Belletristik

Transcrição

Belletristik
3
BelletristikLiteratur aus Österreich
Anderle, Helga: A schene Leich.
Mordgeschichten
Wien: Milena 2008. 174 S., € 14,50
Helga Anderle, Wienerin, Redakteurin und
Verfasserin zahlreicher Kurzkrimis, legt
hier eine Sammlung von Mordgeschichten
vor, die vor „schwarzem Humor“ nur so
strotzen: 15 kurze Geschichten und drei
wiederkehrende Gedichte – makaber,
spannend und nahezu unglaublich. Die
Erzählungen beginnen alle ganz harmlos
und alltäglich, werden aber im Laufe des
Geschehens „rabenschwarz“, bitterböse
und enden tödlich.
Es sind durchwegs Frauen die Protagonistinnen, alle haben mit dem anderen Geschlecht eine Rechnung zu begleichen, sie
wollen sich für vielerlei rächen, wobei die
Männer in Folge einer nach dem anderen
zu „Schaden“ kommen, sprich: mehr oder
weniger beabsichtigt oder „zufällig“ sterben oder ermordet werden. Ob nun im
„Tod und das Mädchen“ der gehasste Partner bei Geigenmusik das Zeitliche segnet,
ob der „Rosenkavalier“ über den Balkonkasten abstürzt oder ob eine unglückliche
Ehe mit einem Schlag eine Frau wieder
glücklich macht – alle Mordgeschichten
vermitteln realistisch erzählte, spannende
Unterhaltung.
Die Männer stehen im Abseits und die
Frauen entwickeln ungeahnte Kräfte und
Ideen, um letztlich explosionsartig eine
Beziehung zu Ende zu bringen.
Anderles Geschichtensammlung hat
durchaus das Niveau eines spannenden
Romans, zumal die einzelnen Episoden
perfekt aufgebaut sind und an jedem Klischee vorbei auf ein dramatisches Ende
zusteuern.
Gabriele Saul
Grill, Evelyn: Das römische Licht
St. Pölten: Residenz 2008. 240 S., € 19,90
Xenia ist Malerin und erhält ein Stipendium
für Rom. Bald nach ihrer Ankunft erhält sie
einen Anruf ihrer älteren Schwester Lisa aus
Österreich mit der dringlichen Bitte um
Rückkehr: Die Mutter, eine gefeierte und bekannte Schriftstellerin, sei bei einer Lesung
zusammengebrochen und liege seither im
Koma. Doch Xenia, die ihre Chance nutzen
will, als Künstlerin aus dem Schatten ihrer
Mutter zu treten und sich dieser gegenüber
Geltung zu verschaffen, verweigert die
Rückkehr ans Krankenbett der Mutter – hat
diese doch selbst die Familie und Töchter
der Kunst geopfert. Außerdem ist da noch ihre Schwärmerei für ihre Mitbewohnerin
Alma, eine schöne Fotografin aus Wien,
welche jedoch plötzlich verschwindet;
Xenia wird abermals verlassen ...
Das mütterliche Schweigen und die eigene Distanz zwingen die jüngere Schwester Xenia zu einer Auseinandersetzung mit
dem mütterlichen Egoismus, ihrer eigenen
Kunst und nicht zuletzt mit ihrem Egoismus.
Während die ältere Tochter Lisa trotz eigener Familie die Mutter täglich im Krankenhaus besucht, möchte Xenia ihre Karriere als
Malerin fördern, zumal sie ihrer Mutter das
Zurückgelassen-Werden in der väterlichen
Familie nie verziehen hat. Letztlich führt jedoch der Tod der Mutter zu einer teilweisen
Aussöhnung, und Xenias Bedauern über die
nicht gemeinsam verbrachte Zeit wird deutlich spürbar.
In knappen, verstörenden Bildern entwirft die gebürtige Österreicherin Evelyn
Grill ein Psychogramm einer komplizierten
Mutter-Tochter-Beziehung, die nicht zuletzt
an der Sprach- und Verständnislosigkeit der
Protagonistinnen scheitert. Mit sachlichnüchternem Blick seziert Grill das Innenleben ihrer Figuren und zeigt in Rückblenden
Xenias Unfähigkeit auf, selbst enge Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufzubauen – einzig in ihren Bildern vermag sie anderen ihre Gefühle mitzuteilen.
Dagmar Feltl
Groschup, Sabine: Teufels Küche
Wien: Czernin 2008. 247 S., € 20,40
Dem Krimierstling der Autorin merkt man nicht an, dass er erst die literarische Zweitgeburt der Filmemacherin und Installationskünstlerin Sabine Groschup ist. Spannend und mit überraschenden Wendungen werden Handlungsstränge verflochten.
Die Geschichte ist in der Gegenwart angesetzt, mit Rückblenden werden Ereignisse aus dem nicht friktionsfreien Privatleben
der Wiener Kriminalpolizistin Merle geschildert. Sie wäre beinahe selbst Mordopfer geworden, pikanterweise war der Täter
auch ihr Liebhaber. Mit dem kurz vor der Pensionierung stehenden Arbeitskollegen Serenius verbindet sie ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis, das wegen Merles Spontanität und Unkonventionalität bis zur Neige strapaziert wird. Der letzte Kriminalfall, in den er, Merles wegen, nicht
ganz freiwillig einbezogen wird, gerät zu einer Belastungsprobe mit vielen Rätseln und Ungereimtheiten. Immer wieder führen Spuren in Merles Vergangenheit.
Die Recherchen führen Merle nach Innsbruck. Auf dem Flug nach Innsbruck verliebt sie sich in
den charmanten Flugpiloten Giorgio, dessen Schwester als psychiatrische Gutachterin noch eine
Rolle spielen wird. Die Ermittlungsspuren weisen auf ein früheres, bisher nie geklärtes Verbrechen an einer Prostituierten hin. Aktuell gibt es immer wieder Hinweise auf Foltermethoden, die
einem mittelalterlichen Rechtskodex folgen und wofür die erforderlichen Geräte gefertigt werden.
