Es ist angerichtet! - dokumentarfilmforschung

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Es ist angerichtet! - dokumentarfilmforschung
Jeanette Eggert
Es ist angerichtet!
Die Entwicklung der Doku-Soap im deutschen Fernsehen
Anfänge, Entwicklungen, aktuelle Tendenzen
Die deutsche Doku-Soap-Landschaft ist sehr divers und einem stetigen Wandel unterzogen. Es gibt
keine einheitliche Definition von Doku-Soaps. Am ehesten treffen Beschreibungen wie diese zu:
Doku-Soaps sind die bewusst gesuchte Verbindung von dokumentarischem Erzählen und serieller
Dramaturgie, wie sie in der fiktionalen Fernsehserie entwickelt wurde. Sie konzentriert sich nicht, wie
oft der klassische Dokumentarfilm, auf eine Person, sondern auf mehrere Personen. Die Geschichten
werden häufig parallel montiert und erzählt bis hin zu patchworkartigen Erzählweisen. Die einzelnen
Handlungsstränge werden in dramaturgische Spannungsbögen gesetzt. Die Geschichten folgen häufig
einer Ereignisdramaturgie, einer Abfolge von Höhepunkten. Neben der Wichtigkeit von Einheit von
Zeit und/oder Ort spielen vor allen Dingen Emotionalisierung und Zuspitzung eine wichtige Rolle
(Fritz Wolf: Alles Doku – oder was?, Düsseldorf 2003).
Deutsche Fernsehredaktionen lassen sich vielfach vom angloamerikanischen Fernsehmarkt mit
seinen schnellen Formatentwicklungen inspirieren und beeinflussen. Die deutsche Doku-SoapLandschaft geht oft direkt auf britische Vorbilder zurück. Doch nur in Einzelfällen wurden
Direktankäufe getätigt, die außerdem hierzulande keine große Publikumsresonanz fanden. Ein
Beispiel dafür ist das britische Original "The Cruise", gesendet von PREMIERE und VOX unter dem
deutschen Titel "Die Kreuzfahrt". PREMIERE hatte 1994 schon einmal einen frühen Versuch einer
Real-Life-Doku-Soap nach amerikanischem Vorbild gestartet – später perfektioniert durch die
Staffelserie "Big Brother", produziert und in die ganze Welt exportiert durch die niederländische
Produktionsfirma Endemol. Die 14teilige Serie "Das wahre Leben" zeigte die Erlebnisse von
gecasteten Protogonisten, die meiste Zeit den Kameras ausgesetzt, in einer für drei Monate
zusammengewürfelten Wohngemeinschaft. Dafür tauchte ebenfalls schon 1994 der Name DokuSoap auf, geriet aber in Deutschland wieder aus dem Blickfeld.
Erst als das Format auf nationale und regionale Verhältnisse, Themen und Menschen adaptiert
wurde, zeichneten sich Quotenerfolge und Zuschauerakzeptanz ab. Die deutschen Sender gingen
verschiedene Wege und machten dabei sehr unterschiedliche Erfahrungen. Die öffentlich-rechtlichen
Sender versuchten sich stärker an Eigenentwicklungen wie das ZDF ("OP. Schicksale im Klinikum")
und ARTE (z.B. "Geburtsstation", "Cheerleader Stories"). Sie scheuten auch nicht vor längeren Drehund Begleitungsphasen und höheren Herstellungskosten zurück – im Vergleich zu anderen
dokumentarischen Formaten ist die Doku-Soap aufwändiger und kostenintensiver zu produzieren.
Kostengünstig ist die Doku-Soap nur im Vergleich zu fiktionalen Serienformaten. Das ZDF bezeichnete
die von ihm entwickelten Sendungen allerdings nie als Doku-Soap, sondern als dokumentarische
Filmerzählung.
ARTE war der erste Sender, der ein eigenes Sendeplatzschema für Doku-Soaps entwickelte und über
mehrere Jahre lang dieses Format kontinuierlich in Auftrag gab, mit sehr guten bis befriedigenden
Quotenerfolgen. Seit 2008 halten die Programmverantwortlichen das Format für ausgereizt und
setzten es ab. Gelegentlich gibt es Wiederholungen einzelner Doku-Soaps auf unterschiedlichen
Sendeplätzen. Seit 2007 hatte nur die Weiterentwicklung des Formats mit einem so genannten
presenter anhaltenden Erfolg und eine gute Zuschauerakzeptanz: mehrere Staffeln rund um "Die
Kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener".
