehr im 20.
Jahrhundert, sondern bereits im 21. Eines
der wichtigsten Kennzeichen dieses neuen
Jahrhunderts ist, dass es „links“ und
„rechts“, die große, seit der Französischen
Revolution von 1789 bestehende Einteilung
nicht mehr gibt. In unserem postideologischen Zeitalter geht es nur noch um verschiedene Versionen des Kapitalismus oder
der Demokratie beziehungsweise um bestimmte Problemlösungen.
SPIEGEL: Ist das nun das „Ende der Geschichte“?
Garton Ash: Der arme Francis Fukuyama
muss immer wieder sagen, so wörtlich habe
er das nicht gemeint. Aber an der Substanz
seiner These ist doch etwas dran – in dem
Sinne, dass wir heute eben keine großen
ideologischen Alternativen mehr haben.
SPIEGEL: Der von Ihnen so genannte Thatcherismus mit menschlichem Antlitz in
England – bezeichnet er eine neue Wirtschafts- oder auch eine neue Regierungsform?
Garton Ash: Es bedeutet eine Variante des
reformierten Kapitalismus.
SPIEGEL: Der berühmte „dritte Weg“? Das
war ja mal die „soziale Marktwirtschaft“,
ein Mittelding zwischen Kapitalismus pur
und Sozialismus. Nun scheinen der Abbau
dieser sozialen Marktwirtschaft und die
„Die Regierungschefs werden auch noch in 10 oder 20 Jahren
die wahren Herrscher der Welt sein.“
200
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
B. BOSTELMANN / ARGUM
P. KASSIN
Hinwendung zu Ihrem „Thatcherismus mit menschlichem Antlitz“
auf der Tagesordnung zu stehen.
Garton Ash: Ich würde es anders
definieren. Ich glaube überhaupt
nicht an einen dritten Weg. Es hat
einen Traum davon gegeben – das
war der Prager Frühling. Der wurde erst 1968 zerschlagen, dann
1989 begraben.
SPIEGEL: Aber Clinton, Schröder
und Blair sprechen dauernd von
ihrem dritten Weg.
Garton Ash: Dann ist es eigentlich
nur die Marketing-Formel für eine
Variante des reformierten Kapitalismus.
SPIEGEL: Was wird herauskommen?
Garton Ash: Eine soziale Marktwirtschaft am Anfang des 21. Jahr- Russische Soldaten in Tschetschenien (1995): „Wir hätten unsere Stimme erheben müssen“
hunderts, die gegenüber Asien
und Nordamerika konkurrenzfähig sein oder der italienische Regierungschef?“, aber etwas tun angesichts der Tatsache,
will, wird viele Besitzstände, die es im dann würde ich doch sagen: der britische. dass heute die Megakonzerne und Großdeutsch-französischen Kontinentaleuropa Nicht, weil ich Brite bin, sondern weil die banken das Sagen haben und die Politiker
gibt, erheblich abbauen müssen.
harte, brutale Knochenarbeit der liberali- nicht mehr Herr ihrer Entschlüsse sind?
SPIEGEL: Effizient mag diese Variante ja sierenden Reformen schon von Margaret Garton Ash: Ich glaube nicht, dass George
Thatcher getan wurde.
sein, aber auch menschlich?
Soros, den ich sehr bewundere, die Welt
Garton Ash: Wollen wir hoffen.
SPIEGEL: Stört es Sie nicht, dass der bri- regiert. Zweifellos gibt es die GlobalisieSPIEGEL: In Frankreich erleben wir im Au- tische Regierungschef auch der nettes- rung, aber immer noch ist die nationale
genblick, wie eine relativ unmoderne So- te, freundlichste ist? Als ob das „mensch- koordinierte Politik von entscheidender
zialdemokratie unter Lionel Jospin den- liche Antlitz“ in Großbritannien ent- Bedeutung.
noch wirtschaftlich erstaunlich erfolgreich wickelter wäre als in Deutschland oder SPIEGEL: Und die Weltbank und der Internationale Währungsfonds?
operiert und dabei traditionelle sozialde- Frankreich.
Garton Ash: Das ist es natürlich nicht, im Garton Ash: Die sitzen an der 19. Straße in
mokratische Werte durchaus hochhält.
Garton Ash: Warten wir’s ab. Ich glaube Gegenteil. Es hat im britischen Kapitalis- Washington, D. C. Sie gehören zu diesem
mus – da sind wir nahe an Amerika – im- System, und sicher ist das ein hegemonianicht, dass es langfristig gelingt.
SPIEGEL: Welches ist denn im Rahmen der mer eine ziemlich elende Unterschicht ge- les Establishment.
augenblicklichen sozialdemokratischen geben, die es im Nachkriegskapitalismus SPIEGEL: Und das frei flutende Kapital, das
Kontinentaleuropas so nicht ge- heute in Hongkong und morgen in New
geben hat. Da haben wir in Groß- York auftritt, ist das etwa ein Mythos?
britannien eher Nachholbedarf.
Garton Ash: Natürlich nicht. Natürlich
SPIEGEL: Also kann Großbritan- könnte Großbritannien zum Beispiel seine
eigene Währung gegenüber der Macht der
nien doch kein Vorbild sein.
Garton Ash: Die Frage ist, ob Kon- Märkte gar nicht verteidigen, das wissen
tinentaleuropa wieder weltkon- wir alle. Dennoch werden auch noch in
kurrenzfähig werden kann, ohne 10 oder 20 Jahren die Regierungschefs die
den Preis des angloamerikani- wahren Herrscher der Welt sein und keine
schen Kapitalismus zu bezahlen, noch so große internationale Bank. Die
nämlich eine soziale Unterschicht neue Welt wird so ganz neu nicht sein.
von 20 bis 30 Prozent der Bevöl- SPIEGEL: Der französische Politologe Jeankerung zu bekommen, die im Marie Guéhenno hat in seinem Buch „Das
Elend lebt.
Ende der Demokratie“ ausgeführt, dass im
Garton Ash (2. v. l.) beim SPIEGEL-Gespräch*
SPIEGEL: Begehren diese 20 bis 30 Grunde nicht das Weltkapital die Herr„Europa braucht ein starkes Deutschland“
Prozent bei Ihnen nicht irgend- schaft antrete, sondern die Bürokratie, gewann auf?
rade im vereinigten Europa.
Ideenkonkurrenz das aus Ihrer Sicht fort- Garton Ash: Ich erinnere Sie an den oft Garton Ash: Ich schätze Guéhenno sehr.
schrittlichste politische Modell in Europa? zitierten Satz von Alexis de Tocqueville: Die Politikmüdigkeit der jüngsten Zeit
Garton Ash: Wenn die gute Fee zu mir käme Revolutionen brechen nicht aus, wenn es dürfte in der Tat eine Folge des von ihm
und fragte: „Wer wären Sie am liebsten, der den Menschen schlechter, sondern wenn beschriebenen Phänomens sein.
britische, der deutsche, der französische es ihnen allmählich besser geht.
SPIEGEL: Und die Gefahr für die DemoSPIEGEL: Wie immer – muss nicht eine so- kratie?
zialdemokratische Regierung gegen eine Garton Ash: Wenn Sie sagen, die Gefahr
* Mit Redakteuren Jürgen Leinemann, Dieter Wild und
Martin Doerry.
solche Verelendung etwas tun? Kann sie durch die Bürokratie sei objektiv zwin-
„Anstelle der gemeinsamen europäischen Währung hätten wir
eine gemeinsame Armee beschließen sollen.“
202
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
SPIEGEL: Wie wird sich England
schließlich entscheiden?
Garton Ash: Man neigt immer dazu
GAMMA / STUDIO X
zu sagen – so habe ich es mal von
Helmut Kohl gehört –, die Londoner City werde schon bewirken, dass England der Währungsunion beitritt. So mächtig ist aber
die City nicht. Ich halte es für
durchaus denkbar, dass Blair die
Volksabstimmung ansetzt – und
sie verliert. Jedenfalls können wir
Briten nicht so weitermachen, wie
wir es über 40 Jahre lang getan
haben: immer abwarten, ob es mit
Europa gut geht, und uns dann
eventuell als Letzte anschließen.
SPIEGEL: Worauf beruht dieser
spezifisch britische Attentismus in
Bezug auf Europa?
Garton Ash: Wir haben ein völlig
anderes Rechtssystem, das Common Law, wir haben die Souveränität des
Parlaments von Westminster und schließlich unser spezielles Verhältnis zur englischsprachigen Welt. Also mindestens drei
große Unterschiede.
SPIEGEL: Man hat dieses Jahrhundert das
amerikanische genannt. England hat damit
keine Schwierigkeiten wegen seiner kulturellen und politischen Nähe zu Amerika.
Die Franzosen empören sich fortlaufend
über den amerikanischen „Kulturimperialismus“. Die Deutschen finden Amerika einerseits großartig, wollen aber andererseits keine allzu robuste Bevormundung. Wird Europa diese Vielstimmigkeit
gegenüber dem Großen Bruder je überwinden?
Garton Ash: Diese Vielstimmigkeit wird es
noch sehr lange Zeit geben. Aber irgendwie
werden wir schließlich auch alle zunehmend Amerikaner, gerade die junge Generation.
SPIEGEL: Also wird auch das 21. Jahrhundert ein amerikanisches sein?
Garton Ash: Sicherlich sein Anfang. Die
USA sind eben eine gewaltige, dreidimensionale Supermacht. Ich sehe nicht, dass
etwa China oder Indien in den nächsten
10 oder 20 Jahren dazukämen. Ich sehe
auch nicht, dass Europa eine Supermacht
würde – muss es ja auch nicht.
SPIEGEL: Und das wiedervereinigte große Deutschland? Ist es ein Glück für Europa, dass Deutschland Schwierigkeiten mit seiner inneren Wiedervereinigung hat?
Garton Ash: Nein, überhaupt nicht, ich wünsche ihm von Herzen, dass es die wirklich dringende Liberalisierung und Umstrukturierung seiner Wirtschaft
schafft. Denn Europa braucht
natürlich kein schwaches, sondern
ein starkes Deutschland.
SPIEGEL: Mr. Garton Ash, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Landwirtschaft in Polen: „Längere Übergangsfristen, geringere Transfers“
gend, weil die Politik keinerlei Spielräume
mehr habe, würde ich dem widersprechen.
SPIEGEL: Guéhenno fürchtet vor allem für
eine übernationale europäische Demokratie.
Garton Ash: Da bin ich seiner Meinung. Da
es keinen europäischen Demos gibt, kann
es auch keine europäische Demokratie
geben.
SPIEGEL: Auch keine demokratischen Institutionen?
Garton Ash: Es wird eine halb demokratische, indirekt demokratische Regierung geben. Natürlich spielt auch das europäische
Parlament eine Rolle. Aber der Schlüssel
zur Kontrolle in der EU wird meines Erachtens bei den demokratisch gewählten
Regierungen der Nationalstaaten bleiben.
SPIEGEL: Ein merkwürdiges Gebilde scheint
da zu entstehen.
Garton Ash: Wieso eigentlich? Wenn Europa nicht zu einer einzigen demokratischen
Polis wird, kann es dennoch ein einmaliges
Modell einer freiheitlichen Ordnung sein,
eine Mischung aus Integration und permanenter zwischenstaatlicher Kooperation.
SPIEGEL: Wie freiheitlich ist so ein Gebilde,
wenn beispielsweise in Kroatien ein autoritäres Regime wie das von Herrn Tudjman an der Macht ist. Man kann es ja wohl
schwerlich mit Gewalt beseitigen.
Garton Ash: Doch. Kroatien ist nicht so
groß, und Europa ist nicht so klein, als
dass wir nichts machen könnten. Anstelle
der gemeinsamen europäischen Währung
hätten wir Anfang der neunziger Jahre eine gemeinsame europäische Armee beschließen sollen, dann hätten wir auch den
Führer der bosnischen Serben, Radovan
Karad≈iƒ, stoppen können.
SPIEGEL: Mit dieser Armee?
Garton Ash: Ja, natürlich. Karad≈iƒ selbst
hat gesagt, dass es nur 10 000 Mann gebraucht hätte, um ihn zu stoppen. Eine Eingreiftruppe von 20 000 oder 30 000 Mann
hätten wir doch relativ schnell aufbauen
können – und müssen.
SPIEGEL: Aber mangels politischen Willens
ist doch eine solche europäische Armee
noch viel unrealistischer als die Währungsunion. Es wäre eine deutsch-belgischportugiesische gemeinsame Armee, weil
England und Frankreich todsicher nicht
mitmachen würden.
Garton Ash: Ach, wissen Sie, in der Verteidigungspolitik sind Briten und Franzosen
heute vergleichsweise bereitwillig, Souveränität zu teilen.
SPIEGEL: Wenn es aber auch nur darum
geht, eine neue Transportmaschine anzuschaffen und man aus Kostengründen die
russische nehmen möchte, schießen die
britische und die französische Rüstungsindustrie Sperrfeuer.
Garton Ash: Die Probleme wären sicherlich
sehr groß, aber nicht größer als jene bei der
Vorbereitung der Währungsunion.
SPIEGEL: Warum ist es eigentlich für England so viel schwerer, den mit der Währungsunion verbundenen Souveränitätsverlust zu akzeptieren, als für Deutschland
oder Schweden?
Garton Ash: Weil wir eine andere Geschichte haben und außerdem eine Presse,
die, angeführt von einem australischen und
einem kanadischen Tycoon, seit mehr als
zehn Jahren eine unglaubliche Anti-EuroPropaganda treibt. Doch passen Sie auf:
Wir werden in Großbritannien die große
Euro-Debatte bekommen. Sie wird die britische Politik in den nächsten drei bis vier
Jahren bestimmen.
SPIEGEL: Will Blair vielleicht die nächsten
Unterhauswahlen sogar vorziehen, um sie
mit einem Referendum für die Währungsunion zu verbinden?
Garton Ash: In meinen Augen ist
seine Strategie eine andere: erst
die nächsten Wahlen gewinnen,
dann die Frage nach dem Euro stellen. Die Konservativen wollen genau das vermeiden, indem sie den
Euro zum Wahlkampfthema Nummer eins zu machen versuchen.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
ENDE
203
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
Szene
H AU P T S TA D T
„Hang zur Gemütlichkeit“
Der Ethnologe Bastian Bretthauer, 33,
über seine wissenschaftliche Erkundung
des Berliner Nachtlebens
SPIEGEL: Herr Bretthauer, fünf Jahre lang
INTERFOTO
haben Sie mit wissenschaftlicher Akribie
das Berliner Nachtleben erforscht. Was
sind die Vorzüge der Dunkelheit?
Bretthauer: Der Mensch als Augentier ist
im Dunklen auf seine Sinne zurückgeworfen. Er erlebt intensiver, dass die
Natur nachts in die Stadt zurückkehrt,
riecht Blumen und hört morgens Vogelstimmen.
SPIEGEL: Was haben Ihre Interviews mit
Nachtschwärmern noch ergeben?
Bretthauer: Die meisten sind Menschen,
die mit ihrer Tagesrealität nicht versöhnt sind. Sie kompensieren Unausgefülltheit im Beruf, indem sie nachts in
eine andere Rolle schlüpfen.
SPIEGEL: Ist das Nachtverhalten von
Männern und Frauen unterschiedlich?
Bretthauer: Ja. Bei Frauen gibt es immer
noch Furcht vor der Dunkelheit. Historisch hat die Nacht den Männern gehört. Sie konnten sich unbescholten bewegen, während Frauen, die nachts allein auf der Straße waren, noch um die
Jahrhundertwende als Huren galten.
Erst in den Zwanzigern eroberten Frauen sich die Nacht.
SPIEGEL: Haben Sie einen Trend im
Nachtleben ausgemacht?
Chanel (dreißiger Jahre), aktuelle Kollektion
MODE
Der Duft der Frauen
N. MICHALKE
hr Vermögen verdanke sie einem alten JerseyPullover, behauptete Coco Chanel in einem ihrer
letzten Interviews. Damit sie den Sweater ihres Liebsten über einem Kleid tragen konnte, hatte die
20-Jährige das Kleidungsstück vorn der Länge nach
aufgeschnitten, die Kanten mit Borte eingefasst und
die Kreation mit Kragen und Schleife gekrönt. Der
spontane Einfall enthält schon die beiden entscheidenden Elemente des Chanel-Stils: Lässigkeit und Sinn
für verspieltes Dekor. Später kam bei der ehrgeizigen
Coco Entscheidendes dazu: ein guter Riecher für den
Duft der Frauen. Ihr Chanel No. 5 ist bis heute eines
der meistgekauften Parfums. Chanel machte das
„kleine Schwarze“ weltbekannt, und ihr Kostüm befreite die Frauen von den Zumutungen einschnürender Kleidung. Wie sich in der bedeutendsten Modeschöpferin des Jahrhunderts Phantasie mit unternehmerischem Kampfgeist, Disziplin mit
Sehnsucht vereinte, beschreibt die US-Autorin Janet Wallach in ihrer gründlichen
Chanel-Biografie („Coco Chanel – Eleganz und Erfolg ihres Lebens“, KabelVerlag). Bei aller Ehrfurcht unterdrückt Wallach ihr Erstaunen nicht, dass ausgerechnet die autarke Geschäftsfrau Chanel, die ihre Liebhaber unter Künstlern und
Aristokraten auswählte, sich zeitlebens nach einem männlichen Beschützer sehnte. Ein Widerspruch ist es nicht: Für Chanel waren Frauen edle Luxusgeschöpfe, die
es zu verwöhnen galt. In ihren Worten: „Es ist das Verdienst einer Frau, Frau zu sein.“
Bretthauer
Bretthauer: Die siebziger Jahre sind an-
gesagt. In vielen Clubs befinden sich
Wohnzimmermöbel, die die Besucher
bei ihren Eltern hassten. Es spricht für
einen Hang zur Gemütlichkeit, ist aber
zugleich ironisches Zitat bürgerlicher
Behütung.
SPIEGEL: Ihre Prognose für Berlin?
Bretthauer: Die Szene wird sich aus Mitte herausziehen, weil das Preisniveau
dort zu hoch ist. Off-Kultur wird sich
nach Friedrichshain oder Treptow orientieren und dort – wie in New York –
verfallene Hinterhöfe und Industrieanlagen erobern.
INTERNET
Schmatzendes Geräusch
A
merikanische Frauen haben ein
neues Hobby: Sie schauen sich
Schönheitsoperationen live im Internet
an. Inzwischen bieten diverse US-Websites den Service an: Etwa www.online
surgery.com, www.celebritydoctor.com
und www.adoctorinyourhouse.com senden live aus dem Operationssaal in die
Welt. Wurden die Wunder der plastischen Chirurgie vor wenigen Jahren
von den gelifteten Patientinnen noch
dezent verschwiegen, so entwickelt sich
derzeit ein neues Selbstbewusstsein der
Skalpellgeschönten. Churchill-Enkelin
Arabella, die im Februar äußere Ähnlichkeiten mit ihrem Großvater Winston
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Internet-Seite mit Live-Operation
per OP beseitigen will, wird als Star gefeiert. Die Groupies sind treu: „Immer
wenn ich den Computer anschalte“, erzählt die New Yorker Studentin Haley
Strom, „kriege ich gleich das schmatzende Geräusch abgesaugten Fetts, es
ist wunderbar widerlich.“
207
A. SIEBMANN
I
U. BEIßEL
Gesellschaft
Kelly-Familie auf Schloss Gymnich: Singende Altkleidersammlung
FA N S
Ein Hauch von Woodstock
Vor gut einem Jahr kaufte die Musikertruppe
„The Kelly Family“ das Wasserschloss von Gymnich bei Köln – nun nerven
Horden junger Mädchen die Anwohner.
208
d e r
s p i e g e l
ihren Fans genannt werden, werfen zu
dürfen.
Mädchen wie Saskia gibt es weit mehr, als
den Bewohnern von Erftstadt-Gymnich bei
Köln lieb ist. Seit die Musiker das Anwesen
im Sommer vergangenen Jahres kauften,
belagern Horden von Kelly-Fans die Einfahrt zum rund 800 Jahre alten Wasserschloss im Zentrum des 4000-Seelen-Ortes.
Mangels Toiletten und Duschen verdrücken sich manche in die Vorgärten der
Anwohner. Die Fans, fast ausschließlich
pubertierende Mädchen, würden sich sogar
auf dem Friedhof waschen, klagen Einheimische. Den Anblick von halbnackten Mädchen vor seinem
Haus, die sich im Auto umziehen und am Rinnstein Katzenwäsche abhalten, findet Anwohner Patrick Morgen manchmal
zwar ganz nett. Nur versteht er
nicht, „was die Kids hier eigentlich wollen“.
U. BEIßEL
D
as Schloss steht, kaum zu sehen,
hinter hohen Bäumen. Es ist lausig
kalt, doch sie versteht: Für ein Autogramm von Roy Black hätte die Frau aus
Ludwigshafen in ihren jungen Jahren ja
schließlich auch „alles hergegeben“. Darum wartet Gisela Jäntsch jetzt mit ihrer
Tochter Saskia, 15, geduldig auf der Straße
in Gymnich. Die beiden hoffen, dass bald
ein Mitglied der Kelly-Familie herauskommt. Einen ganzen Stapel von Fotos haben sie mitgebracht. Und nach einem
Autogramm sehnt sich Saskia doch nun
schon seit sechs Jahren.
Christina, Sanne und Tina aus Esbjerg
in Dänemark haben ihr Zelt auf einer Wiese in der Nähe aufgeschlagen. In dicken
Schlafsäcken trotzen sie den eisigen Temperaturen. Die Eltern der 15- und 16-Jährigen glauben, sie wären bei einer Freundin
in Köln. Stattdessen hängen sie von morgens bis in die Nacht vor dem Schlosseingang und warten darauf, auch nur mal
einen schnellen Blick auf einen der
„Kels“, wie Mitglieder der musizierenden
Großfamilie mit irischer Abstammung von
Clan-Chef Kelly, Fans
„Besser als dieser Rap-Krach“
4 3 / 1 9 9 9
Pickelige Kelly-Jüngerinnen mit Babyspeck werfen schmachtende Blicke durch
die hohen Eisengitter, die Musik der Gruppe wird auf mitgebrachten Gitarren gezupft – ein Hauch von Woodstock liegt in
der Luft. Gegen Abend braust die männliche Dorfjugend mit aufgemotzten Autos
vorbei, denn nirgendwo ist es einfacher,
ein Mädchen aufzugabeln.
Im Regen, ja selbst bei Minusgraden hat
Marianne Krome schon Fans im Schlafsack
vor dem Tor gesehen. Sie wohnt 20 Meter
von der Schlosseinfahrt entfernt und ist
mit ihren Nerven am Ende. Ihre drei Kin-
K. HUMMEL
Kelly-Fans in Gymnich, Saskia (mit Foto): Schmachtende Blicke durch hohe Eisengitter
der könnten nachts nicht in Ruhe schlafen. Sie selbst ist wegen Schlaf- und Konzentrationsstörungen in Behandlung.
Ehemann Volker sucht seit Wochen einen Käufer für die Doppelhaushälfte, die
nach der Geburt des dritten Kindes zu
klein geworden ist. Beim Anblick des
Girlie-Lagers vor der Tür winken aber alle
Interessenten dankend ab.
Dabei lag das Haus einst in der besten
Gegend des Ortes. Als die Kromes dort
einzogen, war gerade die englische Queen
zu Gast auf Schloss Gymnich.
Baumeister Johann Balthasar Neumann
soll das Barockschlösschen auf den Überresten einer ehemaligen Ritterburg nebenher errichtet haben, während er im nahen
Brühl am prachtvollen Schloss Augustusburg arbeitete.
Einer der letzten Eigentümer, Jörg Freiherr von Holzschuher. Das Anwesen mit
der roten Fassade war von 1971 bis 1990
an den Bund vermietet: 23 edel ausgestattete Suiten und ein 273 000 Quadratmeter großer Park, in dem die ältesten
Platanen Deutschlands stehen sollen. Mit
der Einweihung des Gästehauses auf dem
Petersberg, das näher an Bonn liegt, war
es mit der Herrlichkeit vorbei. Das
Schloss wechselte in schneller Folge die
Besitzer.
Bei einer Zwangsversteigerung griffen
schließlich die Kellys zu, die wegen ihres
Hangs zu altertümlichen Gewändern schon
mal als „singende Altkleidersammlung“
verspottet werden: Patriarch Daniel Jerome Kelly, der bei Konzerten bis zu neun
seiner Kinder auftreten lässt, erschien im
Sommer letzten Jahres im Brühler Amtsgericht und packte als Anzahlung gleich
1,3 Millionen Mark auf den Tisch, der Gesamtpreis: 13,1 Millionen Mark.
Seither ist das Schloss der Herren von
Gymnich, die zur Kreuzfahrerzeit an der
Seite König Barbarossas gefochten haben,
zum Wallfahrtsort der Kelly-Gemeinde geworden. „Weil sie bei Konzerten keine
Autogramme geben, müssen wir einfach
hierher kommen“, erklärt Tanja, 14. Das
Mädchen aus Aachen nutzte jeden Tag der
zweiwöchigen Herbstferien, um nach
Gymnich zu pilgern.
Immer wieder gerät die Anhängerschaft
am Tor in Bewegung. „Ich hab Paddy gesehen, er fährt auf dem Traktor“, ruft eines
der Mädchen, und schon rennen alle zu
dem Fleckchen am Zaun, von wo aus sich
das Innere des Parks erahnen lässt.
Andere klettern in die Bäume, mit Ferngläsern und Fotoapparaten bewaffnet – und
werden von den irischen Bodyguards verscheucht. Einige Ältere verfolgen die Kellys
per Auto, um Autogramme zu ergattern.
„Nach einem Fernsehauftritt in Saarbrücken habe ich mich direkt hinter ihren
Bus geklemmt“, erzählt Sandra, 19, aus
Kassel. An die Gefahr hat sie dabei nicht
gedacht, immer in der Hoffnung, „vielleicht muss einer aufs Klo, und sie halten
an einer Raststätte an“.
Andere warten nicht das Ende von Konzerten ab, sondern versuchen, vor ihren
Idolen in Gymnich zu sein. „Eine regelrechte Rallye“ erlebt Anwohner Krome an
solchen Tagen.
Wer nach dem Grund ihrer Anbetung
fragt, erntet bei den Fans fassungslose
Blicke: „Weil sie immer zusammenhalten“,
und „weil sie eine richtige Familie sind“,
sind die häufigsten Antworten. Viele der
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Teenys, die da mit verklärtem Blick die heile Welt beschwören, haben die Kellys zu ihrer Ersatzfamilie gemacht, weil die eigene
zerbrochen ist. „Meiner Mutter ist es völlig
egal, wo ich übernachte“, erzählt die 15jährige Maike aus Passau. „Hier gibt’s süße
Jungs“, sagt das Mädchen strahlend, vor allem aber hat sie schon mit „Kathy und Joey
gesprochen“, zweien aus der Kelly-Schar.
Dass Kathy ihr bei dieser Gelegenheit
ein „Verpiss dich!“ zugerufen habe, erzählt
sie erst später. Sie versteht die zweitälteste
Kelly-Tochter ja, die mit Sohn auf dem
Schloss wohnt: „Die Leute wollen doch
auch ihre Ruhe haben.“
„Kathy hat bestimmt nicht ,Verpiss dich‘
gesagt, die Kellys sind nett zu uns Fans“,
mischt sich Birte aus Köln ein. Die 17-Jährige weist sich als Kelly-Expertin aus: „Ich
habe alle ‚Bravo‘-Artikel gesammelt und
war auf fast allen Konzerten.“ Zum Beweis zieht sie drei dicke Fotoalben raus, andächtiges Schweigen macht sich breit.
Fotos einzelner Kellys werden zu zwei
Mark das Stück gehandelt. Fast alle Fans
tragen dicke Alben mit sich herum – aber
Birte hat sogar Autogramme von Paddy,
Maite, Joey und Kathy, die von den anderen nun wie Reliquien betrachtet werden.
Abseits von den Mädchentrauben macht
es sich Karl-Jürgen Ludewig aus Duisburg
in einem Campingstuhl bequem. Tochter
Angela, 16, hat sich den Ausflug zu den
Kellys mit einem Sieg im Cart-Rennen verdient. Auf dem Weg nach Gymnich hat sie
morgens bei Saturn in Köln auch noch ein
andernorts vergriffenes Video der Gruppe
erstanden, während sich der Papa mit Westernsongs eingedeckt hat. „Die Musik der
Kellys“, meint er, „ist nicht mein Fall. Aber
209
immer noch besser als dieser Rap-Krach.“
Außerdem sei er froh, dass sich seine Angela eine Gruppe ausgesucht hat, die nicht
durch Drogen und andere Exzesse auffällt.
Zudem sind Kelly-Fans treu – weit mehr,
als den Gymnichern lieb ist. Als der Ansturm begann, suchte Ordnungsamtsleiter
Adolf Bönsch Rat beim Jugendamt. „Das
geht vorüber“, beruhigten ihn Kollegen
und sollten sich damit gewaltig irren.
Dabei hätten die Erftstädter gewarnt
sein können. Aus Köln war die Mentalität
der Fans längst bekannt. Die Kellys, die in
den siebziger Jahren als Straßenmusiker
angefangen haben, bewohnten dort das
Hausboot „Loreley“ – und ihre Fangemeinde campierte jahrelang vor dem Boot
am Rheinufer.
Zum Ärger der Gymnicher Stadtväter
trägt bei, dass die Kellys, die einen Jahresumsatz von 40 Millionen Mark machen,
nur wenig Steuern in der finanziell arg gebeutelten Stadt lassen. Denn außer dem
Vater ist kein Mitglied des Clans in Erftstadt gemeldet, die Musikfirma Kel-Life
sitzt in Köln.
Die Verwaltung will deshalb jetzt den
Nachweis führen, dass viele Kellys in Wahrheit auf dem Schloss leben und somit dort
steuerpflichtig sind. „Auch Künstler müssen sich ordentlich anmelden“, verlangt
Bürgermeister Ernst-Dieter Bösche. Einfach wird das nicht. „Eine Familie, die ihr
ganzes Leben lang gewandert ist, lässt sich
nicht in unsere Normen pressen“, sagt sein
Kollege Bönsch.
125 000 Mark gibt die Stadt im Jahr für
die Kellys aus. Zwei Halbtagskräfte wurden
eingestellt, die dafür sorgen sollen, dass ab
22 Uhr Ruhe vor dem Schloss einkehrt. Für
die Fans wird zudem gerade das Gelände
einer ehemaligen Kläranlage mit Parkplätzen, Schlaf- und Waschcontainern hergerichtet. Das sei „rausgeschmissenes Geld“,
fürchtet Volker Krome, „von da aus können die Fans weder Schloss noch Einfahrt
sehen, die werden weiter unsere Straße belagern.“
Die Musikerfamilie lehnt es ab, sich um
die Fans zu kümmern.Auch den Wunsch der
Nachbarn, nur noch an bestimmten Tagen
Autogramme zu geben, damit wenigstens
in der übrigen Zeit Ruhe einkehrt, wollen die Musiker nicht erfüllen. „Das lockt
nur noch mehr Fans an“, erklärt Kelly-Anwalt Claus Peter Wagner. Den Ansturm
empfindet er als „gar nicht so problematisch“. Die Anwohner von Fußballstadien
müssten ja auch mit dem Trubel leben.
Dem Gymnicher Patrick Morgen graut
schon jetzt vor der Weihnachtszeit: Am
26. Dezember geben die Kellys ein Konzert
in Köln. Dann werden wieder Fans aus
ganz Europa anreisen. Viele, fürchtet Morgen, „bleiben bis Silvester“. Im vergangenen Jahr hatten die Kellys mit ihren
Fans lautstark ins neue Jahr gefeiert – für
die Anwohner alles andere als ein Vergnügen.
Barbara Schmid
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Gesellschaft
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Überall Bilder von perfektem Sex“
SPIEGEL: Mr. Ellis, Monsieur Houellebecq, Sie schildern beide in
Ihren Büchern Exzesse der Sexualität und der Gewalt – und gelten
jenseits aller literarischen Wertungen deshalb als Superstars des
Bösen. Leiden Sie unter dieser
Einschätzung?
Houellebecq: Ich gelte in Frankreich eher als Inkarnation des politisch Inkorrekten.
Ellis: Ich könnte vermutlich in einer Million Interviews erklären,
warum das völlig falsch ist, und es
würde trotzdem nichts ändern.
Gerade in Amerika nehmen viele
meine Bücher wortwörtlich, daher
habe ich diesen Ruf.
Houellebecq: Meine Bücher dagegen werden nicht wörtlich genug
genommen. Anstatt zu lesen, was
ich geschrieben habe, werden die
Romane in vorher festgelegte Kategorien eingeordnet. Zum Beispiel kritisiere ich das Böse – aber
die Leute halten das für einen
Scherz.
SPIEGEL: Heißt das, Sie verstehen
sich in Wahrheit als Moralisten?
Ellis: Wenn man über Missstände in
der Gesellschaft schreiben will, legt
man automatisch Wertmaßstäbe
an. Ich glaube, dass jeder kreative
Akt, sei es schreiben, malen oder
Filme machen, Moral beinhaltet.
Aber bei mir ist die Moral eher ein
Nebenprodukt der Satire.
Models auf dem Laufsteg: „Warum sehe ich nicht so aus?“
Houellebecq: Ich denke, man kann
uns beide mit einem gewissen
Das Gespräch führten die Redakteure Marianne Wellershoff und Rainer Traub.
Bret Easton Ellis,
A. SIEBMANN
Die Autoren Bret Easton Ellis und Michel Houellebecq über Moral, Gewalt und Schönheitsterror
Recht Moralisten nennen. Doch
die Werte, um die es geht, sind unterschiedlich. In Amerika ist Gewalt, und davon handelt Ihr Roman „American Psycho“ ja, viel
zentraler als in Europa. Auch die
Diktatur der Jugend und die enorme Bedeutung von Reichtum sind
amerikanische Themen. Also beschäftigen sich amerikanische Autoren vor allem mit den schönen,
jungen Reichen. Für Europäer ist
es dagegen angebracht, über mittelschöne, mittelalte, mittelreiche
Menschen zu schreiben.
Ellis: In den USA, eigentlich in der
gesamten westlichen Welt, werden
wir dauernd mit Bildern bombardiert, die uns an unsere Unzulänglichkeit erinnern. Das schädigt unsere Gesellschaft, denn alle,
die nicht reich, jung und schön
sind, und das sind die meisten,
werden zwangsläufig verunsichert.
Houellebecq: Ich werde auch umso
depressiver, je öfter ich diese glamourösen Models in den Zeitschriften sehe …
SPIEGEL: … weil das kapitalistische
System, wie es in „Ausweitung der
Kampfzone“ heißt, die Gesellschaft in sexuelle Sieger und Verlierer spaltet: Die Schönen haben
ein tolles Sexleben, die anderen
sind „auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt“. Reicht es,
die Bilder-Botschaften zu durchschauen, um sich ihnen zu entziehen?
Ellis: Nein, ich sitze genauso in dieser Falle. Ich erwische mich dabei,
dass ich Zeitschriften durchblätte-
Michel Houellebecq,
35, wurde durch den Roman
„American Psycho“ (1991) zum
umstrittensten Schriftsteller der
USA (SPIEGEL 45/1991). Die
Hauptfigur dieses – in Deutschland seit 1995 als jugendgefährdend indizierten – Skandalromans, der luxusverwöhnte Börsenmakler Patrick Bateman,
foltert und zerstückelt seine Opfer. Der neue, jetzt auf Deutsch
erschienene Ellis-Roman „Glamorama“ (Kiepenheuer&Witsch)
spielt in der Glitzerwelt der internationalen Modebranche;
Held Victor Ward wird Teil eines Mordkomplotts unter Models.
d e r
41, stieg mit seinem Romandebüt „Ausweitung der Kampfzone“ (SPIEGEL 9/1999) zum Star
der französischen Gegenwartsliteratur auf. Zum Bestseller in
Houellebecqs Heimatland wurde der jetzt auf Deutsch erschienene Roman „ElementarteilG. GERSTER
chen“ (DuMont Buchverlag).
Dessen brüderliche Helden – Söhne einer lieblosen, auf Selbstverwirklichungstrip entschwundenen Mutter – sind zwischen
Liebesunfähigkeit, Sex-Sucht und hoffnungsloser Einsamkeit
hin- und hergerissen; sie enden in Wahnsinn und Selbstmord.
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
211
re, die Models ansehe und denke: Warum Ellis: Um Spaß ging es mir jedenfalls nicht.
sehe ich nicht so aus? Dann schenke ich Meine These in „American Psycho“ ist,
mir einen Drink ein. Und was das Thema dass man sich aus einer gefühlsentleerten
Gewalt betrifft: Auf meiner Europatour für Welt, in der es allein um Fassaden und Ob„Glamorama“ hat mich jeder Journalist von jekte geht, nur durch einen ultimativen Akt
Italien bis Holland danach gefragt – in wie das Töten heraussprengen kann.
Amerika kein einziger.Wahrscheinlich ist in SPIEGEL: „American Psycho“ erschien 1991.
den USA Gewalt zu sehr Alltag, um über- Sehen Sie das immer noch so?
haupt noch wahrgenommen zu werden.
Ellis: Nein, für mich ist es sogar seltsam,
SPIEGEL: Ändert sich die Einstellung ge- mich das jetzt sagen zu hören, denn das
genüber der Darstellung von Gewalt nicht war die These eines sehr jungen Mannes.
spätestens seit den Amokläufen in High Inzwischen bin ich älter geworden und
Schools? Oliver Stone, der noch bei dem glaube, das ultimative Gefühl ist nicht
gewaltsatten Film „Natural Born Killers“ Schmerz, sondern Liebe. Je mehr man sich
Regie führte, hat bei der Verfilmung von der eigenen Sterblichkeit bewusst wird,
„American Psycho“ die Regie niederge- desto wichtiger wird Liebe. In „American
Psycho“ gibt Patrick Bateman an mit seilegt – wohl aus Angst um seinen Ruf.
Ellis: Ich finde es krank, zwischen Filmen nen grotesken Frauenmorden, während die
wie „Natural Born Killers“ oder Büchern Hauptfigur in „Glamorama“ angeekelt ist
wie „American Psycho“ und diesen Mas- von Folter und Mord. Ich selbst habe heusakern Parallelen zu ziehen. Das soll nur te mehr Angst vor Gewalt als früher.
die wahren Hintergründe der Taten verschleiern: soziale Probleme, Versagen der Eltern, Drogen
– und eine Gesellschaft, die
Menschen das Gefühl gibt, wertlos zu sein.
SPIEGEL: In Ihren Büchern, Monsieur Houellebecq, manifestiert
sich Gewalt in erster Linie im
Selbstmord.
Houellebecq: Ich beschäftige
mich mit einer anderen Klasse
von Personen, mit Menschen aus
der Mittelschicht. Um persönliche Grenzen zu überschreiten,
müssen sie nicht so weit gehen
wie der Börsenmakler Patrick Fitness in Florida: Idealisierung des Körpers
Bateman in „American Psycho“.
Bateman hat sich durch seinen sozialen SPIEGEL: Heißt das, wenn Sie „American
Status so weit über den Durchschnitts- Psycho“ heute schrieben, wären Sie von
amerikaner herausgehoben, dass er eine Ihren eigenen Schilderungen angeekelt?
noch herausragendere Position nur durch Ellis: Angeekelt war ich damals auch. Dieeinen extremen Akt wie Foltern und Töten se brutalen, fast surrealen Szenen zu
erreichen kann. Meine Helden leben nicht schreiben hat mich sehr aufgewühlt, denn
im Luxus, ihnen gelingt es noch nicht ein- in meiner Phantasie habe ich alle Morde
mal zu vögeln. Deshalb kommt es ihnen begangen.
gar nicht erst in den Sinn zu töten. Als in SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, haben Sie
„Ausweitung der Kampfzone“ der Compu- Ihre Romane auch mit dem Gefühl des
terkursleiter erkennt, dass es seinem Kom- Ekels geschrieben?
pagnon Tisserand nie gelingen wird, mit Houellebecq: Nein, ich habe vor allem
einer Frau zu schlafen, schlägt er ihm vor, Scham gefühlt. Ich sage Dinge, die zu sagen
ein Liebespaar zu erstechen. Der lehnt ab, sich nicht schickt, und auf diese Weise zerdenn er will Sex und nicht morden.
störe ich nach und nach mein Image. Aber
SPIEGEL: Zur Strafe stirbt Tisserand kurz gleichzeitig brauche ich das. Was mich an
darauf bei einem Autounfall.
„American Psycho“ so erschreckt hat –
Houellebecq: Ehrlich gesagt sollte das kei- und hier liegt die Verbindung zu meinen
ne Bestrafung sein. Ich wusste nur nicht, Büchern –, ist, dass die Hauptfigur nur im
was ich mit dieser Figur noch anfangen Akt der Gewalt etwas spürt und nicht beim
sollte.
Sex. Mich interessiert die Frage, warum so
Ellis: Gute Antwort, kann ich sehr gut ver- viele Menschen beim Sex nichts mehr empstehen.
finden. Mir scheint, dass Europa sich hier
Houellebecq: Im Übrigen glaube ich auch den Vereinigten Staaten annähert.
nicht, dass man „American Psycho“ für ir- Ellis: Ich hatte immer den Eindruck, dass
gendwelche Massaker verantwortlich ma- Europäer in Sachen Sex bei weitem nicht
chen kann, denn es wird doch geschildert, so neurotisch sind wie Amerikaner. Ich hatwelche Qualen Gewalt verursacht. Es gibt te mit Europäerinnen viel besseren Sex als
natürlich viele kulturelle Produkte, die Ge- mit Amerikanerinnen. Sex mit Italienerinwalt als Spaß, als Spiel darstellen.
nen ist wunderbar. In der amerikanischen
212
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
M. HORACEK / BILDERBERG
Gesellschaft
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
JAUCH UND SCHEIKOWSKI
Kultur wird so viel Wert auf physische
Schönheit gelegt, dass am Ende niemand
mehr zufrieden mit sich sein kann. Sex ist
wie eine Filmproduktion geworden: Man
ist der Regisseur und Hauptdarsteller und
geht auf eine Party oder in einen Club, auf
der man die Hauptdarstellerin aussucht.
Entspricht sie dem Schönheitsideal, das auf
dem „Vogue“-Cover abgebildet ist, entspricht sie meinem Marktwert? Wenn man
schon so losgeht, kann man keinen natürlichen, entspannten, unkomplizierten Sex
haben. Sex ist doch eigentlich eine Basisfunktion wie Essen und Trinken. Wenn
man aber aus Sex eine Theatervorstellung
macht, wird er zu einer leeren Erfahrung.
Houellebecq: Ich freue mich, dass Sie in Europa so gute sexuelle Erfahrungen gemacht
haben. Da ich mich schon länger als Sie mit
der Lage des Sex in Europa beschäftige,
muss ich leider sagen, die Situation hat sich
verschlechtert. Sex in Kuba ist viel besser.
Ellis: Okay, Frankreich fand ich auch sehr
enttäuschend. In Italien sind die Leute in
Bezug auf Sex sehr entspannt, in Irland
sind sie für Sex zu betrunken. Ich möchte
aber betonen, dass ich nicht der promiske TV-Thema Sexualität*: „Das Einzige, das in unserer Gesellschaft noch funktioniert“
Typ bin.
mir manchmal, wie selbstverständlich und
Houellebecq: Was Irland
natürlich es für sie ist, in irgendeine Bar zu
betrifft, bin ich anderer
gehen und innerhalb von fünf Minuten mit
Meinung. Für Sex sind es
jemandem Sex zu haben. Bei heterosegute Zeiten dort, weil der
xuellen Paaren dagegen geht man erst mit
Katholizismus auf dem
jemandem essen und pflegt stundenlang
Rückzug ist.
Konversation; die Partnerwahl wird fast
SPIEGEL: In Ihren Büchern,
theatralisch inszeniert.
Monsieur Houellebecq,
phantasieren die HauptfiSPIEGEL: Hat nicht gerade die individuelle
guren über Sex, haben
Jagd nach dem Glück aus Ihrer Sicht, Monaber kaum welchen. Übersieur Houellebecq, einen beziehungs- und
schätzen Ihre Helden mögliebesunfähigen Trümmerhaufen von „Elelicherweise einfach die Bementarteilchen“ hinterlassen?
deutung von Sex?
Houellebecq: Richtig, es ist eine totale Sackgasse. Was Mr. Ellis sagt, trifft zwar zu: Die
Houellebecq: Nein. Sex ist
Schwulen haben leichter Sex als die Hedie beste Möglichkeit, eiteros. Aber gleichzeitig sind die Kriterien
nem anderen Menschen Filmthema Gewalt*: „Töten als ultimativer Akt“
von Jugend und Schönheit in dieser Szene
nahe zu kommen. Und ich
denke, Sex ist das Einzige, das in unserer von anderen begehrt wird. Das bedeutet noch viel härter.
nicht, dass er selbst diese Frau liebt.
Ellis: Trotzdem glaube ich, dass die HalGesellschaft noch halbwegs funktioniert.
SPIEGEL: „Funktioniert noch halbwegs“ SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, Ihre Figu- tung zum Sex unter Schwulen ehrlicher
heißt in Ihrem neuen Buch „Elementar- ren leiden furchtbar, weil Sex und Liebe und offener ist. Ich glaube nicht, dass für
teilchen“, dass die beiden Liebesgeschich- meist voneinander getrennt sind.
Frauen die körperliche Erscheinung von
ten in Katastrophen enden: Psychiatrie, Houellebecq: Das sehen Sie ganz falsch. Die Männern von überragender Bedeutung ist.
Krebs, Selbstmord.
Liebesgeschichte zwischen Bruno und Aber für Männer zählt in unserer GesellHouellebecq: Stimmt, das ist sehr düster. In Christiane in „Elementarteilchen“ beginnt schaft bei der Partnersuche leider vor al„Ausweitung der Kampfzone“ gibt es kei- auf einer sexuellen Ebene, und sie verlie- lem, wie eine Frau aussieht.
nen einzigen Lichtblick: Keine der Perso- ben sich beim Partnertausch in einer voll- Houellebecq: Ja, die Männer haben schrecknen hat jemals Sex. In „Elementarteilchen“ kommen sexualisierten Umgebung: in ei- lich simple Kriterien. Aber mir scheint, dass
sich ihnen die europäischen Frauen in diemachen die Hauptpersonen einige positive nem Swinger-Club.
Liebeserfahrungen, auch wenn es kein Ellis: Das Hauptproblem ist doch, dass wir ser Beziehung derzeit annähern.
Happy End gibt. Was für mich zählt, ist, in unserem ganzen Wesen sexuelle Krea- Ellis: In Amerika auch.
dass sie dem glücklichen Ende ziemlich turen sind. Wir hätten bestimmt alle mehr Houellebecq: Meiner Meinung nach kommt
nahe waren, es hat wirklich nicht viel Sex und weniger Neurosen, wenn nicht Ge- diese ganze Tendenz ebenso aus Amerika
sellschaft und Religion Mauern errichtet wie die Zeitschrift „Men’s Health“, die seit
gefehlt.
Ellis: In einer Gesellschaft, in der man über- und festgelegt hätten, was akzeptabel ist sechs Monaten großen Erfolg in Frankreich
all Bilder von unerreichbarem, perfektem und was nicht. Schwule Freunde erzählen hat. Das ist eine neue Entwicklung, denn es
ist nach fünf gescheiterten publizistischen
Sex sieht, wird Sexualität entspiritualisiert.
Sex wird zum Statussymbol. Daher kommt * Oben: Kai Scheve und Celia Sarto in dem ZDF-Film Projekten der erste Erfolg dieser Art.
auch der Begriff „trophy wife“, der meint, „No Sex“; unten: Forest Whitaker (l.) in dem Kinofilm Ellis: Ich kenne viele Frauen, die „Men’s
dass ein Mann eine Frau geheiratet hat, die „Ghost Dog“ (USA 1999).
Health“ wegen der schönen Körper kaud e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
215
ZDF
Gesellschaft
Gesellschaft
fen. So können sie sich Pornografie sparen.
Die Idealisierung des männlichen Körpers
hat sich in den letzten zehn Jahren explosionsartig ausgebreitet. Ich sehe mehr Werbeplakate voll attraktiver Männer mit
nacktem Oberkörper als Werbeplakate mit
Frauen. Ich kann keinen Fortschritt darin
erkennen, dass inzwischen der männliche
Körper genauso objektiviert wird wie der
weibliche. Und im Gespräch mit Freundinnen – durchaus gebildete Frauen – stelle ich fest, dass ihre Erwartungen an Männer sich in dieser Richtung fundamental
wandeln. Ironischerweise wird das neue
Männerideal in der Werbung großenteils
von homosexuellen Designern geprägt.
SPIEGEL: Aber bei Ihnen beiden sind doch
ganz traditionell eher die Frauen Objekte
und Opfer.
Ellis: Die meinen werden kurzerhand enthauptet (lacht). Das war ein Scherz.
Houellebecq: Heute ist es ja noch so, dass älter werdende Männer sich jüngere Frauen
nehmen, und die alternden Frauen sind die
Opfer. Aber ich glaube, das wird sich ändern, die Frauen werden aggressiver.
SPIEGEL: Inwiefern haben negative autobiografische Erfahrungen Ihr Schreiben beeinflusst? Sie, Monsieur Houellebecq, haben davon gesprochen, dass Ihre Mutter
Sie als Kind im Stich gelassen und sich den
Hippies angeschlossen habe.
Houellebecq: Zu meiner Mutter hatte ich
praktisch keine Beziehung, ich habe das
alles mehr oder weniger vergessen. Ich
möchte es mir auch wirklich nicht bewusst
machen.
SPIEGEL: Eine der schrecklichsten Szenen in
Ihrem Roman „Elementarteilchen“ ist die,
wo Ihre beiden Helden, die Brüder Bruno
und Michel, sich am Sterbebett ihrer Mutter treffen. Obszöne Flüche und Verwünschungen begleiten deren Todeskampf.
Houellebecq: Aber das ist doch richtig lustig! Das habe ich geschrieben, um die Leute zum Lachen zu bringen.
SPIEGEL: Das dürfte Ihnen nur bei wenigen
Lesern gelingen. Bei Ihnen, Mr. Ellis,
scheint eher Ihr Vater ein emotionales Vakuum hinterlassen zu haben. Wie stark hat
das Ihre Romane beeinflusst?
Ellis: Mein Vater starb 1992. Obwohl ich nie
im unmittelbar autobiografischen Sinn
über ihn geschrieben habe, glaube ich, dass
er in vielfacher Hinsicht meine Wahrnehmung von männlichem Verhalten geprägt
hat. Was Patrick Bateman verkörpert, hat
sicher auch mit meinem Vater zu tun. Er
gehörte ursprünglich der Mittelklasse an
und veränderte sich in schockierender Weise, nachdem er einen Haufen Geld gemacht
hatte. Er benahm sich, als gäbe ihm der
neue Reichtum die Lizenz, sich alles herauszunehmen: Leute zu kontrollieren und
zu schikanieren, exzessiv zu trinken, gewalttätig zu werden und so weiter. Ich denke, alle meine Romane haben mit der Freiheit durch Geld zu tun – und damit, wie die
Leute diese Freiheit missbrauchen. Wer ge216
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
nug Geld hat, kann alle Schranken niederreißen, er kann sich Folter, Vergewaltigung,
Mord leisten und damit davonkommen.
Houellebecq: In unseren Gesellschaften wirken, so glaube ich, zu viele zentrifugale
und zu wenig zentripetale Kräfte.
SPIEGEL: Was soll das heißen?
Houellebecq: In Frankreich wollen die Leute, so bald sie es sich leisten können, lieber
in Entwicklungsländern leben, weil sie zu
Hause nicht glücklich sind. Sie haben keinen Sex, sie dürfen an immer weniger Plätzen rauchen, ihr Leben ermüdet und langweilt sie. Ich kenne niemanden, der in der
westlichen Welt lebt, ohne dazu gezwungen zu sein.
SPIEGEL: Eine bizarre Wahrnehmung. Wo
würden Sie lieber leben?
Houellebecq: Ich liebe Thailand und fliege
oft dorthin. Zurzeit lebe ich in Irland, weil
ich Länder mit schönen Landschaften mag.
Ellis: Ich glaube, Sie leben in Irland, weil
es für Künstler ein Steuerparadies ist.
Was Sex betrifft, ist Irland kaum ratsam.
Vielleicht ist das irische Bier eine Reise
wert.
SPIEGEL: In Ihrem neuen Roman, Monsieur
Houellebecq, ist die Rede davon, dass wir
dem Selbstmord der westlichen Zivilisation beiwohnen. Hat diese apokalyptische
Vorstellung mit der bevorstehenden Zeitenwende zu tun?
Houellebecq: Ich glaube nicht, dass wir dem
Kalender zu viel Bedeutung zumessen sollten. Aber im übrigen haben Sie Recht: Ja,
ich glaube, alles geht zu Ende.
SPIEGEL: Am Ende Ihres Buches entwerfen
Sie die Vision einer geklonten Menschheit,
die im kommenden Jahrtausend die Teilung der Gattung in zwei Geschlechter und
alle Probleme und Schmerzen des Individuums hinter sich lässt.
Houellebecq: Das ist eine Hypothese, ein
Stück Science-Fiction.
SPIEGEL: Erscheint Ihnen deren Realisierung wünschenswert?
Houellebecq: Das ist deshalb eine gute Idee,
weil ich nicht glaube, dass die Menschheit
jemals den Tod akzeptieren wird. Übrigens
träumte schon die Antike den Traum von
Hermaphroditen, in denen Männer und
Frauen eins werden.
SPIEGEL: Mr. Ellis, während konservative
Kritiker sich über Ihre Romane entrüsten,
haben linke Kritiker Sie als großartigen
Gesellschaftskritiker gerühmt. Ihr Landsmann Norman Mailer hat über den smarten Börsianer Patrick Bateman aus „American Psycho“ gesagt, niemals sei das Gesicht einer herrschenden Klasse in der Literatur widerwärtiger gezeichnet worden.
Verstehen Sie sich als politischer Autor?
Ellis: Ich reagiere mit meinen Büchern
auf gesellschaftliche Entwicklungen, die
mir nicht gefallen, aber ich würde mich
eher als apolitisch bezeichnen. Patrick
Bateman verkörpert ungefähr alles, was
ich am Amerika der Jahre, in denen ich
das Buch schrieb, grässlich fand. Dasselbe gilt für Victor Ward, den Helden
meines aktuellen Buchs „Glamorama“.
Man schreibt einen Roman aus sehr persönlichen Gründen.
SPIEGEL: Und nicht, um die Welt zu ändern?
Ellis: Ich glaube nicht, dass das möglich ist.
Ich schreibe den Roman, den ich lesen will.
Das Schreiben von Romanen ist kreativer
Selbstausdruck – ein Hobby und kein Job,
nichts für eine Karriere. Natürlich bekommt man Reaktionen auf ein Buch, und
zwar verwirrend vielfältige, aber das ist
nicht der Grund, warum man ein Buch
schreibt. Das Schöne am Lesen ist doch,
dass es eine urdemokratische Erfahrung
ist: Jeder Leser hat Recht mit seiner unmittelbaren emotionalen Reaktion auf einen Roman. Ich kann noch so viele erklärende Interviews geben – meine Bücher
führen ein Eigenleben.