Allmählich verdichten sich die Indizien, die zur Lösung des Falles führen.
Die Geschichte ist bis zuletzt spannend erzählt und lange unklar ob ihres Ausgangs. Merle erlebt
die erfolgreiche Auflösung des Falles, aber auch eine persönliche Niederlage ...
Christa Mayer
Literatur aus Österreich Belletristik
4
Lercher, Lisa: Besser tot als nie.
13 Mordgeschichten
Wien: Milena 2008. 117 S., € 13,50
Dieser vom Milena Verlag herausgegebene
Erzählband versammelt bereits in der Vergangenheit verstreut erschienene Erzählungen der in Österreich keineswegs unbekannten Krimi-Autorin Lisa Lercher. 13
Mordgeschichten, die sich teilweise im
fiktionalen Erzählrahmen abspielen, teilweise nur im Kopf der Autorin und ihrer Figuren entfalten. Manchmal eindeutig,
manchmal nur so angedeutet, dass viele
Fragen offen bleiben.
Alle 13 Geschichten haben als tragende Figuren Frauen, die im Netz der Alltäglichkeiten verstrickt und gefangen sind.
Nicht, dass sie unbedingt ausbrechen
wollten, aber irgendwann geht das Fass
dann doch über, und so geschieht, was für
eine Mordgeschichte unausweichlich ist.
Auch wenn die eine und andere Episode
einen gewissen Reiz versprüht, hier eine
Bösartigkeit zu Tage fördert, die unterhaltend ist, dort einige Pointen überraschende
Wendungen mit sich bringen, so leiden
fast alle Geschichten daran, dass sie mit
ihren alltäglichen Inhalten an die Kronenzeitung und deren Leserschaft erinnern.
Nie rührt Lercher an irgendwelchen
Grenzen herkömmlicher Moral. Sogar das
Morden wirkt irgendwie nett und vertraut
und so gar nicht abwegig, beinahe gewöhnlich. Wird es philosophisch, geht
Lercher über Binsenweisheiten nicht hinaus, und wenn sie eingeflochten werden,
dann immer mit erhobenem Zeigefinger.
Der Stil wechselt zwischen handwerklicher Präzision und schnoddriger Beiläufigkeit. Letzteres lockert das Ganze durchaus
auf, aber alles in allem bleibt das Buch
Unterhaltung auf bescheidenem Niveau.
Irene Minainyo
Pluhar, Erika: Er
Salzburg: Residenz 2008. 231 S., € 17,90
Erika Pluhar, die 40 Jahre lang ständiges
Mitglied des Wiener Burgtheaters war,
wurde als Schauspielerin berühmt. Mit
dem Beginn der Direktion Peymann 1999
endete ihre Bühnenkarriere und ihre
Laufbahn als Sängerin begann. Ihre Liedtexte schrieb sie bald selbst und dies war
auch der Beginn ihrer Arbeit als erfolgrei-
che Autorin. Seit ihrer Erstveröffentlichung
im Jahr 1980 ist von Erika Pluhar eine erkleckliche Anzahl von Büchern – zumeist
Romane – am Markt erschienen. Manche
wurden von der Kritik ziemlich verrissen,
was dem Verkaufserfolg aber keinen Abbruch tat.
Erika Pluhar ist eine versierte Menschenbeobachterin. Die großen Lebensfragen wie Liebe, Tod, Krankheit und unser
Umgang damit bestimmen ihre Romane.
Auch in Er geht es um große Gefühle. „Er“
heißt Emil Windhacker und ist ein Mann in
den „besten Jahren”: mittlerer Angestellter,
gutaussehend, sportlich und ungebunden,
jedoch mit schöner Freundin, die ihn in
die besten Kreise der Gesellschaft einführt.
Aus der Bahn wirft diesen Mann ein
Laborbefund, der auf Blutkrebs lautet.
Außer sich unternimmt er einen Spaziergang, bei dem er einer Frau begegnet, die
ihm auffällt. Die zweite zufällige Begegnung mit dieser Unbekannten findet am
selben Abend statt, nachdem er mit seiner
Freundin einer Essenseinladung bei Bekannten nachgekommen ist. Die Unbekannte sitzt neben ihm und stellt sich als
die Schauspielerin Marie Liebner vor. Emil
ist fasziniert von der zurückgenommenen
Herbheit dieser Frau. Bei Tisch überfällt
ihn eine Ohnmacht. Als Marie ihn am
nächsten Tag anruft, erzählt er ihr von seiner Krankheit. Er erfährt, dass auch Marie
an Leukämie leidet. Zwischen den beiden
beginnt ein Spiel von Anziehung und Abneigung.
Als Emil seinen Arzt aufsucht, um mit
diesem seine Diagnose zu besprechen,
stellt sich heraus, dass der Befund vertauscht wurde. Emil ist gesund. Er verspürt
ungeheure Erleichterung und eigentlich
könnte nun sein Leben weitergehen wie
bisher. Wieder begegnet er zufällig Marie
und erlebt ihre stille Verzweiflung. Soll er
gehen, soll er bleiben? Emil ist zutiefst verunsichert. Sein selbstzufriedener, egoistischer Panzer hat Sprünge bekommen.
Erika Pluhar erzählt diese Beziehungsgeschichte in leichtem Ton, diesmal aus
männlicher Sicht. Sensibel, poetisch und
berührend in der Sprache wird ihr neues
Buch die vor allem weibliche Leserschaft
der Autorin wieder zufrieden stellen.