RTL2 war einer der ersten Privatsender, die schon früh hellhörig wurden und schnell in Produktion
gingen. Die Programmverantwortlichen machten bei ihrem Publikum sehr gute Erfahrungen mit dem
Doku-Soap-Format, gaben sofort eigene Entwicklungen in Auftrag ("Reeperbahn" u.a.) und landeten
klare Quotenerfolge. RTL2 hat mittlerweile versucht, alle möglichen und unmöglichen Themen und
Protagonisten in ein Doku-Soap-Format umzuwandeln und manchmal einfach hinein zu pressen,
vielfach inspiriert auch durch den angloamerikanischen Markt und nicht immer mit der nötigen
Lizenz oder dem nötigen Feingefühl ausgestattet. Mit der Sendung "Frauentausch" schuf sich der
Sender ein eigenes Markenzeichen und über viele Jahre bestimmte das Format Doku-Soap in
sämtlichen Ausrichtungen das Image des Senders. Aktuell laufen immer noch bis zu 20 wechselnde
Doku-Soaps im Programm allerdings mit schwankenden Quotenerfolgen. Was nicht funktioniert, wird
sofort abgesetzt.
VOX orientierte sich genau wie PREMIERE am Anfang an den britischen Originalen und strahlte "The
Cruise – Die Kreuzfahrt" und auch "Jailbirds – Knastschwestern" in der deutschen Voice-Over-Fassung
mit mäßigen Quotenerfolg aus. Danach bestimmte bei diesem Format Zurückhaltung die
Senderpolitik. Erst ab 2002 und immer mit Blick auf die Konkurrenz fing VOX an, sich wieder in diese
Richtung zu engagieren und strahlte Eigenentwicklungen und Adaptionen aus, die zunehmend ihr
Publikum fanden und Quotenerfolge einfuhren. Mit den Themen rund ums Wohnen, Haus,
Renovieren, Hobbies und Garten hatte der Sender dann zwischen 2003 und 2008 quasi ein
Patentrezept für sich gefunden. Ab 2006 kamen Doku-Soap-Formate rund ums Thema
Auswanderung hinzu, die dem Sender eine großes Stammpublikum verschafften. VOX
experimentierte viel mit den Sendeplätzen und platzierte Doku-Soaps auch erfolgreich in der PrimeTime. Dann kehrte eine Sättigung beim Publikum ein, was zu mäßigen Einschaltquoten führte. 2010
laufen aber immer noch 10 verschiedene Doku-Soaps im Nachmittagsprogramm, jedoch keine mehr
zur Prime Time und in der Late Prime Time aktuell nur eine.
RTL wollte ebenfalls schnell vom britischen Erfolg profitieren und drehte 1998 sofort eine Adaption
von "The Cruise". Das deutsche Urlauberschiff "Aida" wurde "Das Clubschiff" mit ursprünglich
geplanten sechs Folgen. Es fuhr aber für Senderverhältnisse so schlechte Quoten ein, dass es auf vier
Folgen eingedampft und schnell abgesetzt wurde. Danach hielt sich RTL mit diesem Format erst
einmal zurück, ließ aber die Konkurrenz nicht aus den Augen. Gerhard Zeiler, damaliger RTL-Chef:
"Ich glaube 1000-prozentig, dass das Format in Deutschland Zukunft hat". Der Sender setzte ab 2002
auf Seriöses im Verbund mit Lebensberatung. Erfolgreich waren vor allen Dingen solche Sendungen
wie "Mein Baby" und "Die Kinderärzte". Ab 2004 begannen unter anderem die überaus erfolgreichen
Doku-Soap-Coaching-Formate wie "Die Super-Nanny", ab 2007 "Raus aus den Schulden". 2005
startete die sehr erfolgreiche Mischung aus Castingshow und Doku-Soap „Bauer sucht Frau“ und zog
zahlreiche Weiterentwicklungen nach sich. Seit 2008 läuft vormittags und nachmittags die Doku-Soap
"Mitten im Leben" – echte Alltagsgeschichten mit echten Protagonisten. Anfang 2009 wurden einige
Episoden gescripted (ausgedacht und aufgeschrieben) und mit Laiendarstellern besetzt. Im Abspann
erschien kurz und kleingedruckt: Nach einer wahren Geschichte. Die handelnden Personen sind frei
erfunden. Das war der Start für "scripted reality" bei RTL.
