Protokoll - Buchwissenschaft

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Protokoll - Buchwissenschaft
Vortragsreihe „Quo vadis, Kinderbuch? – Gegenwart und Zukunft der Literatur für junge Leser“
LMU München, Studiengang Buchwissenschaft
WS 2008/09
Datum: 25. November 2008
Zeit: 18–20 Uhr
Ort: Schellingstraße 3, RG, Raum 306
Protokollantinnen: Susanne Hirtreiter (Teil 1) und Stephanie Brecht (Teil 2)
Vortragender: Dr. Bernd Dolle-Weinkauff (Kustos des Instituts für Jugendbuchforschung,
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Vorsitzender der Gesellschaft für
Kinder- und Jugendliteraturforschung in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz
[GKJF])
Thema: Manga und ihr Einfluss auf junge Leser in Deutschland
Dr. Dolle Weinkauff beginnt seinen Vortrag über Manga und deren Einfluss auf junge Leser
mit einer Zusammenfassung der Historie der Comics und der Manga, die als eine Spielart der
Comics bezeichnet werden. Im Folgenden gibt Dr. Dolle-Weinkauff einen Einblick in die
spannende Welt der Manga und stellt anhand einer empirischen Studie die Leserschaft und
deren Lesegewohnheiten vor.
Comics entstanden in den vergangenen 110 Jahren in verschiedenen kulturellen Zentren der
Welt und verbreiteten sich von dort aus. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab
es in den USA die sogenannten Comic-Strips, die regelmäßig in Tages- oder Wochenzeitungen erschienen. Nach und nach bildeten sich Gattungen wie funny comics oder
adventure comics. Die amerikanischen Comics beherrschten den Comic-Markt bis zur Mitte
des 20. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit erschienen vermehrt französische Comics auf dem Markt,
doch auch in anderen europäischen Ländern – z.B. in Italien – entstanden Bandes desinées
oder fumetti.
Seit ca. 10 Jahren hält nun eine Spielart des Comics – der Manga – Einzug in Europa und vor
allem auch in Deutschland. Der Manga kommt aus Japan, spielt hierzulande eine immer
größere Rolle und ‚verdrängt‘ in einem gewissen Sinn die herkömmlichen Formen des
Comics.
18:21: Folie 1 (Cover deutschsprachiger Manga)
Für die wachsende Beliebtheit der Manga gibt es einige Gründe:
Die Entwicklung der Comics zeigt, dass diese zunächst als Comic-Strip, später als ComicBook oder Comic-Heft publiziert wurden. Manga werden in Japan – zum Testen neuer Serien
– in großen ‚telefonbuchstarken‘ Magazinen publiziert. Sobald sich ein Held oder eine Serie
etablieren, werden die Manga in sogenannten Tankobon (Taschenbüchern) veröffentlicht.
Während Comics häufig akkulturiert werden, d.h. mit einem deutschen Titel und deutschen
Namen der Helden versehen werden, achtet man bei den Manga darauf, die kulturellen
Besonderheiten dieser Publikationsform beizubehalten. Die Titel sind meist japanisch oder
englisch, die Mangabücher werden von rechts nach links und von oben nach unten gelesen,
entsprechen also der asiatischen Leserichtung. Diese Besonderheiten begründen u.a. den
starken Popularitätszuwachs der Manga in Deutschland. Manga mit deutschem Titel und
westlicher Leserichtung lehnt die Zielgruppe ab.
18:28: Folie 2 (Manga mit deutschsprachigen Titeln)
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Deutschsprachige Manga-Zeichner orientieren sich in Zeichenstil, Leserichtung und
Erzählstoffen an den japanischen Manga und heben sich deutlich von den herkömmlichen,
westlichen Comics ab. Momentan halten Manga einen Marktanteil von 70 % am gesamten
Comicmarkt in Deutschland, insgesamt gingen seit 1997 65 Millionen Manga in Deutschland
über die Ladentheke.
18:30h: Folie 3 (Textsorten)
Manga werden vorrangig nach Adressatengruppen unterschieden, darunter können pro
Adressatengruppe weitere Genres wie Spannung, Abenteuer oder Liebe ausgemacht werden.
Shôjô-Manga richten sich an Mädchen, während Shônen-Manga männliche Leser ansprechen.