SPIEGEL: Monsieur Houellebecq, warum
schreiben Sie?
Houellebecq: Meinen ersten Roman habe
ich geschrieben, weil ich in genau der Art
von Informationswelt lebte, die da vorgeführt wird, und weil ich diese Wirklichkeit
in keinem anderen Buch wiedergefunden
hatte. Aber da mein erster Roman mich in
einiger Hinsicht nicht zufrieden stellte,
schrieb ich den zweiten. Als Schriftsteller
will ich die Welt widerspiegeln.
SPIEGEL: Schätzen Sie sich, wie Mr. Ellis, als
apolitisch ein?
Houellebecq: Die politischen Ideen sind Teil
der Welt.
Ellis: Sie drücken es kürzer und treffender
aus als ich.
SPIEGEL: Sie scheinen sich in vielem einig
zu sein. Und doch haben Sie, Monsieur
Houellebecq, kürzlich in einem Gespräch
gesagt, Sie als Franzose stünden auf einer
höheren Stufe als die Amerikaner.
Houellebecq: Was ich meinte, war, dass das
Niveau eines Durchschnittsamerikaners
niedriger ist als das eines Durchschnittseuropäers.
Ellis: Das sehe ich genauso.
Houellebecq: Theoretisch müssten die amerikanischen Schriftsteller besser sein als
die europäischen.
SPIEGEL: Warum?
Houellebecq: Weil das Land schlechter ist.
Ellis: Ich stimme dem zu.
SPIEGEL: Und praktisch?
Houellebecq: Praktisch ist das Durchschnittsniveau der amerikanischen Literatur höher als das der europäischen.
Ellis: Auch das ist völlig richtig.
Houellebecq: Ich denke, diese Situation hat
damit zu tun, dass der Roman vor allem
das Unglück der Welt widerspiegelt.
SPIEGEL: Mr. Ellis, Monsieur Houellebecq,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
217
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
G. HUBER / LAIF
Panorama
Mallorquinische Künstlersiedlung, Makler Kühn
Wirbel um Baustopp
P
roteste, Verwirrung und Verunsicherung bei Investoren auf
Mallorca und den anderen Balearen-Inseln haben die Notmaßnahmen der neuen Regierung zum Stopp des Baubooms
ausgelöst. Per Eilgesetz zur Raumordnungsplanung hatte die
aus Linksparteien, Grünen und Nationalisten gebildete Koalition Anfang Oktober eine restriktivere Baulandpolitik beschlossen, um die Betonflut einzudämmen – über 70 Projekte
von Urbanisationen sowie der Bau eines Poloplatzes auf Mallorca und eines zweiten Golfareals auf Ibiza wurden bereits
gestoppt.
Nach den neuen Regelungen gilt künftig ein Neubauverbot in
einem 500 Meter breiten Küstenstreifen, außerdem wird bei
Bauerwartungsland die Mindestgröße von Grundstücken auf
14 000 Quadratmeter, bei Fincas sogar auf 21 000 heraufgesetzt.
Bis zur Verabschiedung neuer Flächennutzungsrichtlinien durch
die jeweiligen Inselräte in spätestens fünf Jahren sind Grundstücksteilungen mit dem Ziel der Bebauung im landwirt-
G R O S S B R I TA N N I E N
Atom-Gefahr im Stadion
B
schaftlichen Bereich verboten. Besonders umstritten ist, dass die Neuregelung für Fincas rückwirkend ab
Juli 1997 angewandt werden soll.
Benachteiligt fühlen sich Besitzer
kleinerer Grundstücke, die keine
Baugenehmigung mehr erhalten
und deren Boden nun an Wert verliert. „Es hilft alles nichts:
Wollen wir unsere Zukunft sichern, müssen wir umdenken“,
verteidigt Ibizas Umweltbeauftragter Juan Buades den Regierungsbeschluss.
Zu den Folgen gehören auch neue Neiddiskussionen und Animositäten gegen ausländische Investoren. „Wer kann denn
große oder ungeteilte Fincas überhaupt kaufen?“, fragte der
Präsident der Landbesitzer-Vereinigung, Fernando Fortuny, polemisch und gab gleich die Antwort: „Die Deutschen.“ Derzeit
gibt es auf den Balearen etwa 70 000 deutsche Immobilienbesitzer. Der erfolgreichste Makler Mallorcas, Matthias Kühn,
glaubt, „dass eine Atempause den Inseln gut tun wird, um eine
unkontrollierte Zersiedelung zu vermeiden“. Kühn rechnet
wegen des knapper werdenden Baulandes mit einem „Preisschub“ für die vorhandenen Objekte.
M. GUMM / WHITE STAR
BALEAREN
gespielt worden waren. Arbeiter hantieren dort mit hochangereichertem radioaktivem Uran – der Stoff, durch den
beim Atomunfall im japanischen
Tokaimura vorigen Monat zahlreiche
Menschen zum Teil lebensgefährlich
verstrahlt wurden. Das in Derby ver-
d e r
PA / DPA
ritische Strahlenschutzexperten haben erhebliche Sicherheitsmängel in
einer Fabrik in Derby aufgedeckt, die
im Auftrag des Verteidigungsministeriums Kernbrennstoffe
für den Antrieb von U-Booten
herstellt. In der vor der Öffentlichkeit bislang geheim gehaltenen Produktion, die vom Nobelunternehmen Rolls-Royce in
der mittelenglischen Stadt betrieben wird, besteht Gefahr
von Strahlenunfällen durch unkontrollierte Kettenreaktionen,
hatte zunächst die „Sunday
Times“ berichtet, nachdem ihr
firmeneigene Dokumente zu- Firmengelände in Derby
wendete Uran ist nach Expertenmeinung sogar noch um ein Vielfaches
höher angereichert als das in dem japanischen Werk. Die örtlichen Behörden
fordern „schon seit Jahren Notfall- und
Evakuierungspläne von den Betreibern
– bislang vergebens“, räumt Teresa
Knight von der Stadtverwaltung jetzt ein. In der unmittelbaren Umgebung der Fabrik
liegen Wohngebiete und das
neue Stadion des FußballErstligisten Derby County.
Eine Schließung der Anlage
lehnt der frisch berufene Verteidigungsminister Geoff
Hoon strikt ab: Die zuständige
Kontroll- und Aufsichtsbehörde für Nukleare Einrichtungen
habe dem Werk „volle Betriebssicherheit“ bescheinigt.
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
221
Panorama
TÜRKEI
Islamistisches
Strafgericht?
ach dem Mordanschlag auf den prominenten Kemalisten Ahmet Taner Ki≠lali, 60, sehen sich
Armee und Regierung in ihrem Kampf gegen die
islamistische Bedrohung bestätigt. Der ehemalige Kulturminister und Freund des Ministerpräsidenten
Bülent Ecevit war am vorigen Donnerstag in Ankara
nach der Explosion einer Bombe an seinem Auto
schwer verletzt worden und auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Obwohl bis Freitagabend kein
Bekennerschreiben vorlag, gehen die Behörden von
einem Anschlag der radikalen „Islamischen Großen
Ost-Stürmer Front“ (IBDA-C) aus. Die hat 1999 zum
„Jahr der Befreiung“ erklärt.
Ki≠lali, Kolumnist der laizistischen Tageszeitung Ki≠lali-Auto nach Anschlag
„Cumhuriyet“, hatte am Tag vor seiner Ermordung
in einem Beitrag einen fundamentalistischen Ordensführer kriti- Täterschaft. Schon seit Jahren, heißt
siert, der das schwere Erdbeben vom vergangenen August als es beispielsweise in den „Turkish Dai„Strafgericht Gottes“ über Armee- und Regierungsspitze be- ly News“, würden nach Attentaten
zeichnet hatte. Es könne kein Zufall sein, erklärte auch Staats- und Mordanschlägen auf säkulare
präsident Süleyman Demirel, dass der Ex-Politiker nun unmit- Politiker und Journalisten reflexartig
telbar darauf Ziel eines Anschlags war. Oppositionelle Kritiker islamistische Splittergruppen beschuldes berüchtigten Netzwerks aus Politik, organisiertem Verbre- digt; keiner der Täter sei bislang jechen und türkischen Geheimdiensten hingegen bezweifeln die doch zweifelsfrei ermittelt worden. Ki≠lali
E
in neues Aufputschmittel hat aus
Südostasien Europa erreicht: In England, Irland, Frankreich und in der
Schweiz wurden Pillen der Droge
„Yaba“ sichergestellt, die ihren Ursprung in chemischen Labors der Nationalsozialisten hat. Zürcher Polizisten
berichten von Erfahrungen mit YabaKonsumenten, die im Rausch schwere
Schübe von Verfolgungswahn erlebten.
Yaba gehört zu den Methamphetaminen, wie das unter Junkies als Rauchdroge beliebte „Shabu“. Es ist billig –
ein Gramm reicht für 50 Pillen und kostet 400 Franken –, und seine Wirkung
hält lange vor. Entwickelt wurde das
Rauschmittel, als deutsche Chemiker
nach einer Substanz suchten, die Soldaten lange wach hält. Sie wird deshalb
auch „Hitlers Droge“ genannt. Neben
Halluzinationen und Verfolgungswahn
beobachteten Experten bei Yaba und
Shabu schwere Lungen- und Nierenschäden als Nebenwirkungen. Die
Schweiz ist das erste westeuropäische
Land, das jetzt große Mengen von Yaba
beschlagnahmte.
222
Adel verpflichtet
A
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
SEEGER-PRESS
Hitlers Droge
ist der Festakt durch einen blaublütigen
Skandal verhagelt. Monarch Albert II.,
65, hat eine uneheliche Tochter. Es soll
sich um die in London lebende Künstlerin Delphine Boel, 31, handeln, die
lles war vorbereitet, um Brüssel mal
Pappmaschee-Skulpturen fertigt.
wieder mit Glanz und Gloria in die
Ein 18-jähriger belgischer Student, MaSchlagzeilen zu bringen: Am 4. Dezemrio Danneels, hatte die Personalie in eiber heiratet Thronfolger Prinz Philippe,
ner 330-seitigen Biografie über Königin
39, seine Verlobte, die 26-jährige AristoPaola, 62, ausgeplaudert – wenn auch
kratin Mathilde d’Udekem d’Acoz. Jetzt
ohne Nennung des Nachnamens. Britische Reporter identifizierten sie dann.
Albert, der 1993 den Thron bestieg, hatte
früher den Ruf eines Lebemanns. Allerdings, Adel verpflichtet, hat er sich offenbar standesgemäß umgetan: Die Mutter seiner unehelichen Tochter soll eine
Frau des belgischen Adels sein. „Das
letzte Symbol eines geeinten Belgien“,
so die Zeitung „La
Meuse“, „versinkt
in Betttüchern.“
Dem Hofe nahe
stehende Beobachter wollen nicht
ausschließen, dass
Albert nun früher
abdankt als geplant – sobald der
Thronfolger verheiratet ist.
Delphine Boel; Königin Paola, König Albert II.
BELGIEN
T. MAITLAND
R AU S C H G I F T
DPA
N
Ausland
FRANKREICH
Demokratischer
Separatismus
Mahir Kaynak, ehemaliger Abteilungsleiter im Geheimdienst MIT, unterstellt
sogar ehemaligen Kollegen eine Beteiligung: „Es sieht sehr danach aus, als hätten die Geheimdienste diesen Anschlag fabriziert, nur um die Islamisten zu beschuldigen. Nun können die Behörden wieder
offen gegen den Fundamentalismus vorgehen.“
aris verfolgt mit wachsender Sorge
neue Aktionsformen bei den Autonomiebestrebungen ethnischer Minderheiten. Im Gegensatz zu korsischen,
bretonischen oder baskischen Unabhängigkeitskämpfern, die sich mit ihrem
Bombenterror selbst isoliert haben,
agieren die neuen Gegner des Pariser
Zentralstaats streng legal, überparteilich
– und höchst erfolgreich. Den Anfang
machten tausende von Bretonen, die im
März in Nantes für die Erweiterung der
Bretagne bis zur Loire demonstrierten.
Landesweit Aufsehen erregte dann der
verblüffende Aufmarsch von rund 10 000
Basken in Bayonne – an der Spitze 150
Demonstration in Bayonne
Kerngebiete regionaler
Minderheiten in Frankreich
DEUTSCHLAND
BELGIEN
LUXEMBURG
Bretonen
Paris
Elsässer
F R A N K R E I C H
Atlantischer
Ozean
I
n einem Alarmruf an die Europäische
Union warnt Ungarn vor einer gigantischen Umweltkatastrophe und bittet
um dringende Hilfe. An den sieben serbischen Donaubrücken, die im Kosovokrieg von der Nato zerstört worden waren, könnten im heraufziehenden Winter gewaltige Eisdämme das Flusswasser
stauen. Hunderttausende Menschen in
Serbien, Kroatien und Ungarn seien
von Überschwemmungen bedroht,
fürchten Umweltpolitiker in Budapest.
Hinter diesen „Eiskorken“ könnte der
Strom bis zu 100 Kilometer flussaufwärts die Deiche durchbrechen. Ursprünglich hatte die Regierung darauf
gebaut, dass die Donau noch vor dem
Winter von den Trümmern befreit würde. Doch angesichts der Wiederaufbaukosten von rund 30 Millionen Mark pro
Querung hat Belgrad damit nicht einmal begonnen und erwartet, dass die
Nato-Staaten für den Schaden aufkommen. Ungarn möchte nun mit einem
EU-Vorschuss die beiden einzigen geeigneten Donau-Schwimmkräne anmieten, um die Betonteile zu bergen.
SCHWEIZ
ITALIEN
Savoyer
D O NAU
Basken
Gefahr durch Eiskorken
Katalanen
Korsika
SPANIEN
200 km
Korsen
ANDORRA
Mittelmeer
J O R DA N I E N
Lektion für
Journalisten
D
er Frieden mit dem Nachbarn
Israel wird in Amman von Berufsverbänden untergraben. Drei jordanische Journalisten sollen aus der
Journalistenvereinigung ihres Landes
ausgeschlossen werden, nur weil sie
im September auf Einladung der Universität Haifa nach Israel gereist waren. Der Ausschluss käme einem Berufsverbot gleich, da in Jordanien nur
Mitglieder der Standesorganisation als
Journalisten arbeiten dürfen. Wie alle
13 jordanischen Berufsverbände richtet
d e r
s p i e g e l
AFP / DPA
AP
P
4 3 / 1 9 9 9
Politiker aller Couleur, Gewerkschafter, Kulturschaffende, Bauern –, die
ein neues „département Pays
basque“ forderten. Derzeit ist das
französische Baskenland Teil des
Departements Pyrénées-Atlantiques
(Hauptstadt: Pau) – eine Teilung wäre
ein Präzedenzfall. Dass Unbekannte
pünktlich zur Demo den TV-Umsetzer La Rhune oberhalb von Biarritz
in Brand setzten, werteten die Demonstranten als Diskriminierungsversuch durch französische oder spanische Geheimdienste. Die spanischen
Eta-Terroristen verzichteten nämlich
bislang auf Gewaltakte in Frankreich,
um ihre dortige Operationsbasis nicht
zu gefährden.
sich auch die Journalistenvereinigung
gegen eine Normalisierung des Verhältnisses mit Israel; Disziplinarausschüsse wachen über die verbotenen
Kontakte ihrer Mitglieder zu Israelis.
„Unsere Regierung hat Frieden mit Israel gemacht, aber nicht das Volk – und
wir stehen für das Volk“, so ein Vorstandsmitglied. Der Vorsitzende Saif
Scharif indes möchte die Strafe noch
abmildern und den dreien lediglich
„eine Lektion“ erteilen. Das israelische
Außenministerium reagierte „besorgt“
auf die jüngste Entwicklung, „die im
krassen Gegensatz zum Geist des Friedens steht“. Diese Woche jährt sich der
von Jizchak Rabin und König Hussein
unterzeichnete israelisch-jordanische
Friedensvertrag zum fünften Mal.
223
Ausland
AFP / DPA
Beverly und Andreas Wüthrich: Aus Angst vor den Behörden Amerika verlassen
JUSTIZ
Kinder als Opfer des Rechts
Wegen „schweren Inzests“ muss sich der elfjährige Raoul Wüthrich vor einem
US-Gericht verantworten. Auch neue Vorwürfe gegen die Eltern
können die gnadenlose Härte der amerikanischen Jugendjustiz nicht rechtfertigen.
D
as „Colorado Christian Home“ gilt
nicht unbedingt als idealer Aufenthaltsort für Teenager. Die Anstalt in
2950 Tennyson Street in einem Vorort der
Rocky-Mountains-Metropole Denver bezeichnet sich selber als „Zentrum für Kinder und Familien, die Opfer von Missbrauch oder Vernachlässigung sind oder zu
werden drohen“. Auf gut Deutsch: ein
Heim für Schwererziehbare.
Dort soll Raoul Wüthrich einziehen –
noch ehe das Strafverfahren wegen
„schweren Inzests“ beginnt, das gegen den
elfjährigen Jungen für den 8. November
anberaumt worden ist.
Nach der Gerichtsanhörung am Dienstag voriger Woche durfte der Knabe wenigstens seinen bisherigen Aufenthaltsort
224
verlassen – ein Jugendgefängnis mit dem
idyllischen Namen Mount View. Immerhin:
Die Aussicht auf die nahe gelegenen Gipfel der Rocky Mountains wird Raoul nun
nicht mehr durch meterhohe Doppelzäune,
gekrönt von endlosen Rollen messerscharfen Stacheldrahts, verstellt.
Gleichwohl ist es für den Jungen mit
der amerikanischen wie Schweizer Staatsbürgerschaft nur ein schwacher Trost, dass
er die Wachtürme, die martialisch ausgerüsteten Posten und all die jugendlichen Übeltäter hinter sich lassen kann.
Denn Raoul kehrte nicht heim in die
Arme seiner Eltern. Beamte fuhren ihn
zur nächsten Station seiner Odyssee – zu
einer ihm völlig unbekannten Pflegefamilie. Bis zum Wochenende wusste nicht eind e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
mal die Schweizer Botschaft, wo genau ihr
Schutzbefohlener nun festgehalten wurde. „Das wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis“, klagte deren Sprecher Manuel
Sager.
Derweil schlägt der Fall immer höhere
Wellen. Weniger in den USA. Dort verwundert vor allem die Aufregung darüber,
dass ein Elfjähriger am 30. August mitten in
der Nacht von der Polizei aus dem Schlaf
gerissen und mit Handschellen und Fußeisen gefesselt aus dem Elternhaus ins Gefängnis geschleppt wurde.
Eine Nachbarin der Wüthrichs hatte die
Behörden informiert. Sie will aus 25 Metern Entfernung beobachtet haben, wie
Raoul am 25. Mai im Garten seines Zuhauses der fünfjährigen Halbschwester
K. HIGLEY
DPA
für seine traumatischen Er- die Mutter, hätte durch jahrelangen Misslebnisse weit dringender brauch keinen Schaden genommen.
therapeutischer BehandZudem, so die „Denver Post“, soll Belung bedürfen als wegen verly wegen Verletzung ihrer Aufsichtsseines kindlichen Forscher- pflicht belangt worden sein – angeschwärzt
drangs.
von derselben Nachbarin. Aber selbst
Ein solcher Umgang mit wenn sich diese Enthüllung bestätigt, rechtDelinquenten im Kindes- fertigt das nicht den überaus harten Zugriff
alter ist für Amerikaner der Behörden auf ihr Kind.
längst alltägliche Realität.
„Zero tolerance“ – keine Nachsicht auch
Nicht aber für Raouls El- mit jugendlichen Rechtsverletzern nennen
tern und deren Landsleute Politiker die harte Welle, auf der sie im
in der Alpenrepublik. Weit straflüsternen Mutterland der Menschenüber 25 000 Anrufe, Faxe rechte gern und erfolgreich reiten. Experund E-Mails waren bis ten wie Martin Guggenheim von der New
Ende vergangener Woche York University beklagen: „Wir haben nur
im Berner Außenministe- noch das unmittelbare Ziel der Vergeltung
rium eingegangen, um ge- und Bestrafung im Auge.“
gen die „Skandal-Justiz“
Fast drei Millionen Kinder und Jugendzu protestieren.
liche wurden 1997 in den USA festgenomEin Spendenkonto soll men. Rund 200 000 von ihnen landen mittder bedrängten Familie die lerweile vor normalen Strafgerichten. Mehr
teuren Anwaltskosten tra- als 100 000 Teenager befinden sich derzeit
gen helfen. Nach Ausgaben in staatlichem Gewahrsam, bis zu 15 000
von bislang schon 70 000 von ihnen gemeinsam mit erwachsenen
Mark gehe ihm das Geld Strafgefangenen. Sogar in den berüchtigten
aus, barmte der Vater, des- chain gangs, den Arbeitstrupps in Ketten,
sen Stiefsohn Opfer des finden sich Jugendliche.
neuesten Justiztrends in
Haarsträubende Urteile sind an der Taden USA geworden ist.
gesordnung. Erst im August wurde die
Andreas Wüthrich führte 15-jährige La’Tasha Armstead zu lebensnicht nur seine Firma „Gri- langer Haft verurteilt. Sie hatte, 13-jähscha Engineering & Con- rig, einem vier Jahre älteren Freund bei
struction Inc.“ von zu Hau- der Ermordung einer Krankenschwester
se. Auch die Website „Ulti- assistiert.
mate Fantasies“ wurde aus
Vor zehn Jahren noch hätten Alter und
Wüthrich-Sohn Raoul: In Handschellen und Fußeisen
28 509 Pine Drive in Ever- Vorgeschichte ausgereicht, um La’Tasha
Sophia die Unterhose herunterzog, sein green mit schlüpfrigem Material versorgt. vor einem Jugendrichter eine halbwegs anGesicht an ihren entblößten Unterkörper Porno-Videos, wie behauptet, hätten sie gemessene Behandlung zu garantieren.
presste und sich – mit geöffnetem Hosen- jedoch nicht produziert, beteuerte Mutter Heute jedoch schickt Amerika seine Kinder
Beverly. Raouls deutscher Anwalt kann sich zunehmend vor Erwachsenengerichte. Wie
stall – am nackten Kindergesäß rieb.
Dem amerikanisch-schweizerischen Dop- das „bei so biederen Schweizern“ auch gar Volljährige werden sie dort zu langer, auch
lebenslanger Haft verdonnert. In Texas
pelbürger wird am 8. November für etwas nicht vorstellen.
Der professionelle Umgang mit Porno- wurde 1998 ein Gesetz beraten, das die Toder Prozess gemacht, was anderswo in der
zivilisierten Welt schlimmstenfalls mit Be- grafie könnte allerdings die Unbeküm- desstrafe für Elfjährige ermöglicht.
La’Tasha verbringt ihr Leben nun im Erratungen durch Jugendhelfer und Kinder- mertheit erklären, mit der Beverly die Vorpsychologen „geahndet“ würde. „Doktor- haltungen ihrer Nachbarin erwiderte: Sie, wachsenenvollzug – ein klarer Verstoß gespiele“ hieß so etwas früher
auch in dem Land, das schon
vor fünf Jahrzehnten mit den
Kinsey-Berichten die ganze
Welt Einblick nehmen ließ in
die Abgründe seiner sexuellen
Phantasien und Praktiken.
Und so nennt es auch Raouls
deutscher Anwalt Steffen Ufer.
„Selbst der Papst würde das
nicht strafwürdig finden“, meint
der Verteidiger. Was europäische Kinderpsychologen in den
Rahmen absolut normaler kindlicher Neugier aufs andere Geschlecht einordnen, gilt in den
USA als „schwerer Inzest“.
Dafür kann der kleine Raoul
im schlimmsten Fall zwei Jahre in eine geschlossene Erziehungsanstalt eingewiesen werden. Spätestens dann dürfte er Hofgang im Mount-View-Jugendgefängnis: Keine Nachsicht mit jungen Tätern
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
225
Ausland
grund: Für die Verteidiger hängt an der Erfolgsquote die Höhe ihres Honorars; für
die Staatsanwälte oft genug der Fortgang
der juristischen Karriere, die fast immer
auf das einträgliche Wahlamt eines Richters
zielt.
Mit allen Tricks und Zwangsmitteln, oft
am Rande oder gar jenseits der Legalität,
werden dabei Verfahrensbeteiligte unter
Druck gesetzt. Eltern können gezwungen
werden, gegen ihre Kinder auszusagen –
ein Alptraum für jede Familie.
In einem Fall wie dem der Wüthrichs
hätte eine amerikanische Familie deshalb
vermutlich umgehend einen Anwalt eingeschaltet, statt – wie die US-Schweizer –
zunächst mit dem Jugendamt zu kooperieren. Dessen Psychologen gaben nämlich
vor Gericht an, Sophia habe in „spieltherapeutischen Sitzungen“ die Angaben
stellt. In Wenatchee, der „Apfelhauptstadt
der Welt“, war Mitte der neunziger Jahre
eine ganze Kirchengemeinde, Pfarrer inklusive, beschuldigt worden, bei Massenorgien im Gottesdienst oder beim gemütlichen Beisammensein im Kirchenkeller
ihre Kinder für sexuellen Missbrauch herumgereicht zu haben. Gleich reihenweise
wanderten Minderjährige daraufhin aus
der Obhut ihrer Eltern in die der Fürsorge,
ein schnell wachsender Erwerbszweig, der
erst im Zuge dieser angeblichen Missbrauchsflut enormen Aufschwung fand.
Wie in den meisten Vergleichsfällen zerrissen schließlich Jahre später Berufungsgerichte die Skandalurteile. Amerikas Ringen um die Unschuld der Jugend bleibt
davon aber nahezu unberührt.
Die erwachsenen Amerikaner bevormunden ihren Nachwuchs bisweilen bis
zum Unerträglichen. In vielen
Bundesstaaten muss derselbe
Mensch, der mit 14 zu „lebenslänglich“ und mit 16 zum
Tode verurteilt werden kann,
21 Jahre alt werden, ehe er legal sein erstes Glas Alkohol
trinken darf.
Im Bereich der Sexualität ist
die Verklemmtheit besonders
groß: Der Jugendliche, der Tag
für Tag im Fernsehen dutzende
von Morden, schlimmste Verstümmelungen und sadistische
Quälereien in allen Details verfolgen kann, wird dort kaum
je eine unbedeckte Frauenbrust oder gar Schamhaar zu
Gesicht bekommen.
Verbissen kämpfen christliche Elternverbände gegen Sexualkundeunterricht in der
Schule. In Kansas setzte die
gottesfürchtige Schulverwaltung gerade durch, dass nur
noch die biblische Schöpfungsgeschichte als prüfungsrelevant im Unterricht gelehrt
werden darf. Kein Wunder,
dass in einem solchen Klima eine Nachbarin zur Behörde rennt, wenn sie inkriminierte Regungen bei Kindern beobachtet
haben will.
Die tiefe kulturelle Kluft, die sich im Fall
Wüthrich auftut zwischen der Alten und
der Neuen Welt, wird dem kleinen Raoul
kaum helfen. Tausende Schweizer forderten vom eigenen Außenministerium
„energische Schritte“ – bis hin zum „Abbruch der diplomatischen Beziehungen“.
Viel spricht dafür, dass die eifrige Staatsanwältin Nancy Hooper und mit ihr die
amerikanische Öffentlichkeit, die an den
Protesten weit mehr Anstoß nimmt als an
dem Fall Raoul, sich nicht beeinflussen lassen in ihrem Kreuzzug für sexuelle Sauberkeit. Frau Hooper jedenfalls hält all das,
was bislang abgelaufen ist, für „völlig normal“.
Siegesmund von Ilsemann
LES STONE / CORBIS SYGMA
gen die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Allerdings sind die USA
(neben Somalia) der einzige Uno-Mitgliedstaat, der diese Konvention bislang
nicht ratifiziert hat, rügt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International
(ai) in einem kritischen Bericht über amerikanische „Kinder in den Fängen des
Strafrechts“. Auch das Vorgehen gegen
Raoul hält ai für einen Verstoß gegen weltweit gültiges Menschenrecht.
„Yo do adult crime, you do adult time“
– wer wie ein Erwachsener Verbrechen
begeht, muss wie ein Erwachsener büßen,
heißt einer der neuesten Grundsätze im
rachedurstigen Amerika. 100 Jahre nachdem die Vereinigten Staaten, Vorreiter
damals, eine gesonderte Jugendgerichtsbarkeit ins Leben riefen, haben fast
alle Bundesstaaten ihre Strafvorschriften
Angekettete Strafgefangene beim Steineklopfen in Alabama: Haarsträubende Urteile
für junge Menschen drastisch verschärft.
Als die Wüthrichs merkten, mit welchem
Eifer sich die Behörden auf die Spur ihres
Raoul setzten, flogen sie Hals über Kopf in
ihre zweite Heimat, die Schweiz. Liegen
nicht ganz andere Motive zu Grunde, dann
können diese Flucht nur jene verstehen,
die mit den Praktiken amerikanischer
Staatsanwälte und den Eingriffsrechten der
Jugendbehörde vertraut sind.
Vor allem Europäer stellen immer wieder bestürzt fest, dass es im institutionalisierten Rechtskrieg zwischen Anklägern
und Verteidigern nicht darum geht, Hintergründe einer Straftat aufzudecken, Wiederholungsgefahr abzuwägen und den besten Weg zur Rehabilitation eines Gesetzesbrechers zu erkunden.
In der Cowboy-Justiz (SPIEGEL 10/1999)
steht für beide Seiten der Sieg im Vorder226
der Nachbarin bestätigt, für Jugendrichterin Marilyn Leonard ein wichtiger Grund,
das Verfahren einzuleiten.
Doch Skepsis ist angebracht: In stundenlangen Gesprächen wurde die Kleine
von ganz verschiedenen Personen befragt,
in den Augen erfahrener Kinderpsychologen ein schwerer Fehler. Kinder entwickeln
unter derartigen Bedingungen kein Vertrauen und versuchen, es den Fragenden
recht zu machen.
Seit Mitte der achtziger Jahre wurde
eine ganze Serie sensationeller Fälle von
angeblichem Kindesmissbrauch mit Aussagen von Kindern belegt. Fast alle danach
ergangenen Strafurteile wurden von Berufungsgerichten wieder aufgehoben, weil
die Anschuldigungen unhaltbar waren.
Erst in diesem Jahr wurde in Oregon der
letzte dieser Sensationsprozesse einged e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
AP
Ausland
Sicherheitskräfte auf einem Gebetsplatz in der Provinzhauptstadt Lahore: „Wir werden das Unkraut jetzt ausreißen“
PA K I S TA N
Lächeln des Nussknackers
Der neue Militärmachthaber General Pervez Musharraf will als Reformer das
Erzübel Korruption mit einer „gründlichen Säuberung“
bekämpfen. Von einer baldigen Rückkehr zur Demokratie ist nicht mehr die Rede.
I
n Islamabad, Pakistans grüner Hauptstadt, hellen sich die Mienen jener Menschen wieder auf, die wegen der Misswirtschaft des abservierten Premiers Nawaz Sharif zu den Verlierern zählten. Die
Putschgeneräle haben, so glauben viele, den
kleinen Mann gerächt, der sich nur „lunda“
leisten kann, gebrauchte Bekleidung.
„Allein die Armee hat in diesem Land
Prinzipien“, sagt Gulam Rasul, ein Straßenarbeiter an der eleganten Jinnah Avenue, „die Soldaten werden das Unkraut
jetzt ausreißen.“
Korruption im Stil astronomischer Bereicherung ist seit jeher eine Geißel des
1947 aus der Teilung Britisch-Indiens hervorgegangenen Muslim-Staates Pakistan,
dem „Land der Reinen“. Der inkompetente Sharif war angeblich der schlimmste
230
Absahner im hohen Amt, so hat es vorigen
Dienstag die Federal Investigation Agency
dargelegt. Die Vorwürfe lauten auf Geldwäsche im Wert von 40 Millionen Dollar, hinterzogene Steuern in Höhe von
60 Millionen Dollar, schließlich auf Bankbetrug von vergleichsweise moderaten
10 Millionen Dollar.
Doch nun soll die Ausbeutung des Staates durch ganze Kohorten von Raffzähnen
unter dem Regime der Armee ein Ende
finden. Das führte in kleinerem Maßstab
dazu, dass Soldaten Diebe festnehmen, die
Stromrechnungen kassieren und selbst dem
Finanzministerium die Leitungen sperrten,
weil es die September-Rechnung nicht beglichen hat.
Mit der dritten Machtübernahme durch
das Militär, das es in Pakistan bereits auf 25
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Herrschaftsjahre brachte, ist ein neuer
„chief executive“ über das 138-MillionenVolk gekommen: General Pervez Musharraf, 56, ein politischer Niemand aus der
Artillerie, dem selbst erfahrene Diplomaten in Islamabad bis vor kurzem nicht mehr
als das „Lächeln eines Nussknackers“ zuschreiben konnten.
Der Armeechef war westlichen Beobachtern erst im Frühjahr aufgefallen – als
Chefplaner des bizarren Kaschmir-Grenzkonflikts mit dem nuklearen Rivalen Indien. Trotz des demütigenden Rückzugs
von den Höhen des Himalaja bekundete
Musharraf, seine Truppen hätten sich „brillant“ geschlagen.
Auch jetzt hat der General viel vor.
Gleichsam per Handstreich will er im Land
zwischen dem Arabischen Meer und dem
REUTERS
Putschgeneral Musharraf*
REUTERS
„Nirgendwo ist Licht zu sehen“
Familienvater Musharraf*
Menscheln für die Weltöffentlichkeit
Bergkoloss K-2 mit einer „gründlichen
Säuberung“ das Erzübel der Korruption
abschaffen – und das im Zeitraum von gerade mal vier Wochen.
Denn bis zum 16. November sollen die
üblichen Verdächtigen – Politiker und deren Berater, Industrielle, Prominente und
deren Verwandte und Freunde – Kredite in
Milliardenhöhe zurückzahlen, die sie unter
Sharif zu traumhaften Konditionen bei den
Banken aufgenommen hatten. Jene, die
den Zaster nicht sofort herausrücken, riskieren drakonische Strafen, garniert mit
öffentlicher Anprangerung.
„Hoffnungslosigkeit umgibt uns, nirgendwo ist Licht zu sehen“, teilte Musharraf über das Staatsfernsehen dem Volk mit,
„wir haben unsere Würde verloren.“ Doch
diesen Pessimismus will der General verscheuchen: „Wir sind ganz unten, aber wir
werden wieder nach oben kommen, so
Gott will. Allah hilft nur jenen, die sich
selbst helfen.“
Auffallend der konziliante Ton, in dem
der neue Militärmachthaber sich zu außenpolitischen Fragen äußerte. Mit dem Erz* Oben: bei seiner Fernsehansprache an die Nation am
vorvergangenen Sonntag; unten: mit Ehefrau Seba und
Enkelin Marriam.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Ausland
„Ich stehe bereit“
Die ehemalige Regierungschefin und Führerin der Pakistanischen Volkspartei, Benazir
Bhutto, über den Putsch der Militärs und die Aussichten auf Demokratie
Bhutto, 46, wurde im April von einem
pakistanischen Gericht in Abwesenheit
wegen Korruption zu fünf Jahren Haft,
8,6 Millionen Dollar Geldstrafe und
zum Verzicht auf alle politischen Ämter
verurteilt. Sie lebt seither in London
und Dubai.
Staatsstreich des Generals Pervez Musharraf begrüßt. Teilen Sie die Meinung
der Offiziere, die in dem Coup den einzigen Ausweg aus der tiefen politischen
und wirtschaftlichen Krise des Landes
sehen, oder freut Sie vor allem, dass Ihr
alter Widersacher, Premierminister Nawaz Sharif, aus dem Amt gejagt wurde?
Bhutto: Ich habe nur das Ende des Despotismus begrüßt und meiner Hoffnung
Ausdruck gegeben, dass nun die Demokratie in mein Land zurückkehrt.
SPIEGEL: Auch der Westen wünscht Demokratie, nur ist ein Militärcoup dafür
nicht unbedingt der richtige Weg.
Bhutto: Sicher ist ein Putsch kein demokratisches Mittel. Aber so weit wäre
es gar nicht erst gekommen, wenn der
Westen bereits im November 1996 für
die Demokratie in Pakistan eingetreten
wäre. Damals wurde meine rechtmäßig
gewählte Regierung gestürzt. Es war jener tödliche Schlag für die Demokratie
in Pakistan, der jetzt zur Machtergreifung des Militärs geführt hat.
SPIEGEL: General Musharraf hat bei seinen ersten Auftritten verkündet, dass
er wieder demokratische Verhältnisse
herstellen wolle. Glauben Sie an Musharrafs guten Willen?
Bhutto: Manche vermuten hinter dem
Putsch reinen Machthunger. Der General muss möglichst bald einen Zeitrahmen für die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen ankündigen und
deutlich machen, dass er in der gegenwärtigen Situation tatsächlich nur eine
Übergangsphase sieht.
SPIEGEL: Der Internationale Währungsfonds zog bereits eine von Pakistan
dringend benötigte Kreditrate zurück;
auch wurde Islamabad vorläufig aus
dem Commonwealth, der Gemeinschaft
der ehemaligen britischen Kolonien,
ausgeschlossen.
Bhutto: Pakistan muss sich an die Spielregeln halten, sonst könnte die internationale Lage verheerend werden. Aber
232
S. TOUHIG / CORBIS SYGMA
SPIEGEL: Frau Bhutto, Sie haben den
Bhutto, Jubel nach dem Putsch in Karatschi: „Hoffnung auf Stabilität“
natürlich braucht der General zuerst
einmal eine Atempause – die sich in
Grenzen halten und Neuwahlen mit
einbeziehen muss.
SPIEGEL: Wie viel Zeit geben Sie Musharraf?
Bhutto: Drei Monate wären angemessen. Die Zeit drängt, weil die „Brot
und Butter“-Probleme der einfachen
Pakistaner, etwa die Arbeitslosigkeit
und die Inflation, nur im Rahmen eines
demokratischen Systems gelöst werden
können.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich den geringen Widerstand in der Bevölkerung
gegen den neuen Machthaber?
Bhutto: Meine Landsleute sind erleichtert, dass die Tage der politischen und
wirtschaftlichen Probleme unter Sharif
vorbei sind. Sie hegen große Hoffnungen, dass die Militärs ihr Land endlich
auf den Weg zur Stabilität bringen.
Gleichwohl haben die Menschen Angst
vor dem Kriegsrecht. Um das richtige
Klima für Wirtschaftswachstum zu
schaffen, müssen aber sehr bald Wahlen
angekündigt werden.
SPIEGEL: Wie sicher sind Pakistans
Atomwaffen in den Händen der neuen
Führung?
Bhutto: Obwohl die eigentliche Verfügungsgewalt immer bei der Armee lag,
war die Zivilregierung verantwortlich
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
für den Einsatz der Waffen. Diese Regelung gibt es nun ganz offensichtlich
nicht mehr, und das bereitet vielen
große Sorge.
SPIEGEL: Sie haben dem neuen Machthaber Ihre Dienste angeboten?
Bhutto: Ich habe keine bestimmte Offerte gemacht. Ich wurde öffentlich gefragt, ob ich einen Posten in der neuen
Regierung akzeptieren würde. Als Demokratin würde ich das erst tun, wenn
man mich dazu wählt. Ich stehe jedoch
bereit, im Interesse meines Landes jede
Art von informeller Hilfe zu leisten.
SPIEGEL: Wegen mangelnder Beweise
wies ein Gericht vor zwei Wochen Korruptionsvorwürfe gegen Sie zurück.
Dennoch drohen Ihnen weitere Ermittlungen. General Musharraf hat den
Kampf gegen die Korruption auf seine
Fahnen geschrieben und will Ihnen keine „sichere Einreise“ garantieren.
Bhutto: Das weiß ich nicht, aber es wäre
sicherlich kein gutes Zeichen. Meine
Partei hat General Musharraf gebeten,
die gerichtliche Verfolgung zu stoppen
und eine unabhängige Untersuchung
einzuleiten. Wir wären sehr glücklich,
wenn es wieder um die Fakten gehen
würde, und begrüßen das Versprechen
des Generals, dass Gerechtigkeit in Pakistan wieder Einzug halten soll.
Interview: Padma Rao
AP
feind Indien sollen „erfolgsorientierte Gespräche“ geführt werden, als vertrauensbildende Maßnahme wurden Eliteeinheiten aus dem Grenzgebiet zurückgezogen.
Wie und wann er der Demokratie wieder auf die Beine helfen will, verriet der
Putschist allerdings nicht. Vergebens wartet die Ex-Premierministerin Benazir Bhutto auf den Heimruf. „Ich stehe bereit“,
grummelte die Führerin der Volkspartei PPP
im Londoner Exil und
gab dem General „drei
Monate“ für die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen
(siehe Interview).
Bis auf weiteres wird
an Pakistans Spitze ein
Nationaler Sicherheitsrat schalten und walten, bestehend aus
Musharraf als Chef,
den Befehlshabern der
Luftwaffe und Marine
sowie drei dringend
benötigten Fachleuten
für Finanzen, Wirtschaft und Auswärtige
Angelegenheiten.
Erst darunter kommt
ein ziviles Ministerkabinett, dessen Mitglieder als wichtiges Qualifikationsmerkmal
ein sauberes Konto präsentieren müssen.
„Das Problem ist, die richtigen Leute zu
finden“, räumt General Musharraf da gewisse Schwierigkeiten ein.
Von langer Hand, so scheint es, wurde dieser Militärcoup nicht vorbereitet. Musharraf, anders als sein Putsch-Vorgänger Zia ul-Haq kein frömmelnder
Islamist, ist wohl mehr in dieses Abenteuer hineingestolpert, weil Sharif ihn
auf abenteuerliche Weise feuern wollte.
Heldenhafte Anekdoten und eine Offensive des Charmes sollen nun bewirken,
den General in ein angenehmes Licht
zu rücken.
Als Leutnant im zweiten Kaschmirkrieg,
in dem die indische Armee 1965 fast bis
nach Lahore vorstieß, habe Musharraf „einen Frontabschnitt gerettet“, hieß es. Er
habe einen Stapel von Granaten bergen
lassen, obwohl seine Geschützstellung beschossen wurde und Feuer fing. „Ich sah
ihn an diesem Tag in Aktion und war überzeugt, dass Musharraf kein gewöhnlicher
Soldat war“, berichtet Javed Kazi, ein ehemaliger Chef des Geheimdienstes ISI.
Auch Menschelndes aus dem Privatleben
Musharrafs wurde dosiert in die Medien
lanciert. Der General, dessen älterer Bruder als Arzt in Chicago lebt, spielt Tennis
und Squash, ist einem Glas Whisky nicht
abgeneigt; er hört westliche Musik und
liebt Bridge. Als braver Muslim nimmt er
regelmäßig am Freitagsgebet in der Zentralmoschee von Rawalpindi teil, und bei
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
AP
Ansprachen vor der Truppe betont er stets chen. Daraus wurden dann bis zu seinem
den Wert des Glaubens.
Tod bei einem Flugzeugabsturz elf Jahre.
In die Rolle des Reformers, der ein prakEs gehe jetzt um „Erfolg oder Untertisch bankrottes Land – die Devisenreser- gang“, verkündete Musharraf in seiner Deven betragen nur noch 1,46 Milliarden facto-Regierungserklärung, für die ihn der
Dollar – vor dem Zusammenbruch be- amerikanische Botschafter – er war
wahren soll, präsentierte sich der General während des Coups gegen Sharif im ferim Garten seines Hauses vor handverlese- nen Kalifornien – als „gemäßigten und
nen Journalisten. Geladen waren vor al- patriotischen Mann“ pries. Doch nicht allem türkische Reporter, denen zwischen les scheint politisch so lupenklar, wie
Jasminsträuchern und Eukalyptusbäumen Musharrafs Helfer dies gern darstellen.
Erdnüsse gereicht wurden. Musharraf erschien
mit den beiden Pekinesen Dot und Buddy unter
den Armen, stellte seine
Familie vor und unterbreitete sodann in perfektem Türkisch ein Bekenntnis.
Er sei ein Bewunderer
von Kemal Atatürk, der
Enormes geleistet habe.
„In meinem Bücherschrank steht seine Biografie. Die Türken sind
für mich wie Brüder.
Bald werde ich das Land
besuchen“, plauderte
Musharraf und erinnerte an die gemeinsame
Mitgliedschaft im fast
schon vergessenen Cen- Festnahme eines mutmaßlichen Taschendiebs
to-Pakt, einem strate- „Die Armee hat Prinzipien“
gischen Bollwerk gegen
die Sowjetunion im Kalten Krieg der fünfEngster Vertrauter des Coup-Masters ist
ziger Jahre.
der Generalleutnant Mohammed Aziz, ein
Musharraf, dessen Vater Militärattaché in ausgewiesener Geheimdienstexperte, der
Ankara war, sieht in der Türkei ein Vorbild. den Aufmarsch muslimischer Kämpfer in
Dort gibt es ebenfalls einen Nationalen Kaschmir inszenierte. Und Musharraf
Sicherheitsrat, der Schlagzeilen machte, als selbst war früher Chef der pakistanischen
er Frauen das Tragen von Kopftüchern im Kommandotruppen, die seit dem AfghaÖffentlichen Dienst verwehren wollte. Und nistankrieg gegen die sowjetischen Besatwie die türkische Regierung wird sich auch zer mit den Glaubenskriegern am HinduGeneral Musharraf islamistischer Grup- kusch liiert sind.
pen erwehren müssen, selbst in der eigeSolche Widersprüche wird der Refornen Armee, der Zia ul-Haq das Gebot mer, der vom Militärhauptquartier im stau„Glaube, Andacht und Heiliger Krieg“ ver- bigen Rawalpindi aus regiert, seinem Land
ordnet hatte.
wie dessen Nachbarn erklären müssen. Er
Aus Peschawar, Hochburg fanatischer wird auch daran gemessen werden, was
Koranschüler, meldete sich schon Qazi mit Nawaz Sharif geschieht. Dem gewählHussain Ahmed, Führer der größten reli- ten Premier, angeblich in der Festung von
giösen Oppositionspartei Jamaat-i-Islami Attock am Indus inhaftiert, droht ein VerPakistan – mit einer Drohung.
fahren vor dem Kriegsgericht. Auf einem
Ahmed und seine Anhänger hatten ähnlichen Umweg überantwortete einst
während der jüngsten Artillerie-Schlach- Zia den abgehalfterten Regierungschef
ten mit Indien die Attrappe einer Atom- Zulfikar Ali Bhutto dem Henker.
rakete nach Muzaffarabad im pakistaniVor allem aber muss Musharraf den wirtschen Teil Kaschmirs gerollt. Mit ihm ist schaftlichen Niedergang Pakistans schnell
nicht zu spaßen. „Nur das System des stoppen, in dem niemand mehr etwas inIslam ist in Pakistan erlaubt. Wer weltliche vestiert. Das Militär ist an der Krise nicht
Interessen hat, sollte Pakistan verlassen“, unschuldig: Es verbraucht zusammen mit
verlangte der Fundi-Chef, „nur im Islam dem Schuldendienst des Landes phantasliegt die Lösung unserer Probleme.“
tische 70 Prozent des BruttoinlandsproNebulös ließ Musharraf unterdessen wis- dukts.Die Rüstung mit Atomwaffen und
sen, dass er so lange Chef des Militär- Raketen fordert ihren Preis.
regimes bleiben wird, „wie es nötig ist“.
Wie ein Stoßseufzer klang da die AnkünDer Putschist Zia hatte seinerzeit ledig- digung des Generals: „Wir haben noch viel
lich ein Intermezzo von 90 Tagen verspro- Arbeit vor uns.“
Joachim Hoelzgen
236
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
G R O S S B R I TA N N I E N
Verräter mit
Messer
nen europäischen Superstaat“, befand der
außenpolitische Sprecher der Konservativen, John Maples.
Den Boden für den hartnäckigen Kampf
der Konservativen um die nationale Souveränität bereiten Tag für Tag die mächtigen Zeitungen des australisch-amerikanischen Medientycoons Rupert Murdoch.
Unermüdlich bläst etwa die „Sun“ zur
„Schlacht für Britannien“ und denunziert
die konservativen Europafreunde Clarke
und Heseltine als „Tonys Speichellecker“.
Zudem hat das Boulevardblatt mit rund
zehn Millionen Lesern in „Kaiser Romano“, dem neuen EU-Kommissionschef Romano Prodi, einen
weiteren Hauptfeind ausgemacht.
„Der Boss in Brüssel“, so schreckt
die „Sun“ ihre Leser, „will unsere Steuern und Streitkräfte kontrollieren.“
Solcher Kampagnenjournalismus bleibt allerdings nicht unwidersprochen. Der populäre Gründer und Eigentümer des VirginKonzerns, Richard Branson, wirbt
weitaus beherzter für die Übernahme des Euro als die Regierung.
Dennoch stehen Branson und
gleichgesinnte Kollegen noch immer relativ einsam da. Nur etwa
30 Prozent der Befragten stimmten in aktuellen Meinungsumfragen für die gemeinsame Währung.
In der anhaltenden Angst vor
der Aufgabe des Pfundes, das für
viele Briten die glorreichen Zeiten
des Empire symbolisiert, sieht der bislang
erfolglose Tory-Vorsitzende Hague seine
größte Chance für die nächsten Wahlen
zum Unterhaus in frühestens 18 Monaten.
Falls er die Regierung übernehmen kann,
will er die Gründungsverträge von Rom
neu verhandeln und bei allen weiteren
Abkommen eine Sonderklausel für Großbritannien durchsetzen. Manche seiner
Parteifreunde würden am liebsten gleich
ganz aus der EU austreten.
Freilich hält sogar John Major die Politik der totalen Verweigerung, die sein
Nachfolger im Parteivorsitz gegenüber
Brüssel eingeschlagen hat, schlicht für
„verrückt“.
Der nach wie vor unangefochtene Premierminister Blair hat – im Gegensatz zum
schlauen Helmut Kohl – den Briten allerdings von Anfang an ein Referendum über
den Beitritt zum Euro versprochen. Angesichts der grassierenden Verlustängste will
er die Volksabstimmung erst nach seiner
Wiederwahl wagen.
Europäische Touristen, die aus den
Staaten mit gemeinsamer Währung kommen, werden deshalb an den zahlreichen
Wechselstuben der Londoner Innenstadt
wohl noch etliche Jahre rechnen müssen.
Ihre Heimatländer sind dort auf den
Kurstafeln schlicht als „Euroland“ geführt.
Michael Sontheimer
AP
Tony Blair startete eine halbherzige Kampagne für den Euro,
doch die Briten fürchten um
ihre Souveränität. Konservative
plädieren für den EU-Austritt.
darüber, ob Europa mehr sein sollte als
nur eine Freihandelszone, in der sich britische Produkte besser vermarkten lassen.
Auch die aktuelle Debatte wird im angeblichen „cool Britannia“ mit einer Aufgeregtheit geführt, als beschwöre eine Kabale von Verrätern den Untergang des RestEmpires herauf.
Eingeläutet hat die neue Runde im alten
Ringen um den rechten Platz in Europa
die notorische Brüssel-Gegnerin Margaret
Thatcher. Auf dem Tory-Parteitag Anfang
Oktober hatte sie ohne jedes britische Understatement erklärt: „Wir sind das beste
Europapolitiker Blair, Prodi*: Entscheidung über den Euro erst nach der Wiederwahl
M
ehr, mehr“, verlangten enthusiasmierte Labour-Abgeordnete vorigen Dienstag von ihrem Regierungschef. In der ersten Sitzung des Unterhauses nach der Sommerpause hatte
sich Tony Blair den konservativen Oppositionsführer William Hague vorgeknöpft,
als stünde er bereits mitten im Wahlkampf.
Bei der Redeschlacht verhöhnte Blair
das „hysterische Geschwätz“ seines Kontrahenten. Er warf ihm vor, die Tories zu
einer antieuropäischen „Ein-Punkt-Partei“
verkümmern zu lassen. Hague, so der Premierminister staatsmännisch, spiele „ein
gefährliches Spiel mit den nationalen Interessen Britanniens“.
Der bislang nicht sonderlich populäre
Chef der Konservativen zahlte mit gleicher Münze heim. Blair sei der Metzger
einer Nation, deren Rechte und Machtbefugnisse „Scheibe für Scheibe“ verkürzt
würden: „Der eigene Premierminister
schwingt das Messer.“
Einmal mehr ist in Großbritannien heilloser Streit über das ambivalente Verhältnis der Insulaner zur Europäischen Union
entbrannt. Seit dem späten Beitritt zur Gemeinschaft im Jahre 1973 schwelt der bei
geringstem Anlass entflammbare Dissens
* Am 15. Oktober bei einem Restaurantbesuch während
des EU-Gipfels im finnischen Tampere.
238
Land Europas.“ Zeit ihres Lebens, so die
Ex-Premierministerin, „kamen alle unsere
Probleme vom europäischen Festland und
alle Lösungen von den Englisch sprechenden Nationen.“
Solche Brandreden mögen den zögerlichen Regierungschef bewogen haben,
endlich in die Offensive zu gehen und die
lange angekündigte überparteiliche Initiative „Britain in Europe“ zu starten. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Liberaldemokraten, Charles Kennedy, eingerahmt von den konservativen Ex-Ministern
Michael Heseltine und Kenneth Clarke, erklärte der Premierminister das britische
Engagement in der EU zur „patriotischen
Sache“. Vorsichtig, wie es seine Art ist, versuchte er sogar, seine Landsleute mit dem
Gedanken vertraut zu machen, auf die eigene Währung zu verzichten: „Wenn der
Euro Erfolg hat und es in Britanniens wirtschaftlichem Interesse liegt, sollten wir mitmachen.“
Selbst Blairs konservativer Vorgänger
John Major unterstützte die Allianz, doch
der Rückschlag folgte auf dem Fuß. Die
unter anderem von Richard von Weizsäcker erarbeitete Empfehlung zur EU-Reform, die eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen vorsieht, stärkte die Ressentiments der britischen Antieuropäer.
„Dies ist nichts weniger als ein Plan für eid e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
M
it einer Tasche voll Kartoffeln
trollte sich Magomed Jussupow,
42, vom Markt an der DagestanStraße von Grosny. Es war am vorigen
Donnerstag, kurz nach 17 Uhr, und in Moskau machte sich gerade Premier Putin auf
den Weg nach Helsinki, wo er eine EU-Delegation zum Beistand gegen die „Terroristen“ gewinnen wollte.
Plötzlich warf den schmächtigen Jussupow in seiner zerrissenen Lederjacke ein
vierfacher Donnerschlag zu Boden. Als er
aufstand, um seine Kartoffeln einzusammeln, sah er hinter sich nur Rauch und
Flammen.
