Originalartikel - Waldwissen.net

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Originalartikel - Waldwissen.net
AUSLAND
25 Jahre nach dem Vulkanausbruch
Neues Leben aus der Asche
Fünf Meter vor Charlie Crisafulli steht
ein knapp zwei Meter hoher, von Wind
und Wetter gegerbter Baumstrunk. «Vorsicht», flüstert der Ökologe, «darin brütet
ein Goldspecht.» Kaum gesagt, schon
lugt der scheue Vogel vorsichtig aus
seinem Baumloch. Er blickt kurz nach
rechts und links und fliegt dann elegant
auf den nächstgelegenen Weidenbaum,
aus sicherer Distanz seine Höhle beobachtend.
Foto: Tom Iraci, USDA Forest Service
Am 18. Mai 1980 explodierte der Vulkan Mount St. Helens im Nordwesten der USA und verwüstete weite
Landstriche mit ihren Urwäldern und bewirtschafteten Forsten. 57 Menschen starben während dieses
Infernos. Unterdessen ist die Natur in all ihrer Vielfalt zurückgekehrt. Die meisten der vor der Eruption
vorhandenen Tier- und Pflanzenarten haben die Flussauen und Berggebiete im Schutzgebiet wieder
besiedelt. Dazu kommen jene Arten, die von der offenen Landschaft und den zahlreichen neuen
Wasserflächen profitieren. Ausserhalb der Schutzzone floriert hingegen wieder die Forstwirtschaft.
Von Reinhard Lässig*
* Der Autor arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Eidg. Forschungsanstalt für Wald,
Schnee und Landschaft WSL in Birmensdorf und ist
nebenberuflich als Wissenschaftsjournalist tätig.
Foto: Tom Iraci, USDA Forest Service
Auf den weiten Lava- und Bimsstein-Feldern in Vulkannähe gibt es zwar noch keinen
Wald, aber zahlreiche Tier- und Pflanzenarten.
Foto: R. Lässig
Wo es fast keine alten, stehenden
Baumreste mehr gibt, wie zum Beispiel
am Ufer des Flusses Toutle westlich des
Mount St. Helens, dort ist der Goldspecht
rar. Vor 25 Jahren raste hier eine 800 ºC
heisse Aschewolke mit mehr als 300 km/h
die Hänge des Vulkans hinunter und riss
fast alles mit sich, was ihr im Wege
stand. Nur der Rest dieses alten Nadelbaumes blieb stehen, genau richtig für
den Specht, um sich darin eine Höhle zu
zimmern und später seine Jungen aufzuziehen. «Dieser Baumstrunk ist ein typisches Beispiel dafür, wie wenig Totholz es
braucht, damit ein Gebiet neu besiedelt
werden kann», sagt Crisafulli. Egal ob
nach Waldbrand, Sturm oder Vulkanausbruch, für den Neubeginn tierischen und
pflanzlichen Lebens in einer verwüsteten
Landschaft ist totes Holz unbedingt nötig.
«Dies ist für mich die bedeutendste
Erkenntnis meiner Forscherkarriere», sagt
der anerkannte Ökologe.
Crisafulli, 47, erforscht seit fast 25 Jahren die Rückkehr der Tiere und Pflanzen
beim Mount St. Helens. Eigentlich hat er
sein Büro an der Pacific Northwest Research Station in Olympia, der Hauptstadt
des Gliedstaates Washington. Doch wenn
es das Wetter zulässt, ist er meistens in
der Nähe des immer noch Lava und Asche
Bei der Wiederbesiedlung nach einem
Vulkanausbruch spielt stehendes und
liegendes Totholz als Lebensraum eine
bedeutende Rolle.
Charlie Crisafulli beim Vermessen eines
Rotbeinfrosches.
speienden Vulkans anzutreffen. Den
Ökologen interessieren vor allem die
Wechselwirkungen verschiedener Organismen: viele Vögel, Insekten und Pilze
sind auf totes Holz angewiesen, der
Hirsch ernährt sich von den Blättern und
Nadeln junger Bäume, der pazifische
Baumfrosch laicht in neu geschaffenen
Tümpeln und klettert auf die am Ufer
stehenden Weiden. Kein Tier, keine
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Fotos: R. Lässig
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dem Wapiti-Hirsch, sich explosionsartig
zu vermehren. Statt üblicherweise eines
brachte er häufig auch zwei Junge pro
Jahr zur Welt. Die Hirschpopulation stieg
auf über 2000 Tiere an.