Dolle-Weinkauff weist darauf hin, dass sich Boys Love-Manga nicht an Homosexuelle männliche Jugendliche, sondern vor allem an weibliche Leser wenden.
18:32: Folie 4 (Full Moon S. 24/23)
80% der in Deutschland gelesenen Manga haben fantastische Stoffe zum Inhalt. Meist
verknüpfen die Autoren aber auch den unterhaltsamen Inhalt mit einer Lehre oder einem
Ratschlag, typische Probleme der Zielgruppe werden in den Geschichten thematisiert. Diese
realistischen Elemente beschäftigen die jungen Leser und beeinflussen sie. In diesem
Zusammenhang spricht Dolle-Weinkauff von einer neuen Komplexität der Manga, sie sind in
narrativer Hinsicht mehrschichtiger als herkömmliche Comics und gerade deshalb so beliebt.
Dolle-Weinkauff schildert im Folgenden den Aufbau und die Besonderheiten von Manga im
Vergleich zu Comics. Dazu verwendet er eine kurze Episode aus ‚Fullmoon wo Sagashite‘,
einem japanischen Manga von Arina Tanemura. Der Hauptcharakter Mitsuki (12 Jahre) ist
todkrank und wird von zwei Todesgeistern in eine gesunde 16-jährige verwandelt, um sich
ihren Lebenstraum – Sängerin zu werden – erfüllen zu können. Dolle-Weinkauff zeigt anhand
dieser kurzen Zusammenfassung, dass Japaner ihren Geschichten einen anderen Wertekontext
zugrunde legen als die deutschen Autoren. Oft zeigt sich in den Erzählungen der sogenannte
Ganbarismus, der Drang, immer siegen zu müssen und der Druck, immer alles geben zu
müssen.
Comics – und auch Manga – sind Sequenzen von Einzelbildern, die bei der Rezeption
sinnhaft zu einer Erzählung verbunden werden. Dolle-Weinkauff analysiert im Folgenden
eine Bildsequenz von zwei Seiten.
18:40: Folie 5 (Panel-Nahaufnahme)
Der Hauptcharakter Mitsuki wird – eingerahmt von Spitzenborten und Rosen – gezeigt, das
bedeutet der Charakter ist überglücklich. Die genretypischen Symbole drücken dabei die
Stimmung und die Atmosphäre innerhalb des Panels aus. In der Abbildung links oben sieht
man das Mädchen nach der Verwandlung vor einem Spiegel, sie ist überrascht. In der
Abbildung links unten wird die Hauptperson blond – statt dunkelhaarig – dargestellt, dies
stellt eine Spielerei des Manga dar, die für westliche Leser anfangs gewöhnungsbedürftig ist:
Eingeführte Figuren erscheinen z.T. in veränderter Gestalt oder mit abweichenden
Haarfarben.
18:48: Folie 6 (Vergrößerung des ‚Hand-Panels‘)
Die nach unten geneigte Hand des Todesgeistes symbolisiert hier die abgeschlossene
Verwandlung Mitsukis.
18:49: Folie 7 (S. 24)
Auf der rechten Seite sind 3 Panels untereinander angeordnet, hier wird die Geschichte in
östlicher Leserichtung fortgesetzt. Links daneben findet man eine Textkolumne, die DolleWeinkauff im Anschluss erklärt.
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Im ersten Panel rechts oben sieht man Sprechblasen ohne Dorn, mit dicken, gezackten
Rändern. Hier wird gezeigt, dass sich die Lautstärke der Äußerung erhöht. Gezeichnete
Punkte, die um die Figuren angeordnet sind, werden nicht gegenständlich, sondern rein
symbolisch rezipiert und vermitteln die Stimmung, die Atmosphäre innerhalb des Panels.
18:54: Folie 8 (Feinstruktur)
Der weibliche Todesengel steht im Mittelpunkt des Panels, die beiden Sprechblasen ohne
Dorn werden aber Mitsuki, die nicht im Bild zu sehen ist, zugeordnet. Dieses Verständnis
wird vom Rezipienten vorausgesetzt. Emoticons in den Blasen zeigen dem Leser, mit welcher
Stimme, in welchem Tonfall gesprochen wird. Die Stimmung, in der sich die gezeigte Figur
befindet, wird durch Gewitterwolken im Panelhintergrund und durch die Onomatopöie
„GRRRR“ versinnbildlicht.