„Es war, als hätte Allah einen riesigen
Feuerstrahl auf den Markt gerichtet“, berichtet er. „Überall lagen zerrissene Leichen herum. Ich sah einen Mann, der weder
Arme noch Beine hatte und nur noch einen
halben Kopf.“ Jussupow schüttelt sich.
Noch am Abend steht ein Pkw auf dem
Markt, in dem zwei Tote sitzen. Am Boden
daneben liegen Tote ohne Kopf. Und Reste
einer Rakete. 62 Tote lautete die erste Bilanz des feindlichen Raketenschlags mitten auf den menschenreichsten Platz der
Tschetschenen-Hauptstadt.
„Nein, es sollen weit über hundert gewesen sein und unzählige Verletzte“,
schreit Sargan Orzujewa, 58, angesichts der
Kälte in einem viel zu dünnen grauen
Strickkleid. Sie hat die Wagen mit den Verwundeten gesehen, die am Abend Richtung Nasran fuhren. In dem schon im vo-
AP
Der Raketenschlag ins Stadtzentrum von Grosny
verhindert eine politische Lösung
im Kaukasus-Konflikt.
Aber Sieger wird es nicht geben.
AFP / DPA
Allahs
Feuerstrahl
rigen Tschetschenien-Krieg zerstörten
Grosny funktioniert längst kein Krankenhaus mehr.
Orzujewa ist mit den Nerven am Ende.
„Ich fordere ihn zum Duell heraus, diesen
Scheißkerl, diesen Goebbels“, brüllt sie
über die Straße und meint den Ministerpräsidenten Wladimir Putin, 47, der fast
jeden Abend im Fernsehen wider tschetschenische „Banditen“ trommelt, die man
„ausrotten“ müsse. Die Frau will ihn „umbringen, am besten beim Pinkeln erschießen – das waren doch seine eigenen
Worte gegen die Terroristen“.
Sogar die Moskauer Büro-Generäle erschraken: Die ersten Meldungen vom blutigen Überfall wies das Verteidigungsministerium als „verlogene Provokation“
zurück. Wenig später lieferte das Hauptquartier des von General Wladimir Russischer Premier Putin, russischer Panzer bei
Schamanow befehligten Expeditionskorps eine andere Version: Militärsprecher Alexander
Weklitsch räumte ein, eine „Spezialoperation“ habe einem allseits
bekannten Waffen-Basar nahe der
Börse von Grosny gegolten, auf
dem sich die Terroristen mit Nachschub versorgt hätten – der Platz
des frechen öffentlichen Waffenhandels und auch die Kunden
seien „vernichtet“ worden.
Friedliche Bürger seien nicht
betroffen, denn welch vernünftiger Mensch begebe sich schon auf
einen Waffenmarkt? Premier Putin gab den Spezialeinsatz zu, be- Russischer General Schamanow
stritt aber einen Zusammenhang Waffenhändler vernichtet
mit den Explosionen. Schon ruderte Weklitsch zurück: Die Tschetsche- wohner Grosnys jetzt vor allem mit Lenen selbst hätten einen Munitions-Lkw in bensmitteln einzudecken: „Es gibt ja kaum
die Luft gejagt.
noch etwas zum Beißen in der Stadt. Strom
Jussupow leidet unter solchen Lügen: und Gas haben uns die Russen schon vor
„Als ob die Kämpfer um Bassajew oder zwei Wochen abgedreht.“
Chattab nach Grosny kommen müssten,
Auch in der Entbindungsklinik Nummer
um dort auf einem gewöhnlichen Markt eins schlugen an diesem Donnerstag RaMaschinenpistolen und Handgranaten zu keten ein (25 getötete Frauen und Kinder),
kaufen.“
im Olympiski-Bezirk und in einer Moschee
Auf dem Zentralmarkt gibt es praktisch in der Kalinin-Siedlung am Stadtrand (13
alles zu kaufen. Dort suchen sich die Ein- Opfer). Im nahen Dorf Urus-Martan hat
AP
TSCHETSCHENIEN
einer Minenexplosion vor Grosny: „Ich fordere ihn zum Duell heraus, diesen Goebbels, ich will ihn umbringen“
REUTERS
Auch die Gegenfahrbahn war verstopft.
Jussupow vor zwei Tagen einen russischen der Entwurzelten und Entrechteten zog
Blindgänger gesehen. „Ich helfe, so gut ich am Ortsschild vorbei Richtung Westen, Autos ohne Gepäck, in denen meist nur
kann“, stand zynisch auf dem Metallman- über die einzige noch freie Trasse nach In- Männer sitzen, fuhren in Richtung Osten:
tel der nicht explodierten Rakete.
guschien, derweil der Weg nach Norden Tschetschenen, die Frauen und Kinder in
Sicherheit gebracht haben und nun zurück
Seit letztem Donnerstag weiß er, was durch Gefechte versperrt war.
die russischen Militärs meinten, als sie für
Eine achtköpfige Familie zwängte sich nach Grosny wollten, um gegen die vordieses Mal eine ganz andere Methode bei mitsamt ihren Koffern in ein Lada-Auto, rückenden Russen zu kämpfen, für die Under Einnahme Grosnys ankündigten. Nicht jemand hatte irgendwo einen Kühllaster abhängigkeit ihres Landes „Itschkeria“
mit Panzern und Infanterie würden sie in aufgetrieben, wackelige Wohnwagen – auf oder schlicht nur zum Schutz des eigenen
die Rebellenhochburg einrücken, beteuer- irgendeiner Baustelle requiriert – schau- Heims. Denn mehr und mehr versank
te ein General vorige Woche, um nicht so kelten vorbei, auf dem regennassen Dach Grosny in Gesetzlosigkeit. Marodeure
durchstreiften die sich leerenden Stadthohe Verluste zu erleiden wie 1994/96.
lagen Teppiche und Federbetten.
Dann fiel der Begriff „Wydawliwanije“,
Dazwischen tauchten immer wieder viertel.
Stadtkommandant Isa Munajew gab sich
was so viel wie „Hinausdrängen“ heißt. Tankwagen mit Dieselöl auf – hochwerHinter dem vagen Begriff könnte eine Tak- tige Schmuggelware, das Einzige, was trotzdem optimistisch. „Wir sind diesmal
tik gezielter Terrorschläge mitten ins Stadt- findige Tschetschenen jenseits der Gren- wesentlich besser auf die Verteidigung von
gebiet stecken, um die Bevölkerung in ze noch zu Geld machen können. Der Grosny vorbereitet als im letzten Krieg“,
Panik und zur Flucht zu treiben.
Rohstoff ist meist irgendwo aus einer sagte er. „Wir hatten genügend Zeit, und 99
Die Einnahme einer weitgehend ge- der Pipelines, die durch Tschetschenien Prozent unserer Kämpfer sind durch das
Feuer des ersten Kriegs gegangen.“
räumten Stadt erscheint den Militärs we- führen, abgezapft.
Das gilt nicht für Musse,
sentlich leichter – obwohl
den 14-jährigen Jungen, der
auch die Verteidiger sich offrierend vor Jussupows Haus
fenbar zurückhalten, bis
stand. Doch auch er hatte
Frauen, Kinder und Alte das
eine Militärjacke übergezoLand verlassen haben. Algen und eine Kalaschnikow
lenfalls an strategisch wichtigeschultert. „Er hat noch gar
gen Punkten stießen die
keinen Verstand“, sagt JusInvasoren auf Widerstand –
supow traurig, „aber er sieht,
und verloren gleichwohl
was hier los ist und woher
schon 200 ihrer Soldaten.
die Raketen kommen.“
Insgesamt sind womöglich
In der benachbarten Ingubereits eine viertel Million
schen-Republik, wo 300 000
Tschetschenen geflüchtet,
Einwohner und inzwischen
mehr als ein Viertel aller Einfast ebenso viele Flüchtwohner. Das Bombardement
linge leben, sieht Präsident
im Zentrum Grosnys hat
Ruslan Auschew kaum noch
jetzt noch tausende auf die
einen Ausweg aus der eskaBeine gebracht, die den weilierten Krise. „Moskau hat
teren Kriegsverlauf eigent- Markt in Grosny nach Raketentreffer: Vertreiben durch Bombenterror
das Volk der Tschetschenen
lich zu Hause abwarten wollten. Die Saischanow-Straße, die parallel
40 Kilometer weiter, am Kontrollpunkt zu Banditen erklärt und es damit in die
zum Flüsschen Sunscha aus Grosny hin- „Kawkas“, machten die inguschischen Ecke gedrängt. Weder für die eigene
ausführt, war vorigen Freitag mit Flücht- Behörden an diesem Freitag die Grenze Armee noch für die Tschetschenen hat
lingen verstopft.
nach Wochen wieder auf – schon am Russland eine Ausflucht offen geSie hatten ihre wichtigste Habe auf of- frühen Morgen kapitulierten sie vor den lassen.“
Wohin das führt? „Jetzt beginnen beide
fene Lastwagen gepackt: Schränke, Lam- andrängenden Tschetschenen, selbst die
pen, Bettgestelle, letzte Küchenvorräte, ab Wagennummern werden kaum noch regis- Massen miteinander zu kämpfen, aber es
wird keinen Sieger geben.“ Christian Neef
und an auch eine Kuh. Ein panischer Zug triert.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
241
Ausland
FOTOS: REUTERS
doch nach einem fintenreichen Stimmenpoker in der Beratenden Volksversammlung konnte Megawati sich einen Tag später immerhin zur Vizepräsidentin wählen
lassen. Und ihre Aussichten, einmal in das
höchste Amt des Staates aufzurücken, stehen keineswegs schlecht.
Denn der nur einen Tag zuvor zum
Staatspräsidenten gewählte Muslimführer
Abdurrahman Wahid, 59, ist nach zwei
Schlaganfällen ein schwer kranker Mann.
Der Führer von Nahdatul Ulama, der
„Renaissance der Rechtsgelehrten“, mit 30
Millionen Mitgliedern größte muslimische
Vereinigung des Landes, hatte mit 60 Stimmen Vorsprung die Favoritin geschlagen.
Die Abgeordneten der „Zentralen Achse“,
eines losen Verbandes von Muslimparteien,
die Wahid zur Macht verholfen hatten,
ließen ihrer Freude freien Lauf. „Allahu
akbar“, schallte es durch die Beratende
Volksversammlung, „Allah ist groß“.
Doch im Archipel der 17 500 Inseln hielt
sich die Begeisterung eher in Grenzen.
Auch wenn Wahid mit seiner Wahl bewiesen hatte, dass er ein geschickter politischer Strippenzieher ist, fragen sich viele:
Kann der gebrechliche Staatschef tatsächlich das von ethnischen Konflikten, Wirtschaftskrise und Korruption geplagte Land
die nächsten fünf Jahre auf den Weg zu
Staatsoberhäupter Megawati, Wahid*: Vertrauen in den blinden Seher
Wohlstand und Demokratie führen?
Zudem gilt der Präsident als unbereINDONESIEN
chenbar. Nach seinem letzten Schlaganfall,
glaubt der populäre TV-Journalist Wimar
Witoelar, habe sich Wahid „nicht in der
Gewalt“. Und auch der Ex-Minister Sarwono Kusumaatmadja hält Wahids „Urteilsvermögen für beeinträchtigt“.
Kurswechsel in Jakarta: Der Muslimführer Wahid löst
Vor allem die einfachen Leute aber verden Suharto-Gefolgsmann Habibie als Staatspräsidenten ab. Der ehren Wahid wie einen Heiligen. So wie
Megawati als Erbin ihres Vaters Sukarno
schwer kranke Religionsgelehrte gilt als unberechenbar.
von den Armen gefeiert wird, profitiert
um Schluss bekam das einfache Volk der Erde war nicht zu überhören. Ihre Wahid davon, aus einer Familie von Relidoch noch seinen Willen. Es feierte „Mama Mega“ hatte es doch noch ge- gionsgelehrten zu stammen. Er wird resseinen Sieg, auch wenn der nicht so schafft: Zwar war die Tochter des Staats- pektvoll Gus Dur genannt. Von seinem
gründers Sukarno bei der ersten demo- Vater, einst Minister unter Sukarno, übertriumphal ausgefallen ist wie erhofft.
In den Moscheen der indonesischen kratischen Präsidentschaftswahl am Mitt- nahm er den Ehrentitel Gus, der so viel
Hauptstadt war das muslimische Nachtge- woch nicht zum vierten Staatsoberhaupt wie „hoch verehrte Heiligkeit“ bedeutet.
bet schon lange gesprochen, da zogen die der Republik Indonesien gekürt worden, Dur ist die Kurzform seines Vornamens.
Doch in der Beratenden
Anhänger Megawati SukarVolksversammlung konnte
noputris, 52, noch immer
er nicht mal den Stimmzetdurch Jakarta. Mit „Mega,
tel ohne fremde Hilfe abMega“-Rufen bejubelten
geben.
sie eine Politikerin, die zum
„Einen deutlicheren BeIdol der verarmten Massen
weis, dass wir eine wirtund Zukurzgekommenen
schaftlich kranke Nation
aufgestiegen ist; aber imsind, hätte es nicht geben
mer wieder wurde die Forkönnen“, klagt ein Regiederung nach „Reformasi“
rungsangestellter in Jakarta.
laut, manche brüllten gar
Die Finanzmärkte rea„Revolusi“ – der Ruf nach
gierten prompt negativ.Wadramatischer Veränderung
ren der Kurs der Landesdes mit 210 Millionen Menwährung Rupiah und Jaschen viertgrößten Landes
kartas Börsenindex in der
Erwartung eines Wahlsieges
* Nach der Wahl Megawatis zur
von Megawati am Vortag
Vizepräsidentin am vergangenen
deutlich angestiegen, so
Verletzter Demonstrant in Jakarta: Für „Mama Mega“ auf die Straße
Donnerstag.
Sanftes Gesicht des Islam
Z
242
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
sackten die Werte, nachdem Gus Dur zum
Führer der Nation bestimmt war.
Auch wenn der Religionsgelehrte ein
Reformer ist, der den säkularen Staat verteidigt und mit engstirnigen Islamisten wenig gemein hat: Das Volk in den
großen Städten, allen voran die Studenten, fühlte sich betrogen. Eine neue Welle
der Gewalt drohte auszubrechen, als
während eines Protestzugs auch noch eine
Autobombe explodierte und zwei Tote
forderte.
„Hätte es noch eines Beweises bedurft,
wie viele Defizite unsere junge Demokratie nach wie vor hat und wie weit der Weg
zu reifen politischen Strukturen ist“, sagt
Jusuf Wanandi, Direktor des Zentrums für
Strategische und Internationale Studien in
Jakarta, „dann wurde er in den vergangenen Tagen erneut erbracht.“
Die Hauptschuld dafür gibt er Megawati selbst. „Sie ist einfach zu dumm und träge, um funktionierende Koalitionen bilden
zu können, die sich im politischen Alltagsgeschäft bewähren“, kritisiert der anerkannte Wissenschaftler. „Megawati hatte
alle Chancen gehabt, dieses Land allein zu
regieren; doch sie hat keine genutzt.“
Ganz so Unrecht hat Wanandi nicht. Als
am 7. Juni dieses Jahres fast 131 Millionen
Wahlberechtigte zum ersten Mal seit 1955
in freien Wahlen über die Zukunft ihres
Landes abstimmten, schien es wenig Zweifel zu geben, dass die langjährige Hausfrau
in Zukunft die Geschicke des Landes bestimmen würde. Ihre Indonesische Demokratische Partei des Kampfes zog mit fast
34 Prozent der Stimmen als Sieger ins Parlament ein. Mit nur gut 22 Prozent landete
die Regierungspartei Golkar von Präsident
Habibie abgeschlagen auf dem zweiten
Platz.
Dass sie sich fortan wie eine javanische
Königin auf dem Ergebnis ausruhte, anstatt
Allianzen mit den beiden Reformpolitikern Amien Rais und Gus Dur zu bilden,
ließ sie in deren Augen arrogant erscheinen. Ihren Machthunger verbarg „Mega“
gleichwohl nicht.
„Als stärkste Partei“, verkündete sie in
einer emotional überladenen Fernsehansprache, „habe ich automatisch den Anspruch auf das Amt des Präsidenten.“ Wie
meist bei öffentlichen Auftritten flossen
Tränen über ihre Wangen. Damit rührte
sie ihre Anhänger, ihre Gegner werteten
Megawatis Selbstgefälligkeit als groben Regelverstoß im feinen Schattenspiel der javanischen Konsenspolitik.
Zwar waren sich multinationale Konzerne und Banken in Jakarta einig, dass es
dem eher bescheidenen politischen Talent
gelungen war, die besten Experten für ihr
zukünftiges Kabinett zusammenzustellen.
Aber bald sickerte auch durch, dass ihre
Reihen zu einem großen Teil mit Chinesen
und Christen besetzt waren. In einem
Land, in dem nahezu 90 Prozent der Bevölkerung sunnitische Muslime sind, lie244
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
ferte sie ihren Gegenspielern aus dem islamischen Lager damit Munition.
Obgleich der liberale islamische Gelehrte Gus Dur gegengehalten hatte, wenn
Islamisten meinten, eine Frau dürfe nicht
Präsidentin Indonesiens werden – im Oktober schwenkte der für seine raschen Meinungswechsel bekannte Wahid um. „Als
Politikerin ist Megawati eine Null für
mich“, sagte er über die Frau, die immer
noch zu den Freunden seiner Familie
gehört. Der fast blinde Seher kündigte an,
sich selbst als Präsident zu bewerben.
Präsident Bacharuddin Jusuf Habibie,
63, witterte in diesem Streit der Opposition
seine letzte Chance für eine Bestätigung im
Amt. Im Mai 1998 hatte der in Deutschland
ausgebildete Flugzeugingenieur die Präsidentenwürde vom Autokraten Suharto
übernommen. Dass es zur schnellen Demokratisierung im Inselreich kam, mit freier Presse und einem funktionierenden
Mehrparteiensystem, war zweifellos das
Verdienst des kleinen, quirligen Mannes.
Wie um seinen Ruf, nur eine Marionette des Altmeisters Suharto zu sein, noch zu
bekräftigen, blieb Habibie untätig, als kurz
vor der Wahl die Untersuchungen der Korruptionsvorwürfe gegen seinen Mentor eingestellt wurden.
Letztlich besiegelte aber die Krise in
Osttimor Habibies politisches Schicksal.
* Nach der Ablehnung seines Rechenschaftsberichts
durch die Beratende Volksversammlung.
REUTERS
Zu Hause wurde ihm verübelt, dass er die
Abtrennung der ehemaligen portugiesischen Kolonie von Indonesien zugelassen
hat. Dies könnte zur Balkanisierung des
gesamten Archipels führen. Im Ausland
wurde ihm angelastet, dass er seinen Armeechef und Verteidigungsminister Wiranto nicht früher zur Mäßigung brachte,
als Militärs und Milizen auf der Kaffeeinsel nach dem Unabhängigkeitsreferendum verbrannte Erde hinterließen.
„Wenn Sie nicht zur Wiederwahl antreten“, hatte ihm seine Golkar-Partei vor WoGescheiterter Präsident Habibie*
„Deutscher Anker in Indonesien“
chen durch einen Minister unterbreiten lassen, „dann gehen Sie als Held der Demokratie in die Geschichte Indonesiens ein.“
Habibie entgegnete: „Ich will nicht Held
werden, sondern Präsident.“ Erst als in der
Nacht zum vergangenen Mittwoch das erweiterte Parlament den Rechenschaftsbericht seiner gerade 17 Monate währenden
Regentschaft verwarf, zog Habibie die Präsidentschaftskandidatur zurück.
Mit Habibies Abgang verliert vor allem
die deutsche Wirtschaft ihren wohl größten
Lobbyisten. Der einstige Technologieminister unter Suharto, der in Aachen studierte,
galt in Jakartas Wirtschaftskreisen als
„deutscher Anker in Indonesien“, war bei
Politikern und Managern aus der Bundesrepublik äußerst beliebt. Nach der
Entmachtung Habibies, dessen jüngere
Schwester bei dem Essener Konzern Ferrostaal als Repräsentantin für Indonesien
unter Vertrag steht, könnten der deutschen
Industrie erhebliche Einbußen drohen.
Dass unter dem neuen Staatschef Wahid
radikale Muslime an die Schalthebel in
Jakarta gelangen könnten, befürchten
selbst die Amerikaner nicht. „Abdurrahman Wahid ist eine beeindruckende Gestalt“, sagte US-Staatssekretär Stanley
Roth beim Zwischenstopp in Singapur,
„mit ihm können wir sicher gut zusammenarbeiten.“
In religiösen Fragen ist Wahid, der in
Kairo und Bagdad studiert hat, kein Betonkopf. Stets hat er betont, dass in der säkularen Gesellschaft des Inselarchipels
staatliche Politik um des inneren Friedens
willen nicht mit Religion vermengt werden dürfe. In Wahids Heimat Java versteht
sich der heimische Adat-Islam eher als Verschmelzung der traditionellen Riten mit
dem sunnitischen Islam. Bereitwillig nahm
Wahid deshalb auch die Mitgliedschaft im
israelischen Friedensinstitut von Schimon
Peres an. Beziehungen zum jüdischen Staat
sind für ihn kein Problem. Nicht nur
für den populären Kommentator Salim
Said verkörpert Wahid daher das „sanfte
Gesicht des Islam“. Als Privatmann liebt
Wahid Beethoven und debattiert mit deutschen Besuchern gern die Ergebnisse der
Fußballbundesliga.
Politisches Geschick und Versöhnungsbereitschaft will Wahid bald demonstrieren. Zwar wird er den Ex-Präsidenten Suharto wegen Korruption zur Rechenschaft
ziehen. Aber er wird den Erkrankten sofort
begnadigen, wenn der im Gegenzug seine
nach Meinung des Volkes geraubten Milliarden den Indonesiern zurückgibt.
So war es für den alten Fuchs auch nichts
Außergewöhnliches, dass er einen Tag
nachdem er die Konkurrentin um den sicher geglaubten Präsidentenposten gebracht hatte, Megawati als seine Stellvertreterin wählen ließ. „Es war für das Wohl
unserer Bürger“, glaubt Wahid, „wir hätten
sonst die Unruhen nicht mehr in den Griff
gekriegt.“
Jürgen Kremb
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
245
Ausland
Die kurze Flucht des früheren
Vichy-Beamten Papon
blamierte die Justiz. Nun hat er
jede Gnade verwirkt.
D
er alte, aber ungemein rüstige Herr,
der sich vor zwei Wochen mit seiner Tochter Aline und einer Enkelin an der Rezeption des Hotels „Forum“
im Walliser Martigny präsentierte, nannte
sich Monsieur de la Roche-Foucauld.
Das Pseudonym war wohl mit Bedacht
gewählt. Der falsche Name sollte seinem
Träger offenkundig höhere Weihe verleihen. Denn François de La Rochefoucauld
ist in Frankreich jedem Schüler ein Begriff:
ein Klassiker des 17. Jahrhunderts, dessen
„moralische Sentenzen und Maximen“
über Schuld, Gnade und Erlösung zur
Pflichtlektüre gehören.
Nach fünf Tagen reisten die Gäste mit
unbekanntem Ziel wieder ab – und stürzten ganz Frankreich in helle Aufregung, ja
in eine veritable Staatsaffäre.
Denn bei dem selbst ernannten Moralisten handelte es sich in Wahrheit um den
berühmtesten Justizflüchtling des Landes:
Maurice Papon, 89, erster und einziger
hochrangiger Franzose, der wegen Beihilfe
zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit
während der Nazi-Zeit verurteilt worden ist.
Seit vergangenem Donnerstag ist das
Verdikt – zehn Jahre Haft – rechtskräftig.
Das Kassationsgericht in Bordeaux wies
die Berufung zurück, weil der Beschuldigte nicht erschienen war. Gegen Papon, der
sich nach eigener Darstellung ins „Exil“
begeben hatte, erging sogleich ein internationaler Haftbefehl, und schon am selben
Abend nahm die Schweizer Polizei ihn in
Gstaad fest, wobei sie 90 000 Francs und
drei Pässe in Beschlag nahm. Der franzö-
SIPA PRESS
Kaltes Herz
sische Geheimdienst hatte offenbar Papons cisque“, er trug. Zudem mochte sich der
Präsident dem „schädlichen Einfluss der
Spur nie verloren.
Am Freitagabend ließ die eidgenössische jüdischen Lobby“ nicht beugen, wie er sehr
Regierung den unerwünschten Gast aus viel später zugab. Das Verfahren gegen Pa„Gründen der nationalen Sicherheit“ nach pon versandete und wurde 1987 eingestellt.
Doch die Protektion des furchtbaren
Frankreich fliegen. So wird Papon seine
letzten Tage, seine „Annäherung an die Funktionärs bröckelte. Staatschef Jacques
Ewigkeit“, wie er sagt, statt im erhofften Chirac brach 1995 mit dem Schweigen seiSeelenfrieden im Gefängnis verbringen ner Vorgänger. Zum ersten Mal bekannte
müssen. Dem vermochte er sich über ein ein Präsident der Republik, dass der „französische Staat“, und nicht nur die Vichyhalbes Jahrhundert zu entziehen.
Im Alter von 31 Jahren Generalsekretär Clique, „untilgbare Schuld“ gegenüber den
der Präfektur des Departements Gironde, Juden auf sich geladen habe.
Diese Kehrtwende ermutigte Papons
hatte sich Papon als beflissener Helfer der
Gestapo im besetzten Frankreich hervor- alte Feinde, Kommunisten und jüdische
getan. Zwischen dem 20. Juni 1942 und dem Verbände, den Kampf gegen den Selbst16. Mai 1944 schickte er mit Hilfe ihm un- gerechten noch einmal aufzunehmen. Im
terstellter französischer Polizisten 1690 Ju- Oktober 1997 begann in Bordeaux der
den, darunter 223 Kinder, in zwölf Kon- Prozess gegen den Repräsentanten der alten Bürokraten-Elite. Als das Verfahren
vois in die deutschen Todeslager.
Dem peniblen Beamten mit dem kalten jetzt endgültig abgeschlossen wurde, hatHerzen gelang nach dem Krieg im all- te die französische Justiz insgesamt 18
gemeinen Wunsch nach Verdrängen und Jahre gebraucht, um den reulosen NaziVergessen eine atemberaubende Karriere. Helfer zu richten – schon das ein Skandal
Er brachte es zum Präfekten in Algerien, für sich.
Dem in der ersten Prozessphase gezum Polizeichef von Paris, zum gaullistischen Abgeordneten und schließlich so- sundheitlich schwer mitgenommenen Greis
gar bis zum Budgetminister unter dem gewährte das Gericht Haftverschonung
liberalkonservativen Präsidenten Valéry bis zum Revisionstermin. Drei Polizisten
wachten mit Videokameras vor Papons
Giscard d’Estaing.
Haus in Gretz-ArmainMit seinen guten Bezievilliers östlich von Paris.
hungen schaffte es der nützAber sie waren nicht befugt,
liche Staatsdiener mehrerer
ihn festzuhalten, als er sich
Herren und Republiken, in
am 11. Oktober mit der Bedie Ehrenlegion aufgenommen zu werden und obenmerkung absetzte, er begedrein auch noch eine Mebe sich „für zwei oder drei
daille als WiderstandskämpTage“ in ärztliche Behandfer zu bekommen. Erst als
lung. Unkontrolliert passier1981 Giscard d’Estaing von
te Papon im Auto die
dem Sozialisten François
Schweizer Grenze.
Mitterrand abgelöst wurde,
Einer seiner treuesten
kam seine Rolle bei den JuFreunde, der Ex-Offizier
dendeportationen ans Licht.
Hubert de Beaufort, 72, kein
Aber Mitterrand hatte so
alter Vichy-Kamerad, sonseine eigenen Erfahrungen
dern Sohn eines Widermit Vichy gemacht, dessen
standskämpfers, hatte die
höchsten Orden, die „Fran- Fahndungsaufruf in „Libération“ Flucht organisiert. Es gebe
ein „Netz von Sympathisanten in Politik und Industrie“, so de
Beaufort, die Papon ein schmähliches
Schicksal im Gefängnis ersparen wollten.
„Ich werde den Kopf nicht senken und
bis zum letzten Atemzug jede vorgebliche
Schuld bestreiten. Ich zweifle nicht, dass
die Geschichte mir Gerechtigkeit erweisen
wird.“ Solch hehre Abschiedsworte hinterließ Papon in einem Brief, bevor er
seine vorletzte Reise antrat – eitel, von
Selbstmitleid erfüllt und uneinsichtig bis
zum Schluss.
Hätte er nur seinen La Rochefoucauld
genauer gelesen. „Der Stolz“, so lautet
eine der Maximen des großen Moralisten,
„will nichts schulden, und die Selbstsucht
will nichts bezahlen.“
Romain Leick
SICHOV / SIPA PRESS
FRANKREICH
Verurteilter Papon in Paris
„Jede Schuld bestreiten“
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
AFP / DPA
Ausland
Afrika-Besucher Clinton am „Tor ohne Wiederkehr“ vor Dakar: Wie Vieh auf die Schiffe getrieben
R E PA R A T I O N E N
Sühne für „schwarzen
Holocaust“
Ermutigt durch deutsche Zahlungen an Zwangsarbeiter,
fordern Afrikaner und Afroamerikaner
jetzt Entschädigung für die Zeit der Sklaverei.
250
Ihr Ruf nach Reparationen wird gegenwärtig durch die Sammelklagen von Opfern des Nationalsozialismus beflügelt:
Wenn Firmen Entschädigung für Sklavenarbeit in Nazi-Deutschland leisten, müsse
auch Wiedergutmachung für die fürchterlichen Menschenrechtsverletzungen an
den Schwarzen möglich
sein.
„Die Zahlungen der
Deutschen sind ein Präzedenzfall, der uns enorm
hilft“, sagt der kenianische
Professor Ali Mazrui. Der
in den USA lehrende Politologe will die „Kommission bedeutender Persönlichkeiten“ beleben, die
sich Anfang der neunziger
Jahre im Namen der Organisation Afrikanischer Einheit mit der Reparationsfrage beschäftigte.
* Szene aus dem Steven-SpielbergFilm „Amistad“.
d e r
s p i e g e l
STILLS / STUDIO X
D
er Name des Unternehmens erinnert an ein Versprechen: „Fourty
Acres and a Mule“ nennt Spike
Lee, der Filmemacher der Rap-Generation,
seine Produktionsfirma: Mit 40 Morgen
Land und einem Maulesel pro Familie wollte der US-Kongress nach dem amerikanischen Bürgerkrieg die Schwarzen für die
Leiden der Sklavenzeit entschädigen.
Die Zusage von 1865 wurde nicht erfüllt. Weil das entsprechende Gesetz nicht
durchkam, erhielten die befreiten Sklaven
keine Hilfe; und die Schwarzen haften bis
heute am Bodensatz der amerikanischen
Gesellschaft. Doch seit damals lebt die
Idee, dass die Weißen dieser Welt den
Schwarzen etwas schulden.
Amerika verdanke seinen Wohlstand
auch der unbezahlten Arbeit der Sklaven;
und die Verschleppung von Millionen Menschen aus Afrika sei mitverantwortlich für
die andauernde Unterentwicklung des
Schwarzen Kontinents, argumentieren
politische Aktivisten in den USA und in
Afrika. Sie fordern Sühne für das „Verbrechen des Jahrtausends“.
Unter der Leitung des inzwischen verstorbenen nigerianischen Großunternehmers und Politikers Moshood Abiola wollte die Kommission die Forderung nach Reparationszahlungen einer breiten Öffentlichkeit vermitteln. Deshalb wurde neben
namhaften Historikern auch die weltweit
beliebte südafrikanische Sängerin Miriam
Makeba in das Gremium berufen. Das Anliegen der Schwarzen ist dennoch über
Afrika und die afrikanische Diaspora hinaus kaum bekannt geworden.
In diesem Jahr sollte nun am 23. August
ein „Internationaler Gedenktag an den
Sklavenhandel“ die Menschen aufrütteln;
die Unesco hatte dazu aufgerufen. In den
Vereinigten Staaten und in Großbritannien liefen Fernsehdokumentationen. New
Yorker Afroamerikaner versenkten ein
Denkmal im Meer zur Erinnerung an die
„Middle Passage“, die grauenhafte Überfahrt ihrer Vorfahren nach Amerika. In Li-
Verschleppte Schwarze*: Über 50 Millionen Opfer
4 3 / 1 9 9 9
verpool enthüllte der schwarze UnterhausAbgeordnete Bernie Grant eine Gedenktafel.
Reeder aus der englischen Hafenstadt
hatten allein zwischen 1783 und 1793 über
300 000 Sklaven transportiert und dabei
zwölf Millionen Pfund verdient. Grant, der
dem „African Reparations Movement“ angehört, verwies darauf, dass Traditionsbanken wie Barclays ihre frühen Profite
dem Geschäft mit dem Menschenhandel
verdanken. Auf englischen Plantagen in
der Karibik, so berichtete die TV-Serie
„Totgeschwiegen: Britannien und der Sklavenhandel“, leisteten die aus Afrika Verschleppten pro Jahr drei Milliarden Arbeitsstunden.
Solche Zahlen schreien nach Kompensation. „Wir sind weltweit die einzige
Gruppe, die noch keine Entschädigungszahlungen erhielt“, protestiert in Ghana
die „African World Reparations and Repatriation Truth Commission“, die erst in
diesem Jahr gegründet wurde. Ihre Vorsitzende Debra Kofie sieht die erfolgreichen
Bemühungen von Juden und Indianern.
Die Gruppe in Accra möchte die Nachkommen der Nutznießer von Sklaverei und
Kolonialismus vor ein Uno-Tribunal oder
vor den Internationalen Gerichtshof in Den
Haag bringen. Sie fordert von westlichen
Regierungen und Unternehmen die Irrsinnssumme von 777 Billionen Dollar – und
entwertet sich so gegenüber anderen Initiativen.
Ernst zu nehmende Advokaten der Wiedergutmachung für die schwarze Rasse
wissen nämlich, dass sich das historische
Unrecht weder finanziell erfassen noch juristisch aufarbeiten lässt. Denn anders als
die Verbrechen Hitler-Deutschlands liegen
die Untaten der Sklavenzeit mindestens
130 Jahre zurück. Überlebende kann es
deshalb nicht geben; und die Zahlen über
die größte Zwangsmigration der Weltgeschichte gehen weit auseinander.
Nach neuesten Recherchen des britischen Historikers Hugh Thomas wurden
zwischen 1440 und 1870 nachweislich 13
Millionen Afrikaner aus dem Schwarzen
Kontinent verschifft (SPIEGEL 8/1998).
Kollege Basil Davidson kommt dagegen
auf über 50 Millionen Opfer der Sklaverei,
weil er zur Verschleppung die Toten aus
Kriegen und Hungersnöten hinzurechnet.
In der Black-Power-Bewegung engagierte
Politiker beziffern die Opfer des „schwarzen Holocaust“ gar auf 100 Millionen.
Nur: Die auf hohe Zahlen fixierten Radikalen verdrängen meist, dass die Masse
der Sklaven von Afrikanern gefangen und
verkauft wurde. Die weißen Händler errichteten in der Regel nur Forts entlang
der Küste und erwarben ihre menschliche
Ware im Tausch gegen Waffen, Stoffe,
Branntwein und andere westliche Produkte. Allerdings schufen Europäer und Amerikaner eben eine Nachfrage, die weite Teile Afrikas ihrer leistungsfähigsten Mend e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
A. BASTIAN / CARO
Ausland
Schwarzen-Aktivistin Makeba
„Verbrechen des Jahrtausends“
schen beraubte und dabei Wirtschafts- und
Gesellschaftsstrukturen zerstörte.
Den horrenden Schaden suchte eine
Minderheit aufgeklärter Weißer schon im
vorigen Jahrhundert zu begrenzen: Amerikaner schafften befreite Sklaven zurück
nach Afrika und halfen ihnen bei der Gründung des Staates Liberia. Britische Abolitionisten siedelten ehemalige Sklaven in
Freetown (Sierra Leone) an. Heute sehen
westliche Politiker in der Entwicklungshilfe für Afrika, Amerikaner in den Fördermaßnahmen für ihre schwarzen Mitbürger
eine Wiedergutmachung für die Sklaverei.
Doch statt Stipendien und Krediten verlangen Gruppen wie die Washingtoner
„National Coalition of Blacks for Reparations in America“ (N’Cobra) Sühnezahlungen. Im Kongress bringt John Conyers,
ein schwarzer Demokrat aus Michigan, seit
BPK
* Kolorierter Holzstich vom Anfang des 19. Jahrhunderts.
1989 Jahr für Jahr eine Gesetzesvorlage
ein: Die Volksvertreter sollen die Sklaverei
als Unmenschlichkeit anerkennen und Vorschläge für die Entschädigung der Opfer erarbeiten. Bislang fand Conyers keine
Mehrheit.
Conyers und N’Cobra berufen sich auf
die deutschen Zahlungen an Israel und Holocaust-Überlebende und nennen zudem
ein amerikanisches Vorbild: Als Entschädigung für ihre Internierung im Zweiten
Weltkrieg erhielten 60 000 US-Bürger japanischer Herkunft 1988 je 20 000 Dollar.
Der damalige Präsident Ronald Reagan
entschuldigte sich zudem bei den JapanAmerikanern, weil sie zu Unrecht als Feinde verfolgt wurden. Bei den Schwarzen
hat sich bislang noch kein US-Präsident offiziell entschuldigt.
Auf seiner Afrika-Reise 1998 bedauerte
Bill Clinton zwar den Sklavenhandel. Er
hatte Tränen in den Augen, als er auf der
berüchtigten Insel Goreé vor Dakar das
„Tor ohne Wiederkehr“ besuchte, durch
das unzählige Afrikaner wie Vieh auf Schiffe getrieben wurden. Doch eine formelle
Entschuldigung vermied Clinton. Eine solche Geste würde die lästige Diskussion um
Reparationen vehement vorantreiben.
Europäer werfen denn auch Washington
vor, Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit mit zweierlei Maß zu messen:
Als die US-Regierung im vergangenen
Jahr die Schweizer Banken unter Druck
setzte, Holocaust-Opfer und deren Erben
zu entschädigen, blaffte der Berner Diplomat Thomas Borer: „Wie kommen die
Amerikaner dazu, uns zu verurteilen? Wessen Reichtum gründet sich denn auf Sklaverei?“
Hans Hielscher, Christoph Plate
Sklaven-Auktion in Amerika*: Basis des Reichtums
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
253
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
ACTION PRESS
Reiche Bauern können sich Konkubinen leisten. Familien brechen
auseinander, weil die Partner gezwungen sind, an verschiedenen
Orten Geld zu verdienen. Seitensprünge, früher von Parteikadern
öffentlich gerügt, kommen immer
häufiger vor. Doch Scheidungen
bedeuten für die Frauen oft Elend
und soziale Ächtung. In diesem Klima der Verunsicherung wachsen
sich selbst Alltagskonflikte schnell
zu Tragödien aus.
So nahm sich die Bäuerin Guixiang das Leben, weil sie einen
Streit zwischen ihrem Vater und
ihrem Gatten nicht ertragen konnte. In ihrem Heimatort Dongshan
ist es Sitte, dass Frauen während
der ersten drei Ehejahre noch im
Haus der Eltern wohnen. Als ihr
Mann sie eines Tages vom Feld
zum Mittagsreis zu sich holen wollte, zettelte ihr Vater vor der feixenden Dorfbevölkerung ein Wortgefecht an. Guixiang, hin- und hergerissen zwischen ihrem Mann und der
Loyalität zu dem Alten, nahm Rattengift.
Sie starb kurz darauf im Hospital.
„Wir brauchen dringend Geld, um auf
den Dörfern Beratungsstellen zu eröffnen“, warnt der Pekinger Arzt Liu. Nur:
Für seelischen Beistand fühlt sich niemand
verantwortlich.
Die KP verdankt zwar ihre Macht dem
Landvolk, sie mischt sich gern in Familienangelegenheiten ein und überwacht zur
Geburtenkontrolle sogar die Menstruation. Aber Selbstmorde betrachten die Genossen als Privatsache. „Niemand fühlt sich
wirklich verantwortlich“, klagt Xie Lihua,
Chefredakteurin der Zeitschrift „Landfrauen wissen alles“.
Xie kämpft mit ihrem vom Frauenverband herausgegebenen Monatsblatt im
DIN-A5-Format (Auflage: 200 000, Preis:
34 Pfennig) einen einsamen Kampf gegen
die Ignoranz und macht zum Beispiel
Suizide regelmäßig publik. In Rubriken
wie „Meine persönliche Geschichte“,
„Arbeit in der Stadt“ oder „Liebe und
Heirat“ berichten Betroffene und Journalistinnen zudem über sexuelle Probleme,
prügelnde Ehemänner und ausbeuterische
Arbeitgeber.
„Die Frauen sehen, dass sie mit ihren
Problemen nicht allein dastehen“, sagt
Xie Lihua und weist in ihrem schmalen
Büro in Pekings Weststadt auf Leserbriefe, die täglich stapelweise eintreffen.
Längst versteht sich die Redaktion nicht
mehr nur als Informationsorgan, sondern
bietet auch Lösungen an: Sie organisiert
Lese- und Schreibkurse für Bäuerinnen,
erteilt Rechtsberatung und vergibt Kleinkredite.
„Das Wichtigste aber ist“, so Xie, „dass
wir den Frauen helfen, endlich ihren eigenen Wert zu erkennen.“ Andreas Lorenz
Bäuerinnen bei der Erntearbeit: Die ersten drei Ehejahre noch zu Hause
CHINA
Griff zur
Giftflasche
Pekings Reformpolitik
gefährdet die Dorfgemeinschaften.
Unter jungen Bäuerinnen
grassiert eine Selbstmordwelle.
A
ls sich im Dorf Shangdang in
der östlichen Provinz Jiangsu das
Glücksspiel Mahjong wie eine
Epidemie verbreitete, konnte auch Zhao
Yinger nicht widerstehen: Zu groß war die
Verlockung, der mühsamen Feldarbeit entfliehen zu können.
Nach ein paar Jahren hatte die Mutter
zweier Söhne Schulden von mehr als 30000
Yuan (rund 6700 Mark) angehäuft, und
eines Tages, Ehemann und Kinder waren nicht zu Hause, trank sie verzweifelt
ein Schädlingsbekämpfungsmittel. Stunden später war Zhao Yinger, 35, tot.
Die Bäuerin Xu Fengzhi träumte von einem einfachen, glücklichen Familienleben.
Mit 20 heiratete sie, zwei Jahre später bekam sie einen Sohn. Dann beschloss ihr
Mann, die Nordprovinz Hebei zu verlassen
und sich im Süden in einer Ziegelei zu verdingen. Er begann eine Affäre, alle Versuche Xus, ihn zurückzugewinnen, scheiterten. Nach einem Streit griff sie zur Pestizidflasche. Xu Fengzhi war 29, als sie starb.
Der Tod von Zhao und Xu markiert einen dramatischen Trend. Obwohl nur ein
Fünftel aller Frauen auf der Erde Chinesinnen sind, stellen sie nach einer Studie
der Weltgesundheitsorganisation WHO und
256
der Harvard-Universität rund 57 Prozent
aller Selbstmörderinnen weltweit. Jeden
Tag setzen in China etwa 500 Frauen ihrem
Leben ein Ende – die meisten wohnten auf
dem Lande.
„Bäuerinnen wissen bei Problemen oft
keinen anderen Ausweg“, sagt der Pekinger Arzt Liu Huaqing, der seit 1993 im Huilongguan-Krankenhaus die Ursachen der
Suizid-Welle erforscht. So viel steht bereits fest: Die Frauen sind gefangen in traditionellen Bräuchen und zugleich Opfer
der raschen Modernisierung Chinas. Ihr
psychischer Druck wächst enorm.
Frauen verdienen weniger als männliche Arbeitskollegen und werden schneller
gefeuert; Unverheiratete bekommen in den
Kommunen weniger Land zugeteilt. Falls
sie keinen Ehepartner in einem anderen
Dorf finden, müssen sie mancherorts sogar
dafür bezahlen, in ihrer Heimat bleiben zu
können. Viele Mädchen dürfen ihren
Zukünftigen nicht selbst aussuchen.
Zur Armut kommt Unwissenheit. Wie
früher nehmen Eltern zuerst die Töchter
aus dem Unterricht, wenn sie das Schulgeld
nicht mehr bezahlen können. Schätzungsweise 100 Millionen Chinesinnen sind auch
deshalb des Lesens und Schreibens unkundig.
Die Regierung versprach, solche Diskriminierungen abzuschaffen – hatte doch
Staatsgründer Mao Tse-tung den Frauen
die „Hälfte des Himmels“ zugeteilt. Aber
auch ein halbes Jahrhundert nach der kommunistischen Revolution gilt weiblicher
Nachwuchs häufig als unnütz. Wichtigster
Grund: In der Provinz existiert keine Rentenversicherung. Es sind der Sohn und die
Schwiegertochter, die für die Alten sorgen,
bloß funktioniert das nicht mehr wie gewohnt – die wirtschaftliche Reformpolitik
hat das Landleben drastisch verändert.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
J. POLLEROSS / JB PICTURES / AGENTUR FOCUS
Ausland
Aluminiumfabrik in Sibirien: Gewaltige Überschüsse auf Konten im Ausland?
und Produktionsprogramme in der GUS
und in Osteuropa“ vor, tätig vor allem als
Joint-Venture-Partner der Genfer Niederlassung von Trans-World Metals. Diese
TWG-Tochter widmet sich speziell dem
GUS-Geschäft; sie weist alle Vorwürfe
zurück.
Noch ein Ermittlungsverfahren wegen Geldschiebungen
David Rubin (im Westen: Reuben) steht
aus Russland – wieder in der
der TWG als Direktor vor. Mit 80 Angestellten wies die Firma 1996 einen Umsatz
Schweiz, mit dem Vorwurf der Geldwäsche.
von 27 931 000 Pfund aus,
dabei einen Gewinn nach
s waren einmal drei Brüder – Mi- perfield“ zu recherchieren.
Steuern von 1202000 Pfund.
chail, David und Lew Tschornoi. Sie Gerade erhob die New Yor1997 stieg der Profit dank
kamen aus der Sowjetrepublik Us- ker Staatsanwaltschaft in
einer Steuerrückzahlung
bekistan und hofften auf das große Geld. Sachen russischer Milliarauf 4,8 Millionen Pfund,
Zu denen gesellten sich zwei Brüder aus den-Transfers über die Bank
of New York Anklage gegen
doch der Umsatz sank drasdem Irak: David und Simon Rubin.
tisch, 73 Mitarbeiter wurden
Und es gab zu Sowjetzeiten eine Staats- drei Verdächtige, Schweizer
entlassen: Die Dinge laufen
handelsgesellschaft Transworld, speziali- Banken sperrten sogleich
nicht mehr so, wie sie sollen.
siert vor allem auf den Export von Alumi- wegen möglicher GeldwäTWG ist der Kopf eines
nium; sie gehörte dem Ministerium für sche Konten mit mindestens
verschachtelten Imperiums,
Außenhandel in Moskau. Gegründet 1977, 26 Millionen Franken. Im
das nach dem Stand vom
wuchs unter den Händen der Rubin-Brü- Zentrum des Verdachts
Juni insgesamt 86 Unterder die Trans-World Group PLC (TWG) steht der Jüngste aus den
nehmen in 14 Ländern
mit Sitz in London, 25 Harley Street, zum beiden Bruderschaften: Lew
umfasst – vornehmlich auf
drittgrößten Aluminiumkonzern der Welt. Tschornoi, 45.
Gegen ihn hat die Genfer
schönen Inseln von GuernDer Aufschwung kam, als Russland zum
Privatkapitalismus wechselte. Da wurde Staatsanwaltschaft ein Un- Metallhändler Lew Tschornoi sey bis West-Samoa, aber
auch in England und den
für seine Rüstungsindustrie nicht mehr viel tersuchungsverfahren weAluminium gebraucht. Durch die Gebrüder gen des Verdachts der Geldwäsche einge- USA, und zwölf Firmen sowie zwei BanTschornoi fand die TWG Zugang zum rus- leitet. Tschornoi-Bruder Michail befand ken in Russland. Zwei Millionen Tonnen
sischen Aluminiummarkt – allemal kritisch sich schon 1996 unter dem Verdacht der Aluminium verkauft die TWG im Jahr, das
beäugt von den Konkurrenten in Amerika, Mitgliedschaft in einer kriminellen Verei- sind zwei Drittel der gesamten GUS-ProKanada, Frankreich, der Schweiz und in nigung ein paar Tage in Schweizer Unter- duktion und ein Zehntel der ganzen Welt:
suchungshaft – doch ihm war nichts schlüs- endlich einmal ein Kapitalgeber, der sein
der GUS.
Sie müssen es zu bunt getrieben haben, sig nachzuweisen. Auch diese Ermittlung ist Geld in Russlands Produktion steckt, anstatt es zu horten.
die forschen Leichtmetallhändler. Jedenfalls noch nicht abgeschlossen.
Lew Tschornoi, der sich im Westen CherOder auch nicht. David Reuben veröfbegannen das amerikanische FBI und Britanniens Nationaler Kriminal-Geheimdienst noi schreibt, stellt sich als „Hauptkoordi- fentlichte 1997 große Anzeigen, adressiert
gegen sie emsig in einer „Operation Cop- nator der britischen TWG für Wirtschafts- an US-Vizepräsident Al Gore und RussRUSSLAND
Operation Copperfield
KOMSOMOLSKAYA PRAVDA
E
260
d e r
s p i e g e l
4 3 / 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
REUTERS
lands damaligen Premier Wiktor Tscher- 1993 bis 1997 kein einziger Rubel in Kras
nomyrdin: Er warnte vor Hindernissen investiert.
Hausherr im Gouvernement Krasnofür Investitionen in Russland. Denn Russlands Innenminister wollte die Alumi- jarsk ist Alexander Lebed, der General
a. D. und Amateurboxer. Er lag im Clinch
niumindustrie wieder verstaatlichen.
Der TWG-Feind wurde geschasst. Zu- mit Anatolij Bykow, dem zehn Prozent der
vor hatten freilich schon die TWG-Für- Kras gehören; nebenher ist er Präsident
sprecher ihren Posten verloren – ein Vize- des russischen Boxverbands. Diesem Enerpremier und der Leibwächter des Präsi- gie-Baron müsse man „das Rückgrat bredenten Boris Jelzin. Der Wind hatte sich chen“, röhrte Lebed und vervierfachte den
gedreht: TWG-Firmen büßten die Kon- Preis der Stromzulieferungen für den
trolle über das Metallurgie-Kombinat in Kras-Betrieb. Seit 1. Januar muss Kras auf
Nowolipezk ein, wo ihr eigener Manager seine Alu-Exporte auch noch Mehrwertdie Front wechselte, desgleichen über das steuer und Zoll abführen, was sich die FirAluminiumwerk in Sajansk: Dort hatte sich ma kraft staatlicher Exportförderung bis
der Vize-Generaldirektor mit Lews Bruder dahin geschenkt hatte.
Bykow kündigte Lebed den Kampf an,
Michail verbündet – gegen Lew.
Die Regierung von Kasachstan warf Lebed verglich diese Drohung mit dem
TWG-Gesellschaften vor, sie hätten ihre Versuch, „einen Igel mit einem nackten
Stahl- und Alu-Schmelzen ruiniert, indem Hintern einzuschüchtern“. Das war tapfer.
sie Schulden und Steuern nicht bezahlten, Allein 1994 sind in Krasnojarsk 14 Aludie Gewinne aber ins Ausland transferier- miniumhändler auf nicht natürliche Weise verschieden.
ten. Es ging um 370 Millionen Dollar.
Jahrelang hatte Bykow
Das war das Erfolgsgemit dem Weltmann Cherheimnis: Rohstoff zu Niednoi gemeinsame Sache gerigpreisen an Vertrauensmacht. Jetzt aber schwenkleute zu verkaufen, welche
te Chernoi um, er setzt
die Barren in London zu
nun auf den Durchgreifer
Weltmarktpreisen losschluLebed. Dazu verband er
gen. Die gewaltige Diffesich mit dem Tycoon Berenz ging auf Konten im
resowski, dem er die Mittel
Ausland.
zum Erwerb der HauptChernoi wandte sich
stadtzeitung „Kommernun der Politik zu. Im
sant“ besorgt haben soll
vergangenen Herbst be(was Beresowski freilich
schwor er, laut „New York
bestreitet). Preis des ganTimes“ Inhaber eines iszen Verlagshauses: 15 Milraelischen Passes, in einer
lionen Dollar und Überrussischen Zeitung seine
nahme von 20 Millionen
patriotischen Gefühle für
Dollar Schulden.
sein Heimatland. Im April
Darauf reiste Beresowunterzeichnete er mit 32
ski im August nach Krasrussischen Wirtschaftska- Feinde Lebed, Bykow
nojarsk zu Verhandlungen
pitänen ein Manifest für
eine starke Präsidentschaft – mit der mit Lebed, dem potenziellen GegengeAndeutung, Jelzin sei ein Hindenburg, wicht gegen die Moskauer Präsidentschaftsanwärter Primakow, Stepaschin,
gefährlich durch Schwäche.
Wer aber sollte ihn ersetzen, da die Luschkow – Befürworter eines gemäßigPrätendenten den Großkapitalisten an ten Staatskapitalismus.
Wie es der Zufall will, erging am Tag
den Kragen wollen? Denn jeden Monat
fließt etwa eine Milliarde Dollar aus Russ- nach Beresowskis Abreise aus Sibirien ein
land auf Westkonten, anstatt daheim die Haftbefehl gegen Bykow, der freilich nicht
Wirtschaft anzukurbeln. Zentralbankchef anzutreffen war. Bykow hatte sich auf die
Geraschtschenko, dessen Bank selbst Kandidatenliste der Liberaldemokratischen
Milliarden auf die Steuersparinsel Jer- Partei des Rechtsaußen Schirinowski setzen
sey überwies, zieht die Bilanz: „Russland lassen, was ihm Abgeordneten-Immunität
hätte bescheren können. Wegen ungenaublutet aus.“
Chernoi setzte auf einen Retter aus er Angaben zu seinen EinkommensverSibirien, wo er sich auskennt: Dort, in hältnissen verwarf die Zentrale WahlkomKrasnojarsk, hatte er lange Zeit die Ge- mission die ganze Liste – Schirinowski hat
winne der Aluminiumfabrik Kras ab- vorige Woche einen neuen Wahlverein reschöpfen lassen. Bei der Verarbeitung von gistrieren lassen, ohne Bykow.
Mitten im Wahlkampf für die Duma
1,2 Millionen Tonnen im Wert von 1,2 Milliarden Dollar machte die Firma voriges kommt die Polizei nun aber auch zu
Jahr offiziell mit 9,6 Millionen Rubel Chernoi. Der Berner Polizeisprecher
nur 0,75 Prozent Gewinn. Die Differenz Jürg Pulver kündigte im ersten Überzu den Weltmarktpreisen muss auf Kon- schwang schon Dramatisches an: „Es geht
ten im Ausland gelandet sein. Denn laut um eine Untersuchung von großer Tragrussischem Wirtschaftsministerium wurde weite.“
Fritjof Meyer
262
d e r
s p i e g e l
4 3 / 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
USA
Out of Passau – ins Weiße Haus?