Maria Hammerschmid
Mühlbauer, Britta: Lebenslänglich
Wien: Deuticke 2008. 412 S., € 22,10
Die Ärztin Inga Göth erfährt, das ihr Mann sie betrügt. Um sich von diesem
Schock zu erholen, flüchet sie in eine nahe gelegene Therme. An diesem Tag zerstört ein Erdrutsch die Therme und das angrenzende Wellness-Hotel. Mit allen
anderen, die bei der Katastrophe anwesend waren, findet sich Inga in einer Art
Zwischenwelt wieder, aus der es kein Entkommen gibt. Was tun? Die Fitnesstrainer und Anti-Aging-Spezialisten empfehlen: Sport und gesunde Ernährung.
Also trainieren sie hart, betreiben nordic walking und essen Müsli, doch nichts
ändert sich. Jede Nacht erleben sie ihre Todesängste von Neuem und doch versammeln sich die Gäste immer wieder zu weiteren Übungen.
Inga, die die Patientendaten führt, muss diese ständig neu anlegen: Über Nacht
verschwinden die Aufzeichnungen ebenso wie
die körperlichen Veränderungen bei den Kurgästen. Als ein Ernährungswissenschaftler mit besonders ungesunden kulinarischen Vorlieben aber
anzusprechen wagt, dass sie wohl in einem seltsamen Zwischenreich gefangen sind, schlägt ihm
blanker Hass entgegen. Nur Inga fühlt, dass er
mehr verstanden hat als alle anderen.
Erfrischend unbekümmert erhebt Britta Mühlbauer den Arztroman zur literarischen Gattung
und beschert uns eine Satire über Gesundheitswahn und Jugendkult und eine melancholische Liebesgeschichte mit ungewissem Ausgang.
Friederike Rittberg
Belletristik Literatur aus Österreich
Rossmann, Eva: Russen kommen
Ein Mira-Valensky-Krimi
Wien/Bozen: Folio 2008. 277 S., € 19,50
Auf einer Schihütte am Arlberg genießt
Mira Valensky nach einem anstrengenden
Schitag ihr wohlverdientes Glas Wein, als
die am Nebentisch sitzenden russischen
Urlauber plötzlich überstürzt das Lokal
verlassen. Es wäre nicht Mira Valensky,
wenn sie nicht beginnen würde, sich für
die Angelegenheit zu interessieren, zumal
sie für das „Magazin“ gerade eine Story
über Russen in Österreich recherchiert.
Zurück in Wien entdeckt sie auf der
Dachterrasse eines entfernten Bekannten
eine Leiche – gefoltert und an einen Liegestuhl gefesselt. Ist es der bekannte russische Oligarch Dolochow? Welche Zusammenhänge gibt es mit mysteriösen Investitionen, die nicht nur die Hoteliers vom Arlberg reihenweise in den finanziellen Ruin
treiben? Und wohin ist die junge russische
Dolmetscherin Sonja verschwunden, die
vielleicht weiß, wer der Mörder ist?
Obwohl ihr mannigfache Hindernisse
in den Weg gelegt werden – ihr neuer
Chefredakteur lehnt ihre Story ab, auf Vesnas Detektivbüro wird ein Sprengstoffanschlag verübt, und Mira selbst schlittert in
eine ernsthafte Beziehungskrise – gibt die
detektivisch veranlagte Journalistin nicht
auf. Sie sucht und findet Sonja in Moskau,
und langsam lichten sich die Nebel ...
Der neue Roman von Eva Rossmann ist
nach dem gleichen Muster geschrieben
wie auch die anderen Mira-Valensky-Kri-
5
mis: Mira überwindet allerlei Hindernisse
und gerät dabei auch selbst in Gefahr –
diesmal, ihren Ehemann zu verlieren.
Allen Fährnissen zum Trotz wird zwischendurch aber immer wieder gut gekocht und genussvoll gegessen. Natürlich
klärt Mira Valensky auch dieses Verbrechen auf locker-amüsante Art, tatkräftig
unterstützt von ihrer ehemaligen Putzfrau
Vesna. Ein leicht lesbarer, turbulenter Krimi mit bewährten Zutaten.
Karin Claudi
Pucher Robert: Krokodilstränen
Graz: Leykam 2008. 325 S., € 19,40
In der Donau schwimmt die Alligatorin Monja und entdeckt, dass Menschen gut
schmecken und satt machen. Wie erfreulich, dass ab und zu ein Schwimmer vorbeikommt! Weniger erfreulich ist das für die Polizei, die das spurlose Verschwinden von Badegästen aufklären muss. Und das, wo gerade ein brutaler Serienmörder in Wien sein Unwesen treibt, der es offensichtlich ausschließlich auf Versicherungsvertreter abgesehen hat, die er auf bestialische Weise zu Tode bringt.
Bis jetzt hat er schon drei davon auf dem Gewissen und das bewährte (schon aus
früheren Pucher-Romanen bekannte) Ermittlertrio der Polizei alle Hände voll zu
tun. Gerade als die Polizei einen ersten Verdächtigen findet, nämlich den Bruder
des ersten Opfers, der nicht nur dessen Kundenstock, sondern auch dessen Frau
nahtlos übernommen hat, wird Ermittler Kleist von dem Fall abgezogen.
Währenddessen setzt der Mörder zum finalen Schlag an ...
Ein flott geschriebener Krimi mit Klamauk-Elementen im Gefolge des legendären Inspektors
Kottan, mit seinem originellen Dreiergespann, in
dem jeder seine Eigenheiten kultiviert und deren
Arbeitsmethoden an Originalität nichts zu wünschen übrig lassen. Der Krimi spielt an realen
Orten in Wien und ist bevölkert von einem ganzen Universum typischer Wiener Gestalten und
skurriler Typen. Alltägliches wird in satirischer
Überspitzung aufs Korn genommen. Der dritte
Roman von Robert Pucher bietet Vergnügliches
für KrimileserInnen, denen das Lachen wichtiger
ist als die Spannung.