18:58: Folie 9 (Vergrößerung Panel 3)
Der abgebildete Textkasten ohne Text zeigt die Ruhe, kurz bevor der anstehende Streit der
beiden weiblichen Figuren ausbricht. Das gesamte Panel stellt ein retardierendes Moment im
Erzählverlauf dar und bekommt dadurch eine narrative Funktion.
18:59: Folie 10 (Textkolumne)
Die Textkolumne ist gänzlich von der Erzählung gelöst, hier wendet sich die Autorin direkt an
ihre Leser. Dies kann als Advertising in eigener Sache bezeichnet werden, die Leser freuen
sich über die persönliche Ansprache durch die Autorin. Diese Textkolumnen finden sich
ausschließlich in den Manga-Taschenbüchern, im Original-Magazin steht an dieser Stelle ein
Werbeblock.
Damit schließt Dolle-Weinkauff die exemplarische Feinanalyse dieser Panel-Sequenz ab und
fasst die Neuerungen der Manga gegenüber der Comics folgendermaßen zusammen: Manga
beinhalten eine komplexere Erzählung, sie erweitern den Zeichen(folgen)schatz und bringen
den Rezipienten dazu, sich stärker auf die Geschichte einzulassen. Dolle-Weinkauff spricht
hier von der „Subtilität des Lesevorgangs“.
19:05 Uhr Folie 11 (Fragebogen)
19:06 Uhr Folie 12 (Fragekategorien)
Im Jahr 2005 wird von Sozioland eine Befragung im Internet durchgeführt. An der Umfrage
nehmen 3.500 Personen teil. Voraussetzung ist das Mindestalter von 18 Jahren. Die
eigentliche Manga-Kerngruppe im Alter von 13–18 Jahren wird dabei allerdings nicht erfasst.
Besonders gespannt ist man dabei auf die Reflexionen der Generation der Manga-Boomer.
19:10 Uhr Folie 13 (Respondents)
1. These: Die Einführung von Mangas hat zu einem revolutionären Verhältnis im
Comicbuchmarkt geführt.
80% der weiblichen und 20% der männlichen deutschen Leser stimmen zu.
43,2% der weiblichen und 56,8% der männlichen französischen Leser stimmen zu.
43,4% der weiblichen und 56,6% der männlichen italienischen Leser stimmen zu.
Bis zu dieser Befragung geht man davon aus, dass weibliche Manga-Leser eine eher geringe
Rolle spielen. Das Ergebnis bringt jedoch eine völlig neue Komponente der MangaLeserschaft hervor: Die Mehrheit der Leser sind Mädchen.
Auf die Frage, die nur an weibliche Leser gerichtet wurde, ob sie nur Shōjo-Mangas lesen,
antworten 81% mit „Nein, auch andere“. Bis jetzt ist nicht bekannt, dass bei Mädchen auch
Interesse an den Themen Horror, Gewalt und Erotik besteht. Obwohl Shōjo-Mangas eine
große Rolle spielen, sind sie nicht dominierend im Buchhandel.
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Auf die Frage, die nur an männliche Leser gerichtet wurde, ob sie nur Shōjen-Mangas lesen,
antworten die Jungen, sie würden auch Shōjo-Mangas lesen. Jungen empfinden die Autoren
der Mädchen-Mangas als gleichwertig und sind bereit, sich auch mit anderen Themen zu
beschäftigen.
2. These: Mangas sind ein Element der Jugendkultur und dienen als Abgrenzung zur
Erwachsenenwelt.
19:16 Uhr Folie 14 (Alter, Ausbildung, Berufstätigkeit)
Das Durchschnittsalter der Manga-Fans beträgt 20,5 Jahre. Dabei ist zu beachten, dass 95%
der Befragten jünger sind als 26 Jahre.
Mangas gelten als typisch jugendkulturelles Syndrom. Die ungewohnte Struktur dient zur
Markierung der eigenen Identität, der Abgrenzung zur Kindheit, ebenso wie zur Adoleszenz.
Zusätzlich bieten sich für Manga-Fans weitere jugendkulturelle Events wie Manga Weblogs,
Manga Convention und Cosplay.