Präsidentenwahl 2000: Eine Germanistin aus Bayern kämpft für ihren Ehemann
Bill Bradley, der dem Clinton-Vize Al Gore die Kandidatur streitig macht.
Die potenzielle First Lady gewinnt auch akademisches Profil: Deutschen Schriftstellern
wirft sie in einem Buch Holocaust-Verdrängung vor.
O
der Vereinigten Staaten. Das gehört sich
hier so.
Strahlend blaue Augen, dunkelblonde
Pagenfrisur, rosafarbenes Samtjackett, je
eine Perle im Ohrläppchen: In der voll gepackten Aula des Elmira College im Bundesstaat New York findet die zart und doch
agil wirkende Frau mit ihrer Werbung für
den Ehemann („Mein Thema heißt Bill
Bradley“) ein dankbares Publikum.
Dabei haben die Studenten gute Vergleichsmöglichkeiten: Unlängst trat in diesem Saal die amtierende First Lady auf,
die jetzt einen Sitz im US-Senat anstrebt;
Hillary Clinton wirbt längst nicht mehr für
ihren Bill, sondern für sich selbst.
Gegen die druckreif dahinfließende Suada der einstigen Lady Macbeth von Ar-
kansas käme Ernestine Bradley schwerlich
an. Sie redet nicht wie eine Politikerin,
denn sie ist keine – „und ich will auch keine werden“. Aber noch weniger gehört sie
zum Typus der abgebrühten Washingtoner
Politikerfrauen, die manche Reden ihrer
Männer auswendig können und genauer
wissen als jene, wie sie im Kongress abgestimmt haben. Bei Fragen aus dem Publikum kommt es vor, dass Mrs. Bradley passen muss: „Ich will für Sie herausfinden,
was Bill hierzu gesagt hat“ – und ihre Assistentin notiert Namen und Adressen.
Das fällt partout nicht unangenehm auf.
Trotz ihrer 64 Jahre geht von Ernestine
Bradley eine mädchenhafte Arglosigkeit
aus, die sie wie Panzerglas schützt. Vielleicht erklärt das, warum dieser Frau, die
REUTERS
b der zierlichen Frau die Ohren
schlackern, ist mit bloßem Auge
nicht erkennbar. Obwohl sie den
Bombast amerikanischer Wahlkampfredner leidlich gewohnt sein dürfte, scheint
sie doch sekundenlang in ihrem Sessel zu
gefrieren, als die Ankündigung erschallt:
„Wir begrüßen Amerikas erste First Lady
des kommenden Jahrtausends!“
Ernestine Bradley, geschiedene Schlant,
geborene Misslbeck, setzt dem prasselnden Beifall kopfschüttelnd eine freundliche
Miene entgegen. Als wollte sie sagen: „Ich
und First Lady, das ist doch wohl nicht Ihr
Ernst.“ Aber Minuten später spricht Universitätsdozentin Dr. Schlant, die sich nur
im Wahlkampf Mrs. Bradley nennt, von
ihrem Mann als dem künftigen Präsidenten
Gegenkandidat Gore
AP
Der Vorsprung schrumpft
Ehepaar Bradley: „Amerikas erste First Lady des kommenden Jahrtausends“?
266
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
seit fünf Monaten durch Amerika tingelt
und von demokratischen Lokalgrößen als
potenzielle First Lady präsentiert wird,
kaum Fragen über das Naheliegende gestellt werden: über ihre fremdländische
Herkunft.
Sicher, einen Akzent vom Kaliber Henry Kissingers hatte die aus Passau stammende, damals 21-jährige Pan-Am-Stewardess Ernestine Misslbeck nicht dabei, als sie
1957 von Bayern nach New York übersiedelte. Doch eine ganz leichte bajuwarische
Sprachfärbung ist ihr schon erhalten geblieben, die bisweilen – bei Wörtern wie
„sure“ oder „disgruntled“ – durchschlägt.
Es mag auch vorkommen, dass Mrs. Bradley im Reden eine Sekunde pausiert, den
richtigen englischen Ausdruck suchend. Ei-
Werbeseite
Werbeseite
STAATSARCHIV PASSAU
268
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Krieges zwar bei der Luftwaffe, jedoch
keineswegs in der Partei gewesen sei.
Bei der Lektüre drängt sich die
Schlussfolgerung auf: ein Nazi im
Stammbaum der Kandidatenfrau, und
das Unternehmen „Bradley for President“ wäre erledigt.
Kurioserweise liegt aber gerade in
Fräulein Misslbecks deutscher Kindheit und Jugend der Grund, der 1969
das nachhaltige Interesse Bill Bradleys
an der jungen Einwanderin weckte.
Zu der Zeit, da die heutige Frau Bradley in Niederbayern heranwuchs, war
in jener abgelegenen Weltgegend ein
Sport namens Basketball unbekannt
– weshalb Ernestine weder in ihrer
Heimat noch später in Amerika das
Korbballspiel zur Kenntnis nahm. Nur
so ist erklärbar, warum ihr das Antlitz
und der Name des überlangen Kerls,
dem sie Ende der sechziger Jahre in
ihrem New Yorker Apartmenthaus öfter im Fahrstuhl begegnete, absolut
nichts bedeuteten.
Der Mann im Fahrstuhl war Bill
Bradley – eine lebende Legende, einer
der ruhmreichsten Amerikaner seiner
Zeit, dem Volk vertrauter als Hollywood-Stars. „Dollar Bill“ lautete
sein Spitzname, denn der olympische
Goldjunge von Tokio ’64 war höchstbezahlter Profispieler bei den New Yorker
„Knicks“ geworden. Für Sporthistoriker
ist Bradley schlicht der vorletzte große Basketball-Champion weißer Hautfarbe, den
die Amerikaner hervorgebracht haben.
„Und ich hatte von all dem keinen
Schimmer“, bekennt Ernestine Schlant
beim Hamburger-Essen mit entwaffnendem Lächeln: „Vom Sport war mir höchstens der Beckenbauer ein Begriff. Bradley
sagte mir nix.“ Ebendeswegen fand der
lange Bill, für den Millionen Amerikanerinnen schwärmten, diese Passauerin unwiderstehlich. Die Love-Story begann.
Die Geschiedene mit dem leichten Akzent und einer Tochter aus erster Ehe war
acht Jahre älter und mindestens 30 Zentimeter kürzer als Bradley, der 1,96 Meter
misst. Sie bewunderte in ihm weniger den
leichtfüßigen Korbballartisten als das intellektuelle Schwergewicht: den PrincetonAbsolventen und Rhodes-Stipendiaten, der
in Oxford studiert hatte und mit der Politik liebäugelte.
Ernestine Schlant ihrerseits hatte an der
angesehenen Emory University in deutscher und vergleichender Literaturwissenschaft promoviert. Darauf jobbte sie in
New York bei einer Filmgesellschaft und
übersetzte, als Bradley sie umwarb, ein
Standardwerk des militanten Feminismus:
„Sexus und Herrschaft“ von Kate Millett,
mit dem deutschen Untertitel: „Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft“.
Sobald im Spätherbst der Vorwahlkampf
auf Touren kommt und die „Familienwerte“ der Bewerber unter die Lupe geraten,
AP
ne „Ausländerin“, eine „Deutsche“
gar (mit amerikanischem Pass) als Präsidentengattin im Weißen Haus – wäre
das denn statthaft? Gewiss würden die
meisten Amerikaner ein solches Novum weniger sensationell finden als
die Deutschen. Tatsache aber ist, dass
es eine außerhalb der USA geborene
First Lady in diesem Jahrhundert noch
nie gegeben hat – und auch vorher nur
ein einziges Mal.
„Aber das zählt ja kaum als Präzedenzfall“, sagt Ernestine Misslbeck
aus Niederbayern in ihrem sorgfältigen Hochdeutsch: „Louisa Adams
(Frau des sechsten US-Präsidenten)
war zwar in London geboren, hatte
aber US-Bürger als Eltern.“
Dass die Frage in der amerikanischen Presse nun doch angetippt wird,
obwohl Mrs. Bradley schon seit Juni
als Wahlhelferin von „Bradley for President“ unterwegs ist, hat demoskopische Gründe. Monatelang war Bill
Clintons Vizepräsident Al Gore in den
Meinungsumfragen der einsame Spitzenbewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten gewesen
– so unangefochten wie der Präsidentensohn George W. Bush bei den Re- Basketballer Bradley (1969): Lebende Legende
publikanern. Dass Gore im früheren
US-Senator Bill Bradley ein gefährlicher tember, brachte Bradley aber mehr Geld
Herausforderer erwachsen ist, registrieren zusammen als Gore. Und da er weniger
ausgibt als Clintons Vize, hat er derzeit
die Umfragen erst seit wenigen Wochen.
In Bundesstaaten wie New Hampshire auch mehr als dieser auf der Bank.
Nicht ohne Komik die Folge: Der Vizeund New York, die bei den KandidatenVorwahlen Anfang 2000 einen mächtigen präsident gebärdet sich auf einmal wie ein
Sog erzeugen können, hat Bradley in der Außenseiter – als ob er, Al Gore, nun einen
Demoskopengunst schon mit Gore gleich- Spitzenreiter Bradley herausfordern müssgezogen oder ihn überrundet. Auf natio- te. Fernsehwirksam winkt der sonst so steinaler Ebene ist Gores Vorsprung gegenüber fe Gore bei öffentlichen Auftritten übers
Publikum hinweg einem imaginären Bill
Bradley auf zwölf Prozent geschrumpft.
Ein zuverlässigeres Indiz als die oft lau- Bradley zu, um ihn zum Fernsehduell zu
nischen Meinungsumfragen bieten die fordern. Derweil trompeten die ImageWahlkampfkassen der beiden demokrati- künstler des Vizepräsidenten, ein „neuer
schen Bewerber. Auch beim Scheffeln von Gore“ sei geboren, selbstbewusst, locker,
Spendengeld hat Bradley den Abstand zu volksnah, der Bradley in die Schranken
Gore verkürzt: 19,2 Millionen Dollar ins- weisen werde.
Diese jüngste Entwicklung lenkt die Aufgesamt konnte er sammeln, gegenüber den
24,9 Millionen des US-Vizepräsidenten. merksamkeit etwas stärker auf die unbeGerade in jüngster Zeit, von Juli bis Sep- zahlte Wahlkampfhelferin Ernestine Bradley – und den ungewöhnlichen Umstand, dass die
Gattin eines der Bewerber
keine gebürtige Amerikanerin ist. Dass es sich bei
ihr obendrein um eine
Deutsche handelt, und
zwar vom Jahrgang 1935,
führt in den USA zu diskreten, hochnotpeinlichen
Nachfragen in einer bestimmten Richtung.
In einem Porträt Ernestine Bradleys in der „New
York Times“ heißt es schon
im ersten Absatz, dass Vater
Misslbeck – nach Auskunft
der Tochter – während des
NS-Aufmarsch in Passau (1934): Schock in Atlanta
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
das aus persönlichem Erleben kommt und
wenig mit schicken multikulturellen Umarmungsgesten zu schaffen hat.
An Bill Bradley blieb das schlechte Gewissen des weißen Basketball-Champions
gegenüber seinen dunkelhäutigen Mitspielern haften, die – obwohl sie so gut waren
wie er – von den meisten Amerikanern
viel weniger beachtet wurden. Sein persönlicher Ruhm hing allzu sehr mit seiner
Hautfarbe zusammen, und jahrelang hatte
er die Demütigungen mit ansehen müssen,
die seinen schwarzen Kameraden in Hotels
oder Restaurants zugefügt wurden.
Bei Ernestine Misslbeck aus Passau ist
der antirassistische Impuls komplizierterer Herkunft. Die Versuchung liegt nahe,
einfach ihren Geburtsort haftbar zu machen – jenes „ewig braune Biotop“ (Henryk M. Broder) des „wunderbar tapferen
Times“ erklärte, „angesichts jener mich
ungeheuer verstörenden Realität von Juden gestützt und getröstet worden“.
Die Universitätsdozentin Ernestine
Schlant revanchierte sich vier Jahrzehnte
später dafür – mit einem Buch, das „mein
Versuch ist, die Last zu bewältigen“. Es
heißt „The Language of Silence“ (Die
Sprache des Verschweigens) und stellt eine
verblüffende, ja explosive Abrechnung mit
der deutschen Literatur seit 1945 dar.
Mit ebenso schlüssigen wie manchmal
anfechtbaren Argumenten behauptet die
Germanistin, die deutschen Schriftsteller
hätten sich mit dem Nazi-Holocaust und
vor allem seinen Opfern fast nur auf oberflächliche, klischeehafte, verdrängende,
eben „verschweigende“ Weise befasst.
Der massive Vorwurf trifft – ausgerechnet – den neuen deutschen Nobelpreisträger Günter Grass sowie dessen 1972
nobelierten Freund und Vorgänger
Heinrich Böll. In ihren bohrenden
Stichproben rechnet Schlant mit
Martin Walser ab, sie greift sich den
verstorbenen Alfred Andersch
ebenso wie die Lebenden Peter
Härtling und Bernhard Schlink. In
ihren Textanalysen entdeckt sie entweder „Strategien der Umgehung,
Unterdrückung und Verdrängung
des Wissens“ vom Holocaust – oder
„tölpelhafte und unfähige Bemühungen, den Verbrechen ins Gesicht zu sehen“.
Arthur Hertzberg, ehemals Vorsitzender des American Jewish Congress, preist das Werk als „Markstein moralischen Mutes und historischer Integrität“, die Magazine
„Time“ und „Newsweek“ rühmen
es ebenfalls, die „New Republic“
druckt einen sehr respektvollen Verriss. In den Dankadressen stellt Ernestine Schlant klar, dass ihr Mann
den Text kritisch gelesen und auch
Vorschläge gemacht habe. Würde
Bradley nächstes Jahr gewählt, wäre er unter allen US-Präsidenten der größte Kenner moderner deutscher Literatur.
Der Eindruck, das Ehepaar BradleySchlant sei ein Ausbund an politischer Korrektheit, hält heutigen europäischen Maßstäben allerdings nicht ganz stand. Als Frau
Bradley im Elmira College gefragt wird,
wie ihr Mann zur Todesstrafe stehe, antwortet sie zutiefst überzeugt: „Bill ist entschieden dagegen.“ Bradleys offizielle, festgeschriebene Meinung aber ist, dass im USStrafvollzug Todesurteile zügiger als bisher
vollstreckt werden sollten.
Den Widerspruch versucht seine Frau
und Wahlhelferin mit der Einschränkung
zu überbrücken: „Gegen millionenschwere Drogenkönige sollten Todesurteile zulässig sein.“ Die in Amerika so populären
Hinrichtungen sind offenbar ein verdrängtes Thema im Hause Bradley, das noch der
Bewältigung harrt.
Carlos Widmann
J. LEYNSE / SABA
dürften die US-Wählerinnen erfahren, wie
wenig der Ehemann Bradley dem Tyrannentypus entspricht – und wie sehr die
Bradley-Schlant-Ehe den Wunschträumen
berufstätiger, sogar erzfeministischer Frauen nahe kommt. Solche Aufklärung brächte sicher Stimmen: Bisher herrscht im Lager des früheren Profisportlers ein Übergewicht an Männern – wogegen der hölzerne Al Gore bei Amerikas Frauen immerhin mütterliche Instinkte mobilisiert.
Ernestine und Bill heirateten 1974. Vier
Jahre später hüpfte der Sportler – unter
Umgehung des Repräsentantenhauses – direkt vom Madison Square Garden in den
US-Senat. Das war damals der feinste und
mächtigste Herrenclub der Welt, und Bradley war der jüngste US-Senator des Jahrhunderts – jünger sogar als seinerzeit der
glamouröse John F. Kennedy. Doch ein
Bradley mit Studenten des Elmira College: „Die Tyrannei des Mannes“
Washingtoner Politiker mit dem üblichen
Anhang und Lebensstil wurde er nicht.
Ernestine Schlant verfolgte ihre akademische Karriere fern der US-Hauptstadt,
schrieb ihre Bücher, kam vielfach an Wochenenden zu Besuch. Oft war es der Senator, der sich allein um mindestens eine
der beiden Töchter kümmern musste.
Als bei Mrs. Bradley vor sieben Jahren
Brustkrebs entdeckt wurde, eine Amputation und Chemotherapie nötig wurden,
war es Bill, der politische Prioritäten
zurückstellte und sich der seelischen Genesung seiner Frau widmete. „Wir entdeckten in unserer Beziehung damals eine
Tiefe, von der wir vorher nichts geahnt hatten“, sagte Ernestine Jahre später.
Zwischen den beiden gab es zudem von
Anfang an Gemeinsamkeiten, die politisch
genannt werden können, doch emotionale
Wurzeln haben. Bill und Ernestine teilen
seit jeher ein antirassistisches Engagement,
272
Mädchens“ Anna Elisabeth Rosmus, das
auch vielen Amerikanern aus dem Film
„The Nasty Girl“ (Deutschland, 1990) bekannt ist. Aber Ernestine Misslbeck kam in
Passau ein Vierteljahrhundert früher auf
die Welt als das „schreckliche Mädchen“
Rosmus. Sie hat noch Tee an verwundete
Wehrmachtssoldaten ausgeschenkt. Doch
in den frühen Nachkriegsjahren zog sie mit
der Familie nach Ingolstadt.
Ihren Vergangenheitsschock erlitt die
junge Ernestine erst nach 1957, in Atlanta,
als Lehrer und Freunde – Amerikaner jüdischer Herkunft – sie mit den Fakten des
Holocaust konfrontierten: mit einer deutschen Realität, die den Deutschen ihrer
Generation erst einige Jahre später, durch
schockierende Dokumentarfilme und die
ersten großen Prozesse gegen KZ-Schergen
zu Bewusstsein kam. In Amerika aber war
die eingewanderte Ernestine Misslbeck,
wie sie kürzlich gegenüber der „New York
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
S PA N I E N
Erzengel mit blondem Zopf
Die erste Matadorin trat ab – weil ihr
die Männerwelt der Toreros nicht gleiche Chancen
bot oder sie nicht für die Spitze taugte?
E
Matadora mit dem langen blonden Zopf
schwer atmend ihrem Degenknecht über
die Bande zu.
„Sie wollen einfach Dinge, die unmöglich sind“, lästerte eine elegante Dame mit
Hut in der ersten Reihe, „genau wie die
Tochter von Cassius Clay, die unbedingt
boxen muss.“ Ihr Begleiter in einer schottischen Jagdjacke raunte: „Wie hübsch
wäre sie als Empfangsdame im Hotel.“
Klein und zerbrechlich wirkte die Stierkämpferin vor dem mächtigen Muskel-
FOTOS: M. GUMM / WHITE STAR
in heftiger Guss ging über Madrids
Stierkampf-Arena Las Ventas nieder,
als die zierliche Person mit den etwas
runderen Hüften in der eng anliegenden
Kniehose den Ring betrat. Unter Schirmen
und Kapuzen hatten sich 19 000 Zuschauer eingefunden.
Es ging um ein Spektakel der besonderen Art: Cristina Sánchez, die erste Frau,
die in Spanien den höchsten Rang der Toreros erreichte und zum „Matador“ doktorierte, wie es hier respektvoll heißt, wenn
Immerhin: Die Sánchez hatte es so weit
gebracht wie bisher noch keine ihrer Geschlechtsgenossinnen. Denn fast ebenso
hartnäckig, wie die katholische Kirche
Frauen die Priesterweihe verweigert, schottet sich „el mundo taurino“, die Welt des
Stierkampfs, gegen feminine Versuche ab,
diese Domäne zu erobern. Und die „Kathedrale“ der Toreros, ihrer Manager, der
Stierzüchter wie der Fans ist die Arena Las
Ventas.
Aus diesem Heiligtum trugen begeisterte Männer die Anfängerin nach einer sensationellen Novillada mit Jungstieren vor
vier Jahren im Triumph auf den Schultern
zum Hotel. Im Mai vergangenen Jahres
brillierte sie dort während der Feria von
San Isidro mit eleganter Führung von Capote, dem schweren gelb-rosa Umhang,
und Muleta, dem roten Tuch. Und jetzt ein
Adiós ohne Happy End?
Noch in der Nacht ihres Abgangs trat
Cristina Sánchez in einer Fernseh-Talkshow auf. Schön und unnahbar, mit offenem blondem Haar saß sie neben
ihrem Freund, dem portugiesischen
Banderillero aus ihrem Team, und
klagte an: „Ich gehe, weil meine
männlichen Kollegen nicht mit mir
auftreten wollen.“ Wie eine Rachegöttin in dunkelrotem Kleid, die
Lippen mit Gloss betont, nannte
sie Namen – die gesamte Spitzengruppe der Stierkampf-Stars, von
El Juli bis Fran Rivera, beschuldigte sie des Machismo.
Sollte die stolze Matadora, die
den Hörnern hunderter Kampfstiere trotzte, jetzt von jener geschlossenen Männerwelt um die
Arena zur Strecke gebracht worden sein? In dieser Saison fehlte sie
bei allen wichtigen Ereignissen.
„Ich wurde auf die drittklassigen
Plätze verwiesen“, verkündete sie
bitter. „Das befriedigt mich weder
beruflich noch finanziell.“
Dieser Anklage der zornigen
Kollegin widerspricht Domingo
Valderrama, 28, der im vergangenen Jahr bei Sevilla mit der Sánchez eine Corrida bestritt. Als Frau
habe sie es viel leichter gehabt. Ein
Mann mit gleichem Können hätte
es nie so weit gebracht wie die
schöne Madrilenin.
Richtig ist wohl: Als Publikumsmagnet
bekam die Stierkämpferin in den legendären Arenen von Sevilla bis Pamplona rascher als die meisten Neulinge ihre Chance.
„Da hat sie nicht genug Klasse gezeigt“,
sagt Curro Camacho, ein Sevillaner Star-Torero der siebziger Jahre. „Hätte sie in jeder
Corrida beide Ohren oder den Schwanz erhalten“ – Trophäen als Belohnung für sensationelle Bravour eines Matadors –, „dann
hätte sie sich vor Angeboten nicht retten
können.“ 1996 notierte die Fachpresse die
Stierkampf-Diva auf Rang zehn, letztes
Matadorin Sánchez bei ihrer Abschiedsvorstellung*: Amazone im Ruhestand
jemand einem Stier entgegentritt, um ihn
zu töten, gab ihren Abschied.
Doch Feststimmung wollte nicht aufkommen bei dieser letzten Vorstellung.
Stiere wie Toreros rutschten zuweilen aus
auf dem nassen Sand. Zudem hatte die abtretende Diva Pech bei der Auslosung: Ein
Fleischkoloss von 626 Kilo, bei weitem
das schwerste Tier der Corrida, schwarz
und unberechenbar, stürmte in das Rund,
entriss ihr fast den entgegengestreckten
Umhang, holte den Picador vom Pferd.
„Das kann ja heiter werden“, seufzte die
276
paket, das sie nur mit ihrem Hut überragte. Fahrig hantierte sie mit dem roten
Tuch und tötete ihren letzten Stier unentschlossen, erst nach mehreren Fehlversuchen.
Ein bitterer Abschied. Blass nahm die
27-Jährige den Applaus entgegen, als sie
sich zum letzten Mal vor ihren Anhängern
verbeugte. Dann entschwand sie aus der
Arena, ohne sich umzublicken und mit tiefen Trauerfalten um den Mund.
* Am 12. Oktober in Madrid.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
des, wenn der Matador das
Jahr belegte sie Platz 23, und
Tier mit dem Degen penedieses Jahr stürzte sie vollends
triert, werde es unterworfen
ab, auf Nummer 40.
wie eine Frau. Der Torero erEs war ein schöner Traum
lebe dies als Orgasmus. Wer
gewesen: Als Cristina Sánchez
anders könnte das fühlen als
1972 geboren wurde, herrschte
der Inbegriff des Macho, ein
in Spanien zwar noch der erzwahrer Supermann?
katholische Diktator FrancisToreros wie Valderrama und
co Franco, der Frauen den
Camacho halten solche TheoStierkampf zu Fuß verboten
rien für „verblasen“. Während
hatte. Doch schon als kleines
der Konfrontation mit der GeMädchen folgte Cristina ihrem
fahr, das Leben in der Arena
Vater Antonio in die Arena.
auszuhauchen, „schnurrt unDer Feuerwehrmann, der gern
ser Ding zu einem Churro zuTorero geworden wäre, arbeisammen“, sagt lachend Camatete in einer Cuadrilla, dem
cho, da sei die ganze MännTeam der Matadore, bestelichkeit nur noch winzig – er
hend aus zwei berittenen Pizeigt seinen dünnen kleinen
cadores und drei BanderilleFinger – wie ein Schmalzstänros. Antonio rammte dem Stier
gelchen. Erotik erlebe höchsBanderillas, mit buntem Pa- Sánchez-Rivale Valderrama: „Entschlossenheit zum Töten“
tens das Publikum, das sich
pier geschmückte Spieße, in
den Nacken, um den Mut des Tiers für den
Ausgerechnet der Mann aus einem Dorf mit dem Sieger identifiziert und die „MaTodeskampf anzustacheln.
im bis heute sehr patriarchalischen Anda- gie der Macht“ genießt.
Von 100 Burschen, die eine StierkampfIn der Tochter wuchs der Wunsch, es lusien gab der ersten Matadora eine Rechtdem Vater nachzutun und zu vollenden, fertigung für ihr freches Vordringen in die schule absolvieren, setzt sich höchstens eiwas der Bewunderte nicht erreicht hatte. Männerbastion mit auf den Weg: „Stier- ner durch. Und solange die Zahl der SchüDie Eltern steckten die Widerspenstige kampf ist eine Form der Liebe, und weil ihr lerinnen nicht deutlich steigt, bleibt dieses
allerdings erst mal zu einem Friseur in die Frauen gut lieben könnt, wirst du sicher Terrain für Frauen einstweilen wenig erLehre. Als Cristina mit 17 bei einer Dorf- viel Glück haben.“ Das nahm sich die Sán- folgversprechend.
Einzelne lassen sich gleichwohl nicht
Fiesta das erste Stierkalb mit einem De- chez zum Leitspruch, wenn mal wieder
genstoß getötet hatte, gab es kein Halten Missgünstige spekulierten, ob Frauen von abschrecken. Eva Armenta, 27, die Tochter
mehr. „Ich habe das gefunden, was ich ihrer Körperbeschaffenheit her überhaupt eines Banderilleros aus Sevilla, hatte sich
Cristina Sánchez zum Vorbild gewählt, als
wirklich will im Leben“, beschreibt sie ihre zur Corrida taugten.
Passion in dem Buch „Matadora“.
Aber das Töten des Stiers, der Einsatz sie beschloss, Stierkämpferin zu werden.
Kein Wunder, dass „dieser Torero, blond des Degens im richtigen Sekundenbruch- Heute arbeitet sie zu Pferd als Picadora
wie ein Erzengel, der sich mit unendlicher teil, war immer schon Cristina Sánchez’ für viele kleine und große Matadore. UnAnmut bewegt“, anfänglich auch die hart- schwächster Punkt. „Frauen sind geboren, zählige Male hat sie den Minibus mit einer
gesottensten Stierkampf-Kritiker in den um Leben zu schenken“, hatte ihr lang- Horde Männer geteilt, wenn es auf die
Fachblättern zu poetischen Ergüssen hin- jähriger Manager Simón Casas diesen Ma- Dörfer zur Fiesta ging; sie hat mit männliriss. Ein neuer Medienstar war geboren, kel seines Schützlings zu entschuldigen chen Kollegen in einem Zimmer übernachals das Mädchen aus Parla im Mai 1996 in versucht. Die Matadora mit der Tötungs- tet und „gewartet, bis alle geduscht hatder französischen Stierkampf-Hochburg hemmung dagegen verweist darauf, dass ten“. Nur in der Cuadrilla ihres einstigen
Nîmes feierlich zum Matador erklärt wur- auch viele ihrer männlichen Kollegen sich Idols durfte sie nicht mittun. „Cristina ist
de. Die Patenschaft für diesen Aufstieg der häufig „pinchazos“, Fehlstiche auf die der Obermacho“, schimpft die Andalujungen Sánchez hatte Curro Romero über- Knochen oder in die Seite des Tiers, leisten. sierin, der ihre Männerkollegen einen
nommen, damals 62, eine Legende in der
Domingo Valderrama, der sich schon „blitzsauberen Stich“ bescheinigen.
Schon öfter habe sie ihre Dienste CristiKunst der Tauromaquia.
als fünfjähriger Knirps dem ersten Stier
entgegenstellte, sagt: „Zum Töten na Sánchez angeboten, sei aber ohne Bebrauchst du keine Kraft, sondern Ent- gründung immer abgeschmettert worden.
schlossenheit.“ Der junge Espada- „Was wütet sie gegen den Machismo, wenn
Held ist einen Kopf kleiner als die sie den wenigen Frauen im Beruf nicht
hilft?“, fragt die Picadora, die hauptsächKollegin und ebenso schmal wie sie.
Viel haben Autoren in die Fiesta lich von Turnunterricht in Schulen lebt.
Jedenfalls hat Cristina Sánchez den
Nacional der Spanier hineingeheimnisst. In der Paarbeziehung zwischen Frauen eine Bresche geschlagen. Seit 1997
„toro bravo“ und „torero“ sei der gibt es eine weitere Matadora im MachoStier das männliche Element. Der en- land, für die sie als Patin bei deren Reifege funkelnde Anzug, die rosa Strümp- prüfung in der Arena fungierte.
Und was wird aus der Amazone im Rufe und der Zweispitz, den der Torero
wie eine Perücke auf dem Haar trägt, hestand? Heiraten und Kinder kriegen,
verwandelten ihn in eine Frauenimi- schlagen die Moderatoren vor, die dieser
tation. Mit feminin wirkenden Be- Tage die schöne Wilde vor den Kameras
wegungen verwirre das falsche Weib und Mikros befragen.
„Eins ist sicher“, antwortet Cristina Sándie Bestie.
Andere Stierkampf-Mystiker be- chez dann mit felsenfester Überzeugung,
haupten dagegen, die Picadores lie- „ich werde nicht zu Hause rumsitzen und
ßen den Stier bluten wie eine Frau bei auch niemandem das Essen kochen.“
der Menstruation. Im Moment des ToPicadora Armenta: Blitzsauberer Stich
Helene Zuber
278
d e r
s p i e g e l
4 3 / 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft•Technik
Prisma
MEDIZIN
Hungern macht dick
G
Inhalationsgerät „Pari Inhalierboy“
SPAARNESTAD FOTOARCHIEF
HYGIENE
Hungernde Niederländer (1944/45)
Amsterdamern, die dem Hungerwinter
als Föten ausgesetzt waren. Besonders
stark sei der spätere Hang zur Fettsucht,
wenn die Mutter im ersten Drittel der
Schwangerschaft habe hungern müssen.
Der Energiemangel, so schließen die
Forscher, habe bei den weiblichen Föten
normale Regelmechanismen des Energiehaushalts dauerhaft verändert. Keine
Anzeichen für höhere Fettleibigkeit fand
Ravelli hingegen bei den Männern der
betroffenen Jahrgänge.
Riskante Luft
D
ie Barmer Ersatzkasse prüft ein
mögliches Regressverfahren gegen
die Starnberger Firma Pari GmbH, einen
der größten Hersteller von Inhalationsgeräten. Dabei soll festgestellt werden,
ob Pari es unterlassen hat, in den Bedienungsanleitungen von älteren Geräten ausreichend auf hygienische Gefahren hinzuweisen. Der Hintergrund: Ein
Versicherter der Barmer hatte angegeben, nach längerer Benutzung eines
womöglich verkeimten „Pari Inhalierboy“ in einen Teufelskreis von Infektion
und Reinfektion geraten zu sein, obwohl
er sich streng an die Bedienungsanleitung der Firma gehalten habe. Die Bronchitis, wegen der er inhalierte, wurde
trotz Therapie immer schlimmer. Nach
S E X UA L I TÄT
Käferstündchen zu dritt
U
nter Käfern ist Sexualität gemeinhin kein Akt äußerster
Raffinesse: Weibchen unten, Männchen oben, dumpf lassen die Tiere ihre Chitin-Panzer aufeinander krachen; ihre Geschlechtsteile sind so winzig, dass Forscher sie nur mühevoll
mit Lupe und Pinzette finden können. Von einer geradezu pornomanischen Käferart namens Diaprepes abbreviatus berichten
hingegen zwei Forscherinnen im Wissenschaftsblatt „Nature“.
Dieser Rüsselkäfer, so sagen Jane Brockmann aus Gainesville
in Florida und Ally Harari aus Israel, ist von Natur aus bisexuell, exhibitionistisch und voyeuristisch. Immer wieder besteigen
die Weibchen andere Weibchen – und nur aus einem Grund:
d e r
Mit der Lesben-Show versuchten sie, partizipationswillige Super-Männchen zum Dreier-Käferstündchen zu verführen. Mit
der homosexuellen Einlage, so die Forscherinnen, lockten
die Weibchen jene großen, starken Männchen an, die sich
ansonsten nie für sie interessiert hätten. Jede Form von SexAppeal müsse bei dieser Art über optische Reize vermittelt werden, denn diese Käfer
gucken gern – Pheromone, im übrigen
Tierreich erfolgreiche Sexuallockstoffe,
seien bei Diaprepes abbreviatus nutzlos. Als Nächstes wollen sich die Forscherinnen dem Rätsel der schwulen Männchen widmen.
s p i e g e l
Rüsselkäfer Diaprepes abbreviatus
4 3 / 1 9 9 9
283
A. HARARI
F. SCHUMANN / DER SPIEGEL
egen Ende der deutschen Besatzung
brach in den Niederlanden eine
Hungersnot aus, die womöglich immer
noch Opfer fordert. Zwischen Dezember
1944 und Mai 1945 starben vor allem in
den Städten fast 20 000 Menschen an
den direkten Folgen des Nahrungsentzugs. Jetzt bringen niederländische Forscher diese Hungerszeit mit dem Problem der Fettleibigkeit in Verbindung:
Mittlerweile fast 55-jährige Frauen, die
den Hungerwinter noch ungeboren im
Mutterleib zubrachten, neigen weitaus
häufiger zu hohem Übergewicht, wie
Anita Ravelli und Kollegen im „American Journal of Clinical Nutrition“ schreiben. Ihre Beobachtungen stützen sie auf
Messungen an knapp 300 gebürtigen
Kortisontherapie
und
fortlaufender Inhalation
bekam er eine Lungenentzündung; wochenlang
war der Mann arbeitsunfähig. In der Bedienungsanleitung zu dem
bereits 1991 gekauften
Gerät wird das Problem
der Kontamination bagatellisiert. So heißt es eher
beiläufig: „Reinigen Sie
Maske, Vernebleroberteil
und Medikamentenbecher kurz unter fließendem Wasser.“ Der Gebrauch von Desinfektionsmitteln wird nahe
gelegt, aber nicht vorgeschrieben. Die Firma Pari
zweifelt zwar nicht „an
der Sicherheit der älteren
Geräte“, wie die Geschäftsführung sagt. Mögliche Kontaminationen seien allerdings
nicht als „besonderes Gefahrenpotenzial“ herausgestellt worden. Ihre aktuellen Produkte hat die Firma technisch
verbessert und die Reinigungsvorschriften präziser formuliert, doch nur in den
USA warnt sie ausdrücklich vor „ernster
Krankheit oder Tod“, sollten Desinfektionsvorschriften nicht eingehalten werden. Der Freiburger Hygieniker Franz
Daschner sieht in unklaren und bagatellisierenden Betriebsanleitungen bei Inhalationsgeräten „eine grobe Fahrlässigkeit“ und „ein strafwürdiges Vergehen“. Seit den siebziger Jahren sei in
der Fachwelt bekannt, dass von kontaminierten Inhalationsgeräten Gesundheitsgefahren ausgingen – auch Tote
habe es schon gegeben. Abwehrgeschwächte verlassen sich seit jeher nicht
auf Herstellerangaben: Mukoviszidosekranke lernen die richtige Reinigung ihrer Inhalationsgeräte in Kursen.
Prisma
Wissenschaft•Technik
ASTRONOMIE
Lavastrom auf
Jupitermond
D
ie deutsch-amerikanische
Raumsonde „Galileo“
hat auf dem Jupitermond Io
erstmals einen erkalteten
(mehrere Kilometer breiten)
Lavastrom fotografiert. Die
„Galileo“-Nahaufnahme von Lavastrom auf Io, Jupitermond Io
Aufnahme entstand, als Galistarken Strahlung in der Nähe des
leo in nur wenigen hundert Kilometern über die Oberfläche
Gasplaneten hatten wir schwere Bilddes Vulkanmondes hinwegraste. Nie zuvor hatte eine Sonde
störungen befürchtet“, sagt Gerhard Neukum vom Berliner
den Jupitertrabanten in so geringem Abstand passiert; mit eiPlaneteninstitut, der mit seinem Team an der Galileo-Mission
ner Auflösung von zehn Metern sind die Fotos des Kamikazebeteiligt ist. „Das Io-Bild ist deshalb sehr beeindruckend.“
Fluges 50-mal schärfer als alle bisherigen Io-Bilder. „Wegen der
TELEFONE
HIRNFORSCHUNG
Handy als Wegweiser
Nervenzellen, täglich frisch
B
iologen der Princeton University im
US-Bundesstaat New Jersey haben
bei Versuchen an erwachsenen Makaken,
einer meerkatzenartigen Affengattung,
beobachtet, dass im Hirn der Tiere täglich
einige tausend Nervenzellen (Neuronen)
neu gebildet werden. Die Entdeckung
steht im schroffen Gegensatz zu der über
Jahrzehnte festgefügten und erst durch
Experimente an Kanarienvögeln ins
Wanken geratenen Vorstellung, das Gehirn von erwachsenen Menschen und
Tieren sei zur Neubildung von Neuronen
E
nicht mehr fähig. Mit Hilfe einer DNSMarkierungsmethode konnten Elizabeth
Gould und ihr Kollege Charles Gross
auch den Entstehungsort der neuen Zellen im Hirn der Makaken ausmachen:
eine Zone direkt über den mit GehirnRückenmark-Flüssigkeit gefüllten Kammern. Die meisten Experten erwarten,
dass die Erkenntnisse der Princeton-Forscher auch auf den Menschen zutreffen.
Sollte sich das bestätigen, könnten neue
Wege bei der Behandlung von Alterskrankheiten beschritten werden.
BAVARIA
Makaken beim Lausen
284
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
in Mobiltelefon hat der Verirrte oder
Verwirrte vielleicht noch bei der
Hand. Was aber antwortet er auf die
Frage, wo er denn stecke? Orientierungshilfe gibt „Suunto NaviCom“, das
„Outdoor Information System“ der finnischen Firma Benefon. Mit dem 150
Gramm schweren Telefon lässt sich nicht
nur ein Hilferuf absetzen, sondern auch
präzise der Aufenthaltsort bestimmen.
Die Koordinaten ermittelt das Gerät mit
Hilfe des „Global
Positioning System“
(GPS). Nebst Kompass, Geschwindigkeitsanzeige und
E-Mail-Funktion bietet der Apparat noch
die Option „Friend
Find“: Der Lokalisa- Handy-GPS-Gerät
tor verrät jederzeit
den genauen Aufenthaltsort eines Menschen, der in der Nähe ebenfalls ein Benefon-Apparat mit sich führt. Eine abgespeckte Version des GPS-Handys mit
Namen „More“ („Mobile Rescue Telephone“) besitzt einen SOS-Knopf, mit
dem sich ein Notruf mit genauer Positionsangabe absetzen lässt. Erste Feldversuche sollen demnächst im Neurologischen Reha-Krankenhaus „Kliniken
Schmieder“ in Allensbach beginnen.
Dort werden Patienten mit Schlaganfällen und schweren Hirn-Traumata mit
„More“ ausgerüstet. „In Zukunft“, sagt
Klinik-Chef Paul Walter Schönle,
„schwebt uns vor, schwer gedächtnisgestörte Patienten auf freien Fuß zu setzen und quasi fernzusteuern.“
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
PA L Ä O N T O L O G I E
Seifenoper der Urzeit
Eine TV-Serie der BBC lässt die Dinosaurier in atemberaubender Perfektion wieder
auferstehen. Die computeranimierten Urzeit-Echsen fressen, pinkeln,
jagen und haben Sex. Doch unter Forschern sind die Dino-Filme umstritten.
Tauchende Urzeit-Reptilien Liopleurodon, Ophthalmosaurus (u.) im BBC-Film: Populärste Wissenschaftssendung aller Zeiten
O
xfordshire, England, 149 000 000 vor
Christus: Der grauenvollste Räuber
der Jurazeit hält auf stämmigen
Hinterbeinen am Felsstrand Ur-Britanniens Ausschau nach Beute. Mit kleinen Augen fixiert der Riese wachsam die Wellen
und wartet auf den perfekten Fang.
Plötzlich schießt ein baumhohes,
schwarz-weiß geschecktes Maul aus dem
Wasser und schnappt nach dem Landtier.
Happs. Wasser schäumt, Musik schwillt an,
messerscharfe Zähne reißen den Dinosaurier in die tiefblaue See.
„Cruel Sea“, grausames Meer, heißt die
dritte von sechs Folgen einer neuen Dokumentation des britischen Fernsehsenders BBC, die am vergangenen Montag
rund die Hälfte der englischen Fernsehzuschauer vor die Glotze bannte. Mehr als
zwölf Millionen schauten zu, wie das
schwimmende Riesenreptil Liopleurodon
den Eustreptospondylus zerfleischte, der
delfinartige Ophthalmosaurus unter Wasser ein Junges zur Welt brachte und der
Flugsaurier Rhamphorhynchus elegant Fische fing.
Damit ist die Serie mit dem Titel „Walking with Dinosaurs“ der Gassenfeger des
englischen Fernsehherbstes und gilt schon
jetzt als populärstes Wissenschaftsprogramm aller Zeiten. „Das größte Ding im
Fernsehen in 200 Millionen Jahren“ (BBCEigenwerbung) versetzt derzeit ganz England ins Echsen-Fieber. Ab 11. November
Riesen-Saurier Diplodocus: Probleme beim Sex durch 15 Meter lange Schwänze
286
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
FOTOS: BBC WORLDWIDE
ist das Dino-Drama auf Pro Sieben auch in
Deutschland zu sehen. „Die Dinosaurier
regieren wieder die Welt“, schreibt die
Londoner Tageszeitung „The Mirror“.
„Und wenn nicht die Welt, dann zumindest
die Vorstellungskraft.“
Zum Minutenpreis von rund 100 000
Mark tummelt sich in „Walking with Dinosaurs“ ein Panoptikum reptilischen Lebens auf der Mattscheibe, das es so noch
nie zuvor zu sehen gab. Eine Herde 20
Tonnen schwerer und 30 Meter langer Sauropoden der Gattung Diplodocus stampft
da im Gänsemarsch über jurassisches Weideland. Urzeit-Räuber Postosuchus pinkelt
im Jahre 220 Millionen vor Christus auf
den heißen Steppensand, um sein Revier
zu markieren. In der Episode „Gigant des tionsfirma „FrameStore“ mittels Laser- ben doch riesige Lücken, die wir mit dem
Himmels“ erheben sich Flugsaurier der technik eingescannt und im Computer in füllen, was Forscher kreative Logik nenGattung Ornithocheirus mit einer Spann- ein dreidimensionales Modell verwandelt nen – wir denken uns etwas aus.“
Als Berater spannte Haines acht Dinoweite von bis zu zwölf Metern majestätisch wurde. Mit einem virtuellen Skelett und
farbiger Haut versehen, konnten die Tiere saurier-Experten für die Serie ein. Über
in die Lüfte.
„Wir zeigen, wie sich die Dinosaurier dann im Rechner beliebig vervielfältigt und 100 weitere Spezialisten wurden für die
bewegten, wie sie lebten und starben, wie in jede denkbare Position bewegt werden. Dreharbeiten etwa zur Größe von FußabFür Nahaufnahmen der Saurierköpfe drücken oder zur Konsistenz von Dinokot
sie jagten, sich fortpflanzten und ihre Jungen aufzogen“, sagt Tim Haines, Produ- fertigten Techniker der Firma „Crawley befragt. Das Team studierte Elefanten und
zent der Filme. „Diese Serie gibt den Leu- Creatures“ zusätzlich so genannte Anima- Nilpferde, um zu ergründen, wie die
ten das Gefühl, lebende, atmende Krea- tronics an: Hightech-Puppen aus Latex und großen Dinosaurier-Arten gelaufen sein
turen in ihrem natürlichen Lebensraum zu Aluminium mit ferngesteuerten Details wie könnten. Die Angriffstaktik von heute lebenden Wölfen lieferte die Vorsehen. Ich bin sehr stolz darauf,
lage für Saurier-Attacken. Und
dass wir das geschafft haben.“
bei der Farbe der Echsenhaut
Für den Sprung in den Olymp
orientierten sich die Techniker
der Fernsehmacher konnten
an der Tarnfärbung von lebenHaines und sein Team aus dem
den Reptilien und Meerestieren.
Vollen schöpfen. Rund 18 MillioDer Dino-Sex bereitete Haines
nen Mark hat die Produktion der
und seinem Team SchwierigkeiSerie gekostet. Mit modernsten
ten. Über 150 Millionen Jahre beAnimationstechniken ist es den
völkerten die Dinosaurier die
Fernsehmachern gelungen, etwa
Erde und hatten offenbar kein
40 Saurierarten in verblüffend
Problem mit der Fortpflanzung.
echt wirkenden Bildern wieder
Wie aber ein 20-Tonnen Diploauferstehen zu lassen. 150 Minudocus-Bulle seine Partnerin am
ten des insgesamt dreistündigen
rund 15 Meter langen Schwanz
Werkes sind mit Echsen untervorbei bestiegen haben könnte
schiedlichster Art bestückt – Ste(Film-O-Ton: „Sie hat zehn Exven Spielbergs Dino-Drama „Jutratonnen auf dem Rücken.“),
rassic Park“ brachte gerade
blieb weitgehend der Phantasie
knapp zehn Minuten ein anider Macher überlassen. „Es war
miertes Reptil auf die Leinwand.
Die Dramaturgie gleicht dabei Flugechsen Ornithocheirus: Reise zu den Giganten des Himmels schwierig, die Tiere für die Fortpflanzung nah genug zueinander
verblüffend der Machart konventioneller Tierfilme. Jede Episode folgt beweglichen Nasenlöchern und Augen. zu positionieren“, erzählt Haines. „Wir wiseinzelnen Dino-Protagonisten durch die Große Puppen wie etwa der Kopf des Ty- sen noch nicht einmal, ob die Männchen
Wirren des urzeitlichen Lebens. Ständig rannosaurus wurden zwecks Animation überhaupt einen Penis hatten.“
Die ganze Kreativität des Teams war
droht der Unbill der Naturgewalten und über die Körper von Teammitgliedern gedie Gefahr aus dem Dickicht. Fast ein Wun- stülpt. Die kleineren Dinosaurierköpfe ka- schließlich bei den Dreharbeiten gefordert.
Denn erst vor eine echte Landschaft proder, dass nicht plötzlich Heinz Sielmann men als Handpuppen zum Einsatz.
Das größte Problem hatten Haines und jiziert, gruppieren sich die computeranimit einem Diplodocus-Jungen auf dem
Arm die Szene betritt und treuherzig in sein Team jedoch damit, die Tiere schließ- mierten Echsen zu überzeugendem Dinolich zum virtuellen Leben zu erwecken. saurier-Treiben. Um die halbe Welt reiste
die Kamera spricht.
Das Geheimnis der naturgetreuen Sau- Denn aus den Knochenresten, die Paläon- das Drehteam auf der Suche nach landrier ist eine Kombination verschiedener tologen aus der Erde graben, lässt sich zwar schaftlichen Überbleibseln aus prähistoriComputer- und Trickfilmtechniken, die Größe und Form der Echsen herauslesen. schen Zeiten. Schließlich gaben chilenische
schon in „Star Wars“ oder „Jurassic Park“ Wie sich die Saurier verhalten haben, liegt Lava-Wüsten, kalifornische Redwood-Wälder und neukaledonischer Dschungel die
zum Einsatz kamen. Jede der Kreaturen jedoch noch weitgehend im Dunkeln.
„Wir versuchen, die Geschichte der Tie- idealen Kulissen ab.
startete ihre Existenz als eine einen halben
Vor Ort musste das Team häufig als
Meter hohe Ton- oder Plastilin-Skulptur, re an bekannten Fakten entlang zu erderen Form von der Londoner Anima- zählen“, sagt Haines. „Aber letztlich blei- Platzhalter für die Dinos herhalten, die erst
Urzeitechsen Coelophysis, Tyrannosaurus, Torosaurus: „Nichts in der Serie ist nachweislich falsch“
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
287
im Nachhinein digital in die Aufnahmen
eingepasst wurden. Dort, wo später ein Tyrannosaurus rex entlangspazieren sollte,
wurde am Astwerk geruckelt. Um das Geplansche eines Velociraptors im Dschungelfluss zu repräsentieren, zündeten die
Fernsehmacher im Wasser kleine Granaten. Crew-Mitglieder liefen in riesenhaften
Dino-Schuhen durch den Urwald, um
authentische Fußstapfen zu erzeugen.
Das Ergebnis ist fast so überzeugend wie
Sielmanns „Expeditionen ins Tierreich“
und begeistert neben der britischen Öffentlichkeit sogar viele Experten. „Die Tiere, die wir seit Jahren erforschen, sind zum
Leben erweckt worden“, schwärmt etwa
der Paläontologe David Martill von der
University of Portsmouth. Und David
Norman, Dinosaurier-Experte an der University of Cambridge, glaubt sogar, bei den
Dreharbeiten etwas gelernt zu haben:
„Meine Vorstellung davon, wie die Gelenke der Dinosaurier funktionierten, hat sich
etwas verändert.“
Neben aller Euphorie über „Walking
with Dinosaurs“ stößt gerade die perfekte
Illusion der Filme auch auf Kritik. Einige
Experten bemängeln, dass die als Wissenschaftsprogramm beworbene Serie Fakten
und Phantasien unzulässig vermischt. „Vieles ist reine Spekulation“, kritisiert etwa
Paul Barrett, Paläontologe an der University of Oxford. „Die Zuschauer können unmöglich entscheiden, ob etwas gut möglich, wahrscheinlich oder total falsch ist.“
So lebt im Dino-Film der Säuger-Vorfahr „Cynodont“ in unterirdischen Bauen
und monogam, legt Eier und säugt seine
rosigen Jungtiere. Das Reptil, immerhin
schon vor rund 200 Millionen Jahren ausgestorben, wackelt mit dem Schwänzchen
wie Nachbars Waldi und frisst, bedroht von
einer Rotte fieser Coelophysis-Saurier,
sogar seine eigenen Jungen auf.
„Die Serie trivialisiert die Forschung,
die sie repräsentieren will“, sagt Barrett
streng. „Die BBC hat eine Seifenoper produziert.“ Auch Angela Milner vom Natural
History Museum in London ist skeptisch.
„Einige Animationen sind phantastisch“,
so die Paläontologin. „Doch viele Spekulationen werden unglücklicherweise als
Fakten präsentiert.“
Tim Haines ficht die Nörgelei nicht an.
„Nichts in der Serie ist nachweislich
falsch“, sagt der TV-Produzent, der schon
im zarten Alter von elf Jahren zum SaurierFan wurde. In der Paläontologie gebe es
ohnehin kaum harte Fakten. Selbst das Zusammensetzen eines Saurier-Skeletts im
Museum gründet auf Spekulationen.
„Wir haben die Serie so wissenschaftlich wie nur irgend möglich gemacht“, sagt
Haines. „Natürlich werden die Tiere niemals auferstehen und unsere Annahmen
bestätigen.“
Angesichts der Furcht erregenden Fressmaschinen in der Dino-Saga kann man da
nur dankbar sein.
Philip Bethge
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Tabakbehandlung*: „Die Idee war einfach und brillant“
R AU C H E N
„Raus aus dem Geschäft“
Kommt bald die schadstofffreie Zigarette?
Eine kleine US-Firma hat ein Verfahren entwickelt, mit dem sich
das stärkste Krebsgift im Tabak vermeiden lässt.
I
m Dauerstreit um die Droge Zigarette
ist der amerikanische Tabakkonzern
Brown & Williamson (B&W) für Überraschungen eine sichere Quelle. Aus den
Archiven des Unternehmens in Louisville
(Kentucky) etwa wurden vor einigen Jahren rund 4000 heimlich kopierte Einzelseiten herausgeschmuggelt. Anhand der Geheimpapiere konnte rekonstruiert werden,
wie die Zigarettenindustrie Forschungsergebnisse über die gesundheitlichen Risiken
des Rauchens unterdrückt hatte – Grundlage jener Prozesse, an deren Ende sich die
US-Tabakkonzerne unlängst zur Zahlung
von 206 Milliarden Dollar bereit erklärten.
In Firmenunterlagen fanden
sich auch Hinweise auf andere
Machenschaften der Zigarettenindustrie. So hatte B&W bei Vertragsfarmen in Brasilien einen
Spezialtabak (Codename „Y1“)
anbauen lassen. Y1 enthielt eine
sehr hohe Konzentration an Nikotin und sollte heimischen Tabaksorten beigemischt werden;
das hätte die Suchtwirkung der
Zigaretten verstärken können.
Mitte vorletzter Woche ging
der zum britischen BAT-Konzern
gehörende Zigarettenhersteller
erneut auf Einkaufstour – diesmal aber
zum Wohle seiner Kunden. Bei einer kleinen Firma in Petersburg (Virginia) bestellte B&W insgesamt knapp 4000 Tonnen eines Tabaks, der offenbar weitgehend frei ist
von einer der giftigsten Schadstoffgruppen
im Zigarettenrauch: den Nitrosaminen.
Diese chemischen Verbindungen sind
hauptverantwortlich für die Entstehung
vieler Krebsleiden bei Rauchern.
Killer im Qualm
Giftige Inhaltsstoffe des Tabakrauches
Schadstoff Auswirkung
Nitrosamine krebserregend
Kohlenmonoxid verringert den Sauerstofftransport im Blut
Teer mögliche Quelle krebserregender Substanzen
Nikotin macht abhängig
Blausäure greift die Lunge an
4-Aminodiphenyl verursacht Blasenkrebs
* Mikrowellenanlage der Firma „Star
Scientific“ in Chase City (Virginia).
Quelle: Health Canada
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Lieferant des „Low Nitrosamine Tobacco“ (LNT) ist die Zigarettenfirma „Star
Scientific“ (vormals „Star Tobacco“). Die
Anfang dieses Jahres erfolgte Änderung
des Firmennamens kennzeichnet das neue
Unternehmensziel. „Im 21. Jahrhundert
wird der Erfolg im Tabakbusiness nicht von
cleveren Anzeigenkampagnen abhängen,
sondern von fundierter Wissenschaft“, sagt
Paul Perito, Vizepräsident und Rechtsberater des Unternehmens.