Karin Claudi
Literarisches
Binding,Tim: Cliffhanger
Aus dem Englischen übers.
Hamburg: Marebuch 2008. 350 S., € 20,50
Al Greenwood ist Taxifahrer in einer winzigen Ortschaft am Meer. Er liebt sein
Auto, seinen Wohnwagen (sein Rückzugsort) und seine zwei Karpfen: Dean und
Torvill. Weiters hat er eine außereheliche
Tochter (welche er vor seiner Frau verheimlicht) als freundschaftlichen Ge sprächspartner – und er hat eine Frau, die
er gerne los werden möchte. Dafür hat er
auch schon einen Plan.
An einem verregneten Tag provoziert er
einen Streit, wohl wissend, dass Audrey,
seine Frau, ihren Lieblingsplatz auf den
Klippen (ihr Rückzugsort) aufsuchen wird.
Dort erwartet er sie und stößt sie mit leichter Hand von hinten von den Klippen. Als
Al wieder nach Hause kommt, lässt sich
Audrey vor dem Kamin trocknen. Wen hat
Al an ihrer Stelle von der Klippe geschubst?
Wieso wird seine Tochter vermisst?
Statt eines ruhigen und bequemen
Lebens als Taxifahrer hat Al Greenwood
plötzlich einen Schippel Probleme am
Hals, nicht zuletzt einen Erpresser, wel-
cher zur Unterstreichung seiner Forderung
seine geliebten Karpfen ermordet.
In lakonischem Erzählton spult Tim
Binding gekonnt eine Geschichte ab, welche geradezu nach einer Verfilmung
schreit, derart plakativ rollt sie vor dem inneren Auge des Lesers ab. Mehrere überraschende Wendungen, eine Reihe skurriler
Charaktere und eine gut dosierte Portion
schwarzen Humors machen den Roman
des in Deutschland geborenen Erfolgsautors zu einem kurzweiligen, amüsanten
Lesevergnügen.
Hermann Gamauf
Literarisches Belletristik
6
Hornby, Nick: Slam
Aus dem Engl. übers.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008.
300 S., € 18,40
Sam ist 15 und leidenschaftlicher Skater. Er
lebt mit seiner Mutter in London, verbringt
die Freizeit auf Skateboardbahnen und
verehrt den Skateboardprofi Tony Hawk,
dessen Poster die Kinderzimmerwand
ziert. Da Sam nicht viele Freunde hat, unterhält er sich manchmal mit diesem Poster
– und erfährt allerhand Wissenswertes.
Im Grunde lebt Sam ein ganz normales
Teenagerleben, bis er eines Tages Alicia
kennen lernt. Trotz Alicias anfänglichem
Desinteresse werden die beiden bald ein
Liebespaar. Und nur wenig später kommt
die Hiobsbotschaft: Alicia ist schwanger ...
Das Skaten ist in Slam lediglich der Rahmen für Themen wie Jugendliebe und
–schwangerschaft, die vom britischen Kultautor Nick Hornby auf gewohnt lockere
und gut lesbare Art und Weise dargeboten
werden. Sams Geschichte wirkt authentisch: Er ist ein typischer Vertreter seiner Generation am Beginn des 21. Jahrhunderts,
mit allen Vor- und Nachteilen und Problemen, wie sie viele andere auch haben. Vieles muss er durchstehen: Nicht nur, dass er
selbst Vater wird, auch seine Mutter hat einen neuen Freund und ist ebenfalls schwanger. Um der neuen Patchworkfamilie zu
entkommen, zieht Sam zu Alicias Eltern,
was auf Dauer auch nicht gut gehen kann ...
Das alles wird mit Humor und viel
Einfühlungsvermögen geschildert. Hornby
versteht es ausgezeichnet, sich in die Welt
der Teenager zu versetzen und aus deren
Perspektive zu erzählen. Die Geschichte
entwickelt bereits nach wenigen Seiten ein
rasantes Tempo und bietet eine gelungene
Melange aus Unterhaltung und Tiefgang.
Thomas Geldner
Iweala, Uzodinma: Du sollst
Bestie sein!
Zürich: Ammann 2008. 156 S., € 19,50
Du sollst Bestie sein ist der beeindruckende
Erstlingsroman des 26-jährigen, aus Nigeria
stammenden Uzodinma Iweala. Agu erzählt vom Krieg, der ihm seine Kindheit ge-
raubt hat. Als er fliehen will, läuft er in die
Arme des Kommandanten, der ihm befiehlt,
Soldat zu sein und Bestie zu werden. Agu
kann nicht anders – entweder er oder die
anderen – so lernt er zu töten, zu schänden
und zu plündern, um sein eigenes Leben zu
retten. Er sieht Leichenberge, wird vom
Kommandanten mehrmals vergewaltigt, erschießt Kinder und Frauen. Sein einziger
Freund ist Strika, ein Junge, der nicht
spricht, ihm jedoch immer zur Seite steht.
Auch ihn muss er sterben sehen, nachdem
die Soldaten den Kommandanten getötet
haben, um vor dem Krieg zu fliehen.
Nicht nur das Thema lässt den Leser
atemlos zurück, es ist vor allem die Sprache, mit der Iweala Agu sein Schicksal in
der Ich-Form erzählen lässt. Es ist die einfache und suggestive Sprache eines Kindes, die das Geschehen jedoch sehr bildhaft und zum Greifen nahe schildert. Für
Du sollst Bestie sein erhielt der junge Autor
bereits zahlreiche Preise. Will man Salman
Rushdie glauben, so wird man von Iweala
noch sehr viel hören und lesen – und man
kann ihm glauben.
Katharina M. Bergmayr
Coetzee, J. M.: Tagebuch eines schlimmen Jahres
Aus dem Engl. übers.