3. These: Mangas sind Bestandteil kultureller Lesekultur.
19:19 Uhr Folie 15 (Wann haben Sie angefangen, Mangas zu lesen?)
19:20 Uhr Folie 16 (Wie häufig lesen Sie Mangas?)
28% der Befragten lesen jeden Tag.
30% der Befragten lesen 3-4mal pro Woche.
Hervorzuheben ist hier, dass es sich bei der Generation, von der man dachte, sie würde sich
dem Lesen entziehen, jedoch um eifrige Leser handelt. Dabei würden 85% der Befragten
öfters lesen, wenn sie die Zeit dazu hätten. 85% der Manga-Leser wären zudem bereit, mehr
Geld für Mangas auszugeben, wenn sie mehr Geld zur Verfügung hätten. 58% der Fans lesen
Mangas in englischer Sprache. 20% der Leser versuchen sich an Mangas in japanischer
Sprache.
Mangas stellen eine spezielle Form von Comics dar. Die Leserschaft fällt jedoch nicht
zusammen.
82% lesen wenig bis keine Comics.
82% lesen parallel keine Comics.
Die Schnittmenge beträgt also nur wenige 20%, was bedeutet, dass neue Leserschichten
gefunden wurden. Es handelt sich bei Comics und Mangas um k e i n e Ko n k u r r e n z produkte.
Auf die Frage, wie die Leser empfinden würden, wenn sie keine Mangas mehr lesen könnten,
antworten 82%, sie seien frustriert, 5% sei es gleichgültig. 15% geben an, Mangas
beeinflussten ihr persönliches Leben, 42% sind der Meinung, Mangas prägten ihr
Bewusstsein.
Bis jetzt wurde davon ausgegangen, dass sich nur weibliche Leser mit der gelesenen
Geschichte identifizieren. Dies trifft jedoch auch auf 31% der männlichen Leser zu. 46%
geben an, von der gelesenen Geschichte emotional berührt zu sein.
80% der männlichen Leser würden in 50 Jahren noch Mangas lesen. Dies können sich
allerdings nur 50% der weiblichen Leser vorstellen.
19:29 Uhr Folie 17
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Schlussdiskussion
Die Onomatopoesie gilt als ein piktorales verbales Element und stellt keine Erfindung des
Comics dar. Sie findet sich bereits in früher griechischer Literatur und gilt heute als literarisches Stilmittel. Onomatopoetische Worte sind auch unter dem Begriff „Soundwords“
bekannt. Bis heute wurden sie wenig wahrgenommen, finden aber seit jeher Verwendung in
Märchen, Kinder-, und Jugendliteratur. Die Onomatopoetik verfolgt eine strikte Trennung
zwischen Schrift und Bild. Sie bietet durch ihre sprachliche Kreativität eine höhere
Suggestionskraft. Zudem steigern diese onomatopoetischen Elemente bei Kindern die
Motivation, sich mit dieser Art der sprachlichen Umsetzung auseinanderzusetzen.
Auf die Frage, ob die Bandbreite japanischer Mangas auch im deutschen Buchhandel zu
finden sei, wurde erklärt, dass den Lesern in den westlichen Ländern nur ein winziger
Bruchteil vorliege. Hierbei ist allerdings anzumerken, dass der Großteil japanischer Mangas
für westliche Leser nicht von Interesse wäre. Viele Mangas werden deshalb nicht exportiert,
weil sie vom zeichnerischen und erzählerischen Niveau eher unbedeutend sind und in Japan
als Billigware vertrieben werden. Es kommen nach und nach jedoch immer mehr Mangas
nach Deutschland, die tief mit der japanischen Kultur verwurzelt sind.
Die Frage nach dem Zusammenhang von animierten Zeichnungen und Mangas wurde mit der
Aussage beantwortet, dass Mangas und Anime zwar engstens miteinander zusammenhängen,
jedoch nicht identisch sind. Anime sind keine verfilmten Mangas. Aus Mangas entstehen
allerdings häufig Anime-Drehbücher. In 99% aller Länder wurden Anime-Filme angeschaut,
b e v o r Mangas gelesen wurden. Viele greifen heute aus nostalgischen Gründen (Rückbezug
zu Anime) zu Mangas.
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