Nicht nur diese Voraussicht unterscheidet den 1990 gegründeten Tabakzwerg von
Branchenriesen wie Philip Morris, der im
benachbarten Richmond seine hochmodernen Labors betreibt. Die 125 Angestellten von „Star Scientific“ stellen auf rumpelnden Maschinen in einem veralteten
Fabrikgebäude Billigzigaretten her. Doch
ausgerechnet diese mittelständische USFirma könnte mit ihrem schadstoffarmen
Tabak jetzt dazu beitragen, den Großkonzernen aus der Patsche zu helfen. Denn es
wird zunehmend eng für die Zigarettenindustrie.
WHO-Schätzungen zufolge sterben jedes Jahr weltweit vier Millionen Raucher
vorzeitig an den Folgen ihrer Sucht. Dass
die Zigarettenindustrie dafür mitverantwortlich gehalten werden kann, macht
auch ein Report deutlich, den die britische
Antirauchergruppe „Action on Smoking
and Health“ (ASH) kürzlich gemeinsam
mit dem „Imperial Cancer Research Fund“
herausgegeben hat.
Bei ihrer weltweiten Archivrecherche
entdeckten die ASH-Experten insgesamt
57 Patente für „Technologien und Verfahren“, die von den Tabakkonzernen oder
in deren Auftrag in den Jahren 1971 bis
1998 entwickelt worden waren. Mit Hilfe
dieser Patente hätte sich, so das Fazit des
Berichts, „die Konzentration einiger
nachweislich bekannter Schadstoffe im Tabakrauch verringern lassen“. Doch – aus
welchen Gründen auch immer – hat die
Tabakindustrie von diesen Verfahren keinen Gebrauch gemacht; die „sichere Zigarette“ lässt bis heute auf sich warten.
„Ein vergleichbares Versäumnis wird es
bei uns nicht geben“, sagt „Star Scientific“-Vizepräsident Perito. Der gewiefte Anwalt betont aber zugleich, dass die Verarbeitung der
nitrosaminreduzierten Tabakspezialität „keinesfalls die Aussage
zulasse, es handele sich um eine
völlig sichere Zigarette“.
Hergestellt wird der LNT nach
einem Verfahren, das Firmenmitbegründer Jonnie Williams
Mitte der neunziger Jahre entwickelt hat. Die Entstehungsgeschichte, die von Firmenangehörigen mit folkloristischen
Untertönen erzählt wird, erinnert an die freischaffenden Computertüftler im Silicon Valley.
„Jonnie Williams, ein VirginiaD PA
J. PAUL
Wissenschaft
289
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
ist die Herstellung so ausgeklügelt, dass
die gefährlichen Krebsgifte im Zigarettenrauch „nur noch mit den feinsten Messmethoden entdeckt werden können“, bestätigt Jerome Jaffe, der als medizinischer
Berater für „Star Scientific“ tätig ist.
Jaffe, der einst US-Präsident Richard
Nixon als „Drogen-Zar“ diente, führte
auch eine erste klinische Pilotstudie mit
der LNT-Zigarette durch. An dem 100tägigen Versuch nahmen 27 Erwachsene
„mit ausgeprägter Nikotinsucht“ teil,
von denen die Teilnehmer einer Gruppe
die Testzigarette CigRx, die anderen
marktgängige Zigaretten
rauchten. Bei mehrtägigen Klinikaufenthalten
wurden sowohl im ausgeatmeten Zigarettenrauch
wie auch im Blut und
Urin der Probanden der
jeweilige Anteil von Kohlenmonoxid (CO) und
der Stoffwechselprodukte von Nitrosaminen und
Nikotin ermittelt.
Vorläufiges Fazit der
bislang noch unveröffentlichten Studie: Während
die Nikotinwerte bei beiden Gruppen vergleichbar waren, lag bei den
„Star Scientific“-Tabakfabrik: Belohnung für Nichtraucher
CigRx-Rauchern die COdem getrockneten und geschnippelten Pro- Konzentration um 40 Prozent niedriger als
bei denen der Vergleichsgruppe. Wichtiger
dukt experimentieren“.
Das Laborgut aber enthält bereits die noch, so erläutert Jaffe: „Die krebsbegünsNitrosamine. Sie entstehen durch Bakte- tigenden Nitrosamine waren in den Körrien, die sich während des so genannten persäften der Testzigaretten-Raucher auf
Curing-Prozesses entfalten, bei dem die Werte gefallen, die praktisch kaum noch
Tabakblätter zum Trocknen in Scheunen nachweisbar waren.“
Jaffe warnt allerdings vor allzu hochge(„barns“) aufgehängt werden. Die Nitrosaminproduktion, erst einmal angestoßen, steckten Erwartungen. Im Tabakrauch gibt
es rund 4000 Stoffe, von denen 43 nachhält bis zum Verbrennen des Tabaks an.
Williams’ Idee war „einfach und bril- weislich krebserregend sind. „Einen davon
lant“ (Perito): Er versuchte die Aktivität haben wir entfernt“, sagt Jaffe, „doch nieder Bakterien bereits beim Trocknen zu mand weiß bisher, ob wir dadurch nicht
stoppen. Bei seiner Methode werden die einen anderen begünstigt haben.“
Sicher allerdings ist, dass der Tabakgrün geernteten Tabakblätter zunächst
dicht gestaffelt in containergroßen Stahl- zwerg aus Petersburg die Produktion ausbehältern aufgehängt. Der sechstägige weiten wird. Schon für die nächste ErnteTrocknungsvorgang wird reguliert durch saison will „Star Scientific“ die Anzahl seivon außen zugeleitete Luft bestimmter ner derzeit 220 Curing Barns um 1000 weiTemperatur und Feuchtigkeit, wodurch die tere Anlagen erhöhen und eine zweite
Vermehrung der tückischen Mikroben ver- Mikrowellenanlage errichten.
Langfristig will das Unternehmen aber
langsamt wird.
Die zweite Spezialbehandlung erhält der nichts mehr mit dem legalen Suchtmittel zu
vorgetrocknete Tabak, wenn er auf einem tun haben. „Eigentlich verfolgen wir das
Laufband durch „Amerikas größten Mi- Ziel, den Menschen zu helfen, von der Zikrowellenofen“ (Perito) geschoben wird. garettensucht loszukommen“, sagt Perito.
Die Anlage ließ „Star Scientific“ in einer Mit den Gewinnen aus der TabakherstelHalle von Chase City, einem kleinen Ort an lung sollen deshalb weitere Entgiftungsder Grenze zu North Carolina, errichten. verfahren finanziert und Mittel zur RauchIn dem Mikrowellenofen werden auch entwöhnung entwickelt werden: „Wir wolnoch die letzten Gift produzierenden Bak- len raus aus dem Zigarettengeschäft.“
Innerbetrieblich geht die Tabakfirma
terien abgetötet. Schon die ersten Tabakproben, die Williams von Tabakforschern schon mal mit gutem Beispiel voran. Jeder
an der University of Kentucky in Lexing- Angestellte, der mit dem Rauchen aufhört,
ton untersuchen ließ, wiesen deutlich ver- erhält eine einmalige Belohnung von 500
ringerte Nitrosaminwerte auf. Inzwischen Dollar.
Rainer Paul
J. PAUL
Tabakfarmer der vierten Generation“, berichtet Finanzchef James McNulty, „hat
beim Durchstreifen seiner Felder an die
Tomate gedacht, die wie die Tabakpflanze
zur Familie der Nachtschattengewächse
gehört, aber keine Nitrosamine enthält.“
Hieraus folgerte Williams, dass die
Krebsgifte womöglich beim Trocknungsprozess entstehen. „Der zweite Schritt zu
Jonnies Geniestreich“, erläutert Perito, sei
die Einsicht gewesen, dass die „Wissenschaftler in den Labors der großen Tabakkonzerne für ihre Versuche, schadstoffärmeren Tabak zu produzieren, zumeist mit
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
291
Technik
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Darauf wette ich meine Firma“
Sun-Chef Scott McNealy über das Ende des PC, den digitalen Kapitalismus der Zukunft
in einer total vernetzten Welt und die europäische Datenschutz-Hysterie
McNealy, 44, ist Mitgründer und Chef
der amerikanischen Computerfirma Sun
Microsystems.
SPIEGEL: Seit 1995 prophezeien Sie das
Ende des PC. Wann ist es endlich so weit?
McNealy: Das habe ich nie gesagt! Microsoft
behauptet, ich hätte das gesagt – um mich
unglaubwürdig zu machen. Das ist Blödsinn. Das Auto ist ja auch nicht das Ende
des Pferdes gewesen, es sei denn, es läuft
mal eins auf die Straße.
SPIEGEL: Was haben Sie denn gesagt?
McNealy: Es wird auch in Zukunft PC geben, genauso wie es heute noch Pferde
Fernseher einschalten ohne Bedienungsanleitung, Sie brauchen kein Handbuch für
die EC-Karte. Der einzige Computer, den
man nicht versteht, ist der Microsoft-PC.
SPIEGEL: Ihr Konzept des „Netzcomputers“, der seine Software aus dem Internet
bezieht, ist ja technologisch reizvoll. Ihre
Firma hat dafür die Programmiersprache
„Java“ entwickelt, der Benutzer muss sich
um Installation und Konfiguration nicht
mehr kümmern. Aber gibt es dafür echten
Bedarf? Offenbar finden die meisten das
Herumbasteln am PC ganz reizvoll.
McNealy: Aber die Computer, die wie PC
aussehen, spielen doch kaum eine Rolle.
Sehen Sie sich die zehn Millionen Chipkarten an, auf denen
heute schon Java läuft. Denken
Sie an Set-Top-Boxen für den
Empfang von digitalem FernseSun-Chef McNealy, „Java Station“
gibt. Es wird in Zukunft PC
geben, weil es immer ein
paar Leute gibt, die dumme
Sachen machen.
SPIEGEL: Warum hassen Sie
diese Geräte so? Millionen
von Benutzern scheinen mit
ihrem PC sehr glücklich zu
sein.
McNealy: Letztes Jahr wurden, glaube ich, 4,8 Milliarden Mikroprozessoren verkauft. Rund 120 Millionen
davon wurden in PC eingebaut. Das sind die einzigen
Chips, für deren Benutzung
wir Bedienungsanleitungen
brauchen. Wenn ich Ihnen
den Schlüssel zu meinem
Auto gebe, könnten Sie mit
einem Handgriff dutzende
Mikroprozessoren in Betrieb
nehmen, ohne ein einziges
Mal in ein Handbuch zu
gucken. Sie können Ihren
292
AP
„Leute machen dumme Sachen“
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
hen, deren Software in Java geschrieben
wird. In den nächsten drei Jahren will allein die japanische Firma DoCoMo 23 Millionen „i-Mode“-Mobiltelefone auf den
Markt bringen, auf denen Java läuft. Das
„Ami-C“-Konsortium, dem führende Automobilhersteller angehören, hat sich für
Java als Software-Plattform für die Informationsgeräte in den Autos der Zukunft
entschieden. Autos, Mobiltelefone, Fernseher, das sind die Computer, die in Zukunft
wichtig sind.
SPIEGEL: Bill Gates ist mit den PC immerhin der reichste Mann der Welt geworden.
McNealy: Microsoft glaubt, dass die Benutzer eines Computers Programme kaufen
müssen. Das ist ganz falsch. Nehmen Sie Ihr
Handy. Das ist ein Computer. Wissen Sie,
wie die Software heißt, die darauf läuft?
Interessieren Sie sich für das Betriebssystem der Vermittlungsrechner der Telekom? Haben Sie schon einmal ein Antivirus-Programm für Ihr Telefon gekauft? Nie-
Werbeseite
Werbeseite
L. PSIHOYOS / MATRIX / AGENTUR FOCUS
Stattdessen stehen Mietwagen am
mand kauft Programme für ein
Straßenrand. Wenn man einen
Faxgerät. Den Kunden geht es um
braucht, schiebt man seine indiviFeatures. Wenn ich Anrufweiterleiduelle Chipkarte in den Schlitz, die
tung haben will, suche ich mir einen
Türen werden entriegelt, die Sitze
Telefonnetzbetreiber, der das anstellen sich auf die Körpermaße ein,
bietet. Genauso sollten Terminkaauf dem Armaturenbrett erscheinen
lender, E-Mail und Textverarbeitung
die Anzeigeninstrumente, die man
Features eines Computers im Intergewohnt ist, das Radio stellt sich auf
net sein und nicht Programme, die
den Lieblingssender ein, die Fedeich kaufen und installieren muss.
rung passt sich an den Fahrstil an.
SPIEGEL: Wer die Textverarbeitung
Man fährt los, und wenn man am
als Service im Internet nutzt, zahlt
Ziel ist, lässt man den Wagen eindann aber jede Minute, die er am
fach stehen. Die Nutzungsgebühr
Computer sitzt, um einen Brief an
richtet sich nach Wagentyp und
seine Oma zu schreiben.
Fahrstrecke und wird automatisch
McNealy: Nicht unbedingt. Wir bieabgebucht. Sie können auch einen
ten Internet-Providern das „Star
bestimmten Wagen reservieren, und
Portal“ an, das komplette Officedas Internet sagt Ihnen über das
Paket der deutschen Firma Star DiMobiltelefon, wo so einer steht.
vision, die wir kürzlich gekauft haben. Mit dem Star Portal können
SPIEGEL: Sie reden von einer Welt,
Internet-Provider ihren Kunden
in der alles mit allem verbunden
Textverarbeitung und Tabellenkalist, in der jeder Mensch digitale
kulation im Internet ermöglichen.
Spuren hinterlässt, die seine InterUnd viele werden es umsonst anessen, Vorlieben und Konsumbieten, weil sie damit Kunden für
gewohnheiten verraten. Doch ausden Internet-Zugang gewinnen.
gerechnet in den USA, die diese
Entwicklung am stärksten voranSPIEGEL: Was ist der Vorteil?
treiben, gibt es kein wirksames
McNealy: Ich verwende schon seit
Datenschutzgesetz. Finden Sie
drei Jahren ausschließlich Pronicht, dass es höchste Zeit wird,
gramme, die auf Netzwerk-Servern
auch einmal über diese Seite der
laufen. Kein einziges Programm
Entwicklung nachzudenken?
läuft mehr auf meinem PC. Wer
sein Geld sicher aufbewahren will, McNealy-Rivale Gates*: „Abstimmung mit der Brieftasche“ McNealy: Wir Amerikaner glauben
bringt es zur Bank und packt es
an die unsichtbare Hand des Marknicht unter die Matratze. Wer wichtige Da- net und Java ist die Lösung für jede Art von tes, die solche Dinge regelt. Wir haben
ten hat, sollte sie nicht auf seinem PC spei- Gerät. Es gibt kein elektronisches Gerät, nicht das brennende Bedürfnis der
chern, denn wir alle wissen, dass PC ab- das nicht über kurz oder lang mit jedem Europäer, alles mit Vorschriften zu regeln.
stürzen. Wichtige Daten gehören in das Internet-Server auf diesem Planeten in Ver- Ihr Arzt hat Ihre Gesundheitsdaten, Ihre
Netz, in die Hände von Profis. In der Java- bindung treten wird.
Bank hat Ihre Kontoauszüge. Was würden
Welt wird es keine Computerviren mehr SPIEGEL: Wie sieht diese total vernetzte Sie tun, wenn Sie herausfänden, dass Ihr
geben, denn kein Programm, das über das Welt aus?
Arzt Ihre Krankengeschichte im Internet
Netz geladen wird, kann die Kontrolle über McNealy: Es gibt heute schon Automaten, veröffentlicht? Sie würden ihn verklagen
den Computer übernehmen und Dinge an denen man eine Cola mit dem Handy und den Arzt wechseln. Und wenn Ihre
tun, die es nicht darf.
kaufen kann. Man ruft die Nummer auf Bank Ihre Kontoauszüge veröffentlicht,
SPIEGEL: Wie viel wollen Sie darauf wetten? dem Automaten an, aus dem Schlitz fällt wechseln Sie die Bank.
Bisher hat es noch in jeder Software Si- die Dose, und das Geld wird von der Tele- SPIEGEL: Aber genau das passiert doch heucherheitslücken gegeben.
fonrechnung abgebucht. Warum sollte man te schon. Für ein paar Dollar kann man
McNealy: Darauf gehe ich jede Wette ein. diesen Automaten nicht ans Internet an- praktisch jede Auskunft bekommen, wie
Darauf wette ich meine Firma.
schließen – und wenn es draußen heiß ist, viel Geld Sie verdienen und was Sie mit IhSPIEGEL: Bill Gates stellt sich die vernetzte wird kalte Brause teurer? Wenn der Vorrat rer Kreditkarte kaufen.
Welt ganz anders vor: Windows-Computer an Diet Pepsi knapp wird, den Preis für McNealy: Dann sollten Sie als Journalist
im Internet, Mobiltelefone, die mit „Win- dieses Getränk erhöhen und aus den letz- eine Liste der Firmen veröffentlichen, die
dows CE“ funktionieren …
ten Dosen einen Extraprofit herausschla- solche Daten verbreiten, und es würde entMcNealy: Diese Debatte ist doch längst vor- gen? Eine Stunde, bevor der Lieferwagen sprechende Konsequenzen haben. Genau
bei. Sie wollen mit mir über Dinge disku- kommt, könnte der Preis sinken, weil es am so ging es dem Internet-Buchhändler
tieren, über die kein Mensch mehr redet? effektivsten ist, wenn der Automat genau in Amazon.com. Der veröffentlichte AufstelIst der Himmel blau? Microsoft kann so dem Moment leer ist, wenn der Nachschub lungen von Büchern, die Angestellte von
Firmen bestellt hatten.
viel Lärm machen wie es will – diese Zei- eintrifft.
ten sind vorbei. Im Quartal, das im Juni en- SPIEGEL: Die perfekte digitale Ökonomie? SPIEGEL: Das tut Amazon doch immer noch.
dete, sind im Silicon Valley fast drei Milli- McNealy: Die gleiche Ökonomie wie heute, McNealy: Jeder Kunde, der das verlangt,
arden Dollar Risikokapital an neue Firmen aber viel dynamischer und effektiver. Man taucht in dieser Liste nicht mehr auf. Und
geflossen: Nicht eine einzige Firma für kann sich vieles zusammenphantasieren. wenn das für jemanden so eine KatastroWindows-Software war darunter. Jeder Es wird nicht passieren, aber es wäre mög- phe ist, kann er ja zum Konkurrenten
Cent dieses Geldes ging an irgendeine Fir- lich, dass man keine Autos mehr besitzt. Barnes & Noble gehen. Wozu brauchen
ma, die etwas mit dem Internet zu tun hat.
wir da ein Gesetz?
Recherchieren Sie mal und suchen Sie eine * Mit einer CD-Rom, die eine größere Informations- SPIEGEL: Aber um dagegen protestieren zu
Start-up-Firma, die Programme für Win- menge enthält als die bedruckten Papierstapel, über de- können, muss der Kunde doch erst mal
dows entwickelt. Es gibt keine. Das Inter- nen der Microsoft-Chef schwebt.
wissen, was mit seinen Daten geschieht …
294
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Technik
McNealy: … und ich finde es wundervoll,
wenn die Presse darüber berichtet, denn
das ermöglicht den Lesern die Entscheidung, zum Beispiel ihren Arzt oder die
Bank zu wechseln.
SPIEGEL: Die amerikanischen Kfz-Zulassungsstellen zum Beispiel gehen sehr freigebig mit den Daten der Autofahrer um.
Die Behörde können Sie schlecht wechseln.
McNealy: Wenn das die Bürger so
beunruhigt, wird irgendjemand
im Kongress einen Gesetzentwurf einbringen, und darüber
wird abgestimmt. Wo ist das
Problem?
SPIEGEL: Und so ein Gesetz
gibt es nicht, also gibt es
wohl auch kein
Problem – ist das
Ihre Logik?
McNealy: Ich denke schon. Das interessiert mich einfach nicht. Wenn
Ihre KrankengeTelefon-Studie von Ericsson schichte im Internet wäre, würde
ich sie nicht lesen. Wir als Firma sagen unseren Kunden genau, was wir mit ihren Daten machen und geben ihnen die Möglichkeit, gegen die Datenspeicherung zu optieren. Ganz einfach.
SPIEGEL: In der Zukunft, von der Sie reden, wird es so viele Informationsservices
geben, dass es für den Benutzer sehr
schwer sein wird, den Überblick zu behalten. Und da sind Sie der Meinung, dass es
Sache des Kunden ist, sich in jedem Einzelfall darüber zu informieren, was mit seinen Daten passiert? Ist das nicht ein bisschen naiv?
McNealy: Nein, ich verlasse mich auf die
Presse, die den Missbrauch aufdecken würde. Viele Leute beschweren sich über
„Spam“, unerwünschte E-Mail mit Werbebotschaften. Ich fände es gut, wenn Werbefirmen wüssten, dass ich Golfschuhe,
aber keine Röcke kaufe. Also her mit allen
Neuigkeiten über die besten und modernsten Golfschuhe! Ich würde all das lesen, ich
würde mich darüber freuen. Was mich anödet, ist Werbung für Dinge, die mich nicht
interessieren.
SPIEGEL: Halten Sie solche Bedenken für typisch europäische Nörgelei?
McNealy: Amerikaner stimmen mit der
Brieftasche ab. Ich kenne keinen Amerikaner, der wegen mangelnden Datenschutzes
ernsthaften Schaden erlitten hätte.
SPIEGEL: Solche Beispiele gibt es genug.
Manche haben ihren Job verloren, weil
ihr Arbeitgeber vermeintlich Kompromittierendes über ihren Lebenswandel erfahren hat.
McNealy: Bei knapp 300 Millionen Amerikanern mag es den einen oder anderen Fall
gegeben haben. Durch Autos kommen be* Mit Redakteuren Harro Albrecht und Jürgen Scriba.
296
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
stimmt mehr Menschen um. Sollen wir deshalb Autos verbieten?
SPIEGEL: Na, das ist ja nun das Standardargument, wie es etwa die Waffenlobby
immer verwendet …
McNealy: Wollen Sie sich mit mir streiten?
Ich repräsentiere hier nicht die USA, ich
sage nur, dass mich diese Frage persönlich nicht interessiert. Ich glaube, dass
Werbung Information ist. Mit Ihrer Hysterie sorgen Sie nur dafür, dass ich mit
nutzloser Werbung zugeschüttet werde,
weil meine Daten so gut geschützt sind,
dass ich die Informationen, die für mich
wichtig sind, nicht bekomme. Wenn ich
ein paar Golfschuhe kaufe oder in einem
Restaurant esse, und jemand veröffentlicht das im Internet? Das ist
mir egal. Mir persönlich ist es sogar egal, ob die Akten meines Arztes im Internet stehen. Ich bin
nicht Bill Clinton, ich habe nichts
zu verbergen.
SPIEGEL: Sie sind auch ein hochrangiger Vertreter der Informationsindustrie. Interessiert Sie Datenschutz in dieser Funktion?
McNealy: Ja, ich finde, dass Firmen
ihren Kunden klar sagen sollten,
was sie mit ihren Daten machen.
Meine Firma tut das auch ohne Gesetz. Für Gesetze bin ich nicht zu- McNealy (M.)
B. BOSTELMANN / ARGUM
beim SPIEGEL-Gespräch*: „Sauberes Leben“
ständig. Ich weiß wirklich nicht, worüber
Sie mit mir streiten.
SPIEGEL: Wer in einer elektronischen Ökonomie einkauft, will doch nicht unbedingt,
dass jeder weiß, was er da kauft, oder?
McNealy: Wen interessiert denn, was Sie
kaufen? Wenn Sie Angst davor haben, kaufen Sie eben nichts im Internet. Setzen Sie
sich ins Auto, fahren Sie irgendwo hin und
bezahlen Sie bar.Am besten tragen Sie auch
eine Strumpfmaske, damit Sie beim Einkaufen nicht erkannt werden. Anonymität
führt auch zu Verantwortungslosigkeit. Sie
wissen ja, dass Timothy McVeigh, der den
Bombenanschlag von Oklahoma verübte,
gefasst werden konnte, weil sich feststellen
ließ, wer den Lastwagen gemietet hatte, in
dem die Bombe deponiert war. Wäre diese
Transaktion geheim gewesen, hätte man ihn
nicht gefasst, und er hätte vielleicht noch andere Gebäude in die Luft gesprengt.
SPIEGEL: Meinen Sie nicht, dass es ein
paar Zwischenstufen gibt zwischen totaler
Anonymität und dem gläsernen Menschen?
McNealy: Doch natürlich, aber dafür ist die
Industrie nicht zuständig. Das ist Sache der
Politik. Ich bin nicht von den Bürgern gewählt, sondern von den Aktionären meiner
Firma.
SPIEGEL: Und Sie persönlich haben dazu
auch keine Meinung?
McNealy: Ich lebe ein sauberes, langweiliges Leben. Sie können in meinen Schrank
gucken, Sie können sich jede Datei auf
meiner Festplatte angucken. Es gibt nichts,
was mir peinlich sein müsste.
SPIEGEL: Die Telekommunikationswelt von
morgen verspricht permanenten Datenzugriff und Erreichbarkeit in jedem Winkel
der Welt. Wird es in so einer Welt noch
eine Privatsphäre geben? Schon heute beklagen sich manche Angestellte, dass ihr
Job sie dazu zwingt, immer für die Firma
erreichbar zu sein.
McNealy: Dann sollten die sich einen anderen Job suchen. Das ist das Schöne an
der freien Marktwirtschaft: Es gibt keine
Sklaverei mehr. Wenn dich dein Job nervt,
hau ab und und schaufel Gräben, dreh
Hamburger um oder werde Kellner.
SPIEGEL: Sie sagen das aus einer privilegierten Position als Firmenchef.
McNealy: Jeder meiner Angestellten kann
im Handumdrehen einen neuen Job haben.
Jeder meiner 30 000 Angestellten ist unglaublich begehrt. Wenn ich keine Umgebung schaffe, in der sie das Gefühl haben,
dass sich ihre Anstrengung lohnt, kündigen
sie. Ich zwinge niemanden bei Sun, ein Handy mit sich herumzutragen. Ganz im Gegenteil, meine Angestellten wollen jedes
Spielzeug, das ich ihnen gebe: Laptop, Mobiltelefon, Organizer, egal, sie wollen alles.
SPIEGEL: Es gibt auch Leute, für die ständige Erreichbarkeit eine Last ist.
McNealy: Die arbeiten wahrscheinlich nicht
auf Gewinnbeteiligung. Wer mehr Geld für
weniger Arbeit haben will, für den habe ich
keine Sympathie.
SPIEGEL: Es gibt auch die so genannte Kalifornische Krankheit: Man hinterlässt Nachrichten auf drei verschiedenen Anrufbeantwortern, aber niemand ruft zurück.
McNealy: Haben Sie mir schon mal eine
E-Mail geschickt und keine Antwort bekommen? Anrufbeantworter benutze ich
gar nicht. Dank der Technik bin ich viel
häufiger zu Hause als früher, weil ich mein
gesamtes Büro mit mir nehmen kann. Ich
mag das. Wenn Ihnen Ihr Job nicht gefällt,
suchen Sie sich einen anderen. In der Welt,
in der ich lebe, ist das Problem nicht zu
viel, sondern zu wenig Information.
SPIEGEL: Mr. McNealy, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
297
Wissenschaft
MEDIZIN
Zeit des Erwachens
M. SCHRÖDER / ARGUS
Die Einführung neuartiger Narkosemittel hat dazu geführt, dass immer mehr Patienten während
der Operation aufwachen. Einige leiden später unter schweren psychischen Störungen.
Jetzt sollen in den Krankenhäusern erste Anlaufstellen für Narkoseopfer eingerichtet werden.
Chirurgen, Anästhesist bei Operation: Eingriff bei vollem Bewusstsein erlebt
298
P. SCHINZLER / AGENTUR ANNE HAMANN
E
rst sah er nur ein grelles Licht. Dann
ein Ding aus glitzerndem Edelstahl.
Und plötzlich stach eine lange Nadel
mitten in sein krankes Auge.
Johannes versuchte zu schreien, doch er
brachte keinen Laut hervor. Ein Tubus
steckte in seiner Luftröhre, die Zunge war
schwer wie Blei, die Lippen waren unbeweglich. Nicht einmal einen Finger konnte der Zehnjährige krümmen.
Scheinbar friedlich schlafend lag Johannes auf dem OP-Tisch – und erlebte vollkommen hilflos, wie an seinem linken Auge
gespritzt, geschnitten und genäht wurde.
„Die wollten mich umbringen!“ brüllte
er, als seine Eltern nach der Operation an
seinem Bett standen. Und auch Monate
später mochte Johannes noch nicht Fußball
spielen, nicht schreiben, er konnte nur
schwer einschlafen und wurde sogar zum
Bettnässer. Auch für seinen Anästhesisten
steht inzwischen fest: Der Junge hat fast
die gesamte Operation bei vollem Bewusstsein erlebt.
Immer wieder berichten Patienten davon, dass sie trotz Narkose klar und deutlich mitbekamen, wie ihnen die Ärzte den
Bauch aufschnitten, die Mandeln heraustrennten oder mit der Säge ins Brustbein
frästen. Einige von ihnen leiden hinterher
Anästhesist Kochs
„Im Narkoseprotokoll sehen wir nichts“
an Ängsten, Schlaflosigkeit, Alpträumen
und Depressionen.
„Intraoperative Wachheit“ nennen Fachleute das Phänomen. Es kommt zwar eher
selten vor – die wenigen Studien aus den
USA und Großbritannien sprechen von einem Fall unter tausend Narkosen. „Doch
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
die Berichte darüber haben in den letzten
Jahrzehnten stetig zugenommen“, sagt
Eberhard Kochs, Leiter der Anästhesiologischen Abteilung des Münchner Klinikums Rechts der Isar. Der Mediziner will
deshalb nun bundesweit an Krankenhäusern Anlaufstellen für Narkoseopfer einrichten.
Überträgt man die amerikanischen Zahlen auf Deutschland, würde das schätzungsweise 6000 betroffene Patienten pro
Jahr bedeuten. Besonders gefährdet sind
Herzpatienten, Schwangere, schwer Verletzte – also Menschen, bei denen die Narkose bewusst flach gehalten wird, um den
Kreislauf zu schonen.
Immerhin beginnen die Mediziner langsam, das Phänomen der intraoperativen
Wachheit ansatzweise zu verstehen. Schuld
an dem zunehmenden Erwachen während
einer Operation sind offenbar die neuen,
eigentlich sehr sicheren Narkosemittel.
In der Ära des Äthers, mit dem bis in die
vierziger Jahre narkotisiert wurde, mussten
die Anästhesisten ihr ganzes Können darauf verwenden, zu verhindern, dass der
Patient in allzu tiefe Bewusstlosigkeit versank. Noch lange nachdem er weggedämmert war und längst keine Schmerzen
mehr spürte, zuckten noch seine Muskeln.
Die Ätherdosis musste deshalb so lange erhöht werden, bis die Muskulatur so schlaff
war, dass der Chirurg operieren konnte.
Zweifel, dass bei dieser Prozedur die
Patienten vollkommen bewusstlos waren,
hatte niemand.
Das änderte sich grundlegend mit der
Einführung von Curare – einem südamerikanischen Pfeilgift, das die Muskeln
lähmt, ohne auf das Bewusstsein zu wirken. Zusammen mit weiteren neuartigen
Substanzen war es nun möglich, während
einer Narkose Schmerz, Muskelanspannung und Bewusstsein getrennt voneinander auszuschalten. Dosieren kann man dadurch viel genauer, die Narkosen sind mithin wesentlich sicherer geworden; doch
die Tiefe der Bewusstlosigkeit zu kontrollieren ist dadurch erheblich schwieriger
geworden.
Inzwischen hat eine aufeinander abgestimmte Kombination aus bis zu 15
Wirkstoffen die Äthernarkose ersetzt. Bereits am Abend vor der Operation bekommt der Patient ein Schlafmittel, das
ihm helfen soll, dem kommenden Tag
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
FLASCHLIGHT
lich sind, aus dem Tritt – und Monitoren und Kontrollapparaten. Die
das lässt die Sinne schwinden. Geräte messen Blutdruck, Puls, Atmung
Dieser Prozess ist jedoch und den Sauerstoffgehalt des Bluts. Fast
ziemlich anfällig. „Ich stelle jede Veränderung wird lückenlos gemesmir eine Narkose als ein sen und protokolliert – doch ausgerechnet
Gleichgewicht vor“, sagt Nar- ins Gehirn reicht die Überwachung nicht:
koseforscher Urban, „auf der Keine der Apparaturen gibt Auskunft
einen Seite die betäubenden über den Zustand des Bewusstseins, keine
Narkosemittel – und auf der verrät dem Arzt, ob der Mensch, der vor
anderen Seite wach machende ihm liegt, etwas von dem mitbekommt, was
Einflüsse, wie Schmerzen, um ihn herum geschieht oder nicht. Dafür
Angst oder Nervosität.“
gibt es bis heute noch keine geeignete
Tatsächlich sind Anästhe- Methode.
sisten immer wieder überNicht einmal im Nachhinein lässt sich
rascht, wie unterschiedlich feststellen, ob ein Patient während der
hoch die Dosis von Narkose- Operation wach war oder nicht. „Im Narmittel sein kann, die Patienten koseprotokoll“, so Kochs, „sehen wir gar
zum Einschlafen benötigen. nichts.“
Wer sehr nervös ist oder starDer Anästhesist muss sich ganz auf seike Schmerzen hat, braucht in ne Erfahrung verlassen. Manche vermögen
der Regel wesentlich mehr, be- am Gesicht des Patienten, an Tränen oder
sonders Kinder teilweise er- kleinen Schweißperlen, zumindest ein westaunliche Mengen. „Da liegt nig abzulesen, wie es ihm geht. Vor allem
dann so ein kleiner Wicht“, er- aber ist es wichtig, die Eigenschaften und
zählt ein Anästhesist, „und ich Wirkdauern der verwendeten Narkosespritze und spritze, und der substanzen ganz genau zu kennen. „Anschläft immer noch nicht.“ ders als beim Rundumschlag-Medikament
Auch der Bedarf an Narkose- Äther“, so Narkoseforscher Urban, „jongas, mit dem im Operations- glieren wir bei den modernen Narkosen
saal die Betäubung aufrechter- mit vielen ganz unterschiedlichen Mitteln.
halten wird, kann sehr unter- Es gibt nur ungefähre Vorschriften, wie sie
schiedlich sein.
aufeinander abgestimmt werden müssen,
Bei Kindern und außerge- das meiste liegt in der Hand des Arztes. Erwöhnlich ängstlichen Patien- fahrung ist deshalb ungeheuer wichtig.“
Patient in Vollnarkose, Anästhesist: Sand im Getriebe
ten reicht möglicherweise die
Fast in jedem Krankenhaus wird eine etgelassen entgegenzudämmern. Am nächs- verabreichte Menge Narkosemittel einfach was andere Variante der Narkose praktiziert. Neue Ärzte brauchen eine Weile, um
ten Morgen wird mit einem Beruhigungs- nicht aus, die Angst hält sie wach.
Fatalerweise bekommt der Anästhesist sich umzustellen, und bei kleinen Schnitmittel noch einmal nachgelegt, bevor
der Patient in den Operationstrakt gefah- davon aber oft gar nichts mit. Der Patient zern – wenn zum Beispiel ein Schmerzren wird. Im Vorbereitungsraum bekommt selbst kann sich nicht bemerkbar machen, mittel zu spät nachgespritzt wird – kann es
der OP-Kandidat zunächst ein starkes die Narkose lähmt zuverlässig sämtliche immer wieder zu intraoperativer Wachheit
Schmerzmittel gespritzt, das ein wohliges, Muskeln, und der Tubus in der Luftröhre kommen.
Gelegentlich liegt es auch an purer
warmes Gefühl und bereits eine gewisse würde ohnehin jedes Sprechen unmöglich
Schlamperei. „Die Anästhesietechniken“,
Schummerigkeit hervorruft. Dem Curare machen.
Zwar werden alle wichtigen Körper- so Urban, „sind so zuverlässig geworden,
verwandte Substanzen entspannen die
Muskeln. Zum Einschlafen wird schließ- funktionen ständig kontrolliert. Der Kopf dass man sich in falscher Sicherheit wiegen
lich ein starkes Barbiturat injiziert, ist vom Arbeitsfeld des Chirurgen durch könnte.“ Typisch ist zum Beispiel, dass der
die Atmung wird flacher, die Reflexe ein grünes Tuch getrennt und umstellt von Anästhesist, nachdem er den Patienten aus
lassen nach – dem Patienten wird schwarz
vor Augen.
Schlummern fürs Skalpell Übliche Narkoseverfahren
Im OP wird die Bewusstlosigkeit durch
ein Narkosegas, etwa Isofluran, aufrechtVERFAHREN OPERATIONSBEREICH
MEDIKAMENT
NARKOSEDAUER
erhalten – meistens jedenfalls. Doch was
Vereisung Öffnung kleiner Abszesse, Chloraethylspray
2 Sekunden
genau passiert, wenn die Moleküle des
Entfernung von Warzen
Narkosemittels das Gehirn erreichen, weiß
bislang niemand. Der Wirkmechanismus
Lokalanästhesie Zahnextraktion,
z.B. Meaverin, Scandicain
1 Stunde
dieser Substanzen ist bis heute weitgehend
Wundnaht
unbekannt.
Leitungsanästhesie
z.B. Scandicain, Bupivacain
1 bis 2 Stunden
„Vermutlich“, erläutert der Bonner
Nervenblockade Finger, Zehe
Anästhesieprofessor Bernd Urban, „wirPlexusblockade ganzer Arm
ken die Narkosemittel weniger über einen
Spinalanästhesie Hüft- oder Kniegelenk
Schalter, mit dem das Bewusstsein an- und
Kaudalanästhesie Entbindung
ausgeknipst wird, sondern eher wie Sand
Vollnarkose ganzer Körper
Kombination von Betäubungs-, beliebig
im Getriebe.“
Schmerz-, Entspannungsmitteln
Nach dieser Vorstellung geraten durch
Lachgas-Isofluran-SauerstoffMedikamente
die Substanzen ganze Netzwerke untergemisch, Opiate (z.B. Fentanyl) werden forteinander kommunizierender Neurone, die
Sedativum (z.B. Brevimytol)
dauernd
für die Aufrechterhaltung von Wachheit,
Muskelrelaxans (z.B. Norcuron) nachgereicht
Wahrnehmung und Denken verantwort300
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
dem Vorbereitungsraum in den OP gefahren hat, vergisst, den Hahn für das Narkosegas aufzudrehen. Wenn die Wirkung des
Barbiturats, mit dem die Narkose eingeleitet wurde, nach etwa 20 Minuten langsam nachlässt, wird es kritisch.
„Das ist mir selber auch schon mal passiert“, berichtet ein Anästhesist, der nicht
genannt werden will. „Weil zu diesem Zeitpunkt die muskelentspannenden Mittel
noch nicht voll wirkten, fing der Patient auf
dem OP-Tisch plötzlich an, sich aufzurichten. Wir haben dann schnell ein bestimmtes Mittel, ein Benzodiazepin, gespritzt,
das die Erinnerung an dieses Ereignis auslöscht.“
Manchmal liegt eine knappe Dosierung
der Narkosemittel aber auch in der Ab-
Erst hörte der Patient das Sirren
der Säge, dann spürte er
etwas Scharfes in seinem Fleisch
sicht des Arztes.Weil alle diese Substanzen
den Kreislauf stark belasten, wird vor allem bei herzkranken Patienten die Dosis so
niedrig wie möglich gehalten. Immer wieder berichten deshalb Menschen, dass sie
ihre Bypassoperation bei vollem Bewusstsein erlebten.
Der 55jährige Norman Dalton aus dem
englischen Leeds beispielsweise hörte
zunächst das Sirren der Säge. Dann spürte er, wie etwas Scharfes in sein Fleisch
drang. Sich rühren oder irgendwie bemerkbar machen konnte er nicht – sieben
Stunden lang, bis die Ärzte seinen Brustkorb wieder zugenäht hatten.
Mit einer anderen Herzpatientin machten die Ärzte ein Experiment. Auch bei ihr
hatten sie wegen Kreislaufproblemen das
Narkosemittel (damals noch Äther) nur
sehr sparsam dosiert. Als sie die Frau nun
während der Operation und bei geöffnetem Brustkorb baten, die Zunge herauszustrecken, kam sie dieser Aufforderung ohne
Zögern nach. Hinterher konnte sie sich allerdings an nichts mehr erinnern.
Auch bei Kaiserschnitten wird die Vollnarkose bis zur Geburt des Kindes möglichst flach gehalten. Der Fall von Ursula V.
ist typisch: „Ich spürte ein Reißen in meinem Bauch“, berichtet die 40-Jährige, „und
habe immerzu gedacht: ,Was machen die
da nur? Dort ist doch mein Kind drin!‘ Als
ich es schließlich schreien hörte, war ich
unendlich erleichtert.“
Immer wieder aufs Neue sind Anästhesisten und Chirurgen über die Berichte ihrer Patienten verblüfft – und manchmal
peinlich berührt. Beispielsweise über Nigel
Gunshaw, 34, der sich erinnerte, dass sein
Chirurg ihn während seiner Blinddarmoperation als „innen genauso schwabbelig
wie außen“ bezeichnet hatte.
Oder über den Fall eines 45-jährigen
Mannes, bei dem sich die Ärzte während
der OP über das Wackeln der großen Zehe
302
lustig gemacht hatten. Hinterher stellte sich
heraus: Der Patient hatte auf diese Weise
den Chirurgen verzweifelt zu signalisieren versucht, dass er bei vollem Bewusstsein war.
Manche Forscher behaupten sogar, es
gebe eine Art „implizites Gedächtnis“ für
das, was während einer Operation gesprochen wird. Menschen sollen sich unbewusst
an Dinge erinnern können, die sie während
einer Narkose friedlich schlummernd unbewusst erlebt haben.
Der Münchner Anästhesist Dirk
Schwender unternahm dazu ein Experiment: Er las während der Operation seinen
Patienten die Geschichte von Robinson
Crusoe und dem Eingeborenen Freitag
vor. Keiner konnte sich später bewusst daran erinnern. Und doch konnte Schwender
unbewusste Spuren seiner Lesung nachweisen: Als er die Patienten später zu ihrer spontanen Assoziation zu dem Wort
„Freitag“ fragte, nannte jeder Fünfte
die Robinson-Geschichte. Einer Kontrollgruppe dagegen fiel nur „Fisch essen“,
„letzter Arbeitstag der Woche“ oder
„Karfreitag“ ein.
Sollten sich die Hinweise auf eine Erinnerung ohne Bewusstsein verdichten,
müssten die Chirurgen in Zukunft vorsichtiger sein. Unbedachte Worte während der Operation, zum Beispiel zu den
Überlebenschancen des Patienten, könnten möglicherweise ungeahnte Folgen
haben.
Wer eine Operation aber tatsächlich bei
vollem Bewusstsein erlebte, hat mit den
Folgen nicht selten jahrelang zu kämpfen:
Ängste, Depressionen, Bilder, die immer
wieder vor dem inneren Auge erscheinen:
„Posttraumatisches Stress-Syndrom“ nennen die Ärzte die Reaktion auf das Erlebnis, dem Operations-Horror vollkommen
hilflos ausgeliefert zu sein.
In den Anlaufstellen, die Eberhard
Kochs demnächst mit der Gesellschaft für
Anästhesiologie und Intensivmedizin einrichten will, soll es deshalb neben Verständnis und Informationen vor allem
Adressen von kompetenten Therapeuten
geben.
Dem zehnjährigen Johannes ging es
nach einigen Therapiesitzungen zumindest
vorübergehend ein wenig besser. Jetzt hat
er den Kampf gegen die OP-Angst auch
selbst aufgenommen. Er wollte unbedingt
noch einmal den Ort des Schreckens sehen.
Gemeinsam mit seinem Anästhesisten besuchte er den Raum, in dem er damals operiert wurde.
Johannes erkannte alle Geräte wieder
und merkte, dass die Instrumente für die
Augenoperation fehlten. Der Besuch löste
keinen neuen Schock aus, im Gegenteil:
Mit dem Arzt verstand sich Johannes prima, und zum Abschied sagte er: „Ich muss
unbedingt Abitur machen, dann kann ich
später auch Anästhesist werden.“
Veronika Hackenbroch, Kristin Raabe
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Technik
4 3 / 1 9 9 9
305
T. WAGNER / SABA
Barhocker in rollender Techno-Disco
ratlos als beeindruckt durch die Messehallen. „Ich sehe keine klare Richtung“,
gestand Ford-Entwicklungschef Richard
Perry-Jones. Abgesehen von den zuweilen
ans Rotlicht-Milieu erinnernden Kostümen
der Messehostessen war in der Tat keine
Linie erkennbar.
Mitsubishi stimmt noch ganz die
grüne Heuchelmelodie an, die vor zwei
Jahren die gesamte „Tokyo Motor Show“
penetrant durchwaberte. Auf Monitoren
schweben Delfine und Schmetterlinge zu
getragener Opernmusik, während übergewichtige Nonsens-Autos wie der Geländewagen Pajero die Aufmerksamkeit auf den
Stand lenken.
Die größere aktuelle Herausforderung
stellen nach Einschätzung von VW-Chef
Piëch „die beiden erfolgreichen Unternehmen“ Japans dar: Toyota und Honda
sind, anders als der Rest der Insel, extrem
profitabel und präsentierten sich in Tokio
mit dem unverhohlenen Stolz der Sieger.
Toyota dementierte kühl jegliches Fusionsgerücht, nachdem das Management
bekannt gegeben hatte, es arbeite an 15
gemeinsamen Entwicklungsprojekten mit
General Motors zusammen. Allianzen nach
DaimlerChrysler-Rezept habe man nicht
nötig, ließ der mit Abstand größte Autokonzern Japans durchblicken.
Sein Erfolg liegt vorwiegend in effektiver Produktion und hohen Qualitätsstandards, weniger in technischem Pioniergeist
begründet. Die gezeigten Modelle und Studien fallen eher durch drollige Namen
(„Will Vi“, „Opa“) auf als durch beispielhafte Innovationen. Das neue „Sport
Coupé“ der Toyota-Luxuswagensparte Lexus steht prominent auf einer Bühne, unter konstanter Vorführung seines elektrisch
zusammenklappbaren Stahldachs – einer
Technik, die Mercedes mit dem Roadster
SLK schon vor drei Jahren einführte.
Mit wirklich spritzigen Kreationen fiel
lediglich Honda auf, aus Tradition der
frechste Autokonzern Japans, wenngleich
während der vergangenen Jahre etwas in
Lethargie versunken. Als exotischste Studie der Schau präsentierten die HondaDesigner das City-Mobil „Fuya-Jo“, zu
Deutsch: „Schlaflose Stadt“.
Nur drei Meter lang und zwei Meter
hoch dürfte das einer Mini-Lokomotive
ähnelnde Vehikel zwar den Unbilden europäischer Elchtests kaum gewachsen sein,
doch verspricht es völlig neue Perspektiven
urbaner Mobilität. Vier Insassen sitzen auf
Barhockern gleichendem Gestühl. Lautsprecher im Durchmesser von Medizinbällen können das urige Gefährt bei Bedarf
in eine rollende Techno-Disco verwandeln.
Das Lenkrad ist einer Schallplatte nachempfunden.
Mit dem Stand-Motto „be smart, have
fun“, spielt Honda offen auf die jüngsten
Kleinwagen-Kapriolen von Mercedes an.
Doch im Gegensatz zur Stuttgarter Konkurrenz werden die Japaner der Vision kei-
Bugatti-Studie von VW: Gedrungenes Protzmobil zum Stückpreis von einer Million Mark
AU T O M O B I L E
Stolz der Sieger
Ungehemmt lassen die deutschen Autohersteller auf der
„Tokyo Motor Show“ die Muskeln spielen.
Vor der Automacht Japan fürchten sie sich kaum noch.
„Tokyo Motor Show“ ein Drittel der gesamten Ausstellungsfläche.
Mit dem grünlich schillernden Motto der
Schau („Blick in die Zukunft – Autos für
diese Erde verändern“) haben die deutschen
Ausstellungsstücke etwa so viel gemein wie
die Fremdenlegion mit der Heilsarmee.
Auch Japans Autoindustrie, von der anhaltenden asiatischen Wirtschaftsflaute schwer
angeschlagen, macht sich mehr Sorgen um
die eigenen Überlebenschancen als um das
ökologische Wohlergehen des Planeten.
Der Schatten der Nissan-Krise (siehe
Kasten Seite 306) verdüsterte die Stimmung
des fernöstlichen Fahrzeug-Festivals nachhaltig. Auf der Suche nach strategischen
Visionen der einst so gefürchteten Asiaten
irrten die internationalen Autobosse eher
AP
U
ngewöhnlich zurückhaltend präsentierte Ferdinand Piëch am vergangenen Mittwoch in Tokio das
neue Schmuckstück seines Konzerns. Als
Chefdesigner Hartmut Warkuß die Hülle
von der jüngsten Bugatti-Studie zog, schaute der VW-Chef reglos zu.
Auf das sonst übliche Zeremoniell, den
Motor anzulassen und mit beherztem
Gasfuß eine Klangprobe zu liefern, verzichtete der Volkswagen-Patriarch. Stattdessen lieferte er sehr konkrete Aussagen
über den geplanten Fortgang des BugattiProjekts. In vier Jahren startet die Produktion. Von da an sollen 50 Exemplare
pro Jahr ausgeliefert werden. Bei einem
Stückpreis von einer Million Mark „rentiert sich das Zeug“.
Das gedrungene Protzmobil, benannt
nach dem einst auf Bugatti siegreichen
Rennfahrer Pierre Veyron, kann nun auf
dem Messegelände der Nippon-Metropole
für zwei Wochen am offenen Herzen bestaunt werden. Der ohne Abdeckung im
Wagenzentrum platzierte Motor steht mit
18 Zylindern und 555 Pferdestärken voll im
Zenit des PS-Exhibitionismus, den die deutschen Automobilhersteller in diesem Jahr
auf Japans größter Automesse zelebrieren.
Den Mercedes-Stand dominiert die
Roadster-Studie SLR (557 PS). BMW
schickte als Hauptattraktion den Roadster
Z8 (400 PS) nach Fernost. Insgesamt belegen die deutschen Autohersteller auf der
Stadtauto-Modell „Fuya-Jo“ von Honda
d e r
s p i e g e l
Technik
ne Serienfertigung folgen lassen und sich
somit schlaflose Nächte ersparen.
Marktreif ist dagegen der Honda „Insight“,
das weltweit sparsamste Serienauto mit Benzinmotor. Dank der Unterstützung durch einen Elektroantrieb, der die Bremsenergie
beim Verzögern über Generatoren speichert
und später bei Bedarf wieder den Rädern
zuführt, erreicht der Wagen einen Normverbrauch von 3,4 Litern auf 100 Kilometer.
Der Wagen fährt 180 Stundenkilometer
Spitze und soll ab April für etwa 35 000
Mark in Deutschland angeboten werden.
Mit seinem Kohlendioxid-Ausstoß von 80
Gramm pro Kilometer liegt er etwa auf
dem Niveau des Drei-Liter-Lupo von Volks-
Bürostuhl im Kreidekreis
DPA (l.); I. STUART / CORBIS SYGMA (r.)
Kulturschock in Japan: Beim Autohersteller Nissan erzwingt
ein ausländischer Sanierer radikalen Stellenabbau.
Viele Japaner sehen in dem Kostenkiller einen Retter.
Nissan-Sanierer Ghosn, Autoproduktion bei Nissan: Tausende neue Fenster-Hocker
D
ie Firmen-Samurai des japanischen Autobauers Nissan sind
Niederlagen gewohnt. Tapfer
lächelnd hatten sie es noch ertragen, dass
sich ausgerechnet der französische
Renault-Konzern an ihrer einstigen Vorzeigefirma beteiligte. Doch dann erlebten die Japaner vergangene Woche den eigentlichen Kulturschock.
Vor laufenden Kameras verkündete
Carlos Ghosn, der von Renault bei Nissan
eingesetzte Statthalter, seinen „Wiederbelebungsplan“ für den hoch verschuldeten Autokonzern. Mit einer für Japan
beispiellos brutalen Sanierung will der
gebürtige Brasilianer (Spitzname: „le
costkiller“) die Errungenschaften der
fernöstlichen Firmenkultur hinwegfegen.
Automatische Beförderung nach dem
Berufsalter? Lebenslange Arbeitsplatzgarantie? Solche Wohltaten können Nissans
Angestellte künftig vergessen. Mit fassungslosem Schweigen lauschte die Firmenfamilie dem Horrorkatalog des Ausländers: Bis April 2003 will er bei Nissan
21 000 Jobs streichen und allein in Japan
fünf Werke schließen.
306
d e r
Mit seinem Sanierungsplan schockierte Ghosn die japanische Nation: Die gegenseitige Treue zwischen Konzernen und
verflochtenen Zulieferern galt bislang als
Erfolgsrezept der „Japan AG“. Wie konfuzianische Familien schotteten sich die
Firmengeflechte – die so genannten Keiretsu – gegenüber Außenseitern ab.
Vor allem in der Not hielten die Keiretsu zusammen: Statt überzählige Mitarbeiter zu feuern, schoben viele Unternehmen diese zu Tochterfirmen oder Zulieferern ab. Dieser Taschenspielertrick
erschwerte Nissan jedoch, seine Einkaufskosten zu drücken: Junge NissanManager brachten es nicht übers Herz,
älteren Ex-Kollegen niedrigere Preise abzuhandeln.
Entsetzen löste Ghosn vor allem mit
dem Stellenabbau durch vorzeitigen Ruhestand aus. Zwar kann auch der RenaultMann nicht einfach Arbeitskräfte feuern.
Aber so unverblümt hätten japanische
Manager das Tabu-Thema nie angepackt.
Um ihre zehntausende „MadogiwaZoku“ („Fenster-Hocker“) aus den Firmen zu ekeln, gehen Nippons Bosse dis-
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
wagen, der zwar etwas weniger verbraucht,
als Diesel aber zugleich pro verfeuertem
Liter mehr Kohlendioxid in die Luft pustet.
VW-Chefentwickler Martin Winterkorn zollte den japanischen Ingenieuren
vergangene Woche in Tokio offen Respekt: „Auf Honda muss man Acht
geben.“
Christian Wüst
kreter vor: Wer bei Bürobeginn einen
Kreidekreis um seinen Stuhl findet, weiß:
Ich werde hier nicht mehr gebraucht.
Auch wer plötzlich das Telefon auf dem
Schreibtisch vermisst, kann einpacken.
Die lebenslange Arbeitsplatzgarantie
ist längst zur hohlen Ideologie verkommen. Japans Arbeitslosigkeit beträgt
offiziell 4,7 Prozent – in Wahrheit dürfte
sie doppelt so hoch sein. Gleichwohl
runzelte Premier Keizo Obuchi rituell
die Stirn über Ghosns Sanierungspläne.
Auch Hiroshi Okuda, Boss des Konkurrenten Toyota, sorgt sich um die Firmenkultur: Scheinheilig bedauerte er den Versuch Nissans, „durch Restrukturierung
den Aktienkurs in die Höhe treiben zu
wollen“.