Damit wurde das Doku-Soap-Format grundlegend neu definiert und aufgestellt. Die Gründe dafür
sind mehrschichtig: Ab einem bestimmten Zeitpunkt galt die Bundesrepublik aufgrund der Fülle der
dokumentarischen Formate und dem unterschiedlichen Umgang mit der dokumentarischen Realität
durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen und das Privatfernsehen als abgefilmt, abgeschöpft und
durchgecastet. Mittlerweile stehen viele Menschen Dreharbeiten und der dokumentarisch-filmischen
Verarbeitung ihrer Geschichte skeptisch gegenüber. Bei vielen skandalösen, sehr intimen oder
medientauglichen Alltagsmomenten ist die Kamera oft nicht dabei. Um diese Geschichten (z.B.
Teenager vergewaltigt und geschwängert vom eigenen Vater) doch noch erzählen zu können, hat
man sich entschlossen, Laiendarsteller einzusetzen und die Episoden als "scripted reality"
darzustellen. Die Mehrheit der Nachmittagsformate bei RTL besteht aktuell aus Scripted Reality –
"Familien im Brennpunkt", "Verdachtsfälle", "Die Schulermittler" – und erreichen fast täglich
sensationelle Marktanteile zwischen 20 und 30 % in der werberelevanten Zielgruppe. Damit
katapultierte sich RTL wieder als Marktführer an die Spitze aller Sender.
SAT1 orientierte sich ähnlich wie RTL an den erfolgreichsten britischen Doku-Soaps ("Driving School")
und produzierte 1998 "Die Fahrschule" mit dem Zusatz "Die neue Comedy-Serie". Zu jener Zeit wollte
der Sender sich als der Comedy-Sender auf dem Fernsehmarkt etablieren. Weitere Fortsetzungen
und Entwicklungen in dieser und anderer Richtung folgten sowie Versuche, sich am Boom der BabyDoku-Soaps zu beteiligen. Es war ihnen allen aber nur mäßiger Erfolg beschieden, so dass SAT1 sein
Engagement im Bereich Doku-Soap sehr zurückfuhr. Nur in einem Bereich betrat der Sender ab 2003
absolutes Neuland und landete lange Zeit unangetastete Quotenerfolge. So genannten Pseudo-KrimiDoku-Soaps oder Dokutainment-Ermittler-Soaps ("Lenßen & Partner", "Niedrig & Kuhnt", "K11 –
Kommissare im Einsatz") vermittelten einen kleinen Vorgeschmack auf "scripted reality" der späteren
Jahre. Echte Rechtsanwälte und Polizisten ermitteln in frei erfunden, realitätsnahen Fällen, gefilmt in
einem pseudodokumentarischen Stil. Trotz anhaltender Quotenerfolge fielen diese Serien bis auf
eine ("Niedrig & Kuhnt") im Herbst 2009 neuen Programmplänen und Umstrukturierungen zum
Opfer. Weitere Experimente, neue Doku-Soap-Formate in der Prime-Time ab Sommer 2010 zu
etablieren, scheiterten so kläglich, dass sich SAT1 wohl eher aus der Doku-Soap-Format-Landschaft
zurückziehen wird, um sich anderen Experimenten oder bewährtem Fiktionalen zu widmen.