Der Wald kehrt zurück
Primärwald aus
Roterlen, Weiden
und Pappeln auf
meterhohen
Asche- und
Geröllablagerungen. Am
Flussufer der
eingewanderte
Besenginster.
Pflanze lässt sich isoliert betrachten, sie ist
Bestandteil eines Lebensraums, eines
grossen Ganzen.
Vielfältige Natur
Die ehemals kegelförmige Bergkuppe
des Mount St. Helens hatte sich während
der Explosion im Mai 1980 zum grössten
Teil in Staub, Asche, Schlamm und Gas
aufgelöst. Zweieinhalb Kubikkilometer
Gestein rutschten in wenigen Sekunden
die nördliche Bergflanke hinab, begleitet
von einer gigantischen Aschewolke. Das
mit Gletschereis und Lava durchsetzte
Material lagerte sich vorwiegend in den
umgebenden 600 km2 ab und begrub
unter sich Urwälder mit Tausenden von
Hirschen, Schneeziegen, Bären und
Pumas.
«Als ich im Juli 1980 erstmals hierher
kam, sah die Landschaft einfach grau und
leblos aus; ich hatte so etwas noch nie
gesehen», beschreibt Crisafulli. Die heissen, kraftvollen Schlammlawinen hatten
Häuser und Brücken wie Spielzeug mit
sich gerissen. Sie hinterliessen ein Bild der
Verwüstung. «Wir erwarteten, dass es
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Jahrzehnte dauern würde, bis hier wieder
Leben einkehrt», sagt der Ökologe.
Die Natur jedoch überraschte Crisafulli
und viele Forschende der mehr als
30 Institutionen, die in der Umgebung
des Mount St. Helens arbeiten. Das neue
Leben kehrte schneller zurück als erwartet. Pionierpflanzen besiedelten die ausgetrockneten Ablagerungen im Tal, Flechten und Moose folgten wenig später und
bereiteten Bäumen und Sträuchern ein
Keimbett. «Wir haben gelernt, dass so
eine Katastrophe nicht nur zerstört,
sondern auch Neues schafft», sagt Crisafulli. Die vulkanischen Ablagerungen liessen im Tal des Toutle mehr als 150 neue
Seen und Teiche entstehen. «Die Gewässer zogen eine Menge Pflanzen- und
Tierarten an, die es in den Wäldern des
Mount St. Helens früher gar nicht gab,»
sagt der Ökologe und verweist auf die
vielen Froscharten, Eidechsen, Insekten,
Vögel und Säugetiere. Unterdessen
haben etwa 80% der Arten, die vor dem
Vulkanausbruch hier heimisch waren, die
Landschaft wieder besiedelt. Vielen von
ihnen fehlten zunächst die natürlichen
Feinde. Dies ermöglichte zum Beispiel
Auch der Wald hat grosse Teile des
verschütteten Geländes wieder erobert.
Auf den bis zu 45 m dicken Schuttflächen
stehen heute dichte Wälder aus Roterlen,
Weiden und Pappeln. Die Roterle gibt
über ihre Wurzeln Stickstoff und Kohlenstoff an den nährstoffarmen vulkanischen
Boden ab, der erst dadurch von weiteren
Pflanzenarten besiedelt werden kann.
Auf den sandhaltigen, gut durchlüfteten
Flussgestaden zwischen den Auewäldern
und den Bächen blüht im Frühling in
leuchtendem Gelb der Besenginster, der
etwa um 1850 mit Handelsreisenden an
die Westküste Nordamerikas gelangte
und sich schnell an Küsten, Flüssen und
Wegrändern sowie auf Wiesen und Kahlschlägen verbreitete. Problematisch ist
allerdings, dass der konkurrenzstarke
Ginster einheimische Pflanzen zum Teil
verdrängt.