Ähnliche Schelte hatten Nissan-Manager bereits zu hören bekommen, als sie
1995 erstmals ein großes Autowerk in
Zama bei Tokio schlossen. Um den sozialen Konsens nicht weiter zu gefährden, ließen sie ihre Firma dann sechs Jahre lang immer tiefer in die roten Zahlen
schlittern. Als Nissan Anfang dieses Jahres vor der Pleite stand, verhandelten die
Japaner zunächst mit DaimlerChryslerChef Jürgen Schrempp über eine Beteiligung. Doch den Deutschen schreckte der
Schuldenberg – er lehnte schaudernd ab.
Nun muss Monsieur „le costkiller“ bei
Nissan den Stall auskehren. Gewalttätige
Proteste braucht Ghosn von den Japanern nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Insgeheim hoffen viele Nissan-Leute geradezu auf „gaiatsu“ („Druck von außen“).
Manche erinnern sich gar an US-Besatzungsgeneral Douglas MacArthur, der
dem besiegten Japan ab 1945 Demokratie
verordnete. Bald verehrten die Japaner
den Ausländer wie einen Ersatz-Kaiser.
Japans Presse begrüßte den RenaultManager schon fast wie einen Retter: Es
bringe nichts, Ghosn zu „hassen“, schrieb
die Tageszeitung „Asahi“. Schuld an der
Misere hätten die japanischen Manager.
Das Wirtschaftsblatt „Nihon Keizai“ forderte keck den Rücktritt des glücklosen
Nissan-Präsidenten Yoshikazu Hanawa.
Hanawa ist jetzt der ranghöchste
„Fenster-Hocker“ bei Nissan. Die Geschäfte führt Ghosn, der in der TV-Werbung auch mutig sein Bulldozer-Gesicht
hinhält. Sein Slogan: „Nissans RenaisWieland Wagner
sance beginnt.“
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Szene
FILM
ADVANCED FILM
„In jedem Leben
Weltmeisterschaft“
Der bhutanische Mönch und Regisseur Khyentse
Norbu, 38, über seine Fußballkomödie „Spiel der
Götter“, die jetzt in die deutschen Kinos kommt
Szene aus „Spiel der Götter“
Norbu: Eben. Und einer von
beiden war auch noch ein
sehr hoher Mönch. Niemand
junge tibetisch-buddhistische Mönche der Faszinawollte gegen ihn antreten.
tion des Fußballs – sie wollen unbedingt die WeltAm Ende musste es einem
meisterschaft im Fernsehen gucken. Haben die Tibefohlen werden.
beter keine anderen Sorgen?
Norbu: Die Geschichte beruht auf einer wahren BeSPIEGEL: Sie selbst werden als
gebenheit. Außerdem bin ich kein Freund von Probuddhistischer Meister verpagandafilmen.
ehrt. Was hat Sie ins Filmgeschäft verschlagen?
SPIEGEL: Propagieren Sie nicht den Fußball?
Norbu: Ich bin erst während der Dreharbeiten zum
Norbu: Buddhismus ist keine
Fußballfan geworden. Zuerst habe ich einfach nur
Religion, sondern eine Philonach einer Geschichte gesucht, die sich mit einem Regisseur Norbu
sophie, eine Lebenseinstelganz kleinen Budget realisieren lässt.
lung, eine Wissenschaft. Sie
können Wissenschaftler sein und gleichzeitig Filmemacher.
SPIEGEL: „Spiel der Götter“ wurde in einem Kloster am Fuße
des Himalaya gedreht, mit echten Mönchen als Hauptdarstel- Film ist eine mächtige, globale, moderne Sprache. Anstatt davor zu fliehen, müssen wir diese Sprache lernen.
lern. War es schwer, die Mönche für den Film zu begeistern?
Norbu: Einige hatten vorher noch nie eine Kamera gesehen, aber
SPIEGEL: Zum Buddhismus gehört der Glaube an die Reinkarnaich war überrascht, wie gut es ging. Mönche sind sehr diszipli- tion. Möchten Sie als Fußballprofi wiedergeboren werden?
niert, sie verlangen nicht mal Gage. Schwierig war eine Szene, Norbu: Viele junge Mönche wünschen sich das bestimmt. Ich bin
in der zwei Mönche miteinander ringen sollten.
zufrieden, wenn ich in jedem neuen Leben die Fußballweltmeisterschaften sehen kann.
SPIEGEL: Was Mönche normalerweise nicht tun.
DPA
SPIEGEL: Khyentse Norbu, in Ihrem Film erliegen
Volksfeind am Erdrand
E
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
VERLAGE
Am kürzeren Ende
D
er nach der Wende von der Treuhand mit einer millionenschweren
Anschub-Finanzierung gestützte ehemalige DDR-Verlag Volk & Welt wird
im März nächsten Jahres nach München
umziehen. In Berlin, wo das traditionsreiche Unternehmen seit 1947 residiert,
wird voraussichtlich nur der Verleger
Dietrich Simon, 60, mit einer Lektorin
bleiben – Produktion,
Pressearbeit und Werbung sollen gemeinsam
betrieben werden mit
den Münchner Verlagen
Luchterhand und Limes,
bisher lediglich Vertriebspartner. Überraschend kommt das
nicht: Volk & Welt (aktueller Bestseller: Tho- Simon
mas Brussigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“) hat seit
1995 denselben Eigentümer wie Limes
und Luchterhand: den Münchner Wirtschaftsanwalt Dietrich von Boetticher.
309
ACTION PRESS
alampi Oroschakoff, 44,
in der Heimat seiner
Ahnen angekommen –
im Sankt Petersburger
Russischen Museum
zeigt er einen 40-Gemälde-Zyklus, der den
Dialog der Kulturen in
pathetische Motiv-Kontraste umsetzt (bis 14.
November). Künstlerisch-frei zitiert er die
Visionen russischer
„Wanderer“-Maler und
westlicher „OrientalisOroschakoff-Werke „Welt“, „Tod der Cleopatra“
ten“ aus dem 19. Jahrhundert, er stellt ihnen aber unter dem
KUNST
Titel „Erdrandsiedler“ modern stilisierte
Kompositionen gegenüber, die Krisenzonen und -phänomene symbolisieren sollen („Osmanisches Reich“, „Kunsts war, sagt der Künstler, eine „Exploraub“). Oroschakoff, im Kommunismus
sion im Kopf“, damals vor 17 Jahren
als „Volksfeind“ diskriminiert, in Wien
an heiliger Stätte. Auf dem griechischen
als sprachfremder „Tschusch“ zusamMönchsberg Athos empfand der aus
mengeschlagen und nach 14 Münchner
Bulgarien in den Westen verschlagene
Jahren nun in Berlin ansässig, beurteilt
Spross russischen Hochadels plötzlich
die Verständigungsmöglichkeiten düster:
die „eigene Geschichte, eigene Farben
„Ein seelenloser Westen trifft auf einen
und Töne“; seither sieht er sich auf eiausgehöhlten Osten.“
nem „langen Weg zurück“. Nun ist Har-
Szene
FOTOGRAFIE
Miniröcke und Napalm
D
FOTOS: R. AVEDON
er Schriftsteller Truman
Capote zeigt seinen
Bauch, die Sängerin Janis
Joplin ihre Fäuste, und amerikanische Soldaten posieren
mit ihren neuesten Eroberungen – verschüchterten Vietnamesinnen in Miniröcken.
„The Sixties“ nennt der USFotograf Richard Avedon mit
lakonischer Knappheit sein
Panoptikum eines Jahrzehnts, das nun – mit Texten
von Doon Arbus – ein prächtiger Bildband beschwört
(Verlag Schirmer/Mosel,
München; 240 Seiten; 148
Mark). Avedon, Jahrgang
1923, war als Modefotograf
zu viel Ruhm und noch mehr
Geld gekommen; 1957 gab sein Leben
sogar den Stoff ab für das Filmmusical
„Funny Face“ mit Fred Astaire und
Audrey Hepburn in den Hauptrollen. In
den sechziger Jahren erweiterte er dann
sein Sujet; Avedon fotografierte sie alle:
schwarze Bürgerrechtler wie weiße
Neonazis, Regisseure, Musiker, Andy
Warhols „Factory“-Mitstreiter, den ehemaligen Sklaven William Casby; meist
in Schwarzweiß, isoliert vor weißem
Hintergrund; den Beatles gönnt er poppig-verfremdende Farben. Gelacht wird
nur selten auf Avedons porenscharfen
Avedon-Fotos (von Joplin, John Lennon, Casby)
Porträts – statt Friede-Freude-Eierkuchen-Verklärung blickt einmal ein monolithisch-selbstbewußter Außenminister Henry Kissinger in die Kamera, ein
paar Seiten zuvor eine Frau mit vernarbtem Gesicht; „Napalm-Opfer, Saigon“ steht darunter. „Meine Fotos“,
sagt Avedon, „lesen nur ab, was auf der
Oberfläche zu sehen ist. Ich habe
großes Vertrauen in die Aussagekraft
der Oberfläche.“
Kino in Kürze
Fall Robin Williams, und der menschelt als Jakob so feuchtwarm
bewohner Jakob, der ausgerechnet im Polizei-Hauptquartier vor sich hin, als wolle er zu seinem Oscar nun auch noch den
eine Rundfunknachricht vom Nahen der russischen Truppen Friedensnobelpreis gewinnen.
aufschnappt, war eines der ersten literarischen Werke, die sich an das große
„Der Vulkan“. Was für ein Stoff! Eine erThema Holocaust mit melancholischem
folgreiche Schauspielerin, ein scheijüdischen Witz heranwagten. Jakob erternder Schriftsteller, ein aalglatter
zählt die frohe Kunde weiter, und weil
Spitzel – und viel Liebe, Drama, Wahnplötzlich alle glauben, er habe ein eigesinn unter deutschen Emigranten im
nes Radio, ist er gezwungen, immer
Paris der dreißiger Jahre. Jetzt, 60 Jahneue Nachrichten zu erfinden, um die
re nachdem Klaus Mann seinen autoHoffnung schöpfenden Ghettobewohbiografisch geprägten Roman über Helner nicht zu enttäuschen: ein Lügner
den, Verlierer und Verräter schrieb, hat
aus Barmherzigkeit. 1974, fünf Jahre
der Regisseur Ottokar Runze, 74, eine
nach seiner Veröffentlichung, wurde JuVerfilmung gewagt. Sichtbar eingerek Beckers Meisterstück von der Defa
schüchtert von der wortmächtigen Vorverfilmt, und nun hat auch Hollywood Szene aus „Jakob der Lügner“
lage, riskiert Runze jedoch nur eine braes entdeckt. Fairerweise ist anzumerve, seltsam zeitlose Bebilderung im Stiken, dass die Adaption (Regie: Peter Kassovitz) schon vor le öffentlich-rechtlichen Literatur-Fernsehens; gut gemeint, aber
Roberto Benignis Hit „Das Leben ist schön“ entstand, dem sie leider kein Kino. Da mag die schöne Hauptdarstellerin Nina
frappierend gleicht: kein Trittbrettprojekt, sondern ein sorgsam Hoss mit noch so viel Hingabe von „einer kleinen Sehnsucht“
geplantes „star vehicle“. Das Vehikel transportiert in diesem singen: Dieser „Vulkan“ speit kein Feuer.
COLUMBIA TRI-STAR
„Jakob der Lügner“. Der wundersame Roman um den Ghetto-
310
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Kultur
S AC H BU C H
Wie Rock und Jazz nach
Deutschland fanden
E
lvis Presley präsentiert sich in Uniform an einem Holztisch in Friedberg/Germany der Weltpresse, Archie
Shepp bläst auf der Bühne des Donaueschinger Musikfestivals in sein Saxofon, Patti Smith ächzt im Münchner
„Downtown“-Club ins Mikro: Schon
die clever zusammengesuchten, prachtvoll gedruckten Schwarzweissfotos machen diesen Band zu einem kleinen
Wunderwerk. Doch Konrad Heidkamps
„It’s all over now“ ist nicht bloß ein
staunenswert schönes, sondern auch ein
staunenswert kluges Buch. Klug vor allem deshalb, weil Heidkamp ganz unaufgeregt und sehr persönlich den PopRoman der Bundesrepublik geschrieben
hat – also die Geschichte jener krummen Wege, auf denen Jazz und Rock,
zunächst als Musik der AmiBesatzer geschmäht, den Weg
nach Deutschland fanden.
Heidkamp, Jahrgang 1947 und
seit vielen Jahren als Musikkritiker vor allem in der
„Zeit“ zugange, erzählt
durchaus autobiografisch davon, wie Elvis Presley und
Charlie Parker in den Fünfzigern, die Rolling Stones und
Thelonious Monk in den
Sechzigern, Patti Smith und
Miles Davis in den Siebzigern
sein Leben veränderten. Und weil er dabei ohne die Hysterie des Fans (der er
natürlich trotzdem ist) auskommt und
ohne Fachgesimpel, ist seine Bestandsaufnahme der „Musik einer Generation
– 40 Jahre Rock und Jazz“ (Untertitel)
ein ebenso verständliches wie sachkundiges Werk der Kultur-Geschichtsschreibung. Heidkamp macht nicht nur begreiflich, wie man gleichzeitig John
Wayne lieben und gegen den VietnamKrieg protestieren konnte, wie schwer
sich die Deutschen zunächst mit den
Texten Bob Dylans und mit den Zornausbrüchen der Sex Pistols taten, sondern er schildert auch die Atmosphäre,
in der die anglo-amerikanischen PopSensationen in Deutschland aufgenommen wurden. Er schreibt von der „Suche nach Heimat im Mythos Amerika“,
von einer Zeit, in der sich „die privaten
Revolten höchstens gegen nummerierte
Holzsitze richteten“, und darüber, was
Charlie Parker mit Tipp-Kick-Spielen zu
tun hatte. Der Titel „It’s all over now“
klingt resignativer, als er gemeint ist: Mit den aktuellen
Pop- und Jazz-Moden kann
Heidkamps Generation wenig anfangen – aber beim
Hören von Neil Youngs
Platten ahnt sie, so verrät
dieses Buch, „dass es nie zu
spät, nie zu früh ist“ für die
Erlösung durch Musik.
Konrad Heidkamp: „It’s all over
now“. Alexander Fest Verlag, Berlin;
312 Seiten; 49,80 Mark.
POP
Münchens Mambo-King
regiert weltweit
uf dem Weg zum Erfolg kann ein
Hut Wunder wirken, behauptet
Lou Bega. Der 24-jährige Musiker
macht seinen weißen Borsalino mit echter Seideneinlage durch das Video zum
Bega-Sommerhit „Mambo No. 5“ nun
weltweit bekannt. Der Song („A little
bit of Monica …“) hat es weltweit in 21
Ländern an die Spitze der Hitparade
geschafft. Auch in den USA wird Bega,
afrikanisch-italienischer Abstammung
und als David-Lou Bega in München
aufgewachsen, derzeit als Pop-Sensation
gefeiert. Dem Magazin „Entertainment
Weekly“ durfte der Bayer ein paar
Flirttipps diktieren: Zum Beispiel solle
man schöne Frauen am besten in Supermärkten ansprechen, „dann glauben sie,
dass man es ehrlich meint“.
FOTEX
A
Popstar Bega
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Am Rande
Doppel-König
Na klar, wissen
wir: Im Reich
der Kunst herrschen Lug und
Trug. Nicht nur
sind Malersleute grundsätzlich Gaukler, die an
des Kaisers neuen Kleidern weben;
bei nennenswertem Marktwert
ihrer Ware locken sie auch unwiderstehlich Doppelgänger an. Die
werkeln in den Augen oberflächlicher Betrachter gleich gut und tun
es, ohne die Mühe der ProduktEntwicklung, umso emsiger. Manch
einer tritt schließlich, wenn er nach
klingendem Erfolg dennoch aufgeflogen ist, stolz-verschämt aus
dem Schatten und lässt sich „König
der Fälscher“ titulieren. So geschah es jenem ungarischen Weltmann, der am liebsten den Namen
Elmyr de Hory trug. Er hat eine
internationale Klientel durch Monet-, Picasso- und Modigliani-Imitationen beglückt und steht auch
nach seinem Tod (1976) bei amerikanischen Fans mit Bilderpreisen
um 20 000 Dollar noch hoch im
Kurs. Rotiert er nun – oder wäre er
stolz auf die ihm erwiesene Ehre?
Die US-Zeitschrift „Artnews“ verbreitet das ebenso einleuchtende
wie schwindelerregende Gerücht,
es seien De-Hory-Fälschungen aufgetaucht, solche von minderer
Qualität, geeignet, das Renommee
des Verblichenen in den Schmutz
zu ziehen. Ist den Leuten gar
nichts heilig? Nicht einmal auf ein
Gaunerstück kann man sich mehr
verlassen. Schreckliche Vorstellung: In irgendeinem Hinterzimmer sitzt jemand und fälscht Konrad Kujaus Tagebücher. Und die
Geschichte der Diarienliteratur
muss schon wieder umgeschrieben
werden.
311
Kultur
MUSIK
Papagei unter Pinguinen
Der britische Stargeiger Nigel Kennedy, jahrelang punkiger
Bürgerschreck der Klassikszene, ist erwachsen geworden. Auf seiner
neuen CD mit Salonmusik erweist er sich als überlegener Meister
nostalgischer Miniaturen, im nächsten Jahr will er in zehn
deutschen Städten jede Menge Bach spielen.
W
Wenn etwa der Franzose Jules Massenet
in seiner Oper „Thais“ ein herzinniges Geigensolo streichen ließ, um einer ägyptischen Kurtisane zu huldigen; wenn Charles
Gounod ein Klavierstück von Bach zum
frömmelnden „Ave Maria“ kandierte oder
der alte Händel im Oratorium „Solomon“
die Königin von Saba besang, dann konnte
die Belle Époque wonniglich lauschen.
Doch mit den Häkeldeckchen, den Stehgeigern und den höheren Töchtern verschwanden auch deren tönende Lollipops
– als Salonmusik verpönt, als Schmachtfetzen verwünscht und aus den Program-
RANKIN / CAMERA PRESS
enn es die gute alte Zeit je gegeben hat, dann in ihren seligen
Schlagern. Alle höheren Töchter
klimperten sie auf dem Pianoforte; in den
Vestibülen nobler Hotels wurden sie zur
Teatime von pomadigen Stehgeigern serviert; und ganz feine Herrschaften lauschten ihnen daheim vor den Trichtern ihrer
krächzenden Grammofone.
Es waren (meist gefühlig arrangierte)
Romanzen und Meditationen, Wiegenlieder, Träumereien und Nocturnes – lauter
harmonische Petitessen voll zarter Schluchzer zwischen Soap und Schmus.
Klassikgeiger Kennedy
Reif für den Ritterschlag
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
men in Acht und Bann verteufelt.
Einer will es jetzt wissen.
Er schlägt noch einmal so ein
Poesiealbum der Tonkunst auf
und verspricht mit seiner jüngsten
Einspielung (EMI), einen „Schaukasten für einige der schönsten Miniaturen“ zu öffnen, „die je komponiert
wurden“, „jede für sich ein Geniestreich“.
79 Minuten lang reiht er 20 Titel zu einer nostalgischen Schlagerparade auf:
Massenets „Thais“ ist, natürlich, dabei,
Gounods „Ave Maria“, ein Nocturne von
Chopin, aber zwischen den getragenen
Gassenhauern legt er sich auch für RimskiKorsakows „Hummelflug“ ins Zeug, für
die „Zigeunerweisen“ von Sarasate und
für George Gershwin. „Ein kleines Musikstück kann ein Meisterwerk sein“, kommentiert der Geiger seinen Saitensprung in
die Süßwarenabteilung, „egal, ob es von
Schubert stammt, von Fritz Kreisler oder
den Kinks.“ Recht hat er.
Der Mann, keine Frage, meint das auch
ernst. Vom Schwarzweiß-Cover seiner neuen CD guckt er so männlich-entschlossen
RANKIN / CAMERA PRESS
Her Majesty’s musischster Punker ein, sondern auch als der schlimmste Bad Boy der
internationalen Klassikszene auf.
Wenn ihn der Hafer stach, klebte er dem
ahnungslosen Kapellmeister schon mal die
Partitur zu oder, bei einer Tour durch Australien, einen Koala aus Plüsch auf den
Rücken des Fracks; da war dann im Konzertsaal der Bär los.
Einmal, in einem piekfeinen Washingtoner Restaurant, warf dieser Pausenclown
zunächst mit Brötchen herum, griff sich
dann am Nebentisch ein paar Kartoffeln,
kaute sie weich, ließ das Püree zurück auf
den Teller des Gastes fallen und spuckte,
gleichsam zum Nachtisch, auch noch die
Reste eines Windbeutels ins Weinglas.
Klar, dass das klassische Establishment
so einen Kotzbrocken nicht mal mit der
Pinzette anfassen wollte. In den philharmonischen Gefilden galt er als Irrläufer –
halbstark, unappetitlich, gaga; ein Pfui-Gei-
te, hofierte auch der Markt den Schweinigel wie einen Goldesel, reif für den Ritterschlag der Guinness-Rekorde.
Aus; vorbei; alles Schnee und Schnickschnack von gestern. Jetzt, im Oktober
1999, will der Geiger nichts mehr hören
von seinen schrillen Flegeljahren und dem
Marktgeschrei um jene Viv-CD, die damals
die Barock-Puristen erblassen und die Plattenhändler jubilieren ließ und die ihn zum
Millionär gemacht hat. „Fucking shit“,
nichts weiter.
Derbe Sprüche pflegt er immer noch,
auch seinen prestissimo gehaspelten Cockney-Slang hat er kaum kultiviert. Er sitzt
immer noch, bei jedem wichtigen Match,
auf seinem Stammplatz im Stadion und
grölt in der zehnten Reihe von oben mit
den bierseligen Skinheads für Aston Villa.
Zwischen den feierlich befrackten Orchestermusikern wirkt Kennedy, der Solist
mit dem aparten Outfit, nach wie vor wie
Punkgeiger Kennedy
in die Weite wie Boris Becker, wenn der als
Dressman posiert, und neben dem leicht
geneigten Kopf mit Drei-Tage-Bart steht,
ganz schön großspurig, der Name als Gütezeichen: „Classic Kennedy“.
Ach der, ausgerechnet der: Nigel Kennedy, 42, der schon einmal die ganze klassische Zunft aufgebohrt hat und neuerdings, weil er Nigel „so unglaublich blöde“
findet, nur noch mit Nachnamen firmiert.
Kennedy – das war doch der Typ mit der
Macke. Der, als er vor knapp zehn Jahren
laut und vorlaut auf die E-Musik-Szene
platzte, seine Auftritte immer „Gigs“ nannte, seine Stradivari bloß „Strad“, Vivaldi
stets „Viv“ und Wiens ehrwürdige Philharmoniker nur „the Schnitzels“. Was er
auch machte, war „monster“, meist
„fucking monster“.
Und, igitt, wie der aussah: Schmuddeljacke, speckige Jeans, ausgelatschte Western-Stiefel, stoppeliger Wildwuchs im
Milchgesicht und das steif geglibberte Bürstenhaar gelegentlich so bunt wie seine (von
ihm öffentlich zur Show gestellten) Unterhosen und sein (jüngst schrottreif gefahrener) Jaguar XJ 6 – in Bordeauxrot und
Blau, den Vereinsfarben seiner Lieblingskicker von Aston Villa.
Für eine Wiedergabe des Violinkonzerts
von Alban Berg, das der früh verstorbenen
Architektentochter Manon Gropius und
deshalb „Dem Andenken eines Engels“ gewidmet ist, verkleidete sich der Geiger
durchaus auch mal als Dracula: mit knallblauem Umhang, lila Schuhen, grünem Gesicht, schwarzen Lippen und Vampirbiss
im Nacken. „Es geht bei dem Stück doch
ums Sterben, oder?“, feixte der Schocker
mit der Strad.
Damals, zum Auftakt einer beispiellos
turbulenten Karriere, führte sich der englische Geiger Nigel Kennedy nicht nur als
M. PELLETIER / CORBIS SYGMA
Bravouröser Spinner
Spaßgeiger Kennedy: Schluchzer zwischen Soap und Schmus
ger. Nur: Der Kerl hatte halt auch mit
dreckigen Fingernägeln den Bogen raus.
Er war zwar als Monster nicht salonfähig,
aber als Geiger absolut konzertreif.
Schon damals hatte er sie alle drauf:
Bach, Beethoven, Brahms, Bartók, die Säulen und Heiligen des Repertoires. Immerhin war Sir Yehudi Menuhin, der noble Altvordere des Saitenspiels, sein Lehrer und
Förderer gewesen. Längst hatten ihm Wiens
und Berlins Philharmoniker sowie Stardirigenten wie Simon Rattle, Bernard Haitink oder André Previn begleitend beigestanden und dabei in dem Kindskopf den
Künstler entdeckt.
Und nachdem dieser Nigel Kennedy im
Herbst 1989 seine fetzig-frech verrockten
Vivaldi-„Jahreszeiten“ herausgebracht und
(mit inzwischen über zwei Millionen Exemplaren) die bestverkaufte Klassik-Aufnahme der Plattengeschichte hingelegt hatd e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
ein Papagei unter Pinguinen, und die krustige Schwiele links oben am Hals, ein
Wundmal seines Handwerks, will und will
nicht heilen. Schließlich klemmt er sein Instrument, heute eine Guarneri von 1735,
seit über 30 Jahren jeden Tag vier bis fünf
Stunden an dieselbe Stelle unterm Kinn.
Über fünf Jahre hat Kennedy das klassische Terrain gemieden. Es stand ihm oben:
100 Konzerte in zehn Monaten, immer dieselben Schlachtrösser des Repertoires, der
ganze öde Solistenzirkus: „Ich konnte das
nicht mehr aushalten.“
Aber als angeblicher Stinkefinger der Violinkunst fühlte er sich auch „pissed off“,
schnöde ausgestoßen aus dem philharmonischen Zirkel der Wohlanständigen: „Wieso haben manche Leute so irre auf mir herumgehackt, nur weil ich die Musik auch jenen Menschen näher brachte, die nicht zum
Club der Privilegierten gehörten?“ Frustriert
313
schmiss er hin, wollte nicht länger „den trauEr ist, keine Frage, ein ernster Künstler
rigen Motherfucker“ abgeben, „dessen Kar- geworden, und auf seiner jüngsten CD
riere auf zehn Jahre im Voraus verplant ist“. mit all den Ohrwürmern von anno Tobak
Stattdessen büxte er aus, von den phil- kann er, mit exquisitem Ton und leuchharmonischen Events zu rockigen Extras, tender Phrasierung, endlich einmal richtig
von den weltweiten Klangkörpern zu bri- herausstreichen, was er wohl immer getischen Provinzbands wie Portishead oder wesen ist – ein altmodischer, romantischer
Massive Attack, von Ludwig van Beetho- Phantast, der jetzt aus abgelutschten
ven zu seinem Hausgott Jimi Hendrix, dem Sweeties eine feine Packung Knuspergold
„Suchenden“ und „Freigeist“, dem er mit macht.
einem feinfühligen „Concerto in Suite
Doch komisch, dieser Musikbetrieb. GeForm“ nachtrauerte.
nau im gleichen Augenblick, da der engliEr machte bei Plattenprojekten von Paul sche Primgeiger endlich erwachsen geworMcCartney, Talk Talk und den Stranglers den ist, putzt sich Anne-Sophie Mutter, 36,
mit, tourte mit farbigen Jazzern herum und die deutsche Geigendiva, wieder als Teenie
versuchte sich auch an Selbstgemachtem. raus, und nun redet sie gaga.
In der Branche schien dieser Mister
In dem kunterbunten Klappkarton, der
Crossover schon als erstes Opfer der Mix- ihre Neuaufnahme (Grammo) von Vivaldis
Mode abgehakt, und die feinen Pinkel in „Vier Jahreszeiten“ enthält, lässt sie sich
den philharmonischen Tempeln
glaubten bereits, das „Schreckgespenst jeglichen Kulturverfalls“ („Süddeutsche Zeitung“)
los zu sein.
Aber der Rebell Kennedy,
immerhin ehemaliger Student
der New Yorker Juilliard School,
wollte den klassischen Kram
nicht hinschmeißen. Daheim,
auf seinem Anwesen in der
Grafschaft Worcestershire, griff
er immer wieder nach Bach
oder Schubert, und selbst als er
ein paar Hendrix-Titel öffentlich mit der Elektro-Fiedel geigte, hat ihm Sir Simon Rattle
noch „den Sound eines großen Stargeigerin Mutter: Unterarm im Klappkarton
Violinisten“ nachgerühmt.
Jetzt, wo er sich in den Pop-Gefilden mit wild wehender Mähne und als überausgetobt und „die unglaublich reichen Er- mütige Gespielin übermütiger Musikanfahrungen mit dieser vitalen Musik“ ver- ten ablichten, in Jeans und mit Sonneninnerlicht hat, sehnt er sich zurück in den brille.
„Mikrokosmos“ der gehobenen Tonkunst,
Und da ihr die Idee zu den (bekanntlich
und das ohne die Kapriolen eines bra- von Kennedy so erfolgreich vermarkteten)
vourösen Spinners: „Auf einmal wurde mir Vivaldi-Konzerten angeblich erst „bei eibewusst, dass ich einfach diese phantasti- nem meiner Besuche“ im Atelier ihres
sche Erfahrung vermisste, mit einer Grup- Lieblingsmalers Gotthard Graubner gepe von 70 Musikern hinter mir höchst ex- kommen ist, ist die Edition nicht nur mit
quisit orchestrierte Musik zu spielen.“
Mutters rechter Gesichtshälfte oder ihrem
Seine Wechseljahre sind ihm gut be- nackten Unterarm nebst Geige illustriert,
kommen. Inzwischen hat Kennedy das sondern auch mit Pinseln und Paletten.
äußerst diffizile Violinkonzert von Alban
„Dieses explosive Funkeln, dieses WetBerg auf CD aufgenommen und sich mit terleuchten in beider Kunst!“, schlägt die
dem bedeutenden amerikanischen Cellis- Musikerin kühn den Bogen zwischen Baten Lynn Harrell, 55, zusammengetan. Ge- rockkomponist und Gegenwartsmaler,
meinsam führen sie Stücke von Maurice „Töne und Farben, die so federleicht wieRavel und Zoltán Kodály auf; das Duo gen, als würde mich die Winzigkeit der
hofft auf eine Komposition des britischen Entstehung eines Lebens anhauchen.“ Und
Neutöners Mark Anthony Turnage und „klitzekleine Abstraktionen“ entdeckt sie
wird im nächsten Sommer Stargast bei der hier wie dort, „Sinnesgeburten, kleiner als
Kölner Triennale sein.
ein Embryo“.
Vorher, im Januar 2000, will Kennedy
„Ich glaube“, schließt die Solistin ihren
zum Bach-Jahr im Bach-Land Bach spie- fulminanten Schwenk durch die Künste,
len, nichts als Bach, und sich in Begleitung „wir müssen, was modern ist, auch in der
eines Ensembles aus Berliner Philharmo- Musik ganz neu definieren. Mir nämlich
nikern endgültig im New Look präsentie- kommt es so vor, als würden Antonio Viren – ohne Nigel, ohne grelle Klamotten valdi und Gotthard Graubner täglich mehrund ohne die Faxen und Schrullen eines mals miteinander telefonieren.“ Fucking
geigenden Monty Python.
shit, nichts weiter.
Klaus Umbach
314
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
L. BIRNBAUM / DEUTSCHE GRAMMOPHON
Kultur
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
POP
Klangzauber aus dem Kino
Musikmarkt und Filmgeschäft stützen sich gegenseitig:
Soundtrack-CDs sind mittlerweile oft erfolgreicher als die
zugehörigen Filme oder frei produzierte Pop-Alben.
W
o bitte geht’s nach Hollywood? Das fragen sich
seit einiger Zeit nicht nur
aufstrebende Schauspieler, sondern
auch die Agenten der US-Popmusiker. „Ein Blutbad“, so sagte einer von
ihnen der „Los Angeles Times“, lieferten sich die Musik-Manager jüngst
um das Privileg, auf der FilmmusikCD zu der Agentenparodie „Austin
Powers – Spion in geheimer Missionarsstellung“ vertreten zu sein. Denn
„Austin Powers“ versprach einer der
Kinoerfolge dieses Jahres in den USA
zu werden. Was auch eintraf: Der
Film, seit 14. Oktober auch in den
deutschen Kinos, spielte in Amerika
über 200 Millionen Dollar ein.
Beim Kampf um einen Sonnenplatz auf der Soundtrack-CD zu diesem Film „ging es hart zur Sache“,
sagt Danny Bramson, „aber es war „Austin Powers“
sofort klar, dass wir Madonnas Song
,Beautiful Stranger‘ zur Zugnummer der
Filmmusik machen“.
Bramson, 45, gilt schon seit einiger Zeit
als wichtiger Mann im US-Unterhaltungsgeschäft. Er ist einer der Chefs der Soundtrack-Abteilung des Entertainment-Konzerns Warner und kann sich mit etlichen
Filmmusik-Erfolgen brüsten, darunter die
CDs zu „Singles“, „City of Angels“, „The
Nutty Professor“ und „Batman and Robin“.
Zuletzt war er mit „Austin Powers“ (verkaufte US-Auflage bislang: 1,2 Millionen)
in den Charts, und auch die Musik zu Stanley Kubricks letztem Film „Eyes Wide Shut“
wurde unter Bramsons Aufsicht produziert.
Soundtrack-CDs sind derzeit hoch be- „Absolute Giganten“
liebt, nicht selten beliebter als die zugehörigen Filme selbst – eine Erfolgsgeschichte, die auch deshalb bemerkenswert
ist, weil das Musikgeschäft insgesamt eher
stagniert. In den USA, dem größten Musikmarkt der Welt, waren im Sommer 1998
10 der 40 erfolgreichsten Alben Filmmusiken, in Deutschland stehen derzeit die SongSammlungen zu Wim Wenders’ „Buena
Vista Social Club“ und zu den Liebesdramen „Eiskalte Engel“ und „Notting Hill“
weit vorn in der Hitparade; auch zu eher
kleinen heimischen Produktionen wie dem
Hamburg-Jungsfilm „Absolute Giganten“
werden sogleich Filmmusik-CDs aufgelegt.
Kinoerfolge wie „Men in Black“, „Vier
Hochzeiten und ein Todesfall“, „Robin „Notting Hill“
Hood“ und „Trainspotting“ verschafften Aktuelle Soundtrack-CDs
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
in den vergangenen Jahren bewährten PopHelden wie U2, Will Smith, Bryan Adams
und Wet Wet Wet Millionenerfolge; vorher
fast unbekannte Szene-Größen wie Underworld brachten es zu Weltruhm.
Viele Popstars spielen deshalb direkt im
Auftrag der Kinoproduzenten neue Songs
– und weil das Geschäft so gut läuft, ist den
Kinomachern diese Extraarbeit Honorare
von bis zu 500 000 Dollar pro Song wert,
wie sie Elton John für den Song „Can You
Feel the Love Tonight“ zum Film
„König der Löwen“ erhielt.
Der Erfolg der Soundtrack-Alben
hat mehrere Gründe: Den treuen
Fans großer Stars ist oft ein einziger
Song ihrer Idole Anreiz genug, gleich
die ganze Filmmusik mitzukaufen;
und in die von den TV-Musiksendern verbreiteten Videoclips zu den
Songs sind so viele Filmszenen einmontiert, dass die Zuschauer sowohl
in die Plattenläden als auch ins Kino
gelockt werden; und die Zweit- und
Drittverwertung der Kinowerke auf
Video und im Fernsehen animiert
Zuschauer ein weiteres Mal zum
Kauf der Film-Erkennungsmelodien.
Galt es früher als Sensation, wenn
ein Popstar einen Anruf aus Hollywood bekam, so „haben heute all
jene Depressionen, die nicht angerufen werden“, sagt Bramson. „Jeder
halbwegs erfolgreiche Musiker erhält mittlerweile rund 20 Angebote pro
Woche“, behauptet er – zumal heute auch
„jedes neue Videospiel einen Soundtrack
verpasst bekommt“. Sogar Porno-Produzenten lassen ihre Werke neuerdings von
Pop-Größen wie Massive Attack veredeln.
Die Musikerwahl für einen Erfolgs-Soundtrack bleibt trotzdem, so Bramson, ein
„schwieriges Geschäft“. Die Namen einiger Stars allein garantierten noch lange keinen Hit: „Es gibt eine Menge Leute, die einmal einen Bestseller zusammenstellen und
dann in der Versenkung verschwinden.“
Besonders stolz ist der Manager Bramson
auf den Soundtrack zu dem Film „City of
Angels“ (1998), dem US-Remake des WimWenders-Werks „Der Himmel über Berlin“
(1987). Nur weil er den Titel der HollywoodVersion toll fand, drängte er den „City of
Angels“-Machern seine Hilfe auf – leider
war der Film fast schon fertig, samt elegischer Orchesterbegleitung. Doch Bramson
insistierte auf einem neuen Soundtrack: „Es
war ein Kampf zwischen dem Regisseur
und mir um jeden Ton Popmusik.“
Am Ende schaffte die Soundtrack-CD
mit Songs von den Goo Goo Dolls und
Alanis Morissette eine Auflage, die etwa
der Hälfte der Zahl der Kinobesucher entsprach. Bis heute hat sich die CD weltweit
fast sieben Millionen Mal verkauft, drei
ausgekoppelte Singles erreichten die Spitzenposition der US-Charts.
In Deutschland gelang mit der CD zu
Katja von Garniers „Bandits“ Ähnliches:
317
Kultur
Der Italiener Ennio Morricone lieferte Kompositionen
für viele Kinoklassiker – und zürnt den Hit-Mixern von heute.
E
C. RORARIUS / PHOTO SELECTION
de nicht nur der Schauspieine Schande, womit
ler Clint Eastwood, sondern
Hollywood-Produzenauch Morricone internaten heutzutage ihre
tional berühmt. Stilbildend
Filme zukleistern und dabei
kombinierte der Komponist
noch viel Geld verdienen –
wehmütige Melodien mit
denn: „Ein Lied wird noch
Pfiffen, Peitschenknallen
lange nicht zu Filmmusik,
und Ambossschlägen.
weil es in einem Film aufGleichwohl betont Mortaucht.“ Der Römer Ennio
ricone, dass Western-SoundMorricone, 71, redet sich in
Rage, wenn er über die Komponist Morricone tracks höchstens zehn Prozent seines Gesamtwerks
aktuellen Erfolge von flugs
zusammengestellten Filmmusik-CDs ausmachen; ihm selbst seien die Arbeiten für Pasolini und Bertolucci, Pospricht.
Natürlich hat Morricones Zorn damit lanski und De Palma mindestens ebenzu tun, dass er selbst eine legendäre so wichtig.
Aber so wie der Wunderpianist NoFigur aus dem Berufsstand der klassischen Filmkomponisten ist. Der Italie- vecento nie sein sicheres Schiff verner hat in seiner Karriere nach eige- lässt, hat Morricone seine Altbauwohner Auskunft für mehr als 400 Filme nung in Rom nie für einen Palast in
Soundtracks maßgeschneidert – und Hollywood eingetauscht: „Es gab mehr
muss neuerdings bei Werken wie War- als genug Angebote, tolle Häuser, irres
ren Beattys „Bulworth“ sein Terrain Geld, aber warum sollte ich
deswegen meiner Heimat den
schon mal mit HipHop-Hits teilen.
„Irgendein Rap-Song, der auf der Rücken kehren?“
So recht konnte sich der ItaLeinwand aus einem Autoradio dröhnt,
taugt vielleicht als Spezialeffekt“, klagt liener mit Hollywood ohnehin
Morricone, „aber er verleiht dem Film nie anfreunden. In den Achtzikeinen Charakter wie meine Arbeit.“ gern stellte er eine Zeit lang
Der Maestro hält seine Kompositio- die Arbeit für die Amerikaner
nen ohne falsche Bescheidenheit für nahezu ein: Zu schlechte Fildie wahren Stars vieler Filme, darunter me, zu wenig Geld, behauptet
Klassiker wie Bernardo Bertoluccis er. Und Englisch spricht er so„1900“ und grandiose Spaghetti- wieso nicht. „Ich habe es proWestern von Sergio Leone wie „Spiel biert, aber ich kann mir die
mir das Lied vom Tod“. Sein jüngstes Worte einfach nicht merken.“
Besonders bitter: Bis heute
Werk, die Musik für Giuseppe Tornatores „Die Legende vom Ozeanpianis- verweigert Hollywood dem
ten“ (derzeit in den deutschen Kinos), Italiener den wohlverdienten Kinofilm „Legende vom Ozeanpianisten“
ist eine Produktion ganz nach Morri- Oscar. „Ich wundere mich Ein Auftrag ganz nach Morricones Geschmack
auch, aber beklage mich nicht“,
cones Geschmack.
Die Vorlage zum Film stammt von sagt der Künstler. Noch immer steht er
Er selber gründete im Alter von 22 Jahren
dem italienischen Bestsellerautor Ales- jeden Morgen um fünf auf und arbeitet
seine eigene Plattenfirma und war dank
sandro Baricco. Erzählt wird die Ge- bis in den Abend am Schreibtisch – „im
seiner Entdeckung, Tom Petty, bereits mit
schichte eines Findelkinds, das am ers- Urlaub nur vormittags“. Seine Arbeit,
30 Millionär – und er schwört bis heute
ten Tag dieses Jahrhunderts auf einem so sagt er, habe mindestens so viel
auf Kino-Klassiker wie den Beatles-Film
Passagierdampfer gefunden wird. Der mit Technik wie mit Inspiration zu
„A Hard Day’s Night“ und „Die ReifeKnabe, genannt „Novecento“, verfügt tun. Er höre fast immer Melodien, wenn
prüfung“, zu dem Simon & Garfunkel die
über ein märchenhaftes Talent fürs Pia- er Bilder sehe, fast so wie der OzeanSongs beisteuerten. Musik und Film müssno und eine tiefe Abneigung gegen die pianist. „Wenn mir ein Regisseur einen
ten in direktem Bezug stehen, so sein CreIdee, seine Gabe auf dem Festland zu Rohschnitt vorführt, kann ich die Mudo, „wenn die Songs nur Untermalung
sik direkt nach dem Abspann zu Pavergeuden.
sind, dann ist der Soundtrack Schrott“.
Ennio Morricone durfte die Musik pier bringen.“
Mit der Musik zu Stanley Kubricks
Doch manche aufregenden Filmkomponieren, um die herum dann der
„Eyes Wide Shut“ wird Bramson vermutFilm gedreht wurde. Ähnlich respekt- momente funktionieren auch ohne
lich nicht allzu viel Kasse machen: Komvoll ist Morricone auch von seinem begleitende Musik, findet Morricone:
ponisten wie Schostakowitsch und Franz
Schulfreund Sergio Leone behandelt „Ein guter Kuss benötigt keine MeloLiszt, deren Stücke Kubrick vor seinem
worden – mit dessen Italo-Western wur- die.“
Tod selbst für den Film ausgewählt hatte,
Christoph Dallach
taugen kaum für die Charts.
Christoph Dallach, Jörg Böckem
318
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
CINETEXT
„Filmmusik braucht keinen Rap“
Knapp eine Million Kinobesucher wollten
den Film sehen, 300000-mal ging das „Bandits“-Album weg. Besonders durchtrieben:
Im Film selbst wurde gezeigt, wie die CD
der fiktiven Bandits-Band von begeisterten
Käufern aus den Regalen gerissen wurde –
dreiste Leinwand-Reklame für den eigenen Soundtrack.
Bramsons Geschäftsgebaren bei „City
of Angels“ erklärt auch, warum auf vielen
Soundtrack-CDs Songs erklingen, die im
Film allenfalls ein paar Sekunden oder
überhaupt nicht zu hören sind. „Inspired
by the Movie“ nennen die Verkaufsstrategen diese Produkte.
Inzwischen ist ein einziger Kinoerfolg
auch schon mal für drei Soundtracks gut,
so etwa der Zeichentrick-Hit „Prinz von
Ägypten“: Um möglichst alle Zielgruppen
einzufangen, gab es eine Gospel-Platte
zum Film fürs schwarze Publikum, eine
Country-Platte für die Weißen und für
Deutsche einen Mix von beiden in ihrer
Muttersprache. Für den diesjährigen Disney-Weihnachtsfilm „Tarzan“ hat Phil Collins fünf Songs beigesteuert – und diese
gleich in fünf Sprachen aufgenommen.
Diese Art von Vermarktung ist dem Puristen Bramson, der oft wochenlang über
seinen Vorschlägen für die musikalische
Ausstattung eines Films brütet, ein Gräuel.
Werbeseite
Werbeseite
S. FALKE
Kultur
Brecht-Darsteller Bierbichler bei Dreharbeiten im polnischen Szczecinek: „Macht Ruhm wirklich geil?“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Auf 50 Kanälen der gleiche Schrott“
Bierbichler, 51, zählt zu den herausragenden deutschen Bühnenschauspielern. Er
wurde von der Zeitschrift „Theater heute“
dreimal zum Schauspieler des Jahres gewählt: 1985 für seine Darstellung des
„Gust“ im gleichnamigen Stück von Herbert Achternbusch am Münchner Residenztheater, 1996, als er am Burgtheater
unter Peter Zadeks Regie im „Kirschgarten“ den Lopachin spielte, und 1997 für
seine Rolle als Kasimir in Christoph Marthalers Inszenierung von „Kasimir und Karoline“ am Hamburger Schauspielhaus. Zu
Bierbichlers seltenen Filmarbeiten zählen
neben einigen Achternbusch-Werken Doris
Dörries Film „Mitten ins Herz“ (1983),
„Winterschläfer“ von Tom Tykwer (1996)
und das mit dem Grimme-Preis in Gold
ausgezeichnete Fernsehspiel „Freier Fall“.
Gerade hat er einen Film über den letzten
Tag im Leben Bertolt Brechts (Regie: Jan
Schütte, Drehbuch: Klaus Pohl) abgedreht.
SPIEGEL: Herr Bierbichler, was reizt Sie daran, den alten Bertolt Brecht zu spielen?
Bierbichler: Der Brecht war erst mal nicht
alt, der war 58 an dem Tag, den wir versuchen herzustellen. Und der Brecht ist nur
eine Vorlage, das war mir von vornherein
Das Gespräch führten die Redakteure Wolfgang Höbel
und Claudia Voigt.
320
H. SCHUBERT
Der Schauspieler Josef Bierbichler über seine Abneigung gegen das
Fernsehen, Glücksmomente im Theater und seine jüngste TV-Arbeit in der Rolle
des todkranken Schriftstellers Bertolt Brecht
Schriftsteller Brecht in Buckow (1954)
Verfallender Körper, faszinierende Aura
wichtig. Das Drehbuch ist gut genug, dass
man es auch ohne diese Schlüsselnamen
machen könnte. Also auch, wenn der
Brecht Huber und die Helene Weigel Meier hießen. Die Verflechtung von einem
Mann und fünf Frauen ist dem Pohl so gut
gelungen, dass es nicht mehr wichtig ist,
dass das der Brecht ist.Wenn das Drehbuch
nur vom Brecht handeln würde, dann hätte es mich nicht interessiert. Ich will nicht
erzählen: So war Brecht am letzten Tag.
SPIEGEL: Worum geht es dann?
Bierbichler: Um einen Mann mit einem verfallenden Körper und um die Faszination,
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
die er auf Frauen ausübt. Der Körper war
ja wahrscheinlich wirklich nicht mehr so
aufregend. Aber wahrscheinlich konnte er
mit seiner geistigen Konzeption eine Aura
erzeugen, die auch junge Frauen wie Isot
Kilian und Käthe Reichel faszinierte. Das
ist doch interessant, dass die beide auch mit
dem alten Körper in Kontakt sind. Die vögeln ja noch miteinander.
SPIEGEL: Was machte Brecht so anziehend?
Sein Erfolg?
Bierbichler: Das müssen jetzt Sie als Frau
wissen, da kann ich nur spekulieren. Macht
Ruhm wirklich geil?
SPIEGEL: Man muss sich ja nur mal umgucken. Beispiele für Beziehungen zwischen alten erfolgreichen Männern und
schönen jungen Frauen gibt es genug.
Bierbichler: Natürlich denkt man da schnell
an das Klischee Ruhm oder Geld. Aber
dass möglicherweise geistige Fähigkeiten
eine Wirkung haben könnten, vielleicht
gerade auf junge Frauen, das ist unsere Geschichte. Die jungen Frauen waren offensichtlich in der Lage, den Erfahrungsvorsprung, den einer wie Brecht hatte, auszubeuten. Die dachten vielleicht, der erzählt
mir was, da kann ich einen Lebensraum
überspringen, den ich nicht selber durchleben muss. Das ist doch eine Qualität.
SPIEGEL: War es im Fall Brecht nicht eher
so, dass er die Frauen ausbeutete?
Werbeseite
Werbeseite
B. GASS
M. HORN
Bierbichler: Das behaupbe, so bewundert, dass ich
tet der Amerikaner John
ihn ausbeuten wollte.
Fuegi in seiner BrechtNach der zehnten VorBiografie. Eine sehr gestellung hat mir der Fotonaue Untersuchung, aber
graf des Theaters eine FoFuegi benutzt das Matetoserie geschenkt – und
rial für eine eindeutige
da war ein Bild drin, auf
Tendenz. Das Buch ist ja
dem ich ausgesehen habe
wie eine Fortsetzung des
wie mein Vater auf dem
Kalten Krieges – der
Sterbebett. In dem MoBrecht als Stellvertreter
ment habe ich gewusst,
eines Systems. Der Komich habe die ganze Zeit
munist Brecht beutet die
meinen Vater gespielt,
Frauen aus. Das ist einwar aber in dem Glaufach blöd. Die Frauen
ben, ich hätte den Huber
waren freiwillig bei ihm, Szene aus „Kasimir und Karoline“* Schorsch gespielt. Ein undie hatten genügend Pobewusster Vorgang. Ich
tenzial, um unabhängig von Brecht zu führe nichts vor. Es passiert mir, wenn der
überleben. Mit Geld hatte das nichts zu Text stimmt.
tun.Wenn es eine Unterlegenheit gab, dann SPIEGEL: Woran erkennen Sie das?
eine emotionale. Kennen Sie Brechts kür- Bierbichler: Ein Text funktioniert, wenn er
zestes Gedicht? „Schwächen. Du hattest mit mir etwas macht und nicht umgekehrt,
keine / Ich hatte eine: / Ich liebte.“ Ist doch wenn alles nach und nach von selber paswunderbar. Steht alles drinnen. Da geht es siert und ich keine Einfälle haben muss.
nicht um Geld.
Ich habe keine Einfälle. Die Leute, die nach
SPIEGEL: Von einer künstlerischen oder Einfällen und Ideen suchen, bei denen wird
menschlichen Ausbeutung der Frauen kann es Einfaltstheater. Ich will nichts zeigen.
also Ihrer Meinung nach keine Rede sein? Und mich interessiert überhaupt nicht die
Bierbichler: Natürlich leidet immer einer. Frage: Kommt es an, oder kommt es nicht
Aber es kann genauso gut umgekehrt gehen. Frauen, die mir wichtig waren, haben
„Warum stellen alle ihr Können
mich immer verlassen. Ich habe jedes Mal
in den Dienst dieses
zwei Jahre lang gelitten wie eine Sau. Also
schwachsinnigen Fernsehens?“
bin auch ich immer nur von Frauen ausgebeutet und zerstört worden. Aber nach der
Zerstörung war ich jedes Mal stärker. Ich an? Das kalkulierte Unternehmen interessiert mich nicht. Deshalb mache ich auch
habe keinen Verlust gehabt.
SPIEGEL: Suchen Sie sich auch Ihre Rollen fast nichts im Fernsehen.
unter dem Aspekt aus, ob Sie persönlich SPIEGEL: Weil das Fernsehen immerzu dardaraus Gewinn ziehen können?
auf angewiesen ist, dass es ankommt?
Bierbichler: Ich kann nur mich spielen, mit Bierbichler: Die vom Fernsehen wissen alle,
dem jeweiligen Material, das ich zur Ver- wie es geht, das sind alles begabte Leute.
fügung habe. Im günstigen Fall führt mich Ich frage mich nur schon lange, warum
das in Bereiche hinein, die ich noch nicht nicht alle begabten Leute, die derzeit fürs
kenne und damit an mir kennen lerne. Ich Fernsehen arbeiten, sich einfach verweiwürde nie etwas spielen, wofür ich keinen gern. Den Brecht-Film haben wir in Polen
Erfahrungshintergrund habe. Wenn ich das gedreht, und die Leute von unserem poltrotzdem schon mal getan habe, dann war nischen Team haben mir erzählt, dass nach
es sicher schlecht. Sich zu verstellen, finde der Verhängung des Kriegsrechts durch
ich uninteressant. Das interessiert mich Jaruzelski einfach alle guten Leute, ob
auch nicht, wenn ich zuSchauspieler oder Techschaue bei anderen. Ich
niker, nicht mehr zur Arbin ich.
beit gekommen sind: Da
war das Fernsehen lahm
SPIEGEL: Ist das Ihre
gelegt. Insofern wäre es
persönliche Schauspielauch hier ein politischer
Theorie?
Vorgang, wenn sich die
Bierbichler: Das mache
Mitmacher der Verdumich jetzt gerade zu meimungsfabrik Fernsehen
ner Theorie. Als ich mit
eines Tages plötzlich
Achternbusch „Gust“ geweigern würden, weiter
machte habe, das ist ein
Volksverblödung zu beMonolog von einem altreiben.
ten Mann, da habe ich
SPIEGEL: Inwiefern bedie ganze Zeit einen ganz
treibt das Fernsehen Ihbestimmten Typen aus
rer Meinung nach Volksmeinem Dorf vor mir geverblödung?
habt. Einen Typen, den
ich auf Grund seiner Originalität bewundert ha- Bierbichler (r.), Achternbusch (1977) * Mit Bierbichler, Olivia Grigolli.
322
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Bierbichler: Das, was Unterhaltung genannt
wird, verliert allmählich, aber unaufhaltsam jede Qualität und bringt so das geistige Niveau des Publikums in einen Zustand völliger Vernebelung. Die geistige
Freiheit besteht heute darin, dass ich 50
Kanäle zur Verfügung habe, zwischen denen ich zappen kann, und alle zeigen das
Gleiche. Und da frage ich mich: Warum
machen alle das mit? Warum stellen sie
ihr Können in den Dienst dieses Schwachsinns? Was wäre, wenn die wirklich guten
Schauspieler und Regisseure sich verweigern? Es wäre doch interessant, ob das
Fernsehen dann zusammenbricht, ob das
Niveau so sichtbar grässlich werden würde, dass sogar der letzte Zuschauer ka-
piert, dass da nur noch Schrott produziert
wird.
SPIEGEL: Geben die Fernsehmacher ihrem
Publikum nicht genau das, was es will?
Bierbichler: Den Zuschauern wird ja gar
nichts anderes mehr angeboten. Und das
geht nur, weil alle mitmachen. Für mich ist
das Korruption.