PRO7 veranlasste in den Aufbruchsjahren der Doku-Soap zunächst einen Marktforschungstest. Die
Prognosen ermutigten den Sender nicht, eigene Projekte in Angriff zu nehmen. Ein Pilotprojekt
wurde doch wieder als Reportage versendet. Erst 2005 klinkte sich PRO7 in die Landschaft mit der
Sendung "We are Family" ein, die dem Sender eine langanhaltende Erfolgsgeschichte bescherte und
nur durch die RTL-Offensive mit der ähnlichen Sendung "Mitten im Leben" und den Umschwung auf
"scripted reality" gedämpft wurde. Ab 2005 brachte PRO7 mit so genannten Celebrity-Doku-Soaps
("Sarah & Marc in Love"), ein in Deutschland bisher beispielloses Promi-Fernsehen, ein weiteres
Markenzeichen auf den Bildschirm und erntete gute bis sehr gute Quotenerfolge und viel mediale
Aufmerksamkeit. Der Sender versuchte nach einigen Fortsetzungsstaffeln weitere Entwicklungen in
diesem Bereich und den Aufbau hauseigener Promis, was jedoch nur von mäßigem Erfolg gekrönt
war. Mit Teenager-Themen ("U20 – Deutschland Deine Teenies") im Doku-Soap-Stil platzierte PRO7
2008 noch einmal eine erfolgreiche Serie mit bis zu 18 % Marktanteil bei der werberelevanten
Zielgruppe. 2010 versuchte sich der Sender ebenfalls an "scripted reality" und testete je eine Woche
lang fünf verschiedene gescriptete Doku-Soaps-Formate, um RTL Paroli zu bieten. Fazit dieses Tests:
der Sender zeigte kein Stehvermögen, setzte auf kurzfristige Erfolge. Wenn die nicht eintraten,
wurde sofort abgesetzt. Einzig die Sendung "We are Family" läuft momentan noch im
Nachmittagsprogramm, ansonsten konzentriert sich PRO7 wieder eher auf seine fiktionalen
Programme und Castingshows.
Die ARD engagierte sich als einer der öffentlich-rechtlichen Hauptsender erst einmal nicht bei der
Einführung von Doku-Soaps, ließ aber seine Tochteranstalten gewähren und ausprobieren. Das war
schon früher so. Denn auch wenn die aktuellen Doku-Soap-Trends überwiegend vom
angloamerikanischen Markt herübergeschwappt kommen, so gab es doch durchaus in der deutschen
Fernsehlandschaft schon früher Versuche mit dokumentarischen Formen zu experimentieren. Ein
Bespiel dafür sind "Die Fussbroichs" (WDR) – tituliert als "die einzig wahre Familienserie". Zwischen
1990 und 2001 wurden 17 Staffeln mit insgesamt 100 Folgen produziert. Ende der 90er Jahren
nahmen die dritten Programme den erneuten Anstoß, dokumentarisches Material mit fiktionalen
Strategien zu bearbeiten, auf und versuchten sich entweder in regionalen Selbstversuchen (MDR
"Heißer Strand – Die Doku-Soap von der Ostsee", "Der Kreuzchor – Engel, Bengel und Musik") oder
Koproduktionen mit ARTE (mit SFB "Geburtsstation", mit WDR "Abnehmen in Essen") mit
wechselnden Erfolgen und Grimme-Preisen.
Der Hauptsender verfolgte unterdessen die internationalen Formatentwicklungen auf dem
angloamerikanischen Markt (living history) und klinkte sich 2001 mit einer Adaption ("Das
Schwarzwaldhaus 1902") nach einem britischem Vorbild ("The 1900 House") wieder ein. Das Konzept
der Verquickung von Doku-Soap-Elementen und Informationselementen plus Zeitreise ging auf. Der
von der Berliner Filmproduktion Zero Film entwickelte Vierteiler "Das Schwarzwaldhaus 1902" wurde
ein Riesenerfolg. Nach mehreren Zeitreisen in Gutshäuser 1900, in die Sommerfrische 1927, mit dem
Auswandererschiff 1855 nach Amerika und die Bräuteschule von 1958 reichten den
Programmverantwortlichen die stetig sinkenden Quotenanteile nicht mehr aus. 2008 hatte auch
diese Formatweiterentwicklung in der ARD ausgedient. Als Dauerquotenbrenner erwiesen sich
dagegen die anfänglich zögerlich eingesetzten Zoo- und Tierpfleger-Doku-Soaps. Nachdem der MDR
als Vorreiter ab 2003 damit stetig wachsende Quoten einfuhr, sind diese Art Doku-Soap und seine
vielen Wiederholungen mittlerweile fester Bestandteil mit ungebrochenem Erfolg auf allen dritten
Programmen und dem Hauptsender ARD. Andere aktuelle Versuche, eine Doku-Soap à la "Das
Traumschiff" einzuführen, bewegen sich eher auf unsicherem Quotenterrain.