An vielen trockenen Berghängen haben sich unterdessen die pazifische Edelund die Silbertanne sowie die Douglasie,
Hemlocktanne und der Riesenlebensbaum wieder eingestellt. Ihr Wachstum
ist wegen der aschehaltigen Böden zwar
vielenorts noch gering. Doch wichtig ist,
Diese jungen Tannen waren 1980 noch
sehr klein und überlebten die Vulkanexplosion in 12 km Entfernung im Schutz
der Schneedecke.
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Die über 20-jährigen Douglasienbestände
haben einen mittleren Stammdurchmesser
von 18 cm und sind über 15 m hoch.
Die Durchforstung in den jungen Douglasienwäldern mit
Harvestern
begann im
Januar 2005.
dass sie überhaupt da sind und teilweise
schon Samen bilden. «Diese Arten verdanken ihr Dasein der Jahreszeit des Vulkanausbruchs», sagt Crisafulli. Denn am
18. Mai 1980 lag in höheren Lagen noch
bis zu einem Meter Schnee, der an geschützten Hängen viele junge Pflanzen,
aber auch Samen und Bodenlebewesen
vor der Hitze der Explosion verschonte.
Diese Flächen wirkten in den ersten Jahren
nach der Explosion wie Inseln, von denen
aus sich das Leben weiter verbreitete.
Holzproduktion in Staub und
Asche
Ausserhalb des Mount St. Helens
Schutzgebietes duftet es nach Orangen
und Harz. Die Sägen hoch entwickelter
Holzerntemaschinen heulen in kurzen
Abständen auf. Hier, in den Douglasienwäldern des Forst- und Holzkonzerns
Weyerhaeuser, steht die effiziente Forstwirtschaft im Zentrum. «Die Druckwalze
des Vulkans hat uns als Waldbesitzer stark
getroffen», sagt Dick Ford, der seit über
25 Jahren für den Branchenriesen tätig
ist. Ford erlebte 1980 als lokaler Förster
hautnah mit, wie die Aschewolke des Vulkans Bäume wie Zündhölzer umdrückte
und damit jahrzehntelange Waldarbeit
hinfällig machte. «Gut 18 000 ha unseres
Waldes lagen damals am Boden»,
ergänzt er.
Die Forstfirma rettete, was noch zu retten war. 1000 Waldarbeiter holten bis
Dezember 1982 auf über 8000 ha alles
verwertbare Holz aus den umgeworfenen
Wäldern. An manchen Tagen verliessen
600 voll beladene Holzlastwagen die
staubgrauen Täler Richtung Westen. «Die
Ketten der Motorsägen mussten nach
jeder Treibstofffüllung neu geschliffen
werden, weil die Asche sie stumpf
machte», sagt Ford. 26 Pflanzequipen
forsteten die zerstörten Flächen dann
wieder auf. Sie setzten 18 Mio. zweijährige Baumsämlinge in den 30–60 cm tiefen Vulkanstaub; in den tieferen Lagen
Douglasien, in den höheren Edeltannen.
Die ersten Bestände – das Harz der
Douglasien verbreitet den typischen
Orangenduft – sind jetzt alt und dick
genug, um gewinnbringend durchforstet
zu werden. «Wir verringern die Baumzahl
um mehr als einen Drittel», erklärt Bob
Keller, der die Aktion leitet. «1600 ha
müssen wir diesen Sommer schaffen,
wenn wir in den nächsten Jahren alle jungen Wälder durchforsten wollen»,
ergänzt er. Moderne Harvester bahnen
sich Baum für Baum ihren Weg durch die
«Tree-Farm», wie die Firma ihre Aufforstungen nennt. Die Maschinen legen die
Kronenstücke vor dem Fahrzeug als Polster ab, die dickeren Stammstücke deponieren sie im durchforsteten Bestandesteil. Wendige Forwarder nehmen die
Holzabschnitte dann auf und laden sie an
der Waldstrasse auf die per Funk herbeigerufenen Lastwagen. Holzeinschlag und
-transport sind bis ins Detail logistisch
optimiert. Kein Wunder, erzielte der weltweit tätige Konzern im ersten Quartal
2005 einen Reingewinn von 239 Mio.