Frankfurt a. M.: Fischer 2008. 233 S., € 20,50
Der Erzähler dieses Romans hat viel mit dem Autor selbst gemeinsam: Er ist ein in Australien lebender südafrikanischer Schriftsteller. Er ist Vegetarier. Er genießt einen „bescheidenem Ruhm“
(Coetzee selbst ist Nobelpreisträger), und er fungiert als ein „Kulturschaffender“, der bei „öffentlichen Kontroversen gelegentlich um seine Meinung gefragt und dann wieder im Regal verstaut
wird“. Juan, wie er genannt wird – Coetzees Name ist John – wurde um Beiträge zu einem Buch,
das “Strong Opinions” heißen soll, gefragt und schreibt pflichtschuldigst mehrere Polemiken über
das ewig gespannte Verhältnis von Staat und Individuum. Juans Meinungen sind klarsichtig und
wohlüberlegt, wie zum Beispiel über Tony Blair, den Idealisten, der sich blind zeigte gegenüber
Folter und Mord, aber sie ähneln oft etwas zu sehr Leitartikeln. Vielfach ist es auch grantige Altherren-Prosa auf hohem Niveau, wenn Juan/Coetzee den Verfall der akademischen Sitten beklagt oder sich über den Musikgeschmack junger Leute entsetzt – durchaus berechtigt, wenn auch sehr didaktisch und ziemlich humorfrei.
Für die im üblichen Sinn romanhafteren Passagen erschafft Coetzee die Gestalt von Anya, einer hübschen jungen Filipina, die
der alternde, von seiner Parkinson-Erkrankung zunehmend geplagte Juan als Schreibkraft einstellt. Was ihr an Erfahrung und
Qualitäten als Sekretärin fehlt, macht sie wett durch ihre Jugend und Schönheit, die ihn in ihren Bann ziehen, und durch ihren
lakonischen Blick auf die Welt, der ihn dazu bringt, plötzlich im Vogelgesang mehr zu entdecken als ein biologisches Phänomen. Anyas Gedanken und Kommentare enthalten den Humor, der Coetzees bisherigem Werk abgeht; sie ist die erfrischende
junge Frau, die nicht als ausgebeutete Immigrantin, sondern ironisch distanziert über ihren eigenen entzückenden Hintern, der es
ihrem Arbeitgeber angetan hat, räsonieren kann.
Als optische Konsequenz dieser Teilung der Stimmen ist auch jede Seite des Buches geteilt – man kann sie also abwechselnd linear lesen oder der jeweiligen Erzählstimme von Seite zu Seite folgen. Anya hat aber auch einen zwielichtigen Freund, der mit
ihrer Hilfe versucht, Juans Vermögen an sich zu bringen – womit der Erzählung ein Spannungselement hinzugefügt wird.
Aus diesen miteinander in Konflikt liegenden Perspektiven, der hohen Rhetorik und der niederen Absichten entsteht ein nicht
immer leicht zu lesendes, aber doch brilliantes (und ausgezeichnet übersetztes!) Werk.
Friederike Rittberg
BelletristikLiterarisches
Kaminer, Wladimir: Salve Papa!
Ill. v. Vitali Konstantinov
München: Manhattan 2008. 223 S., € 18,50
Das Familienleben, die Kinder und ihre Erfahrungen und Probleme in der Schule,
das alltägliche Zusammenleben mit Haustieren oder auch mit den Nachbarn – mit
solchen und ähnlichen Alltagsthemen beschäftigt sich Wladimir Kaminer in seinen
42 Kurzgeschichten. Peinliche Ereignisse
in der Videothek ums Eck kommen ebenso
zur Sprache wie kulturelle Missverständnisse in der Berliner „Multi-Kulti“-Gesellschaft. Daneben erinnert sich der in
Moskau geborene Autor an die Zeit in der
damaligen Sowjetunion. Die eigene Jugend bekommt durch die Gegenüberstellung zum Leben seiner Kinder in Berlin
eine beinahe unglaubwürdige Aura. Während Kaminer als Kind auf der Müllhalde
neben einem Sumpf Verstecken spielte, beschäftigen seine Kinder heute Fragen der
Handy-Bedienung oder der Versteigerung
von Süßigkeiten in der Schulpause.
Wenn der Autor sein Erstaunen über allerlei fragwürdige Erscheinungen des gegenwärtigen Lebens ausdrückt, dann nie
mit Verbitterung, Ärger oder Ablehnung,
sondern mit einer großen Portion Humor.
Kaminer schöpft aus der vollen Skurrilität
des Alltags und regt dabei zum Lachen,
aber auch zum Nachdenken an. Die Geschichten sind witzig, urban, kurzweilig
und gut erzählt – kaum zu glauben, dass
Kaminer nicht in seiner Muttersprache
Russisch schreibt. Doch wie schreibt er
selbst über „die sogenannten literarischen
Qualitäten“: „Sie werden im Allgemeinen
überschätzt. Egal, wie gut die Sprache ist,
die literarischen Qualitäten allein können
kein Buch retten, wenn die Geschichte
nicht stimmt.“ Bei Kaminer stimmen auch
die Geschichten.
Katharina Zucker
Lappert, Rolf: Nach Hause
schwimmen
München: Hanser 2008. 543 S., € 22,10
„Heute ist der Tag an dem ich sterbe“. Mit
diesem Statement beginnt Rolf Lapperts
umfangreicher Roman, dessen Hauptheld
Wilbur in der Ich-Form erzählt. Einander
abwechselnd folgen Szenen, die sich unmittelbar nach dem eben verübten Selbstmordversuch Wilburs (er wollte sich er-
7
tränken) im Krankenhaus abspielen und
Rückblenden auf sein Leben, beginnend
ebenfalls mit einem Tod, nämlich jenem
der Mutter bei seiner Geburt.