Interessant und spannend wird die weitere Entwicklung der Doku-Soap und sämtlicher Ableger auch
in der folgenden Zeit bleiben, vor allen Dingen seitdem RTL den Startschuss für "scripted reality"
gegeben hat und möglichst viele Sender ebenfalls von dieser Quotenerfolgsmaschine profitieren
wollen. Noch wehren sich die öffentlich-rechtlichen Sender mit Händen und Füßen und zahlreichen
Beteuerungen auf dieser Welle nicht mit reiten zu wollen. Aber wie inzwischen bekannt geworden
ist, existiert im NDR ein internes Strategiepaper "Scripted Reality – eine Chance für den NDR?"
(Veröffentlicht auf der Internet-Seite der AG DOK), in dem der zukünftige Einsatz dieser Formate
analysiert und sondiert wird – übrigens mit den gleichen Filmproduktionsfirmen, die diese Formate
für RTL herstellen.
Insgesamt gesehen bewahrheitet sich nun vieles von den Gedankengängen und Thesen, die der
Journalist Fritz Wolf auf der Veranstaltung DOKVILLE 2005 in Ludwigsburg (Fritz Wolf: Trends und
Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen) präsentierte. Die Doku-Soap an sich und
in ihren diversen Schattierungen ist ein Erfolgsgeschichte, wenn auch eine wechselnde und in immer
kürzeren Zeitintervallen auftretende. Die Tendenz, seriell erzählbare dokumentarische Geschichten
für verschiedene Programmformate hat sich bestätigt und noch verstärkt. Die Privaten pflegen
stärker bestimmte Themenkonjunkturen und lassen sich zu vielfältigen Experimenten hinreißen. Die
Öffentlich-Rechtlichen stochern eher im Nebel der Zufälle herum und betonen immer noch ihren
journalistischen Qualitätsanspruch, schielen jedoch heftig auf die Quotenerfolgsserien der Privaten.
Alle Sender schreiten weiter auf dem Pfade der Formatierung voran. Die Formatierung geht einher
mit der Entwicklung von hybriden Formaten, mit der immer neuen Kombination von Genres und
Spielformen. Die Ausdifferenzierung mit allen Folgeerscheinungen nimmt dadurch weiter zu. Es
werden in immer höherem Tempo als zuvor Hybridformate entwickelt, diverse Misch- und
Variationsformen ausprobiert. Auch einige neue Formate sind kreiert worden (z.B. Living History,
Coaching-Formate). Jedes neue und erfolgsversprechende Format zieht sofort Nachahmer nach sich.
Hybridformen mit neuen Erzählformen entstehen deshalb, um immer mehr neu erzählbares Terrain
zu erobern.
Wolf erwähnte damals in seinen Ausführungen allerdings die nun so dominierenden und überaus
erfolgreichen "gescripteten Dokus" nur am Rande. Doch den Zwiespalt, den diese Formate
hervorrufen werden, formulierte er bereits vorausahnend und sehr treffend. Das Fernsehen befindet
sich in einem stetigen kulturellen Prozess der Veränderung, in dem zwischen dem Medium und den
Zuschauern neu ausgehandelt wird, was man für real halten und für real annehmen kann und will.
Hinter der Frage, was denn fiktional sei und was nicht, steckt die viel wichtigere Frage: Was ist noch
glaubhaft, was nicht? Die Grenzen zwischen real und fiktional, zwischen Finden und Erfinden sind
durch "scripted reality" nun erneut ins Rutschen gekommen. Der Spielraum zwischen
dokumentarischer Beobachtung und Laien- und Rollenspiel der Protagonisten war immer schon
fließend oder zumindestens dehnbar. Die Haltung des Dokumentaristen war oft entscheidend, dem
Zuschauer wertvolle Hinweise zu geben. Bei den nun aktuell gescripteten Formaten werden von
Seiten des Mediums die Codes für die Unterscheidung durch die Zuschauer laufend neu definiert.
Konkrete Hinweise finden nicht mehr statt. Bevorzugt wird eher eine Verschleierungstaktik:
Abspänne mit den entscheidenden Hinweisen "Nach einer wahren Geschichte. Die handelnden
Personen sind frei erfunden" sind so klein geschrieben und kurz eingeblendet, dass sie schlicht nicht
wahrnehmbar sind. In zahlreichen Foren und Chats diskutieren Zuschauer teilweise heftig und mit
wechselnden Glaubensstrategien darüber, was denn nun wahr und authentisch, was gestellt und
inszeniert sei.