SPIEGEL: Wer korrumpiert wen?
Bierbichler: Jeder jeden und alle sich selbst.
Wenn ich beim Theater 10 000 Mark im
Monat verdiene, verdiene ich mehr als jeder Facharbeiter. Und dann rennt man zu
Dreharbeiten, wo man pro Drehtag mindestens 4000 oder 5000 Mark kriegt – am
Tag! Man sackt das ein, beklagt sich aber
über schlechte Drehbücher – das ist doch
Letzter Tag in Buckow
In Jan Schüttes Brecht-Film spielt Josef Bierbichler
den Dichter am Vorabend seines Todes.
324
d e r
S. FALKE
D
ie Reiseschreibmaschine, ein Original aus den Fünfzigern, thront
auf einem dunklen Holztisch, daneben ein Bleistift, ein Aschenbecher
und Zigarren. Vom Arbeitsplatz schweift
der Blick über einen ruhigen, spätsommerlichen See. Alles ist wie in Buckow,
wo Bertolt Brecht 1952 ein Landhaus
pachtete. Nur ist das hier nicht Buckow,
sondern Szczecinek in Polen.
Fast sechs Wochen lang haben der
Regisseur Jan Schütte und sein Team
hier einen Film unter dem Arbeitstitel
„Brecht“ gedreht, ein Werk über den
letzten Tag im Leben des Dichters. Alles,
was im Drehbuch steht, sei so passiert,
erzählt der Autor Klaus Pohl, nur nicht
an einem Tag und nicht an einem Ort:
„Ich habe, genau wie Brecht, alles Material verwendet, das da war, und es auf
zwölf Stunden verdichtet.“
Die Story des Films beginnt mit einem anonymen Anrufer am frühen Morgen und endet mit Nasenbluten am
Abend. Dazwischen liegen heimliche
Begegnungen mit seinen Geliebten und
kleine Fluchten vor seinen Ex-Geliebten: Käthe Reichel und Isot Kilian,
Helene Weigel, Elisabeth Hauptmann
und Ruth Berlau erschweren und versüßen ihm diesen fiktiven Spätsommertag am See. „Die Frauen waren seine
einzige Verbindung zur Welt“, glaubt
Pohl, „denn Brecht war scheu und zuletzt auch sehr isoliert.“
Drei Jahre hat es gedauert, bis Pohl
und Schütte ihr Projekt realisieren konnten: Ursprünglich sollte es ein mehrtei-
s p i e g e l
Dreharbeiten zum Brecht-Film in Polen
„Ich kann nur mich spielen“
liger Fernsehfilm werden über sehr unterschiedliche Phasen in Brechts Leben
– seine erfolgreichen Jahre in Berlin, die
Zeit im Exil und seine Rückkehr nach
Deutschland, in die DDR. Doch dann
nahmen Geldgeber Zusagen zurück,
„und schließlich“, berichtet Schütte,
„habe ich das Geld 20 000-Mark-weise
selber eingesammelt“.
Realisiert wird auf einem stillgelegten
Campingplatz bei Szczecinek nun nur
der dritte Teil des ursprünglich geplanten
Projekts. Unten am See sind Kopien der
Buckower Villa und des Gärtnerhauses
aufgebaut, und es gibt wie dort auch eine
Silberpappel – die ist allerdings ein Geschenk der Natur. Das ehemalige „Bufet“ am oberen Ende des Zeltplatzes
heißt während der Dreharbeiten „Jan’s
Dreigroschenbar“ und verfügt nicht bloß
über eine große, sonnige Terrasse, son-
4 3 / 1 9 9 9
Korruption. Wenn ein Kollege sagt: „Ich
bin eine Nutte, ich mache alles, was Geld
bringt“, dagegen habe ich nichts. Aber
wenn man den Laden bedient und sich
quasi nur zwischen getrockneter und gequirlter Scheiße entscheidet und abends
dann im Theater Georg Büchner und Heiner Müller mit genau der gleichen Haltung
spielt – was ist das?
SPIEGEL: Sie vertreten die elitäre Haltung,
nur im Theater biete man echte Kunst?
Bierbichler: Ich rede hier doch gar nicht
von Kunst, ich habe Unterhaltung gesagt.
Unterhaltung kann durchaus bilden und
sensibilisieren. Ich habe gar nichts gegen
Unterhaltung, obwohl ich mich allein unterhalten kann. Wie jedoch das Niveau des
dern auch über einen biergefüllten Kühlschrank.
„Brecht geht’s schlecht“, ruft die
Schauspielerin Elfriede Irrall als Elisabeth Hauptmann und rennt die Stufen
der Villa herab; „Brecht geht’s schlecht“,
ruft sie noch mal und noch mal – die bei
Filmdreharbeiten üblichen Wiederholungsrituale. Laut Drehbuch ist der Dichter dem Tod schon verdammt nah; die
Stimmung am Set aber ist bestens. Drehbuchautor Pohl sitzt mit dem Brecht-Darsteller Josef Bierbichler vor der Dreigroschenbar in der Sonne und fuchtelt mit einer Ausgabe des Magazins „Konkret“
herum, während beide über Tagespolitik
diskutieren.
Bierbichler ist für Regisseur Schütte
die Idealbesetzung für die Rolle des
Dichters – sogar die Züge des am Ende
seines Lebens dicklichen, herzkranken
Brechts seien denen Bierbichlers doch
durchaus ähnlich.
Wenn Bierbichler in sackigen Tweedhosen und blauer Joppe vor der Kamera
sitzt, an einer Zigarre zieht und gedankenverloren auf den See starrt, macht seine Präsenz ohnehin alle Vergleiche überflüssig. Der Brecht-Darsteller verkörpert
jene Lebensmüdigkeit, die der Dichter so
beschrieb: „Erst liess Freude mich nicht
schlafen / Dann hielt Kummer nachts die
Wacht / Als mich beide nicht mehr trafen
/ Schlief ich. Aber ach, es bracht / Jeder
Maienmorgen mir Novembernacht.“
Der reale Brecht starb am 14. August
1956 eine Viertelstunde vor Mitternacht
in seiner Wohnung in der Ost-Berliner
Chausseestraße 125. Nicht um historische
Genauigkeit gehe es ihm und seinen Mitstreitern, sagt Schütte, sondern um die
Beschwörung eines Abschieds: „Man
muss diesen Film verstehen können, ohne
zu wissen, wer Brecht war: als die Geschichte eines berühmten Mannes in einer
ausweglosen Situation.“ Claudia Voigt
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Kultur
Fernsehens im Laufe der Zeit auf das Publikum gewirkt hat, kann man in Verbindung mit dem Kosovo-Krieg sehen.
Es gab eigentlich keinen Widerstand aus
der Bevölkerung. Der Walser hat mit seiner verdächtigen Friedenspreisrede über
das Erinnern im Nachhinein auf unglaubliche Weise Recht gekriegt: Hier wurde
Auschwitz instrumentalisiert. Der Außenminister Fischer erklärt den Kosovo zu
Auschwitz, und die Gesellschaft frisst das
einfach!
SPIEGEL: Woher wollen Sie beurteilen können, wie groß das Ausmaß des Schreckens
im Kosovo-Krieg wirklich war?
Bierbichler: Ich habe das nie beurteilt. Ich
habe mich immer gefragt, woher die anderen das wissen. Ich habe die Bilder von
Vertreibung erst gesehen, als die Bomben
fielen. Bilder von Flüchtlingskarawanen
gab es vorher nicht. Milo∆eviƒ interessiert
mich nicht, wer immer das ist. Mich interessieren die Interessen, die hinter diesem
Krieg standen. Auch ich wusste und weiß
bis heute annähernd nichts über das, was
passiert ist. Aber wo liegt der Sinn, dass 70
Tage lang eine Kampfmaschinerie ein unglaubliches Zerstörungswerk anrichten
durfte. Insofern fand ich es richtig, dass
Handke darüber nachdachte: Kann es stimmen, dass es in einem Bürgerkrieg nur eine
schuldige Seite gibt, wie die gesamte Weltpresse das suggerieren musste?
SPIEGEL: Und deshalb haben Sie auch in einem Brief an Claus Peymann, der später in
der „Zeit“ abgedruckt wurde, für Handke
Partei ergriffen?
Bierbichler: Ja, weil Handke sofort maßlos
attackiert wurde. Dabei stellte er zunächst
nur eine Frage: Kann das stimmen? Mehr
hat er am Anfang nicht getan. Ein Dichter
ist nicht nach wahr und unwahr zu beurteilen, ein Politiker dagegen muss danach
beurteilt werden und ein Journalist auch.
Für die Kunst gibt es die eine Wahrheit eh
nicht, da mache ich mir nichts vor. Es gibt
den Versuch der Annäherung an die Wahr-
„Ich habe Grundstücke geerbt,
aber es reicht mir nicht aus, die
Quadratmeter anzuschauen“
heit. Und ich versuche, mich der Möglichkeit von Wahrheit anzunähern.
SPIEGEL: Können Sie sich diese Wahrheitssuche als Schauspieler auch deshalb leisten, weil Sie sich durch den Grundbesitz
am Starnberger See, den Ihre Eltern Ihnen
vermacht haben, völlig abgesichert fühlen?
Bierbichler: Natürlich habe ich Grundstücke
geerbt, aber wenn ich mit denen nicht spekuliere, und das mache ich nicht, dann
habe ich davon nichts. Bevor ich verhungere, würde ich ein paar Quadratmeter verkaufen, und das kann ein anderer nicht. Insofern ist es eine Sicherheit und ein Privileg. Aber das allein reicht mir nicht aus,
sonst würde ich zu Hause sitzen und die
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Quadratmeter anschauen. Wenn ich als
Schauspieler nicht erfolgreich gewesen
wäre, wäre ich wahrscheinlich nicht verhungert, aber vielleicht wäre ich Alkoholiker geworden.
SPIEGEL: Hat Ihnen Ihre Freundschaft mit
Herbert Achternbusch, mit dem Sie schon
früh Filme wie „Servus Bayern“ drehten,
über künstlerische und existenzielle Krisen
hinweggeholfen?
Bierbichler: Wenn überhaupt, wurden durch
Achternbusch unaufhörlich Krisen erzeugt.
Ich bin immer Autodidakt gewesen, trotzdem habe ich vermutlich von allen gelernt,
„Ein wirklich aufregender Mensch
ist immer auch ein
Vollidiot, ein echtes Arschloch“
also Erfahrungen gemacht. Der Achternbusch war immer ein wichtiger Eckpfeiler
für mich. Gleichzeitig behaupte ich, der
hat von mir auch enorm viel gelernt. Dann
hebt es sich wieder auf.
SPIEGEL: Waren Sie mit Achternbusch nicht
auch einmal über Jahre zerstritten?
Bierbichler: Je extremer ein Mensch veranlagt ist, je mehr Gefühle er zulässt, desto
unerträglicher wird er. Das ist mit dem
Achternbusch nicht anders als mit Brecht.
Ein wirklich aufregender Mensch ist immer auch ein Vollidiot, ein echtes Arschloch. Gleichzeitig kann er unglaublich anziehend und liebenswert wirken.
SPIEGEL: Leben Sie selber solche Extreme
in der Arbeit aus?
Bierbichler: Ich habe gar keine Lust, es als
Arbeit zu bezeichnen. Die Schauspielerei
ist ein Privileg. Arbeit ist in diesem Jahrhundert immer idealisiert worden, erst
durch den Sozialismus, dann bis zur baldigen Abschaffung durch den Kapitalismus.
Im Grunde meint der Begriff ja nur, dass
man überhaupt eine Arbeitsstelle hat, und
das hat nichts mit geistigem und selten mit
materiellem Gewinn zu tun.
SPIEGEL: Was bedeutet die Schauspielerei
dann für Sie?
Bierbichler: Es gibt diese Glücksmomente.
Manche glauben ja, das Glück sei ein Zustand, weil die Konsumgesellschaft ihnen
das vorgaukelt. Aber das Glück ist ein Moment, der aufblitzt und gleich wieder weg
ist. Selbst beim Vögeln ist dieser Moment
immer nur ganz kurz und immer egoistisch. Der Egoismus erzeugt die Glücksmomente. Wenn man sich dagegen einander zuwendet und sich Liebe vorspielt,
dann macht man Political Correctness,
dann ist es langweilig. Das ist im Theater
ganz ähnlich: Glücksmomente gibt es,
wenn ich merke, jetzt spielt es von selbst.
Dann stimmt plötzlich alles. Aber wenn
das dann zusammenfällt und man stellt
die Figur wieder her, dann ist das Glück
vorbei.
SPIEGEL: Herr Bierbichler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Kultur
L I T E R AT U R
Die argentinische Schriftstellerin Sylvia Iparraguirre und ihr
poetischer Roman „Land der Feuer“ / Von Matthias Matussek
ago
nie
n
Pa
mp
a
ten, die dieses unermessliche Land in den
letzten hundert Jahren besiedelt haben.
Und sie hat ihre Geschichten an die Enke- Autorin Iparraguirre
lin weitergegeben, die immer getränkt wa- Analytischer Blick und Lust am Abenteuer
ren von „der Liebe zum Land und dem
besonderen Respekt vor seinen ersten te von Jemmy Button, einem Yámana-IndiBewohnern“.
aner, der 1830 von Kapitän FitzRoy vor der
Diese Kinderbezauberung durch die Küste Feuerlands aufgenommen wird – drei
Abenteuer der Großmutter, die zu den Knöpfe bezahlt FitzRoy für den Jungen,
ersten Siedlerinnen Patagoniens gehörte, zwei weitere Männer und das Mädchen La
hat sich Sylvia Iparraguirre bewahrt. Nun Fuegia. FitzRoy, der einen Seeweg zwischen
ist sie Literatur geworden – in ihrem neu- Atlantik und Pazifik erkundet, nimmt die
en, mehrfach preisgekrön„Wilden“ mit zurück nach
400 km
BOLIVIEN
ten Roman „Land der FeuLondon, um ihnen die Seger“, einer sprachgewaltinungen der Zivilisation anPARAGUAY
CHILE
gen Meditation über Zivigedeihen zu lassen.
Salta
lisation und Wildnis, und
Ein Experiment, ganz
über die Wurzeln der Naim liberal-aufklärerischen
ARGENTINIEN
tion, der sie eine „erTrend der Zeit: Der Kapitän
schreckende Geschichtslowill beweisen, dass der UmURUGUAY gang mit Kunst und Bildung,
sigkeit“ attestiert*.
Mendoza
Ein Krimi vom Ende der
mit Londoner Kneipiers
Buenos
Aires
Welt, den endlosen eisigen
und Hutmachern jeden edKüstenstreifen, an denen
len Wilden in einen engliFeuer entfacht wurden, um
schen Gentleman verwanden Schiffen den Weg durch
deln kann. Die Umwelt
San Carlos
de Bariloche
die Nacht zu zeigen: Iparraformt den Menschen –
Atlantischer
guirre erzählt die Geschichselbst der Königin werden
Ozean
die Indios aus dem fernen
* Sylvia Iparraguirre: „Land der
Feuerland vorgestellt.
Feuer“. Aus dem Spanischen von
Falkland-Inseln
Als die Lehrjahre in den
Enno Petermann. Alexander Fest
(britisch)
Straßen und den Teesalons
Verlag, Berlin; 260 Seiten; 38 Mark.
Pat
U
nauffällig lehnt das Gewehr an der
Wand, zwischen all den Kunstobjekten dieser kultivierten Schriftstellerwohnung im Herzen von Buenos
Aires, wie merkwürdiges Treibgut aus den
Stürmen der Zeit. Kein verziertes Schaustück, sondern ein simpler Gebrauchsgegenstand: brauner, fleckiger Schaft,
dunkler Lauf, eine Winchester .22.
Die Schriftstellerin und Journalistin Sylvia Iparraguirre, klein und energisch und
mädchenhaft, mag die Waffe nicht in die
Hand nehmen, nicht für ein Foto, nicht zur
Show. Sie hat Respekt vor dem Ding. Es
gehörte ihrer Großmutter, die vor knapp 90
Jahren auf diesem vorgeschobenen Gehöft
in der Pampa in die Nächte lauschte, auf
Geräusche, die Gefahr bedeuten könnten.
„Sie ist gut klargekommen mit den Indios“, sagt Sylvia Iparraguirre, „aber natürlich war sie auf der Hut.“ Da gab es erste
Begegnungen zwischen Missionaren und
Eingeborenen, und für eine Massenhochzeit auf ihrem Gehöft hatte die Großmutter Ringe organisiert. „Den Sinn der kirchlichen Trauung haben die Indios nicht so
ganz begriffen, aber sie wussten, dass es
eine dieser zivilisatorischen Spielregeln
war, und dass es ihnen nützte, wenn sie da
mitzogen.“
Iparraguirres Großmutter war ein Einwandererkind aus Spanien, wie die meis-
Feuerland
Ushuaia
GEBHARD / LAIF
Kap Hoorn
Reiter in der kargen Wildnis Feuerlands: Sehnsucht nach dem vorzivilisatorischen Zustand
328
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
LITERARISCHE AGENTUR
Krimi vom Ende der Welt
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
der feinen Gesellschaft vorüber sind, als
Jemmy Button gelernt hat, wie man Zylinder und Handschuhe trägt, nimmt ihn der
Kapitän auf eine weitere Passage nach Feuerland, bringt ihn dorthin zurück, wo er
ihn aufgenommen hat.
Die Yámanas tragen nun Tuch. Sie haben
Geschirr bei sich, Töpfe, Möbel. Doch
kaum ausgesetzt an ihrer Küste, wird klar,
wie fremd ihnen die englische Sozialisation
geblieben ist: Buttons Stamm zerlegt den
Zivilisationskrempel der Rückkehrer im
Nu, Button verschwindet halbnackt mit
ihnen aus dem Gesichtsfeld des Kapitäns.
Einige Jahre später werden Angehörige
einer Missionsgesellschaft von Indios massakriert; Jemmy Button soll Anführer dieses Blutbads gewesen sein. Er stellt sich
freiwillig einem bewaffneten Expeditionskorps, tritt vor die Schranken des Gerichts.
Und hier nun wird mehr verhandelt als ein
Mord – hier geht es um einen Showdown
der Kulturen, um Wildnis und Zivilisation,
um Invasion und Gegenwehr, um Menschenrechte.
Was Iparraguirres Roman so lesenswert
macht, sind die Schnitte und überaus kunstvollen Überblendungen von Poesie und Dokument, von Fiktion und Wirklichkeit. Nahezu wörtlich etwa übernimmt sie die Einlassungen von Anklage und Verteidigung.
Jahrelang hat sie in den Archiven geforscht,
hat die alten Gerichtsprotokolle ausgewertet und die Ausgaben der „London Times“,
die über den Fall berichtete. „Hier“, sagt sie
und öffnet einen großen weißen Karton,
der Fotokopien alter Dokumente und Briefe enthält, „die ganze Geschichte ist belegbar, alles ist archiviert.“
Daneben aber sind es die Reflexionen
und Volten der Erzähler-Figur, ihre Empörungen und Schwärmereien, die dem
Buch eine seltene Überzeugungskraft mitgeben. Der Erzähler ist Jack Mallory
Guevara, Sohn eines britischen Offiziers
und einer einfachen Frau aus dem Landesinneren, der Button auf FitzRoys Schiff
kennen lernt und nun, in einer langen
Epistel an einen fernen Administrator in
London, von Buttons Schicksal berichtet.
„Dieser Mallory ist ein Bastard“, sagt
Iparraguirre, „so wie wir alle Bastarde
sind.“ Ihm hat sie eine melancholische,
verstehende Zwischenstimme mitgegeben.
Buttons „Zivilisierung“ in London begleitet Mallory mit mildem Spott und jenem
Erstaunen, das nicht dem „Wilden“, sondern den Verrücktheiten der Londoner
Kultur gilt. Er ist fatalistisch, wenn es um
die Begleitumstände des Massakers geht.
Und er schwingt sich auf zu hymnischen
Liebeserklärungen, wenn er die herben
Schönheiten Feuerlands beschwört, seine
eisige Stille, seine erhabene Pracht.
Mit ihrem Roman hat Iparraguirre die
Kritik in Argentinien auch deshalb begeistert, weil sie für die seriöse Literatur des
Landes das Abenteuer-Sujet zurückerobert
hat. Diese wird nach wie vor vom ma330
d e r
jestätischen, kühlen Fixstern Jorge Luis
Borges überstrahlt, dessen 100. Geburtstag
gerade mit Festivals und Seminaren gefeiert wird. Daneben sind es Autoren wie Julio Cortázar, deren zerebrale experimentelle Erzählweise die argentinische Literatur zur europäischsten auf dem latein-
s p i e g e l
Bestseller
Belletristik
1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
2 (5) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
3 (2) Elizabeth George Undank ist der
Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark
4 (3) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
5 (7) Noah Gordon Der Medicus
von Saragossa Blessing; 48 Mark
6 (4) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
7 (6) Henning Mankell
Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark
8 (10) Marianne Fredriksson
Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark
9 (8) Henning Mankell Die fünfte Frau
Zsolnay; 39,80 Mark
10 (9) Nicholas Sparks
Zeit im Wind
Heyne; 32 Mark
Liebe kann wehtun:
erste Erfahrungen
eines gegensätzlichen
Teenagerpärchens
11 (–) Ken Follett Die Kinder von Eden
Lübbe; 46 Mark
12 (14) Siegfried Lenz Arnes Nachlass
Hoffmann und Campe; 29,90 Mark
13 (11) Johannes Mario Simmel Liebe
ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark
14 (12) Martha Grimes Die Frau im
Pelzmantel Goldmann; 44 Mark
15 (–) John Grisham Der Verrat
Hoffmann und Campe; 44,90 Mark
4 3 / 1 9 9 9
amerikanischen Kontinent gemacht haben.
Doch darunter griff das Massenpublikum
seit je ungeniert zu Historienschinken und
Liebesromanen. Wie überall.
Sylvia Iparraguirre, einer Schülerin von
Borges, ist es gelungen, beides zu vereinen: Den analytischen Blick und die Lust
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben
DVA; 49,80 Mark
2 (2) Sigrid Damm
Christiane und Goethe
Insel; 49,80 Mark
3 (3) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
4 (4) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht,
lebe! Scherz; 46 Mark
6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
7 (8) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
8 (7) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
9 (11) Ulrich Wickert
Vom Glück,
Franzose zu sein
Hoffmann und Campe;
36 Mark
Geschichten über
Humor, Diskretion
und Arroganz
eines lebensfrohen
Nachbarlandes
10 (9) Klaus Bednarz
Ballade vom Baikalsee
Europa; 39,80 Mark
11 (10) Daniel Goeudevert
Mit Träumen beginnt die Realität
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
12 (14) Jon Krakauer In eisige Höhen
Malik; 39,80 Mark
13 (15) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
14 (13) Günter Ogger Macher im
Machtrausch Droemer; 39,90 Mark
15 (12) Guido Knopp Kanzler – Die
Mächtigen der Republik
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
d e r
am Abenteuerroman, den hohen poetischen Ton und die erdnahe Leidenschaft.
Ihr Jemmy Button ist keiner jener edlen
nackten Wilden, der Salondamen in Verzückung treiben würde. Seine Botschaft ist
unbequem. Sie rührt an Themen wie Kolonisierung, Vertreibung und Rache, denen
die argentinische Gesellschaft in der Regel
ausgewichen ist.
Durch Iparraguirres Roman ist die Indio-Frage zum ersten Mal nachhaltig auf
die Tagesordnung gekommen. Von den
Yámanas leben heute gerade noch zwei
Frauen. Um sie kümmern sich plötzlich die
großen Redaktionen des Landes. Einem
anderen Stamm Patagoniens, den Onas,
wurde kürzlich von Staatspräsident Menem ein großes Gebiet an der Küste
zurückgegeben.
Eine neue Front ist da aufgemacht
worden im intellektuellen Diskurs: Früher
war es der Kampf gegen die Junta, in dem
auch Iparraguirre und ihr Mann engagiert
waren – Abelardo Castillo war, wie viele
andere, dafür ins Gefängnis gegangen.
Heute sind diese Schlachten geschlagen,
heute hat die bürgerliche Demokratie gesiegt, wenngleich auch „die Suche nach
einer Alternative zum Kapitalismus weitergeht“.
Doch auch die Linke hat sich über das
Schicksal der Ureinwohner selten den Kopf
zerbrochen. Mit „Land der Feuer“ rückt
die Frage nach der nationalen Identität
über den Umweg der Siedlungsgeschichte
ins Zentrum. „Die Hybris ist grundlegender Bestandteil unserer Nation.“
Als Journalistin und als Sprachwissenschaftlerin hat sich Iparraguirre schon seit
Jahren für die Rechte der Indígenas eingesetzt. Mit Hilfe zweier Soziolinguisten hat
sie neue Methoden entwickelt, mit deren
Hilfe die Ureinwohner nach ihrer Façon
Lesen und Schreiben lernen können. „Was
sollen die barfüßigen Kinder an der bolivianischen Grenze damit anfangen, wenn
ein Schulbuch einen Papa zeigt, der morgens zur Bank geht?“
Sie kämpft, sie streitet, sie fliegt von
Kongress zu Kongress. Dass ihr Buch Publikum und Kritik gleichermaßen berührt,
freut sie. Vor allem, weil sie darin mehr
wahrnehmen als nur eine verschlüsselte
Anklage gegen die weißen Kolonisatoren
des Kontinents. Sondern erkennen: Es ist
immer wieder auch ein Lied über die
Schönheiten Feuerlands. Es ist der Sprung
aus der Zeit, die Sehnsucht nach dem vorzivilisatorischen Zustand, die hier beschrieben wird.
Von Zeit zu Zeit kehrt auch Sylvia Iparraguirre dem Stadt-Moloch den Rücken
und fährt dort hinunter, an die Spitze
Patagoniens, an den Rand der Antarktis.
Und dann steht sie da und schaut den Eisriesen zu, die durch die Stille treiben, Gletscher groß wie Buenos Aires. „Dieses Blau,
diese Ruhe“, sagt sie, „es ist einfach unglaublich.“
™
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
331
Kultur
KINO
„Ich will nicht
lächerlich aussehen“
Der US-Komiker Steve Martin über Selbstzweifel,
Walter Matthaus Geheimnis und seine neue
Hollywood-Satire „Bowfingers große Nummer“
sagt immer: Das Einzige, was
zwischen Bowfinger und dem Erfolg steht, ist dessen Unfähigkeit.
SPIEGEL: Was gefällt Ihnen an diesem Spinner, der inbrünstig davon träumt, hochgradig dämliche
Filme zu drehen?
Martin: Ein Stück weit identifiziere ich mich mit ihm, weil ich
auch schon in einer solchen Lage
war. Dieser Augenblick, in dem
man seinen Enthusiasmus spürt,
alles auf eine Karte setzt und gerade kurz vor dem Durchbruch steht, ist
vermutlich der prickelndste in einer ganzen
Showbusiness-Karriere.
SPIEGEL: Bowfinger ist kein junges Talent,
das gerade durchstartet, sondern ein alternder Loser.
Martin: Ich frage mich oft, was mit Leuten
geschieht, die nur einen einzigen Erfolg in
ihrer Laufbahn haben. Die verschwinden
einfach von der Bildfläche – aber wohin?
Was machen sie anschließend? So ein Typ
ist Bowfinger. Ich stelle mir vor,
dass er irgendwann mal einen
kleineren Erfolg hatte und dachte, jetzt geht es weiter aufwärts,
aber stattdessen vergingen die
Jahre, ohne dass etwas passierte.
Und plötzlich war er 49.
SPIEGEL: Ist er eine Art Spiegelbild Ihrer selbst – derjenige, der
Sie geworden wären, hätten Sie
den Durchbruch nicht geschafft?
Martin: Ja. Als ich 30 wurde, war
meine größte Furcht, dass ich den
Rest meines Lebens als Kabarettist zubringen würde. Ich wollte
nicht endlos von Nachtclub zu
Nachtclub tingeln.
SPIEGEL: Dabei waren Sie in den
siebziger Jahren ausgesprochen
erfolgreich. Mit Ihrem Kabarettprogramm konnten Sie riesige
Stadien füllen. Haben Sie daran
gezweifelt, dass sich dieser Erfolg
beim Film wiederholen würde?
Martin: Lange. Mein erster Spielfilm, „The Jerk“ von 1979, war
UIP
SPIEGEL: Mr. Martin, Ihr Held Bowfinger
ist ein erfolgloser Produzent, der die Idee
hat, den größten Action-Star der Welt zum
Hauptdarsteller eines Films zu machen.Weil
der kein Interesse zeigt, jagt Bowfinger diesem Star, dargestellt von Eddie Murphy, in
Restaurants, Geschäften und Tiefgaragen
sein Team auf den Hals. So wird Murphy
zum Hauptdarsteller, ohne überhaupt zu
ahnen, dass er in einem Film mitspielt – und
noch dazu in einem hundsmiserablen …
Martin: … ja, mein Produzent
ALPHA
Martin, 54, gilt als Intellektueller unter den US-KlamaukStars. Neben seiner Arbeit als
Schauspieler, Produzent und
Drehbuchautor („L.. A. Story“,
„Roxanne“) schrieb er ein Theaterstück und verfasst brillante
Nonsens-Essays für den „New
Yorker“. Auch zu seinem in
dieser Woche anlaufenden Film
„Bowfingers große Nummer“,
dessen Titelrolle er spielt, lieferte Martin das Drehbuch.
Martin
Szene aus „Bowfinger“*: „Alles Geschmackssache“
332
* Mit Steve Martin und Eddie Murphy.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
zwar ein gigantischer Erfolg, aber danach
war es einige Jahre ziemlich hart. Doch
diese Selbstzweifel gehören dazu. Sie treiben einen an. Die Alternative ist eine übersteigerte Selbstsicherheit, und mir ist immer wohler, wenn ich mir verdient habe,
was ich erreiche.
SPIEGEL: Heute müssen sich Ihre Komödien am Markt behaupten gegen die Vulgarität und Krassheit von neuen, jüngeren
Komikern wie etwa den Farrelly-Brüdern,
die „Verrückt nach Mary“ gedreht haben.
Stört Sie dieser neue Komödienstil?
Martin: Ich habe kein Problem damit. Es
ist alles eine Geschmacksfrage – und weil
ich heute 54 bin und nicht mehr 20, hat
sich auch mein Geschmack verändert. Aber
ich sehe diese Art von Witzen nicht kritisch. Die Farrellys sind sehr komisch, und
ich wünsche mir, dass ich mal einen Riesenhit wie „Verrückt nach Mary“ hätte.
SPIEGEL: Fürchten Sie nicht den Verfall der
humoristischen Kultur?
Martin: Ich will nicht wie ein alter Komiker
dastehen, der jetzt den Nachwuchs fertig
macht. Als ich anfing, bin ich heftig kritisiert worden – jemand sagte, ich sei das
Schlimmste, was dem amerikanischen Humor je widerfahren sei. Und dieses Spielchen will ich nicht wiederholen.
SPIEGEL: Wird es mit zunehmendem Alter
schwieriger, sich auf der Leinwand lächerlich zu machen?
Martin: Ja, jedenfalls für mich. Ich sehe mit
großer Bewunderung, wie albern Walter
Matthau sich bis heute geben kann. Manchmal denke ich darüber nach, was wohl sein
Geheimnis ist. Aber ich glaube, dass es eine
Art von Angemessenheit geben muss: Was
ich tue, muss dazu passen, wer ich bin. Ich
habe ein gewisses Empfinden für Würde,
und wenn ich glaube, dass etwas allzu
lächerlich wirken wird, mache ich es nicht.
Ich will nicht lächerlich aussehen.
SPIEGEL: In „Bowfinger“ hopsen Sie am
Ende in einer Ninjafilm-Parodie über die
Leinwand – hat das Ihre Würde nicht gekränkt?
Martin: Nein, das hat mir gefallen. Schließlich hatte ich es mir ausgedacht.
SPIEGEL: Ursprünglich sollte der Film mit
einer großen Party mit vielen HollywoodStars enden, die der Gastgeber schließlich
allesamt in die Luft jagt. Warum haben Sie
diesen Schluss nicht gedreht?
Martin: Das wäre zu schwarz geworden.
Ich wollte nicht, dass der Film einen feindseligen Touch bekommt. Er sollte leicht
und heiter sein.
SPIEGEL: Aber schon die Idee verrät eine
gehörige Dosis Feindseligkeit. Wie steht es
um Ihre eigene Beziehung zu Hollywood?
Martin: Die ist bestens. Ich lebe und arbeite dort, und ich habe keinen Grund,
sauer auf die Filmindustrie zu sein. Das
war vermutlich auch der Grund, warum
ich diesen Schluss verworfen habe. Hollywood war immer gut zu mir.
Interview: Susanne Weingarten
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
Ex-Kaiser Wilhelm (in Doorn), Farbaufnahme vom Fürstentreffen 1913 in Berlin: Die Straßen der Hauptstadt zur Schonung der Pferdehufe mit
FILMGESCHICHTE
Großwildjagd mit Stativ
Vor der Kamera posierte Wilhelm II. als eitler Selbstdarsteller.
Der Regisseur Peter Schamoni hat historische Bilddokumente zu
einem Charakterporträt des letzten deutschen Kaisers montiert.
E
r liebte Pomp, Pickelhauben, schmucke Schiffe und funkelnde Kulissen,
litt an seinem verkümmerten linken
Arm, nahm selbst auf eine Reise in die
Schweiz 30 Uniformen zur Auswahl mit
und endete als verbitterter Exilant im
holländischen Schlösschen Doorn: Mehr
ist von der seltsamen Persönlichkeit des
letzten deutschen Kaisers, seiner Majestät
Wilhelm dem Zweiten aus dem Hause
Hohenzollern, allenfalls unter Spezialisten
bekannt.
Dabei eignet sich der Monarch, dessen
Name zuallererst an die Urkatastrophe des
20. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, erinnert, bestens für Image-Studien. Während Wilhelms Regierungszeit begannen
Fotografie und Film ihren Siegeszug, die
Erfindung der Glühbirne ermöglichte Vorführungen ohne Risiko, und Kamerafans,
die ihre neuen Zauberkästen mit und ohne
Kurbel ausprobieren wollten, stürzten sich
mit Vorliebe auf Deutschlands obersten
Prominenten. Wilhelm, der nach anfänglichen Zweifeln begeistert für den Film eintrat, entwickelte sich zu einem Selbstdarsteller von Gottes Gnaden.
Das jedenfalls meint Peter Schamoni,
65, ein Veteran des deutschen Autorenkinos. Jahrelang hat er nach Filmmaterial
über Wilhelm gefahndet, es restauriert und
nun – umrahmt von alten Fotos, Über334
tragen; für den Berliner Uniformnarren
und Nippessammler, in dessen Namen Millionen Soldaten sterben mussten?
Die Gräuel des Stellungs- und Grabenkriegs kommen tatsächlich allenfalls am
Rande vor. Doch Bilder von feuernden Batterien zu Lande und auf See, zerbombten
Städten und Gasmasken-Einsätzen zeigt
eben jeder Kriegs-Schulfilm. Für Wilhelm
dagegen war das Martialische ein Teil seiner gewaltigen Pose. Unnahbar und doch
leutselig, fürsorglich, aber in schimmernder
Wehr wollte der Kaiser für alle Vorbild
spielen – ohne zu merken, dass sein Selbstbild aus Preußengloria und Gottesgnadentum von Anfang an eine Karikatur war.
Schon wie der Mann mit zackigem „Esist-erreicht“-Schnurrbart, seinem Markenzeichen, über ein Treppchen aufs Pferd
steigen muss, sieht entlarvend aus. Ähnlich kurios wirken Bilder von der Morgengymnastik, zu der Wilhelm auf seinen
alljährlichen „Nordlandfahrten“ mit dem
kaiserlichen Kreuzfahrtdampfer „Hohenzollern“ eine exklusive Herrengesellschaft
aus hohen Militärs und sogenannten Ästheten – Professoren, Hofleute und Schmeichler – aus den Federn holte.
blendungen ins Heute und auch einigen
Tondokumenten – zu einem Großporträt
aufbereitet, wie es bislang undenkbar
schien: Von den ersten grobkörnigen Aufnahmen des Monarchen, die 1901 bei der
Beisetzung seiner geliebten Großmutter
Queen Victoria in London aufgenommen
wurden, bis zu eindringlichen Porträtstudien des Greises vor seiner museal ausstaffierten Exil-Zuflucht scheint fast jede
Unternehmung Wilhelms filmisch festgehalten zu sein.
Programmkinos werden eine Version mit
gerafftem Beiwerk zeigen, bevor der Film
später in voller Länge als ZDF-Zweiteiler
laufen soll. Uraufgeführt aber wird die gesamte von Wagnerklängen untermalte
Zwei-Stunden-Collage am
Dienstag zur Eröffnung des
Leipziger Dokumentarfilmfestivals, das sich sonst der
„Würde des Menschen“
verpflichtet fühlt. Schamoni kann damit rechnen,
dass dem Opus dort einiger
Unmut entgegenschlägt:
Will er etwa um Verständnis werben für „Wilhelm
den Plötzlichen“, der politisch so hirnlos agierte, dass
ihm Spötter nachsagten, er Kaiserliche Matrosen beim Sackhüpfen auf Korfu
habe eine Kopfprothese ge- Filmdokumente über Lebensstationen Wilhelms II.: Vom nationalen
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
gelbem märkischem Sand bestreut
Doch Schamoni zeigt den „brillantesten
Versager der Weltgeschichte“ keineswegs
als Clown. Er lässt Mario Adorf einfühlsam
den Kommentar sprechen und dazwischen
originale Wilhelm-Texte majestätisch von
Otto Sander vortragen. Er zeigt den gottesfürchtigen Wilhelm, während er auf seinem Staatsschiff oder später in Doorn
höchstpersönlich die Hausandacht zelebriert. Oder er führt vor, wie der Kaiser
samt Anhang sich am Sackhüpfen kaiserlicher Matrosen delektiert – auf Korfu, jenem Lieblingsurlaubsort, wo Wilhelm eine
Residenz namens „Achilleion“ erwarb, die
seit dem Tod ihrer Erbauerin, der unglücklichen Sisi von Österreich, leergestanden hatte.
Das verblüffendste Dokument ist eine
Passage aus dem Jahre 1913: Wieder hatte
Wilhelm eine große Parade angeordnet,
diesmal anlässlich des Fürstentreffens bei
der Hochzeitsfeier seiner Tochter Viktoria
Luise. Doch hier ist die ganze bunte Pracht
der Märchen-Uniformen zu sehen, ja sogar,
dass Berlins Straßen und Plätze zur Schonung der Pferdehufe mit gelbem märkischem Sand bestreut worden waren. Die
Sequenzen, von drei Kameras gleichzeitig
Wilhelm als Exilant in Doorn
aufgenommen und später durch Filter
übereinander projiziert, sind eines der
frühesten Farbfilm-Dokumente überhaupt.
Natürlich herrschte auch zu diesem Anlass „Kaiserwetter“. Regnete es, dann sagte Wilhelm Freiluft-Termine meist gleich
ganz ab: Kameraleute hätten schließlich
nichts davon gehabt. Ihnen zuliebe hatte er
doch seinen grotesken Fundus von Uniformen angelegt. Ihnen zuliebe enthüllte er
in jeder dritten Stadt ein Denkmal seines
Großvaters, ihnen zuliebe schoss er auf
Treibjagden einarmig nach Sechzehnendern – wobei ihm, der Film hält es fest,
ein Stativ nachgetragen wurde. Und wohl
nur für sie ließ er sich immer wieder hoch
zu Ross sehen, obwohl er als Kind den
Reitunterricht gefürchtet hatte, weil er nur
mit einer Hand die Zügel führen und mühsam das Gleichgewicht halten konnte.
In Doorn, wo er 1919 mit 70 Güterwagen
Hausrat einzog, soll er kein Pferd mehr bestiegen und kein Gewehr mehr angerührt
haben. Offiziell sind fast nur Filmbilder bekannt, die den abservierten Herrscher zeigen, wie er Verehrer begrüßt und freundlich Autogrammfotos verteilt. Aber Schamoni hat Dokumente aufgespürt, die ihn
bei den Tätigkeiten zeigen, mit denen er
deutschen Gästen – auch Göring war in
Doorn – beweisen wollte, dass man mit
ihm rechnen könne: Heuernte, Baumfällen, Holzsägen, Umgraben.
Immer jedoch ist sofort zu sehen, dass
nur der rechte Arm einsatzfähig war. Sogar
bei der Vogelfütterung am Schlossgraben
musste ihm der Brotkorb gehalten werden.
Das Filmmaterial zum Begräbnis des Mannes, der sein Volk „herrlichen Zeiten entgegen“ hatte führen wollen und nun nur
noch für die Livree seiner Chauffeure verantwortlich zeichnete, wurde von braunen
Wochenschau-Profis gedreht, aber nur in
Schweden und Holland freigegeben.
Warum? Vielleicht, weil die Bilder von
1941 verstörend wirken wie eine Geisterstunde. Hitlers Schergen hatten den ExKaiser nicht für ihre großdeutschen Machtpläne einnehmen können. Und die ergriffenste Gestalt am Grab war ein Militär,
der schon im Ersten Weltkrieg zu den
Senioren gezählt hatte: Ex-Generalfeldmarschall August von Mackensen, geboren 1849.
Johannes Saltzwedel
Familienrunde auf dem Staatsschiff „Hohenzollern“
Vorbild in schimmernder Wehr zum verbitterten Exilanten in der Strickjoppe
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
335
S TA R S
Geschwister im
Glamour-Wald
Das geschäftstüchtige britische
Kosmetik-Model Liz Hurley
betätigt sich jetzt auch
als Filmproduzentin für ihren
Dauerverlobten Hugh Grant.
D
er Glamour glimmt auf kleiner
Flamme. Elizabeth Hurley, 34, eines der bestbezahlten Models der
Welt, mäßig erfolgreiche Schauspielerin,
Dauerverlobte von Hugh Grant und neuerdings auch Produzentin seiner Filme, hat
die Grippe.
Sie sitzt im Salon einer Suite in einem
Kölner Luxushotel, raucht und schluckt Erkältungsdragees. In ihrem unscheinbaren
pinkfarbenen Pullover wirkt das weltweit
angehimmelte Sexsymbol mager und zerbrechlich. Doch ihre Stimme klingt entschieden und unmissverständlich.
Ein Stockwerk über ihr unterzieht sich
derweil Longtime-Lover Grant, 39, einem
Interview-Marathon und beglückt lokale
Sender mit Sätzen wie „Isch bin ne kölsche
Jong“. Die beiden Briten sind in Deutschland, um „Mickey Blue Eyes“ zu vermarkten, eine temperiert witzige Komödie, die
nächste Woche in den deutschen Kinos anläuft; Grant spielt darin wieder einmal den
sympathisch-trotteligen Briten-Bengel.
Diesmal ist Albions Beau mit dem SexAppeal einer Milchschnitte ein gewisser
Michael Felgate, ein kultivierter Auktionator in New York, der sich in die Italoamerikanerin Gina Vitale (Jeanne Tripplehorn)
verliebt.
Aber sie will auf Teufel komm raus verhindern, dass Michael ihre Familie kennen
lernt. Denn Papa Frank (James Caan), Onkel Vito, die Cousins und all die anderen
Herren mit den Pockennarben im Gesicht
336
und der Knarre im Hosenbund, sind knasterfahrere Mafiosi.
Aber wie es in Komödien so geht: Die
Herren finden erst zu- und dann auch noch
Gefallen aneinander, verstricken sich in
unsaubere Geschäfte, und schließlich hat
Michael einen Mord an der Hacke, und
Gina droht mit Trennung.
Im wirklichen Leben kann das der
Grant-Gespielin Hurley wohl nicht mehr
passieren. Seit zwölf Jahren ist sie mit
Hugh Grant liiert, hat Höhen (ihre Modelkarriere für den Kosmetikkonzern Estée
Lauder und seinen internationalen Aufstieg nach „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“) verkraftet und einen demütigenden Dämpfer dazu.
Die Panne im perfekten PR-Paket, zu
dem sich das Paar verschnürt, ereignete
sich in einem BMW in Los Angeles. Dort
wurde Grant im Juni 1995 von einer Polizeistreife in einer Seitenstraße des Sunset
Boulevard angetroffen, als ihm seine zungenfertige Beifahrerin, die professionelle
Divine Brown, in der Limousine das verpasste, was im Englischen unromantisch,
aber präzise „Blow Job“ heißt. Die göttliche Dienstleisterin und ihr bedürftiger
Klient wurden nach ihrer Entdeckung erst
erkennungsdienstlich behandelt und dann
gnadenlos durchs globale Mediendorf getrieben. Für Liz war es „die Hölle“.
Die oralen Fähigkeiten der Miss Brown
warfen Fragen auf. Was hatte sie, was Liz
womöglich nicht hatte? Und war die Liaison der Stars nicht doch das, was viele immer schon geargwöhnt hatten – eine
Zweckgemeinschaft zu gegenseitigem Nutzen. Brüderchen und Schwesterchen im
Glamour-Wald?
Er – im Film wie im Leben selbstironisch, aber grenzwertig lebensuntüchtig.
Sie – das toughe Working-Girl mit einem
der appetitlichsten und fotogensten Blitzlicht-Bodys der Welt. Ein märchenhafter
Doppel-Whopper nach dem magischen
Muster von „la Claudia“ und ihrem zauberischen Copperfield?
Liz Hurley weist diese ungalante Unterstellung energisch zurück („Claudia und
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Model Hurley
„Noch nicht bereit für
erwachsene Sachen“
J. SWANNELL / CAMERA PRESS
UNIVERSAL PICTURES
Filmstar Grant, Partnerin Trippelhorn in „Mickey Blue Eyes“: Ewiger Briten-Bengel
David waren lange sehr verliebt, jetzt trifft
sie sich mit Tim Jeffries, einem engen
Freund von mir“).
Ihr Argument gegen libidinös verbrämte Arbeitsgemeinschaften ist rein biologisch: „Das Leben ist zu kurz, um so viel
Zeit für ein solches Arrangement zu opfern.“ Und warum heiratet sie dann nicht?
„Oh, well“, sagt sie, und es klingt, als sei
ihr der Satz schon öfter über die auffallend fülligen Lippen gekommen, „wir
sind noch nicht bereit, solche erwachsenen Sachen zu machen. Wir haben keine
Zeit.“
Gerade hat sie einen Film in Kanada abgedreht, mit Sean Penn als Partner. Das
Ganze sei „arty“, künstlerisch also, und
wohl kein potenzieller Kassen-Hit.
Da laufen die Komödien mit
Hugh Grant besser. Denn
schließlich gebe es sonst
niemanden im Business,
der „gleichzeitig gut aussieht und komödiantisches Talent“ besitze.
Ihre eigenen Talente,
lästern Kritiker,
seien nicht so
verwirrend
vielschichtig.
Liz Hurley sei
der Fall einer
Frau, die bekannt
und reich wurde
(ihr Lauder-Vertrag
brachte ihr allein
acht Millionen Mark
ein), weil sie über beneidenswert kamerataugliche Schönheit
verfüge. Sie ist berühmt, weil sie berühmt ist.
Hurleys wenige
Kinoauftritte („Ja,
ich habe schlechte
Filme gedreht“) fallen
deshalb ohnehin nicht
ins Gewicht. Eigentlich
hatte sie einst tatsächlich
eine ernsthafte Schauspielerin werden wollen,
aber schon der Start verrutschte gleich wegweisend
in Richtung Showbusiness.
Nach nur zwei von den drei
vorgesehenen Jahren auf
einer Londoner Schauspielschule musste sie aus
Geldmangel die Ausbildung abbrechen.
Um die notwendige
Gewerkschaftszulassung
für die Bühnenlaufbahn
zu ergattern, tingelte sie
Kultur
mit Freunden durch Nachtclubs und führte selbst choreografierte Tänze auf, deren
Qualität sie als „schrecklich“ in Erinnerung hat. Werbespots fürs Fernsehen hielten sie über Wasser.
Und leider war ihr erster Film, „Aria“
von 1987, ein hochkünstlerischer Flop.
Der Episodenfilm sollte zehn Regisseuren
ermöglichen, jeweils eine Opernarie möglichst originell zu inszenieren. Hurley
erwischte „Glück, das mir verblieb“, das
vokale Glanzstück aus Erich Wolfgang
Korngolds Oper „Die tote Stadt“.
Mit blonder Walle-Perücke und als
Rückenakt posierte sie zu den spätromantischen Klangräuschen im flämischen Brügge, eine Art Lady Godiva ohne Ross und –
schlimmer noch – leider auch ohne jede
Presse.
Und bedauerlicherweise steht auch die
Produzentenkarriere erst am Anfang.
Außer „Mickey Blue Eyes“ steht nur „Extrem – Mit allen Mitteln“ auf der Liste. Ein
Film, in dem sich Hugh Grant mit allen
Mitteln als tragischer Held präsentieren
wollte und prompt extrem floppte.
Die Firma Castle Rock hat mit dem Paar
einen Deal gemacht: „Die bezahlen uns
die Büros und die Entwicklung der Drehbücher“, berichtet Hurley. „Und wir bieten
ihnen dann Projekte an. Wenn sie eines
akzeptieren, dann machen wir den Film
für die. Wenn nicht, können wir mit der
Story zu anderen Studios gehen.“ Bis jetzt
aber, sagt Hurley, sei noch kein NachfolgeFilm mit ihrer gemeinsamen Produktionsfirma „Simian Films“ geplant.
Liz Hurleys Strategie für die kommende
Dekade ist streng sachlich motiviert. Sie
will eine Modefirma gründen, dort kreativ
und kaufmännisch mitbestimmen, denn
„es ist unwahrscheinlich, dass ich in zehn
Jahren noch einen Kontrakt mit einer Kosmetikfirma haben werde“.
Immerhin verdankt sie der Mode einen
ersten, unvergessenen Auftritt. Zur Premiere von Hughs Überraschungserfolg „Vier
Hochzeiten und ein Todesfall“ benötigte sie
1994 ein Kleid. Bekannte verschafften ihr
ein getragenes Versace-Modell, das sie in
ihrem „winzigen Spiegel zu Hause nur bis
zur Hüfte“ begutachten konnte.
Liz stöckelte in zwei eng anliegenden
Stoffbahnen, die nur von 16 goldfarbenen
Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurden, über den Leicester Square und war
anderntags auf allen Titelseiten. Das Kleid
heißt seitdem nur noch „that dress“, und
der Rest ist PR-Legende.
Diesem Auftritt verdankt Nadel-Liz eine
Freundschaft mit Gianni Versace und dessen Schwester Donatella und einen Spruch,
den Donatella von der Herzogin von Windsor übernommen hat: „Du kannst nie zu
dünn oder zu reich sein.“
Das mit dem Dünnsein, meint Liz Hurley, „ist heute ja so eine Sache. Aber das
andere, das kommt schon hin“.
Joachim Kronsbein
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
SVEN SIMON
Privatmann Basler in der Öffentlichkeit*: Was macht „ran“ künftig ohne „Super-Mario“?
U N T E R H A LT U N G
„Ich bin ein Weltstar“
Über Jahre demonstrierte Mario Basler, dass das pralle Leben an einem Fußballprofi
nicht vorbeiziehen muss. Des Betriebsfriedens wegen hat Bayern München
seinen exzentrischen Spieler jetzt verbannt. Die sportliche Show ist um eine Attraktion ärmer.
D
er „Kicker“, das Zentralorgan wider den Sittenverfall im deutschen
Fußballwesen, wollte es genau wissen. Ist Mario Basler, 30, noch vermittelbar? Schließlich war der Profi des FC Bayern München neulich, an der Seite seines
Teamkollegen Sven Scheuer, in einer Regensburger Trattoria mit anderen Gästen
mächtig in Streit geraten.
Die Redaktion befragte vorige Woche
Entscheidungsträger aller Bundesligaclubs,
ob sie an einer Verpflichtung Baslers interessiert seien. Das Votum war einstimmig – erleichtert titelte das Fachblatt: „Keiner will Mario Basler!“
Des Nationalspielers schmähliches Ende
beim Deutschen Meister dokumentiert das
Dilemma, in das sich der Berufsfußball hineingeboomt hat: Nach außen sind die
Clubs Dienstleister in der Unterhaltungsindustrie – je spektakulärer die Show, desto
besser die Position im Markt. Innerbetrieblich jedoch funktionieren die Mannschaften immer noch so wie zur Gründer* Bei der Eröffnung eines Fanshops in Oberhausen; mit
Ehefrau Iris beim Profiboxen in Köln; auf der Meisterfeier im Englischen Garten in München.
338
zeit der Bundesliga – was zählt, sind
Solidität, Teamgeist und Fleiß.
„Hätten wir nicht eingegriffen“, erklärt
Bayern-Vize Karl-Heinz Rummenigge,
„wäre die Gemeinschaft kaputtgegangen.“
Vorvergangenen Samstag teilte Präsident
Franz Beckenbauer deshalb den Sündern
mit, dass sie ab sofort vom Dienst suspendiert seien. Im Falle des Ersatztorhüters
Sven Scheuer, 28, wird das Deutschland
verkraften können. Im Falle Basler ist das
nicht so sicher.
Was macht „ran“ künftig ohne Basler?
Wie will Sat 1 die überschüssige Sendezeit
füllen, wenn nicht mehr mit den Spaziergängen des Pfälzers auf Rechtsaußen, seinen ballistisch kühnen Freistößen oder seiner bebenden Halsschlagader im Disput
mit den Männern an der Pfeife? Mit Jens
Jeremies? Taugen Markus Babbels Querpässe für die Superzeitlupe?
In der nur ihm eigenen Selbstüberschätzung hat der ehemalige Anstreicherlehrling Basler neulich schwadroniert, dass 50
Prozent der Leute ihn schätzen und die
anderen 50 Prozent ihn hassen.
Natürlich ist das Unsinn. Mit dem
hochmütigen Kunstschützen verhält es sich
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
so ähnlich wie mit dem Schlager-Millionär
Dieter Bohlen: Das Publikum schätzt ihn
nicht, sondern weidet sich am Unerträglichen: an den überheblichen Sprüchen, den
prolligen Gesten, dem Irrglauben, wichtig
zu sein. „Ich bin ein Weltstar, und du bist
eine Null“, hat Basler bei einem seiner
Kneipenaufenthalte einen Zecher wissen
lassen.
Die Neigung, sich das Leben leicht zu reden, begleitet Basler, seit er den Beruf des
Fußballspielers ergriffen hat. Beim Zweitligaclub Rot-Weiß Essen, mit Anfang 20,
schickt ihn sein Vorgesetzter, Jürgen Röber,
vom Training nach Hause, weil ihn eine Alkoholfahne umweht. Bei seiner nächsten
Station, Hertha BSC Berlin, verdichtet der
damalige Trainer Bernd Stange Baslers
Fähigkeiten in einen dieser Tage wieder
häufig zitierten Aphorismus: „Bis zum
Hals Weltklasse, darüber Kreisklasse.“
Seine Ball-Artistik bringt ihn immerhin
in die Bundesliga, zu Werder Bremen. Zwar
verwendet der passionierte Raucher auch
dort viel Zeit für Casinobesuche, fürs Kartenspiel und Amüsement an der Theke.