Nicht nur Wilburs gesamtes Leben
wird im Rückblick erzählt, auch die Lebenswege seiner irischen Verwandten werden nachgezeichnet. Überhaupt gelingt es
Lappert schon durch kurze Passagen, die
verschiedenen Charaktere sehr anschaulich darzustellen – jeder und jede von ihnen trägt ihr eigenes „Paket“ an Sorgen
und Nöten mit sich herum und das alles
prägt auch den jungen Wilbur. Geboren
wird er zwar in Amerika, doch schon bald
holen ihn seine Großeltern mütterlicherseits in die ursprüngliche Heimat seiner
Mutter, nach Irland, zurück. Nach anfänglichem Familienglück ist Wilbur aber erneut dem Verlust ausgesetzt und scheint
ein Verlierer zu bleiben. Erst als abermals
eine Frau, Aimee, in sein Leben tritt,
scheint er in der Lage, sein Schicksal ändern zu können.
Am Ende vereinen sich nicht nur die
Gegenwart und die Rückblenden, sondern
auch Wilbur selbst schafft es, sich doch
noch in sein Leben zu integrieren. Symbolisch dafür steht die Überwindung seiner
den Text immer wieder prägenden Aquaphobie, das titelgebende Schwimmen: „Ich
schwimme wie ein Hund, eher schlechter.
Aber ich schwimme.“
Sehr gut gelungen sind dem gebürtigen
Schweizer Autor, der nun in Irland lebt
und arbeitet, die Schilderungen der Handlungsorte. Lapperts lakonischer Stil passt
zudem wunderbar zu dieser teils skurrilen
Geschichte an den mehr oder weniger
trostlosen Orten. Die über 500 Seiten lesen sich leicht, was nicht heißt, dass sich
nicht doch einige eigentlich vermeidbare
Längen darin finden.
Lisa Kollmer
Kureishi, Hanif: Das sag ich dir
Aus dem Engl. übers.
Frankfurt a. M.: Fischer 2008. 508 S., € 20,50
Jamal hat pakistanische Wurzeln und liebt das vielbevölkerte London. Es ist ihm
gelungen, eine Nische im Umfeld der Neureichen zu finden, wo er sein Geld als
Psychoanalytiker verdient. Einige Freunde mit den geeigneten Verbindungen verschaffen ihm Einladungen zu schicken Parties, wo es alles gibt, was Spaß macht
und verboten oder wenigstens schräg ist. Hinter ihm liegt eine Ehe, noch weiter
zurück eine unvergessene Jugendliebe und die Verantwortung für den Tod eines
Menschen. Hauptsächlich ist er damit beschäftigt, auf dem Laufenden zu bleiben, was die richtigen sozialen Codes betrifft. Als akzeptierter, publizierender
Intellektueller hat er kaum Berührungsängste, nicht einmal mit der eigenen
Unterschichtsvergangenheit. Die Rituale von SM-Clubs sind ihm ebenso geläufig
wie die kleinkriminelle Ökonomie einiger Stadtteile, der Smalltalk auf einem Empfang bei Mick Jagger oder die hipste Cover-Version mythologisch erhöhter Popsongs. Als Jamal schon glaubt, sein Lebensinhalt bestünde nur mehr darin, einem
Zwangshedonisten beim Altwerden zuzusehen,
holt ihn die Vergangenheit ein ...
Kureishi ist ein geschickter Erzähler, dem etliche Wendungen und Metaphern gut gelingen
und der seinen Figuren mit wenigen Strichen
drehbuchtaugliche Profile gibt. Die Dialoge
sind witzig, wenn auch sehr auf Gags konzentriert. Seine Kommentare geben sich intellektuell, wollen mit ihrem Namedropping und
Seitenhieben auf die Blair-Administration aber
hauptsächlich cool sein. Der Roman ist Mainstream für LeserInnen mit höherer Schulbildung
und passt nahtlos in die Scheinwelt der Fernsehunterhaltung.
Ernst Simanek
LiterarischesBelletristik
8
Lahiri, Jhumpa: Einmal im Leben
Aus dem Engl. übers.
Reinbek: Rowohlt 2008. 174 S., € 17,40
Während Jhumpa Lahiri in den USA als literarischer Shootingstar gefeiert wird, ist
die Autorin indischer Abstammung hierzulande noch eher ein Insidertipp. Dabei
kann die Pulitzer-Preisträgerin bereits auf
eine erstaunliche Karriere blicken.
Unaccustomed Earth, so der Titel ihres
letztens Romans im englischen Original,
ist eine Sammlung von acht getrennt erschienenen Kurzgeschichten, von denen
drei thematisch zusammenhängen. Diese
drei Geschichten sind jetzt unter dem Titel
Einmal im Leben zusammen aufgelegt worden. Sie kreisen um die Lebens- und Liebesgeschichte von Hema und Kaushnik,
den Kindern von bengalischen Einwanderern, die sich in den 1970er-Jahren in Massachusetts kennen lernen.
Die erste Geschichte wird aus der Sicht
von Hema erzählt. Hema schwärmt auf
kindliche Art für Kaushnik. Dieser kann jedoch nur wenig mit dem jungen Mädchen
anfangen – zu sehr ist er mit dem Aufarbeiten der neuen Umgebung und des American Way of Life beschäftigt. In der zweiten
Geschichte wird Kaushik zum Erzähler.
Einige Jahre sind vergangen und Kaushik
muss den Krebstod seiner Mutter und neue
familiäre Herausforderungen verkraften.