Wolf formulierte weiter, dass es nicht mehr allein um den Gegensatz von Realismus und Fantastik,
von Beobachtung und Imagination, wie er die Filmwahrnehmung und die Filmgeschichtsschreibung
von Anfang an begleitet. Vielmehr geht es auch darum, dass das Fernsehen als Leitmedium der
westlichen Gesellschaften die Intentionen der Medienmacher und die Wahrnehmung der Zuschauer
in Richtung Fiktion immer wieder verschiebt, ja geradezu drängt. Es überzieht nun gerade auch die
nicht-fiktionalen Arbeiten, dokumentarische oder journalistische Sendungen, feuilletonistische oder
auch ereignisbezogene, mit einem Firnis von Fiktionalisierungen. Ein Netzwerk von Fiktionen tut sich
auf – ausgespannt auf verschiedenen Ebenen. Die treibenden Kräfte, die das Netzwerk der Fiktionen
spinnen, sind die zunehmende Formatierung und die Strategien der medialen Emotionalisierung.
Emotionen anzuregen und die Erregungszustände dann zu halten und ständig neu zu füttern, gelten
als probates Mittel, Zuschauer bei der Stange zu halten oder wenigstens vom Zappen abzuhalten. Mit
allen möglichen Strategien, vom permanenten Gefühlskitzel bis zu visuellen Attraktionen, versuchen
die Medienmacher, die Zuschauer vor den Bildschirmen zu halten. Die Techniken, mit Emotionen zu
spielen und sie zu nutzen, Spannung zu erzeugen, Spannungsbögen zu ziehen, Zuschauer mit
optischen Sensationen zu bannen, sind vorwiegend in den fiktionalen Genres entwickelt worden.
Die Sender, die Produktionsfirmen und die Filmemacher haben sich bei den Entwicklungen und
Hybridisierungen der Doku-Soaps im fiktionalen Reservoir und bei noch vielen anderen
Formatbereichen großzügig bedient. Die Zuschauer haben es ihnen mit wechselndem Erfolg und
mehr oder minder treuer Gefolgschaft gedankt. Momentan und zum wiederholten Male sind wir
wieder dabei angelangt, was des Menschen liebste Beschäftigung seit jeher ist: Geschichten erzählen
oder Geschichten zuhören oder zusehen – ob am Lagerfeuer oder im Fernsehen. Dafür ist jedes
Mittel recht und sollte billig sein. Denn es geht auch und gerade um die Kosten dafür. Fiktionale
Sendungen, die sich viel mehr erlauben können beim Geschichtenerzählen als dokumentarische, aber
dokumentarisch daher kommen, besetzt mit kostengünstigen Laiendarstellern, gedreht mit einem
Minimum an Aufwand und Technik und Personal sind billiger als alle Soap Operas, Telenovelas und
Krimi-Serien der Welt. Denn letztendlich geht es mittlerweile allen Sendern – egal ob
privatwirtschaftlich oder öffentlich-rechtlich – darum, wie sich NDR-Programmchef Frank Beckmann
2010 auf dem MainzerMedienDisput äußerte, "(Programm-)Strecken zu füllen" und dafür müssten
Geschichten auf günstigem Produktionslevel erzählt werden können.
So unterläuft das Dokumentarische das Fiktionale und das Fiktionale das Dokumentarische. Die
Geschichte und Entwicklung der Doku-Soap in Deutschland ist dafür geradezu exemplarisch.
Literaturhinweise:
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Fritz Wolf: Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im
Fernsehen, Düsseldorf 2003.
Veröffentlicht auf der Internet-Seite der AG DOK:
http://www.agdok.de/index.php?page=news&content=hpg_detail&id=127389&language=de
_DE.
Fritz Wolf: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen. In: Haus
des Dokumentarfilms (Hg.): DOKVILLE 2005. Stuttgart 2005, S. 16-23. In der Broschüre gibt es
auch weitere Artikel zum Doku-Soap-Format, beispielsweise von den SWR-Redakteurinnen
Martina Zöllner, Juliane Endres und Stefanie Groß, der Arte-Redakteurin Kornelia Theune,
der Unterhaltungschefin von RTL 2 Katja Hofem-Best und dem WDR-Redakteur Wolfgang
Landgraeber.
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