Aber unter den Bremer Profis ist er ein
Ausnahmekönner. Baslers Aktionen si-
Die Bayern-Spitze ahnt die Gründe. Manager Uli Hoeneß beauftragt eine Detektei, Münchens gastronomische Betriebe
auszukundschaften. Unter den Nachtaktiven wird Basler als besonders emsig ausgemacht. Er flieht ins Umland. In Landshut
zieht es ihn nach dem Besuch der Spiele des örtlichen Eishockeyclubs gern ins
„Michelangelo“.
Eine neue Heimat findet Basler auch in
Olching, einer beschaulichen Gemeinde
westlich der tosenden City. Im Etablissement „Absolut“, dessen Wände antike
Spiegel zieren, entspannt er bei Weißbier
und Longdrinks. Die Abende lassen sich
wunderbar rechtfertigen, seit der Profi das
Training der A- und B-Jugendlichen des
SC Olching übernommen hat. Was er über
jene Fußballer denkt, die nicht mit so viel
motorischem Talent wie er gesegnet sind,
SVEN SIMON
* Im Champions-League-Finale gegen Manchester United (1:2) am 26. Mai in Barcelona.
SVEN SIMON
H. RAUCHENSTEINER
chern Siege, Prämien, Ruhm – das Enfant
terrible ist dem Team zu Nutze, also werden die Entgleisungen toleriert.
An der Weser gerät Basler jedoch in die
Prominentenfalle. Seine Tore werden zu
Kunstwerken hochgejazzt, seine präpotenten Ergüsse entzücken die Redaktionsstäbe zahlreicher Talkshows. Altmeister Udo
Lattek preist ihn als „vielleicht schon letzten Künstler in der Bundesliga“.
„Das Genie“ (Werder-Manager Willi
Lemke) beginnt jetzt, öffentlich vor Fernsehpublikum zu paffen und zu trinken. Er
glaubt, für sich die Nische des Unterhalters
in der so uniform-öden Leistungsgesellschaft Bundesliga gefunden zu haben. Er
sieht sich fortan als Mann fürs Launige.
„Entertainment kommt von mir auf dem
Platz, und die Zuschauer wollen unterhalten werden“, sagt er.
Basler hält sich für einen Dennis Rodman oder einen Andre Agassi des deutschen Fußballbusiness. Auch die stilisieren
ihre Egozentrik – ein einträglicher Marketingtrick. Doch am Morgen nach einer
wilden Party knechten sich die Rodmans
dieser Welt im Fitnessstudio, um ihr athletisches Niveau zu halten; dazu ist Basler
nicht bereit.
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als
„Super-Mario“ („Bild“) zu Bayern München findet. Dort heißen die Kollegen nicht
Eilts, Wiedener und Wolter – dort warten
Matthäus, Kahn und Babbel. Plötzlich ist es
nicht mehr selbstverständlich, dass ihn der
Trainer aufstellt – gleichgültig ob er die
Woche über fleißig war oder faul, krank
oder blessiert. „Wenn ich fit bin, dann spiele ich, das ist überhaupt kein Thema“,
posaunt er. Aber Basler ist selten fit.
bekommt einer seiner Schützlinge gleich
bei der ersten Übungseinheit zu hören:
„Du stehst schon wieder, gib mal ein bisschen Gas.“
So ähnlich springt auch der neue Chef
des Münchner Starensembles, Ottmar
Hitzfeld, mit Basler um: Sonderschichten,
Training unter der Kontrolle eines Physiotherapeuten werden dem Star auferlegt. Und siehe da, Basler kehrt im April
gegen Dynamo Kiew in die Elf zurück und
befördert den Ball von halbrechts mit dem
linken Fuß ins linke Tordreieck. Es ist
der einzige Treffer des Abends – und die
Nation bebt.
Basler hält die Elogen für gerechtfertigt.
Er signalisiert den Bayern, seinen im Sommer 2000 auslaufenden Vertrag vorzeitig
verlängern zu wollen – natürlich zu Konditionen, die seiner Bedeutung angemessen
sind. Er will in die Tarifgruppe des Spielmachers Effenberg eingereiht werden: statt
drei rund fünf Millionen Mark per annum.
Das halten die Wächter über die Vereinsfinanzen für unverschämt. Sie lehnen
ab. Basler greint: „Mir wird zu wenig Respekt entgegengebracht.“
Der große Entertainer fühlt sich unverstanden. Statt das Genialische zu würdigen,
werden die Weißbiere gezählt. Allen Ernstes rechnet er zur Verteidigung vor, dass er
die Frei-Haus-Lieferungen des BayernSponsors Erdinger Weißbräu eher gering in
Anspruch nehme: „Bei mir hat eine Kiste
schon mal sechs Wochen gereicht. Es gibt
Spieler, die öfter nachbestellen.“
Das scheint glaubhaft, weil Basler etwa
im vergangenen September mit Vorliebe
auswärts trinkt. In Hamburg mischt er sich
bei einer Geburtstagsparty unter seinesgleichen, auf Du und Du mit VIPs wie Udo
Lindenberg und Verona Feldbusch. In der
Hauptstadt schaut er bei den EishockeyCracks der Berlin Capitals vorbei, bevor er
die Nacht in der Disco „First“ ausklingen
lässt. In Frankfurt springt er bei der Auto-
Torschütze Basler*: „Wenn ich fit bin, dann spiele ich“
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
339
Sport
R. HOWARTH / ASSIGNMENTS PHOTOGRAPHERS
mobil-Ausstellung herein, in Baden-Baden selbst vier Jahre Profi bei Bayern, gibt
wird er auf der Galopprennbahn am Wett- präzise Auskunft.
Die Delinquenten werden zur Rede geschalter gesehen.
Nicht alles lässt der FC Bayern durch- stellt. Basler liest seine Aussage, wonach er
gehen. Im August, zwei Tage vor dem Lo- und Scheuer Opfer eines pöbelnden Gastes
kalderby gegen Unterhaching, wird Basler gewesen seien, von einem Zettel ab. „Ein
im „Maximilian’s“, einem Musiktempel für dreister und impertinenter Auftritt“,
die Wichtigen der Stadt, morgens gegen empört sich Beisitzer Rummenigge.
Als Hoeneß die Suspendierung öffentlich
halb drei geortet. Auf der Geburtstagsfeier des ehemaligen Münchner Kollegen begründet, berichtet er düster von der SpitDietmar Hamann gerät Basler in Wallung: ze eines Eisbergs, die mal wieder sichtbar
Mit den Fäusten malträtiert er einen Spie- geworden sei. Die Blockwarte der Nation leler der Regionalliga-Mannschaft des FC gen in den folgenden Tagen Teile des MitBayern. Der Verein belegt ihn mit 20 000 telbaus frei. Jeder weiß was, jeder wispert
was: dass Basler in Frontenhausen 180000
Mark Buße.
Mark verloren haben
Der
Szenegänger,
soll; dass ihm in BergSohn eines Maschinenkirchen der Wirt eines
schlossers und einer
Landgasthofes 20 000
Postangestellten, pflegt
Mark abgeknöpft habe;
ein legeres Verhältnis
dass ihm in Straubing
zum Geld. Seinen Geein bekannter Zocker
haltsbogen würdigt er
besonders zugesetzt
keines Blickes. Das mahabe. Der Verlust soll
che alles sein Manager,
380 000 Mark betragen.
verrät Mario Neureich
Mario Basler war auf
vergnügt; der wisse,
dem besten Wege, ein
„was die Immobilien
deutscher Paul Gaskosten und was ich vercoigne zu werden – jedienen muss“.
ner gleichfalls begnadeVor einigen Jahren
te englische Nationalhatte der Fußballprofi
spieler, der die Tabloids
330 000 Mark in ein 40fast täglich mit Szenen
Quadratmeter-Aparteines durchgeknallten
ment in Düsseldorf geLebens versorgt hat.
steckt, das niemals geDer Unterschied ist
baut wurde. Von dem Englischer Fußballprofi Gascoigne
bloß, dass der englische
Projekt hatte er nur „super Bilder“ gesehen. Der Finanzberater Fußballfan jene Profis am innigsten verRoger Wittmann half ihm damals aus der ehrt, die genauso unflätig und raubeinig
sind wie er selbst. Zu dieser Identifikation
Bredouille.
Es war der Anfang einer Männerfreund- ist der deutsche Tribünengast nicht fähig.
schaft, und seither leben beide prächtig Voriges Jahr fragten die Meinungsforscher
voneinander. Wittmann ist, seit Basler zu von Emnid nach, wen die Deutschen für
seinem Kundenstamm zählt, zu einer be- den dümmsten Nationalspieler halten. Den
deutenden Größe unter den deutschen Titel sicherte sich Mario Basler mit weitem
Vorsprung.
Spielerberatern aufgestiegen.
Dass der Exzentriker noch rechtzeitig
Wittmann, 39, kennt die Schwächen seines Schützlings. Dass er Basler nicht aus- zur Einsicht kommt, um Deutschland erredet, genauso viel verdienen zu wollen halten zu bleiben, steht nicht zu befürchwie Effenberg, wird zum Problem. „Die ten. Der Mann sehnt sich ins Ausland. Und
gönnen mir nichts, jetzt gönne ich denen fragt sich: Muss ich mir den Stress der
auch nichts“, verkündet sein Klient mit Champions League noch antun? „Ich werkindlichem Trotz. Wenn der Vertrag nicht de im Dezember 31 Jahre alt, da wäre es
verlängert wird, kann Basler ablösefrei vielleicht nicht mal so schlecht, wenn man
mal ein Jahr kürzer treten kann, nicht so
München verlassen.
Doch den Bayern-Verantwortlichen oft unterwegs ist.“
Das Mehr an Lebensqualität käme vielkommt es auf ein paar Millionen Mark Ablöse nicht mehr an. Sie interpretieren Bas- leicht auch seiner zweiten Ehe zugute. Volers Eskapaden als Provokation und wollen rigen Winter heiratete Basler die Schwester
nur noch Ruhe im Team. Spieler wie Oli- seines Beraters Wittmann. Draußen vor der
ver Kahn oder Giovane Elber, sagt einer Lutherkirche im pfälzischen Neustadt
aus dem Präsidium, „sind es satt: Die wol- drängten sich über 1000 Schaulustige, abgeschirmt von Bodyguards und Polizisten
len Fußball spielen“.
Die Affäre von Regensburg kommt nicht in Zivil. Drinnen zitierte Pastor Lamotte
ungelegen. Mit detektivischem Eifer re- aus dem Brief des Paulus an die Philipper:
cherchiert Manager Hoeneß bei der Polizei „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler
in Regensburg. Auch bei Zeugen erkundigt Ehre willen, sondern in Demut achte einer
er sich nach den Geschehnissen in der den anderen höher als sich selbst.“
„Trattoria da Fernando“: Hans Dorfner,
Alfred Weinzierl, Michael Wulzinger
340
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Sport
FUSSBALL
Besuch aus Beverly Hills
170 000 Türken leben in Berlin, tausende spielen in etwa 40 türkischen Fußballclubs, die sich dem
deutschen Vereinswesen oft enorm angepasst haben. Am Dienstag wird Berlin
für 90 Minuten jedoch wieder zur geteilten Stadt: Galatasaray Istanbul gastiert bei Hertha BSC.
M. GÜLBIZ
Das Los hat jene Europacup-Paarung zu
Stande gebracht, auf welche die größte türkische Gemeinde außerhalb der Türkei seit
Jahrzehnten gewartet hat. Klar ist: Die
Mehrheit der Zuschauer werden Türken
sein. Aber ungewiss scheint: Wie viele von
ihnen werden in der vereinten Stadt mit geteilten Herzen auf der Tribüne sitzen?
Denn zwischen Galatasaray-Spielen und
steril-staatstragenden Fußballterminen gibt
es einen bedeutenden Unterschied: Mag
das türkische Nationalteam stets eine Abordnung wohlfeiler Polit-Fans in seinem
Gefolge haben – zu Galatasaray geht man
aus Gesinnung und wahrem Patriotismus,
erst recht, wenn man sich zur Elite zählt
oder, wie die Söhne des türkischen Geldund Beamtenadels, selbst Zögling des frankophonen Lyzeums war, aus dem der
Sportclub hervorgegangen ist.
Um die Tickets fürs Corps Diplomatique,
inklusive Außenminister Ismail Cem, kümmert sich der Berliner Konsul Iskender
Okyay persönlich. „Für mich“, sagt Okyay,
Galatasaray-Anhänger*: „Das sind nicht die einfachen Leute“
36, „ist Galatasaray eine Reminiszenz
ythos hin oder her, beim Freitag- wandern die Blicke kurz hinüber zum Mo- des alten Europa in der modernen Türkei:
abendspiel unter dem trüben nitor. Kein Jubel, kein Zorn, höchstens ein gebildet, traditionsreich, aristokratisch.
Istanbuler Herbsthimmel darf sich ums Elend des Ligaalltags wissendes Kopf- Schauen Sie sich nur unsere Anhänger an.
Das sind nicht die einfachen Leute.“
auch die berühmteste aller türkischen Fuß- schütteln. Man hat Größeres im Sinn.
Als Galatasaray 1905 gegründet wurde,
ballmannschaften ein paar Durchhänger
Irgendwo im Zigarettendampf hinten
leisten. Die Kicker von Anatalyaspor sind rechts geht nämlich wertvolle Ware über regierte Sultan Abdulhamid II. das Osmagekommen, um sich beim Tabellenführer den Tisch. Şenol Akkaya, der Präsident von nische Reich. Und in den folgenden 94 JahGalatasaray ihre obligatorische Niederlage Türkiyemspor, bringt Eintrittskarten für ren hat keiner der Vereinsführer auch nur
abzuholen. Erste türkische Liga, immer- das Champions-League-Spiel am kom- den Versuch unternommen, aus der Heimhin, aber es ist ein Kick zum Erbarmen. 1:0 menden Dienstag unters Vereinsvolk. Der statt für die Oberschicht einen Volksclub zu
zur Halbzeit, 2:0 beim Schlusspfiff, ein glorreiche FC Galatasaray, das Aushänge- machen. Diesen Titel trägt der neureiche
Pflichtsieg des 13fachen Landesmeisters.
schild anatolischer Ballsportkultur, Lieb- und in den letzten Jahren etwas ölig geAuch 1800 Kilometer nordwestlich wird lingsclub türkischer Präsidenten, General- wordene Lokalrivale Fenerbahçe, knapp
der Auftritt der Löwen vom Bosporus wie stabschefs und des Kurdenführers Abdullah vor Be≠ikta≠, dem dritten Istanbuler Stadtein freudloses Routineereignis verfolgt. Öcalan, gibt sich die Ehre bei Hertha BSC. club. Be≠ikta≠ und Fenerbahçe trainieren
und spielen unter der schwefeGut hundert Freunde des türligen Smogglocke der 15-Milliokischen Fußballs haben sich im
nen-Stadt, während GalatasaVereinsheim des Berliner Verray vor Jahren sein sportliches
bandsligaclubs Türkiyemspor
Hauptquartier nach Florya veram Kottbusser Tor eingefunden,
legt hat – hinaus in den saubedoch die Fehlpässe auf dem Rieren und reichen Westen der
senbildschirm ziehen nur ein
Stadt, wo Istanbul mehr nach
Grüppchen Eingeschworener in
Beverly Hills aussieht als nach
ihren Bann.
den Slums hinterm Bosporus.
Der Rest der Gesellschaft sitzt
In welch unterschiedlichen
rauchend beim Tee und spielt
Welten Florya und Kreuzberg
Karten. Wenn wieder eine Runliegen, hat neulich der Türke
de türkisches Rommé vorbei ist,
Veysel Sayilgan erkennen müssen. Als Abgesandter seines
* Beim Champions-League-Spiel gegen
Berliner Bezirksligavereins war
Hertha BSC am 15. September in Istanbul. Galatasaray-Profi Akyel, Hertha-Stürmer Daei*: Club der Elite
WENDE
M
342
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
FOTOS: M. TÜREMIS / LAIF
Sayilgan nach Istanbul gereist; er glaubte,
einen Kooperationsvertrag über Spieleraustausch, gemeinsame Jugendarbeit und
eine Trikotlizenz aushandeln zu können.
„Burnu havada“, sagt Sayilgan, „mit der
Nase in der Luft“ seien ihm die Herren
von der Geschäftsstelle jedoch begegnet.
Ein paar Fähnchen habe man ihm in die
Hand gedrückt und die Telefonnummer
des Fanbeauftragten zugesteckt – wollen
Türken aus der Hautevolee jemanden loswerden, dann sind sie nicht zimperlich.
Die Enttäuschung sitzt tief. Monatelang
hatte Sayilgans Verein mit sich gerungen,
sich einen neuen Namen zu suchen, weil
den alten – Üsküdarspor Siemensstadt –
kaum einer aussprechen konnte.
„Pergamonspor“ hat Sayilgan zunächst
vorgeschlagen, in der Hoffnung, da denke
jeder an Ruinen und Sonne und Urlaub.
Doch das klang manchen Türken zu griechisch. Auch „SV Neue Heimat“ wurde erwogen; da wiederum warnte ein deutscher
Freund vor unguten Assoziationen. Am
Ende machte der Eintrag „1. FC Galatasaray Spandau 89 e. V.“ das Rennen.
Es sei nicht ganz einfach gewesen, sagt
Füsün Per, die Präsidentin des Clubs, auch
die Anhänger anderer Teams der ersten türkischen Liga für den Namen des großen Rivalen zu begeistern. Dann aber habe sich
die Einsicht durchgesetzt, dass „man den
Laden ja schließlich auch sponsern muss“,
und dass dies mit dem großen Wort Galatasaray eben einfacher sei. Zur Erleichterung ihres Gewissens haben sich manche
M. TÜREMIS / LAIF
Fans im Berliner Vereinslokal von Türkiyemspor: „Die Heimat ist da, wo du satt wirst“
Hertha-Fan Murat
Familieninterner Konflikt
Kicker auf einen Kompromiss verständigt.
Die Fenerbahçe-Fans in der Männermannschaft spielen einstweilen mit blau-gelben
Fener-Shirts unterm rot-gelben Galatasaray-Trikot – „doch das wird sich legen“,
sagt die Präsidentin, „wir sind ein deutscher Verein, die hören schon auf mich“.
Denn durchgängig ist bei den rund 40
türkischen Fußballvereinen auf Berliner
Boden ein Phänomen zu beobachten, das
mancher Muselman als Verrat an der orientalischen Seele empfinden mag. „Wer Erfolg will, braucht Führung und Organisation“, bekennt Sayilgan, in Personalunion
Geschäftsführer bei Galatasaray Spandau
und Türkiyemspor, außerdem stellvertre344
tender Bezirksligasprecher, CDU-Gastmitglied und Inhaber einer Schiedsrichter- und
einer Trainerlizenz.
Gerade weil er wisse, wovon er rede,
sagt Sayilgan, habe ihn die Herablassung
seiner Landsleute geschmerzt – „denn die
haben von Organisation überhaupt keine
Ahnung, von professioneller Jugendarbeit
oder Buchführung ganz zu schweigen“.
Sayilgan, 41, ist vor 20 Jahren nach Berlin gekommen, und wie viele aus der „ersten Generation“ verinnerlichte er das
Deutschsein um des Deutschseins willen
von Anfang an: „Ohne Statut und Ordnung: Wo kommen wir denn da hin?“ Reinhard Saftig, der deutsche Ex-Trainer des
türkischen Erstligisten Kocaelispor, habe
noch Mitte der neunziger Jahre seine Spieler auf Hoteltischen massieren lassen müssen, die Wäsche hing auf der Leine, weil es
keinen Trockner gab. Unglaublich.
Bei Hilalspor in der Waldemarstraße, einem Club, dem islamistische Tendenzen
nachgesagt werden, führt zwar aus dem
Vereinslokal eine Treppe in die Kellermoschee hinunter, doch bei der akkuraten
Anordnung von Pokalen und Mannschaftsordnern herrschen deutsche Sekundärtugenden vor. Bei Agrispor am Görlitzer Park, einem Verein mit überwiegend
kurdischen Mitgliedern, läuft von der
„Pampers-Liga“, den Fünf- und Sechsjährigen, bis zu den Regionalliga-Frauen
ein preußisch ausgefeilter Trainings- und
Spielplan ab. Zuspätkommen gibt’s nicht.
Al Spor (Aleviten), Dersim Spor (Aleviten und Kurden), BFC Tur Abdin (türkischsyrische Christen), Hürtürkelspor (Nationalisten) – so Feind sie sich untereinander
sein mögen, die türkischen Fußballer von
Berlin sind durchorganisiert, dass Turnvater Jahn seine Freude dran hätte.
Im Grunde, meint der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz, setzten
die Türken das Erbe des zu Weimarer Zeiten gefestigten deutschen Vereinswesens
fort. Wie den Berlinern von damals sei heute den Anatoliern die Figur des Vorsitzenden heilig – und vor allem das Schaufenster
des Vereinslokals zur Straße hinaus. „Deutsche Clubs“, sagt der Grünen-Politiker,
„ziehen sich mehr und mehr in Keller und
Souterrains zurück, die Türken hingegen
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
achten schon traditionell auf ihre Schnittstelle zum öffentlichen Raum.“
Freilich: Berlin dankt den Türken die Bewahrung der deutschen Vereinskultur keineswegs. Er habe aufgehört zu zählen, sagt
Veysel Sayilgan, wie oft man ihm die Aufkleber seiner beiden türkischen Clubs vom
Briefkasten gerissen und mit SS-Zeichen
und Hakenkreuzen beschmiert habe. Nicht
dass er von rechtsradikalen Hertha-Fröschen im Hause wüsste, doch irgendwo aus
dieser Richtung komme es wohl. „Galata,
Galata, Galatasaray, Fenerbahçe Istanbul,
wir hassen die Türkei“ singen, zur Melodie
von „Jingle Bells“, die Hertha-Hools alle
14 Tage auf dem Weg ins Olympiastadion.
Auch auf dem Rasen hat das friedliche
Gegeneinander in den vergangenen Jahren gelitten. Seit Jahren mehren sich selbst
in unteren Klassen Pöbelei, Handgreiflichkeiten und Spielabbrüche. Im Mai trafen
der Ost-Berliner Verein BFC Dynamo und
die Kreuzberger Elf von Türkspor zusammen. „Wir bauen euch eine U-Bahn nach
Auschwitz“, sangen die BFC-Anhänger.
Nach dem Abpfiff stürmten sie auf den
Fußballplatz und jagten die türkischen
Spieler. Acht Sportler wurden verletzt.
Mitte der neunziger Jahre wäre dem besten türkischen Club in Berlin, Türkiyemspor, beinahe der Aufstieg in die Zweite
Bundesliga geglückt. Das Märchen soll irgendwann in Erfüllung gehen. „Für manchen mag es ein Alptraum sein, dass wir
eines Tages im Olympiastadion gegen Hertha spielen“, sagt Präsident Şenol Akkaya,
„aber ich freu mich schon drauf.“
Den türkisch-patriotischen Atatürk-Cup
boykottiert Präsident Akkaya hingegen,
„weil das Ganze unprofessionell organisiert ist und irgendwie keine Klasse hat“.
Loyalitätsappelle aus der Heimat lassen
ihn kalt. „Die Heimat“, habe sein Vater
immer gesagt, „ist da, wo du satt wirst.“
Ähnlich pragmatisch hält es auch Ramazan Öztürk von Agrispor. „Ich bin Berliner,
also bin ich für Hertha.“ Unter seinen drei
Söhnen befürchtet Öztürk am Dienstag indes einen familieninternen Konflikt: Die
beiden Älteren werden Galatasaray anfeuern, der 13-jährige Murat will als bekennender Hertha-Fan im blau-weißen Schal
ins Stadion ziehen.
Bernhard Zand
Werbeseite
Werbeseite
SERVICE
Leserbriefe
SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg
Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected]
Fragen zu SPIEGEL-Artikeln
Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966
E-Mail: [email protected]
Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben
Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966
E-Mail: [email protected]
Nachdruckgenehmigungen
für Texte und Grafiken:
Deutschland, Österreich, Schweiz:
Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966
E-Mail: [email protected]
übriges Ausland:
New York Times Syndication Sales, Paris
Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044
für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869
Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected]
DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos
Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826
E-Mail: [email protected]
Abonnenten-Service
SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg
Reise/Umzug/Ersatzheft
Telefon: (040) 411488
Auskunft zum Abonnement
Telefon: (040) 3007-2700
Fax: (040) 3007-2898
E-Mail: [email protected]
Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL,
Postfach, 6002 Luzern,
Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389
E-Mail: [email protected]
Abonnement für Blinde
Deutsche Blindenstudienanstalt e. V.
Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269
Abonnementspreise
Inland: Zwölf Monate DM 260,–
Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,–
Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,–
Europa: Zwölf Monate DM 369,20
Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,–
Halbjahresaufträge und befristete Abonnements
werden anteilig berechnet.
Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche
ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an
den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach
10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden.
Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung.
✂
Abonnementsbestellung
bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an
SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service,
Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg.
Oder per Fax: (040) 3007-2898.
Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro
Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen.
Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das
monatliche Programm-Magazin.
Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte
Hefte bekomme ich zurück.
Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab _____________ an:
Name, Vorname des neuen Abonnenten
Straße, Hausnummer
PLZ, Ort
Ich möchte wie folgt bezahlen:
Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion)
E-Mail [email protected] · SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de · T-Online *SPIEGEL#
H E R A U S G E B E R Rudolf Augstein
S C H W E R I N Florian Gless, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin,
C H E F R E D A K T E U R Stefan Aust
S T E L LV. C H E F R E D A K T E U R E Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß
D E U T S C H E P O L I T I K Leitung: Dr. Gerhard Spörl, Michael SchmidtKlingenberg (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Dietmar Hipp,
Bernd Kühnl, Joachim Mohr, Hans-Ulrich Stoldt, Klaus
Wiegrefe. Autoren, Reporter: Dr. Thomas Darnstädt, Matthias
Matussek, Hans-Joachim Noack, Hartmut Palmer, Dr. Dieter Wild;
Berliner Büro Leitung: Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher
(stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, Susanne Fischer, Martina
Hildebrandt, Jürgen Hogrefe, Horand Knaup, Dr. Paul Lersch,
Alexander Neubacher, Dr. Gerd Rosenkranz, Harald Schumann,
Alexander Szandar
D E U T S C H L A N D Leitung: Clemens Höges, Ulrich Schwarz.
Redaktion: Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Doja Hacker,
Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knauer, Ansbert Kneip,
Udo Ludwig, Thilo Thielke, Andreas Ulrich. Autoren, Reporter:
Jochen Bölsche, Henryk M. Broder, Gisela Friedrichsen, Gerhard
Mauz, Norbert F. Pötzl, Bruno Schrep; Berliner Büro Leitung:
Heiner Schimmöller, Georg Mascolo (stellv.). Redaktion: Wolfgang
Bayer, Stefan Berg, Carolin Emcke, Susanne Koelbl, Irina Repke,
Peter Wensierski
WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redaktion: Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar
Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung,
Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke;
Berliner Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion:
Markus Dettmer, Oliver Gehrs, Christian Reiermann, Ulrich
Schäfer
A U S L A N D Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng
(stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel,
Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund
von Ilsemann, Claus Christian Malzahn, Dr. Christian Neef, Roland
Schleicher, Helene Zuber. Autoren, Reporter: Dr. Erich Follath,
Carlos Widmann, Erich Wiedemann
W I S S E N S C H A F T U N D T E C H N I K Leitung: Johann Grolle, Olaf
Stampf (stellv.); Jürgen Petermann. Redaktion: Dr. Harro Albrecht,
Philip Bethge, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul,
Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. Autoren,
Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg
K U L T U R U N D G E S E L L S C H A F T Leitung: Wolfgang Höbel,
Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr,
Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Lothar Gorris,
Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim
Kronsbein, Reinhard Mohr, Anuschka Roshani, Dr. Johannes
Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia
Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf.
Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Dr. Jürgen
Neffe, Cordt Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp
S P O R T Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Jörg
Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger
S O N D E R T H E M E N Dr. Rolf Rietzler; Christian Habbe, Heinz Höfl,
Hans Michael Kloth, Dr. Walter Knips, Reinhard Krumm, Gudrun
Patricia Pott
S O N D E R T H E M E N G E S T A L T U N G Manfred Schniedenharn
P E R S O N A L I E N Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau
C H E F V O M D I E N S T Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz
Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.)
S C H L U S S R E D A K T I O N Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann,
Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum,
Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero RichterRethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka
B I L D R E D A K T I O N Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft-
gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels,
Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters,
Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz.
E-Mail: [email protected]
G R A F I K Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann,
Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur,
Michael Walter, Stefan Wolff
L AYO U T Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf;
Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker
Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst
P R O D U K T I O N Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank
Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland
T I T E L B I L D Thomas Bonnie; Maria Hoffmann, Stefan Kiefer, Oliver
Peschke, Monika Zucht
REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND
B E R L I N Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik,
^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung
^ Ermächtigung zum Bankeinzug
von 1/4jährlich DM 65,–
Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland,
Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12
B O N N Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax
26703-20
D R E S D E N Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099
Bankleitzahl
Konto-Nr.
Geldinstitut
Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten
Widerrufsrecht
Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche
ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag,
Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039
Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt
die rechtzeitige Absendung.
2. Unterschrift des neuen Abonnenten
346
SP99-003
Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275
D Ü S S E L D O R F Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara SchmidSchalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf,
Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11
E R F U R T Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt,
Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20
F R A N K F U R T A . M . Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix
Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried
Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel.(069) 9712680,
Fax 97126820
H A N N O V E R Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159
Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620
K A R L S R U H E Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737
M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens,
Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089)
4180040, Fax 41800425
Tel. (0385) 5574442, Fax 569919
S T U T T G A R T Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728
Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341
REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND
BAS E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474,
Fax 2830475
B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel.
(0038111) 669987, Fax 3670356
B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber,
Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436
I S T A N B U L Bernhard Zand, Be≠aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≠a,
80040 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211
J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9,
Fax 6224540
J O H A N N E S B U R G Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands,
SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484
K A I R O Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin,
Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655
L O N D O N Michael Sontheimer, 6 Henrietta Street, London WC2E
8PS, Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599
M O S K A U Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij
Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04,
Fax 9400506
N E W D E L H I Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi
110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739
N E W YO R K Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron,
516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212)
2217583, Fax 3026258
PA R I S Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008
Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972
P E K I N G Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu
2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453
P R A G Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138
R I O D E J A N E I R O Jens Glüsing, Avenida São Sebastião 157, Urca,
22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 2751204, Fax 5426583
R O M Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel.
(003906) 6797522, Fax 6797768
S A N F R A N C I S C O Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street,
San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530
S I N G A P U R Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel.
(0065) 4677120, Fax 4675012
T O K I O Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku,
Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957
WA R S C H A U Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau,
Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474
WA S H I N G T O N Michaela Schießl, Dr. Stefan Simons, 1202 National
Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax
3473194
W I E N Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431)
5331732, Fax 5331732-10
D O K U M E N T A T I O N Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; JörgHinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch,
Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes
Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle,
Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch,
Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac,
Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp,
Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier,
Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen,
Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp,
Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel,
Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G.
Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea
Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja
Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm,
Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel,
Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle,
Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop,
Karl-Henning Windelbandt
B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles
I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten
Wiedner, Peter Zobel
K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke
L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger
S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.)
Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms
N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington
Post, New York Times, Reuters, sid, Time
Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in
elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom.
SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG
Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe
Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau
Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999
Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20
Druck: Gruner Druck, Itzehoe
V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck
M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten
G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel
DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum.
K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail:
info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster:
Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
SAMSTAG, 16. 10.
KURSÄNDERUNG Die CDU will sich künftig
stärker inhaltlich mit der SED-Nachfolgepartei PDS auseinander setzen.
EUROPA Die Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union beschließen
beim EU-Gipfel im finnischen Tampere
die Angleichung ihrer Asyl- und Justizpolitik innerhalb der nächsten fünf Jahre.
SONNTAG, 17. 10.
FORMEL 1 Die Ferrari-Piloten Michael
Schumacher und Eddie Irvine werden von
den FIA-Rennkommissaren beim Großen
Preis von Malaysia nachträglich disqualifiziert, weil ihr Windabweiser am Rennwagen nicht den Regeln entsprach.
REKORD In London wird das mit 137 Me-
ter Höhe größte Riesenrad der Welt aufgestellt.
MONTAG, 18. 10.
KINDERSCHUTZ Die Europäische Konfe-
renz ächtet in Berlin den Einsatz von
Kindersoldaten. Bundesaußenminister
Joschka Fischer fordert die Einführung
eines Mindestalters von 18 Jahren für
Soldaten.
AFFÄREN US-Sonderanwalt Kenneth Starr
legt nach sechsjährigen Ermittlungen gegen Präsident Bill Clinton sein Amt nieder.
DIENSTAG, 19. 10.
BESUCH Chinas Präsident Jiang Zemin
wird bei seinem Staatsbesuch in Großbritannien von Königin Elizabeth II. und
Premier Tony Blair begrüßt.
ENTFÜHRUNG In Hamburg geht die Entführung einer Boeing 737 der Egypt Air
mit 54 Insassen unblutig zu Ende. Der Täter springt aus dem Flugzeug und verlangt Asyl.
16. bis 22. Oktober
SPIEGEL TV
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
MITTWOCH, 20. 10.
RÜSTUNG Der Bundessicherheitsrat beschließt die Lieferung eines Kampfpanzers vom Typ „Leopard 2A5“ zu
Testzwecken an die Türkei.
SPIEGEL TV
REPORTAGE
Welche Farbe hat der Krieg? –
Das Dritte Reich, Teil 1: 1937 – 1940
INDONESIEN Muslimführer Abdurrahman
Wahid gewinnt überraschend die Präsidentenwahl. Er erhält 373 Stimmen,
seine Konkurrentin Megawati Sukarnoputri 313.
HOFFNUNGSLOS Der Uno-Vermittler für
den Frieden in Afghanistan, Lakhdar Brahimi, gibt auf.
SPIEGEL TV
Chronik
ERÖFFNUNG Der skandinavische Hochadel
eröffnet in Berlin die gemeinsame Botschaft der Länder Dänemark, Schweden,
Norwegen, Finnland und Island.
Nazi-Aufmarsch in Iserlohn (1937)
Marlene Dietrich und Hitlers Pilot, Eva
Braun und einige Soldaten der Wehrmacht hatten eine gemeinsame Passion:
Sie filmten Geschichte in Farbe. Michael
Kloft hat weitgehend unveröffentlichtes
Farbmaterial aus der Nazi-Zeit für eine
zweiteilige Dokumentation zusammengetragen. In der ersten Folge sind unter
anderem Aufnahmen vom Besuch Hitlers
in Italien, vom Einmarsch deutscher Truppen in Paris, aber auch Bilder vom Alltagsleben unterm Hakenkreuz zu sehen.
DONNERSTAG, 21. 10.
OSTTIMOR Deutsche Soldaten fliegen bei
ihrem ersten Einsatz im Krisengebiet mit
einer „Transall“ Verletzte aus der Hauptstadt Dili ins australische Darwin.
ATTENTAT Der Journalist und frühere
türkische Kulturminister Ahmet Kislali
wird in Ankara durch eine Autobombe
getötet.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
FREITAG, 22. 10.
KRIEGSVERBRECHER Der in Frankreich verurteilte Nazi-Kollaborateur Maurice Papon, 89, wird nach seiner Flucht in der
Schweiz festgenommen.
SPIEGEL TV
EXTRA
Die Vollstrecker – Erfahrungen deutscher
Gerichtsvollzieher
FEIER Zweieinhalb Jahre nach Baubeginn
Knapp 4000 Zwangsvollstrecker beschäftigen sich Tag für Tag mit den Folgen von
Konsumrausch oder Ratenkrediten. Eine
Reportage über die Schattenseiten einer
vermeintlichen Wohlstandsgesellschaft.
feiern Kanzler Gerhard Schröder und
Gäste Richtfest im 465 Millionen Mark
teuren Bundeskanzleramt in Berlin.
FREITAG
22.10 – 00.15 UHR VOX
NIEDERLAGE Die SPD-geführten Bundes-
länder verzichten auf ein Abkommen gegen die Erhebung von Studiengebühren.
SPIEGEL TV
THEMENABEND
Die Sehnsucht der Singles
Etwa 13 Millionen Alleinlebende bevölkern die Bundesrepublik, die meisten
von ihnen möchten diesen Zustand
ändern. Studiogäste und Publikum:
Singles auf der Suche nach dem großen
Glück. In Zusammenarbeit mit SPIEGEL
ONLINE ist während der Sendung ein
Chatroom für Internet-Kommunikation
eingerichtet.
SAMSTAG
22.00 – 00.05 UHR VOX
SPIEGEL TV
DISCOVERY CHANNEL
Zwei riesige Stoßzähne ragen aus dem tiefgefrorenen Mammut, das Wissenschaftler Bernard Buigues
aus dem Eis der sibirischen
Halbinsel Taimyr grub.
SPECIAL
People’s Century – Das Jahrhundert
Der verlorene Frieden
Dritter Teil der zehnteiligen Dokumentationsreihe.
347
Register
ihr eine riesige Fangemeinde einbringen.
Mit ihrer Romanserie um einen Planeten
namens „Darkover“ hatte sie ihren ersten
großen Erfolg. Doch
erst mit dem 1118-Seiten-Wälzer „Die Nebel
von Avalon“ (1982), einer feministischen Variante der Artus-Sage,
gelang ihr der Aufstieg
aus der Trivialklasse in
einen höheren Rang
der Unterhaltungsliteratur – mit einem Millionenverkauf allein
im deutschsprachigen Raum. Im Sog des
„Avalon“-Erfolgs stiegen auch ihre folgenden Werke „Das Licht von Atlantis“ und
„Die Feuer von Troja“ zu Bestsellern auf.
Marion Zimmer Bradley starb – wie erst
jetzt bekannt wurde – am 25. September in
ihrem kalifornischen Wohnort Berkeley an
den Folgen eines Herzanfalls.
Gestorben
DPA
MODERN ART STUDIO
Nathalie Sarraute, 99. Die junge, als Natascha Tschernjak in Russland geborene
Schriftstellerin war überzeugt, dass nach
Dostojewski, Proust und Joyce der große
Roman seinen Zenit
überschritten hatte;
also schuf die 32-jährige Rechtsanwältin
ihren eigenen Stil –
„le nouveau roman“.
Obwohl Jean-Paul
Sartre bereits dem
Werk „Portrait eines
Unbekannten“ ein
Vorwort widmete,
blieb die Kritik zunächst kalt, und das
Hauptwerk „Tropismes“ wurde erst nach
17 Jahren als großer literarischer Wurf anerkannt. Die „Hohepriesterin des Nichtkommunizierbaren“ („Le Figaro“) betrieb
mit Essays und Dramen für ein „Ja oder
für ein Nein“ als Zentrum einer Literatengruppe mit Alain Robbe-Grillet und Michel
Butor eine komplizierte Wirklichkeitssuche, die zu Weltruhm führte. Nathalie Sarraute starb vergangenen Dienstag in Paris.
ben von Romanen, die im Genre ScienceFiction und Fantasy-Literatur angesiedelt
waren, zu dem sich die im Staat New York
geborene Tischlertochter besonders hingezogen fühlte, war in den fünfziger Jahren
eher ungewöhnlich für eine Frau. Aber gerade das Einbeziehen von „starken Frauengestalten“, von weiblicher Intuition, von
frauenfreundlichen Utopien in eine von
Technik dominierte Männerdomäne sollte
348
d e r
Ottfried Hennig, 62. Er spannte sich vor
den schleswig-holsteinischen CDU-Karren,
als der nach der Barschel-Affäre am tiefsten im Dreck steckte. Den Delegierten
beim Wahlparteitag 1989 rief der Bonner
Re-Import zu: „Wer, wenn nicht wir, und
wann, wenn nicht jetzt?“, und brachte
die Landespartei mit Fleiß und Realitätssinn wieder in die Nähe von 40 Prozent.
1997 zog er sich, enttäuscht über mangelnde Unterstützung
seiner Parteifreunde,
aus dem Vorsitz zurück, um als Generalsekretär der Konrad-Adenauer-Stiftung
nach Sankt Augustin zu gehen. Ottfried
Hennig starb vergangenen Dienstag in
Bonn an einer Krebserkrankung.
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
TEUTOPRESS
Marion Zimmer Bradley, 69. Das Schrei-
geborene Lehrersohn war ein vielseitig begabter Mann, der sich an der Universität genauso gut machte wie als Mitherausgeber
der Zeitschrift „Neue Rundschau“ – doch
Heckmann wollte lieber Schriftsteller werden. Und er fand mit ersten Erzählungen
und den beiden Roman „Benjamin und seine Väter“ (1962) und „Der große Knockout in sieben Runden“ (1972) durchaus verdiente Beachtung. Es folgten Kinder- und
auch Kochbücher – und erst 1994 mit „Die
Trauer meines Großvaters“ wieder ein Roman. Bekannt war er zuletzt vornehmlich
als Präsident der Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung in Darmstadt, deren
Geschicke er 14 Jahre lang so unaufdringlich wie kompetent lenkte. Herbert Heckmann starb am vergangenen Montag in Bad
Vilbel an den Folgen eines Schlaganfalls.
DPA
Franz Peter Wirth, 80. In grauer FernsehFrühzeit, als die Bilder noch schwarzweiß
waren und live gesendet wurden, war der
Theatermann Wirth der Erste, der sich an
große, um eine TVspezifische Ästhetik
bemühende Schauspiel-Inszenierungen
wagte – von 1954 an
in Stuttgart, von 1960
bis 1984 als Oberspielleiter der Bavaria in
München. Klassiker
(Schiller, Shakespeare)
wie auch zeitgenössische Autoren (Sartre,
Brecht, García Lorca,
Anouilh) brachte er als stilbildender Pionier
zuerst auf den Bildschirm. Sein Œuvre umfasst weit über hundert TV-Inszenierungen,
darunter gewichtige Serien wie „Die Buddenbrooks“ oder „Ein Stück Himmel“, und
er blieb bis in die neunziger Jahre produktiv. Franz Peter Wirth starb am 17. Oktober
in Berg am Starnberger See.
Herbert Heckmann, 69. Der in Frankfurt
Werbeseite
Werbeseite
Personalien
Laetitia Casta, 21, korsisches Top-Model, Schauspielerin
AP (l.); SIPA PRESS (r.)
(„Asterix und Obelix“) und gerade von 36 000 französischen
Bürgermeistern als Nachfolgerin von Schönheiten wie Brigitte
Bardot und Catherine Deneuve zum neuen
Modell für die Gipsbüste der nationalen „Marianne“ gewählt, sorgt ungewollt für einen
Frauenansturm auf das Dorf Roulans nordöstlich von Besançon. Bürgermeister
Georges Mailley, 72, hatte aus Protest gegen die „Personalisierung der Revolutionsfigur durch Show-Stars“ in seiner
1005-Seelen-Kommune am Doubs eine
lokale Marianne-Wahl ausgeschrieben
und der Siegerin die Vergipsung fürs
Rathaus garantiert. Einzige Auflage:
Die Casta-Rivalin muss in Roulans wohnen. Der Postwurf-Appell des Gaullisten richtet sich zwar nur an etwa
100 Mitbürgerinnen – „Alter,
Brustweite und Beinlänge ohne
Bedeutung“ –, elektrisierte aber
Möchtegern-Mariannes im ganzen Land. Grund: Frankreichs
größter TV Sender TF 1 hat sich die
Rechte für die Protestwahl im November gesichert; nun lockt Fernsehruhm im Casta-Schatten. Mailley fühlt
sich inzwischen „wie der Zauberlehrling“. Da es in Frankreich keine örtliche Meldepflicht gibt, kann jede
Französin sich vorübergehend als
„Roulannaise“ ausgeben. Der Dorfschulze („Ich habe wohl das Alter
erreicht, um Dummheiten zu machen“) will zwar die hausgemachte Gips-Marianne („wie immer sie ausfällt“) in seine
„Mairie“ stellen, hat sich aber abgesichert: Ihre schon hundert
Jahre alte – anonyme – Vorgängerin „bleibt auch im Rathaus“.
Casta, Casta-Büste (Montage)
Frank McCourt, 69, in den USA lebender
irischstämmiger Bestseller-Autor und Pulitzer-Preisträger („Die Asche meiner
Mutter“), gab in der CBS-Sendung „60
Minutes“ ein gut gehütetes Geheimnis
preis: Um ein Haar wäre die Asche seiner
1981 in New York verstorbenen Mutter Angela in einem Müllcontainer
gelandet. Nach ihrem Tod sollte McCourts schauspielernder
und trinkfester Bruder
Einladung der drei skandinavischen Königspaare zur
den Geburtsort der MutEröffnung des skandinaviter, ins irische Limerick,
schen Botschaftskompleüberführen. Zur Übergabe
xes in Berlin bat sie dartrafen sich die Brüder in
um, einen Blick in das Wileiner Kneipe. Nach einigen
ly-Brandt-Haus werfen zu
Drinks wechselten die beidürfen. Vor dem Büro von
den das Lokal und verBundeskanzler Gerhard
gaßen die Asche an der
Schröder bewunderte Rut
Bar. Erst nach ausführliBrandt besonders eine
cher Rekonstruktion des
Rainer-Fetting-Skulptur ihnächtlichen Gelages fan- Brandt, Brandt-Skulptur
res Ex-Mannes. „Die würden sie die Urne schließde ich am liebsten mitnehlich wieder – eben noch rechtzeitig. Mc- men – ein Herzstück“, bemerkte sie leise
Court: „Die Schachtel sollte gerade weg- auf norwegisch mit unübersehbar feuchgeworfen werden.“ Der Schriftsteller nahm ten Augen und wandte sich auf deutsch
den Zwischenfall mit Humor: „Wir Iren ha- an SPD-Pressesprecher Michael Donnerben keinen Respekt vor dem Tod. Er ist meyer: „Die könnte ich gut zu Hause geein großer Witz.“
brauchen.“ Doch der hatte selbst ein Auge
auf die Plastik geworfen: „Eigentlich hatRut Brandt, 79, norwegische Ex-Frau des te ich ja gehofft, dass ich das gute Stück
ehemaligen Bundeskanzlers und SPD-Vor- mal geschenkt bekomme, wenn ich in Rensitzenden Willy Brandt, schwelgte in senti- te gehe. Aber bis dahin müssen wir wohl
mentalen Erinnerungen. Am Rande einer erst mal noch ein paar Wahlen gewinnen.“
F. OSSENBRINK
Malachy, 67, die Urne in
L. BURKE / PRESS (l.); J. COOK / PEOPLE WEEKLY (r.)
Frank McCourt (u.), Bruder
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
G. HILGEMANN / ACTION PRESS
Clement, Clement-Töchter
Wolfgang Clement, 59, nordrhein-westfälischer Ministerpräsident, versucht die
deutsch-französischen Beziehungen durch
Heiratspolitik zu beleben. Als ihn während
seiner zweitägigen Parisreise vergangene
Woche bei einem Mittagessen der deutschfranzösischen Handelskammer der lothringische Weinhändler Robert Wagner, 54,
aufforderte, Sprachkenntnisse und zwischenmenschliche Beziehungen („Meine
drei Söhne sprechen fließend Deutsch und
Französisch“) zu fördern, nahm Clement
das persönlich: „Ich habe fünf Töchter,
zwei davon sind noch frei.“ Spontan bot er
an, sie „gerne mal herüberzuschicken“.
Bemerkung eines Lobbyisten am Nebentisch: „So gründete man früher Dynastien.“ Später befielen den Ministerpräsidenten offenbar Zweifel, wie der Vorschlag bei seiner Familie ankommen
würde. Er bat, Name und Alter der beiden
Töchter nicht zu nennen: „Das verzeihen
die mir nie.“
Felipe, 31, Kronprinz von Spanien und auf
FOTOS: ACTION PRESS
Brautschau, greift nach Ansicht der konservativen Madrider Tageszeitung „El
Mundo“ nicht durchweg nach Partnerinnen von unanfechtbarem Niveau. Grund
zum Naserümpfen bietet eine Liaison des
Sannum
Felipe
d e r
Thronfolgers mit dem blonden norwegischen Fotomodell Eva Sannum, 24, das
gern Büstenhalter und Schlüpfer vorführt
und kürzlich von Felipe in einem betont
unauffälligen Hotel Oslos aufgesucht wurde. Jaime Peñafiel, Hofberichterstatter des
„Mundo“, räumt zwar ein, es sei „besser,
der Prinz stößt sich als Junggeselle die Hörner ab, als wenn er dies als Ehemann tut“.
Doch übertreiben dürfe er es nicht: „Wenn
der junge Mann tausende von Kilometern
zurücklegt für ein Wochenende mit einem
Model, hat das Königspaar in Madrid
Grund zur Sorge.“ Die Norwegerin habe
„ihre Titten auf allen Laufstegen der Welt
dargeboten“ und komme darum als Gattin
des Infanten nicht in Betracht: „Eine Königin von Spanien kann keine Vergangenheit haben.“
Neil Kinnock, 57, Vizepräsident der EUKommission, ist ein Kenner männlicher
Gesprächsrituale. Bei der Eröffnung der
tschechischen Botschaft in Brüssel klingelten einige Handys im Publikum, deren Besitzer geraume Zeit brauchten, die MiniGeräte stumm zu stellen. Das provozierte
den Briten zu der hämischen Bemerkung,
einzig beim Gespräch über diese Apparate prahlten Männer damit, den kleinsten zu
haben.
Oskar Lafontaine, 56, Politrentner und
Buchautor („Das Herz schlägt links“), ist
aus der SPD ausgeschlossen worden – bislang allerdings rein virtuell. Auf der Internet-Seite der Partei wurde sein Foto und
sein Name aus der Liste der wichtigen Sozialdemokraten gestrichen. Nach seinem
Rücktritt im März hatte Lafontaine dort
noch Platz, seit kurzem aber ist der ExParteivorsitzende schlicht nicht
mehr existent, nicht mal in der
Rubrik „Historisches“. Ganz
wohl scheint den SPD-Verantwortlichen bei dem virtuellen
Bannstrahl aber nicht gewesen
zu sein: Die Seitenbetreiber haben nur den Link zu Lafontaines
Bild getilgt, es gibt also nichts
mehr, worauf ein Nutzer klicken
könnte, um ihn zu sehen. Die
eigentliche Bilddatei ist aber
immer noch vorhanden: Wer
die richtige Adresse eingibt
(www.spd.de/illus/personen/lafon.jpg), kriegt den Verfemten
in voller Bildschirmgröße zu
sehen. Ein Parteisprecher versichert, die Tilgung Lafontaines
sei „kein politischer Akt“, sondern das Werk eines übereifrigen Mitarbeiters, und
kündigte daraufhin an, demnächst eine Galerie ehemaliger
Parteivorsitzender ins Netz zu
stellen.
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9
351
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus „Sonntag aktuell“: „Wer heute seinen
80. Geburtstag feiert, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte vervielfacht.“
Zitate
Aus der „Mittelbadischen Presse“
Aus der „Main Post“
Aus der „Südwestpresse/Schwäbisches
Tagblatt“: „Wenn W. K. von Valparaíso
spricht, glänzen seine Augen. ,Das ist eine
wunderschöne Stadt‘, sagt er. Mit den Händen malt der 62-Jährige die Silhouette in
die Luft: Unten der Pazifik, der Hafen, die
Business-City und oben am Berg entlang
kleben die Armenviertel. Valparaíso, Küstenstadt im Süden Chiles – der Traum
von W. K.“
Aus dem „Reutlinger General-Anzeiger“
Aus einer Anzeige in der Zeitschrift „Die
Pirsch“
Der Fachdienst „w & v Compact“
10/1999 über eine Umfrage des Instituts
für Demoskopie Allensbach:
In der diesjährigen AWA First Class werden wieder das Kauf- und Konsumverhalten (nicht markenbezogen!) sowie die Mediennutzung von 6,42 Millionen Bundesbürgern ab 14 Jahren untersucht, die sich
durch Lebensstil, Geld und Bildung von der
großen Masse abheben (zum Vergleich:
1998 zählten die Allensbacher noch 6,6 Millionen Personen zur Crème de la crème).
Lieblingslektüre dieser Premium-Zielgruppe ist nach wie vor DER SPIEGEL, der seine Reichweite auf 22,6 Prozent (1,45 Millionen Leser) steigern konnte.
Die „FAZ“ zur Panorama-Meldung
„Affären: ,Scheck vom Zwick‘“
(Nr. 42/1999):
Bundesverkehrsminister Klimmt (SPD)
gerät im Zusammenhang mit der Finanzaffäre um den Fußballclub 1. FC Saarbrücken weiter in Bedrängnis. Nach Informationen des SPIEGEL hat der bayerische
Bäderunternehmer Johannes Zwick dem
finanziell angeschlagenen Sportverein
auf eine Bitte des damaligen saarländischen SPD-Fraktionsvorsitzenden Klimmt
100000 Mark gespendet. Klimmt wollte sich
nach Angaben des SPIEGEL zu den Vorwürfen nicht äußern, sein Sprecher nannte
sie jedoch gestern „haltlos“. Klimmt habe
viele Sponsoren angesprochen. „Es ist doch
nicht verboten, Spenden einzuholen.“
Wenn Klimmt den Zwick-Vorstand um eine
Spende gebeten hätte, hätte das weder mit
Veruntreuung noch mit Bestechlichkeit zu
tun … Gegen Klimmt ermittelt zurzeit die
Staatsanwaltschaft Koblenz … Aus der Familie Zwick nahe stehenden Anwaltskreisen hieß es gestern, eine Spende an den
Fußballverein könne Anfang der neunziger Jahre durchaus geflossen sein.
Der SPIEGEL berichtete …
Aus einem Interview der Münchner
„Abendzeitung“ mit dem Hamburger Autor und Journalisten Michael Jürgs zu seinem neuen Alzheimer-Buch auf die Frage:
Ist das Thema Alzheimer für Sie jetzt abgehakt? – „Nein, es beschäftigt mich weiter … Weil wir immer älter werden, steigt
ja auch das Risiko. Nur wer früh stirbt,
bleibt gesund.“
Aus der Wochenendausgabe der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“: „In
Nohant befand sich der Landsitz der
Schriftstellerin George Sand, die sich
noch vor Chopins Tod vom Komponisten
trennte.“
352
… in Nr.32/1999 „Höchste Not“ u. a.
über die Bemühungen des
früheren Kanzleramtsministers Bernd
Schmidbauer, die von der GuerrillaOrganisation ELN in Kolumbien
entführten Geiseln freizubekommen.
In die Gespräche um die Freilassung der
Geiseln scheint Bewegung gekommen zu
sein. Schmidbauer, der im Juni zwar nicht an
der Freilassung aller Geiseln mitwirken, jedoch zur Befreiung von 41 beitragen konnte, ist weiterhin in die schwierigen Bemühungen zur Freilassung weiterer Geiseln
eingeschaltet. Dabei hofft er, die Befreiung
aller Geiseln verwirklichen zu können.
d e r
s p i e g e l
4 3 / 1 9 9 9

Documentos relacionados