Dollar.
Nebeneinander von Schutzund Nutzfunktion
Lohnen sich die aufwändigen Forschungsprojekte und die Forstwirtschaft
überhaupt, wenn es im Vulkan weiterhin
rumort und das Risiko einer weiteren
Eruption besteht? Immerhin wurde im
Oktober 2004 die ganze Gegend wegen
der immer stärker bebenden Erde evakuiert. «Wir wurden vom erneuten Erwachen des Mount St. Helens überrascht»,
sagt Dan Dzurisin vom US Geological
Survey (USGS) in Vanvouver/Washington.
«Die frühzeitige Evakuation war die
einzig richtige Vorsichtsmassnahme.
Heute wissen wir, dass es für einen nochmaligen grossen Vulkanausbruch keine
Anzeichen gibt.»
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Erdstösse im Minutentakt
Foto: R. Lässig
Die 400 m hohe Kuppe des Mount
St. Helens sowie seine nördliche Flanke
hielten am 18. Mai 1980 dem inneren
Druck durch aufgestaute gasreiche Magma und kochend-heisses Grundwasser
nicht mehr stand und liessen ihn explodieren. Seit diesem eindrücklichen Naturschauspiel ist der Mount St. Helens nie
mehr richtig zur Ruhe gekommen. Bis
1986 erschütterten weitere 1500 Erdbeben den Berg und im Inneren des
Kraters bildete sich ein neuer Lava-Dom. Im August 1981 war der erste Lava-Dom
Nach 1987 ging die seismische Aktivität
bereits 163 m hoch; es gab noch keinen
vorübergehend zurück und das Gestein
Gletscher.
kühlte ab. Zwischen dem Kraterrand und
dem Lava-Dom bildete sich ein hufeisenFoto vom 3.5.2005, Jim Vallance /
Matt Logan, US Geological Survey
förmiger, mit Staub, Steinen und Felsbrocken durchsetzter Gletscher.
Am 1. Oktober 2004 erwachte der Vulkan
erneut und neben dem ersten Lava-Dom
bildete sich ein zweiter. Einem Trommelfeuer gleich, ereigneten sich seitdem
mehr als eine halbe Million Erdstösse bis
zu einer Stärke von 3,5 auf der RichterSkala. Die teilweise im Minutentrakt
bebende Erde erschütterte den zweiten
Dom im April und Mai dieses Jahres so
stark, dass der neue Lavakegel auseinander brach und vorübergehend wieder
kleiner und dafür breiter wurde.
Der Mount St. Helens wird weiter aktiv Südlich des ersten, schneebedeckten
bleiben. Da sich in dieser Region die Lava-Doms entsteht seit Oktober 2004
Juan de Fuca-Platte vom Pazifik aus lang- ein zweiter, der den alten bereits um
sam unter die nordamerikanische Platte 150 Meter überragt. Der neue Lava-Dom
schiebt, entsteht im Erdinneren regelmäsdrückt den Gletscher zur Seite .
sig neuer Druck, der sich in Form von Erdbeben und Vulkanausbrüchen entlädt.
Auch andere Feuerberge im Nordwesten der USA scheinen langsam zu erwachen. «Die
Three Sisters in Oregon heben sich jährlich um stattliche 2,5 cm», sagt Carolyn Drietger
vom USGS, «deswegen haben wir unsere Forschungsaktivitäten momentan zugunsten
von Riskoeinschätzung und -management verlagert.» Darum fordert eine Arbeitsgruppe der amerikanischen Vulkan-Observatorien, ein landesweites Frühwarnsystem
für Vulkanaktivitäten einzurichten.