Erst im dritten Teil finden Hema und
Kaushik zueinander. Nach 20 Jahren laufen sich die beiden in Italien über den
Weg. Kaushik ist mittlerweile ein bekannter Fotojournalist, Hema ist Altphilologin
und unterwegs nach Indien, um eine von
den Eltern arrangierte Vernunftehe einzugehen. Sie beginnen eine leidenschaftliche
Affäre, die ihr bisheriges Leben noch einmal gründlich durcheinanderwirbelt …
Einmal im Leben ist eine wunderschöne Liebesgeschichte von zwei Menschen,
die auf der Suche nach ihren eigenen
Wurzeln sind. In einer klaren und präzisen
Sprache, die sich durch eine besondere
Beobachtungskunst auszeichnet, erzählt
Jhumpa Lahiri von einem Leben in zwei
Kulturen. Dabei wird deutlich, dass es
trotz aller Schwierigkeiten nicht ein
Nachteil sein muss, in zwei verschiedenen
Welten aufzuwachsen, vorausgesetzt, der
kulturelle Reichtum wird als solcher wahrgenommen und darf auch gelebt werden.
Thomas Geldner
Niemi, Mikael: Der Mann, der starb
wie ein Lachs
Aus dem Schwedischen übers.
München: btb, 2008. 351 S., € 20,60
Wie sein Erstling Populärmusik aus Vittula,
der Mikael Niemi schlagartig bekannt
machte, spielt auch sein dritter Roman in
Pajala in Nordschweden. Im Gegensatz zu
den eher Genre sprengenden Vorgängern ist
Der Mann, der starb wie ein Lachs ein dezidierter Kriminalroman. Als Basis des Plots
dient auch hier Niemis bevorzugtes Thema
der Bilingualität im Nordosten Schwedens
und die damit verbundenen Konflikte.
Ein alter Mann wird auf brutale, aber
dennoch eigentümliche Weise ermordet. Er
wird mit einer Fischgabel aufgespießt und
ausgeweidet – wie ein Lachs. Ein seltener
Ausbruch von Gewalt in einer ländlichen
Region, in der offene Türen und Gast-
freundlichkeit auch Fremden gegenüber
die Regel sind.
Die junge Stockholmer Polizistin Therese Fossnes ist nicht begeistert, als sie beauftragt wird, diesen Fall zu übernehmen.
Obwohl sie selbst aus der Region stammt,
kommen ihr die Menschen hier seltsam
vor, deren Dialekt ihr seit ihrer Kindheit
unverständlich geblieben ist. Sie beginnt
eine Beziehung mit dem Hauptverdächtigen, einem kauzigen Eigenbrötler, der abgeschieden in der Einöde lebt. Fossnes
selbst löst den Fall nicht; die LeserInnen
erwartet ein überraschender Knalleffekt als
krönender Abschluss des grotesken Falles.
Niemis Bücher leben von eigensinnigen, skurrilen Gestalten vor karger Landschaft und schrägem Humor – in diesem
Krimi ergänzt durch die originelle Sprache
und gut dosierte Spannung bis zum Ende.
Hermann Gamauf
Schami, Rafik: Das Geheimnis des Kalligraphen
München: Hanser 2008. 458 S., € 25,60
Thema des vorliegenden Buches ist die arabische Schrift und ihre lange, vielfältige Tradition. Meister dieser Kunst ist der in den 50er-Jahren in Damaskus lebende
Kalligraph Hamid Farsi, der die Mitbürger begeistert, die sich von ihm Lobsprüche, Bittschriften oder auch Liebesbriefe verfassen lassen. Er kann in Verbindung
mit Form und Inhalt dem Gelesenen den erwünschten Sinn verleihen, obwohl es
ihm persönlich nur auf die Schönheit der Zeichen ankommt.
Seine Ehe mit der Schneiderin Nura verliert sich in Gleichgültigkeit und Hass, da
er mit der Planung einer Kalligraphenschule und der Reform der Schrift beschäftigt ist und Frauen in seinem Weltbild den untersten Platz einnehmen. Als diese
mit dem christlichen Laufburschen ihres Mannes eine Liebesaffäre beginnt und
mit ihm flüchtet, glaubt der Verlassene, dass Nassri Abbani, der stadtbekannte
Frauenheld, hinter Nuras Verschwinden steckt. Er tötet ihn und wird zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Sein Unglück aber verdankt er seinem Plan,
die arabische Schrift zu reformieren und wird dadurch zum Mittelpunkt einer politischen Verschwörung.
Am Beginn der Geschehnisse werden die handelnden Personen ausführlich dargestellt, ihre Vergangenheit, ihr soziales Umfeld
und ihre Charaktereigenschaften werden detailliert abgehandelt, sodass viele Erzählebenen entstehen, die zu einem Gesamtbild der Ereignisse
führen. Der Autor führt die LeserInnen in bildhafter Erzählweise durch seine Geburtsstadt Damaskus, die er als junger Mensch verlassen musste
und die er bis heute nicht wiedergesehen hat. Er
erzählt vom Alltagsleben der christlichen und
muslimischen Einwohner, von ihren gegenseitigen Abneigungen und Vorlieben, von ihren Wünschen und Sehnsüchten und entwickelt ein fantasievolles Panorama orientalischer Lebenskunst.
Renate Zeller
BelletristikLiterarisches
Sundaresan, Indu: Die Tochter
des Rajas
Aus dem Amerikanischen übers.
Frankfurt a. M.: Krüger 2008. 460 S., € 19,90
Fünf Tage nach dem Tode ihres Vaters erhält
die 21-jährige Olivia ein Paket aus Indien.
Neben exotischem Schmuck, bunten Saris
und vergilbten Fotos enthält es den Brief eines unbekannten Absenders, dessen Inhalt
sie zuerst zutiefst verstört, aber dann in
zunehmenden Maße fesselt: Parallel zum
Schicksal jenes Teils ihrer Familie, über die
ihr Vater stets Stillschweigen bewahrte,
entfaltet sich wie ein bunter Bilderbogen
ein Teil indischer Kolonialgeschichte.