Umfangreiche Informationen und Bilder finden sich unter:
http://vulcan.wr.usgs.gov/Volcanoes/MSH/
Für die Forstleute von Weyerhaeuser
bedeutet dies: weiter aufforsten, düngen,
durchforsten und Holz nutzen. Mit dieser
Vorwärtsstrategie nutzt der Grosswaldbesitzer den im pazifischen Nordwesten
besonders üppig nachwachsenden Rohstoff Holz rentabel und bietet der zunehmenden Konkurrenz ostasiatischer
Holzproduzenten Paroli. Ziel ist, den
nachwachsenden Rohstoff Holz möglichst in konzerneigenen Betrieben einzusägen oder ihn für die Herstellung von
Häusern, Holzplatten, Papier und Zellstoff
zu verwenden.
Weyerhaeuser gesteht dem benachbarten Schutzgebiet des Mount St. Helens
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seine Existenzberechtigung zu, erwartet
von der Gesellschaft aber auch, dass
diese hinter einer auf Gewinn und
Nachhaltigkeit ausgerichteten Waldwirtschaft steht. Der Gesamtnutzen von Wald
und Landschaft muss also optimiert
werden. Aus diesem Grund nutzen die
öffentlichen Waldeigentümer (Bund,
Gliedstaaten) ihre Wälder derzeit weniger
intensiv als Private und gewichten die
Biodiversität höher als noch vor wenigen
Jahren. Der Staat bietet dem privaten
Waldbesitz damit einerseits Hand; andererseits stellt er kleinere Sägereien in
Regionen mit hohem Staatswaldanteil
vor Existenzprobleme, da diese bisher
auf das staatliche Holz angewiesen
waren.
Die Forstwirtschaft befindet sich im
pazifischen Nordwesten der USA wie
andernorts im Umbruch. Das derzeit
praktizierte Quasi-Nebeneinander der
zwei Managementziele «Biodiversität»
und «Wirtschaftlichkeit» ist eine Option;
die wahrscheinlich anspruchsvollere Strategie des gleichzeitigen Erreichens mehrerer Ziele eine andere. Welcher Weg für
die Gesellschaft ökologisch wie wirtschaftlich langfristig sinnvoller ist, ist
zurzeit Gegenstand umfassender (forst)politischer Diskussionen.
Natur und Forschung als
Erlebnis
Das Herz von Jerry Franklin, Professor
für Analytische Ökologie an der University
of Washington in Seattle, schlägt mehr
für die zwar langsamere, dafür aber deutlich artenreichere Entwicklung der Natur.
«Eine derart grosse, von einem Vulkanausbruch verwüstete Fläche sich selber zu
überlassen und langfristig zu untersuchen, dieser Traum wird für einen Wissenschafter nur selten wahr», sagt der
erfahrene Ökologe und Mitautor des Buches «Ecological Responses to the 1980
Eruptions of Mount St. Helens» (siehe
Kasten rechts). Nirgendwo sonst liessen
sich natürliche Entwicklungen derart von
Beginn an studieren wie in einer Vulkanlandschaft mit derart verschiedenen Verwüstungstypen.
Für Franklin ist der Mount St. Helens
ein «Hot Spot» der Biodiversität. «Wenn
die Gesellschaft in einer waldreichen
Landschaft heute nicht nur Holz nutzen,
sondern auch die Vielfalt der Arten und
Lebensräume erhalten will», sagt er,
«dann muss die Politik auch dafür sorgen,
dass der Biodiversität der nötige Platz eingeräumt wird.» Die Forstwissenschaft sei
eigentlich eine Sozialwissenschaft, denn
sie erarbeite bedeutende Grundlagen für
die Gesellschaft. «Wer Politik macht, der
muss sich auf Fakten abstützen», sagt
Franklin, «denn ohne die Kenntnis von
Tatsachen kann kein Politiker einen fundierten Entscheid treffen.»
Naturgebiete wie der Mount St. Helens
sind jedoch nicht nur für die Wissenschaft
bedeutsam. Weite Teile der amerikanischen Bevölkerung lassen sich für die
Beobachtung extremer Naturprozesse
und ihrer Auswirkungen begeistern.
Während der Sommermonate besuchen
bis zu 100 000 Menschen die vier Lernund Erlebniszentren, die der Nationale
Forstdienst und die Firma Weyerhaeuser
in der Umgebung des Vulkans betreiben.
Fachleute führen hier die komplexen
Auswirkungen der vulkanischen Entwicklungen verständlich vor Augen, bieten
im Sommer Führungen in die unterschiedlichen Zonen des Schutzgebietes
an und informieren über die Entwicklungen der letzten 25 Jahre auf umfassenden Websites (http://www.fs.fed.us/gpnf/
mshnvm/, http://www.wy.com/sthelens).
Vom Forest Learning Center der Firma
Weyerhaeuser lassen sich sogar Herden
von Wapitihirschen im Tal des Flusses
Toutle beobachten. Für die umliegenden
Gemeinden ist der Tourismus heute eine
bedeutende Einnahmequelle.
Auch Charlie Crisafulli und seine Kollegen sind oft im Kontakt mit der interessierten Bevölkerung. Sie werden den ökologischen Entwicklungen in diesem
einzigartigen Naturlabor weiter auf der
Spur bleiben. Sie haben hier Grundlegendes über den Vulkanismus und über die
Regeneration der Natur nach einem
Extremereignis gelernt. Die Ergebnisse
ihrer Forschungen zeigen, dass die in
Ruhe gelassene Natur vielleicht nicht so
schnell wächst wie ein intensiv bewirtschafteter Nadelwald, aber dafür ist sie
wesentlich strukturierter und artenreicher. «Die Forstwirtschaft sollte unsere
Ergebnisse mehr berücksichtigen; in
arten- und strukturreicheren Wirtschaftswäldern würden mehr Pflanzen- und
Tierarten leben und die Böden nicht so
schnell versauern», fasst Crisafulli zusammen. Sagt es und wendet sich wieder
seinen Feldmessungen zu, die sich dieses
Jahr zum 25. Mal jähren.
Ökologische Reaktionen auf den Ausbruch des
Mount St. Helens 1980
Dale, Virginia H.; Swanson, Frederick J.;
Crisafulli, Charles M. (Eds.): Ecological
Responses to the 1980 Eruptions of
Mount St. Helens. 2005, 342 Seiten.
ISBN: 0-387-23868-9, EUR 69.95.
Die Explosion des Mount St. Helens am
18. Mai 1980 schuf die Möglichkeit, die
auf grossen Flächen verwüsteten Landund Wasserökosysteme zu dokumentieren und die ökologischen Auswirkungen
der Eruption langfristig zu untersuchen. In
einem kompakten und übersichtlichen
Buch fasst ein Autorenkollektiv das während 25 Jahren erarbeitete Wissen über
eines der weltweit am intensivsten untersuchten vulkanischen Gebiete zusammen.
Dabei beleuchten die Wissenschaftler
neben dem Zerstörerischen ebenso das
Neuentstehende, ausgehend von Pilzsporen und Pflanzensamen über Insekten,
Amphibien, Säugetiere und Fische bis zu
Hirschpopulationen und Aue- und Bergwäldern. Darüber hinaus berichten sie über die
Wechselwirkungen zwischen Tieren, Pflanzen, Nährstoffkreisläufen und der sich rasant
verändernden Geomorphologie.
Die Wissenschaftler sind mit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise an dieses Werk
herangegangen. Sie schildern detailliert, was passiert, wenn ein Vulkan ausbricht,
welches die kurz- und langfristigen Gefahren dabei sind, wie sich pionierartige Pflanzen
und Tiere in der verwüsteten Landschaft behaupten und wie sie durch andere Lebewesen wieder verdrängt werden. Sie zeigen auch auf, wie das vom Vulkan Gelernte zu
einem breiteren ökologischen Verständnis führt und welche Folgerungen sich aus dem
erarbeiteten Wissen für eine nachhaltige Landnutzung und die (Naturschutz)-Politik in
vulkanischen Landschaften ergeben. Dieser vielfältige, in verständlichem Englisch
geschriebene, anschaulich bebilderte und wissenschaftlich sauber zusammengefügte
Bericht wird für all jene wertvoll sein, die sich für Naturgeschichte, komplexe ökologische Systeme und die Folgen von Naturereignissen für die Landbewirtschaftung
interessieren.