Olivia erfährt vom Leben ihrer Mutter
Mila, der wohlbehüteten Tochter eines hohen Regierungsbeamten, deren sorgloses,
glückliches Leben mit dem Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges abrupt endet. Mila
verliebt sich unsterblich einen schönen,
geheimnisvollen amerikanischen Offizier
und muss sich zwischen Herz und Tradition entscheiden.
Was sich nach der Inhaltsangabe wie
ein kitschiges „Bollywood-Drama“ anhört,
ist der ernsthafte Versuch, die Geschichte
Indiens auf den Weg in die Unabhängigkeit in schillernden Farben zu schildern.
Leider ist es ihr nicht allzu gut gelungen.
Trotz einer interessanten, wenn auch nicht
ungewöhnlichen Erzähltechnik (Handlung
auf zwei Zeitebenen, literarische Betrachtungen von Zeitzeugen, die den einzelnen
Kapiteln vorangestellt werden) bleiben die
Gestalten seltsam blass und nicht wirklich
9
Nach einem beruflich bedingten Wohnortwechsel erlebt der 48-jährige Taura fernab
von seiner Familie, die ihm ohnehin fremd
geworden ist, eine ausgeprägte Midlifecrisis. Als er nach einem Beinbruch im
Krankenhaus landet, kommt es zu einer Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau
namens Mutsuko. Er kann sie nicht sehen,
denn mitten im Raum steht ein Paravent.
Dennoch entwickelt sich ein Gespräch
zwischen den beiden. Die anfangs zögerliche Unterhaltung wird zusehends intensiver und mündet schließlich in Verbalsex.
Am nächsten Morgen dann das böse Erwachen: Die Schwester schiebt die Trennwand beiseite und Taura muss feststellen,
dass neben ihm eine alte, grauhaarige Frau
liegt, die so gar nicht seinen Vorstellungen
von der leidenschaftlichen Gesprächspartnerin der letzten Nacht entspricht.
Doch das ist erst der Beginn eines grotesken Alptraums: Mutsuko meldet sich
nach einigen Monaten wieder und Taura ist
nicht wenig verblüfft, als ihm plötzlich eine
etwa 40-jährige Frau gegenüber steht. Zu-
nächst glaubt er an eine Verwechslung
– was ihn aber nicht daran hindert, sich
Hals über Kopf in die äußerst attraktive
Dame zu verlieben. Doch spätestens
nach dem nächsten Treffen zweifelt
Taura endgültig an seiner geistigen Gesundheit, denn Mutsuko wird von Mal
zu Mal jünger.
Lange habe ich nicht vom Fliegen
geträumt ist eine surreale Liebesgeschichte, die neben tiefen Einblicken in
die Abgründe der menschlichen Seele
auch die Einsamkeit moderner GroßstadtbewohnerInnen thematisiert. Die
ProtagonistInnen bewegen sich in einer
kalten und feindseligen Umgebung mit
kafkaesken Zügen; sie stehen mitten im
Leben und verlieren auf unerklärliche
Weise ihren sozialen und psychischen
Halt. Alles scheint von einer unheimlichen Macht beherrscht, die Grenzen
zwischen Realität und Wahnsinn verschwimmen. Taura erlebt eine emotionale Achterbahnfahrt: Sein anfangs
harmloser Seitensprung wird zu einem
obsessiven erotischen Verhältnis, das
schließlich in eine bizarre Lolita-Beziehung mündet. Dabei ist bis zum Schluss
nicht wirklich klar, ob die Verjüngung
von Matsuko tatsächlich oder nur im
kranken Gehirn von Taura stattfindet.
Ein ungewöhnlicher und durchaus
spannender (Schauer-)Roman, der an
den Vorgänger Sommer mit Fremden
zwar nicht heranreicht, aber dennoch
seine Stärken hat.
Thomas Geldner
„Rashomon“ von Akira Kurosawa, lässt er
die einzelnen ProtagonistInnen ihre subjektive Sichtweise auf die Ereignisse schildern.
Da ist zunächst der Schüler Teng, der
sich in die Geschichtslehrerin Shi, die vermeintliche Leiche, verliebt, später die Tat
gesteht und hingerichtet wird. Er berichtet
von seiner Besessenheit und der Ausdauer,
mit der er die junge Frau verfolgt. Von Shis
Mutter wiederum erfahren wir etwas über
den Vater der jungen Frau, einen Europäer,
mit dem sie ein kurzes Verhältnis hatte und
der von der Existenz der Tochter keine Ahnung hatte – bis diese ihn aufspürt und
von einem Tag auf den anderen mit nach
Europa geht, von wo sie 20 Jahre später
wieder nach Peking zurückkehrt. Weiters
zu Wort kommen der ermittelnde Kriminalbeamte, der Richter und schließlich
Shi selbst. Aber auch sie bringt nicht alles
ans Tageslicht, was damals wirklich passiert
ist und wer die eigentliche Leiche war.
Zurück bleiben die LeserInnen mit unbefriedigender Ungewissheit. Zu angedeutet und nebulös sind die einzelnen Episoden, als dass man sich wirklich ein Bild
von den Ereignissen machen könnte. Die
einzelnen Personen bleiben blass und
auch ein Spannungsaufbau geht diesem
Buch ab.
Liesbeth Mansbart
fesselnd, im Gegensatz zu den farbenprächtigen Landschaftsschilderungen, die
zu den ausgesprochenen Stärken des
Romans zählen.
Thomas Jürgens
Yamada, Taichi: Lange habe ich
nicht vom Fliegen geträumt
Aus dem Japanischen übers.
München: Goldmann 2008. 222 S., € 18,50
Spannung
Amann, Jürg: Pekinger Passion
Zürich: Arche 2008. 125 S., € 16,50
Nach 20 Jahren Abwesenheit taucht in Peking eine vermeintlich Ermordete wieder
auf. Damals hat man in einem Park eine
verstümmelte Leiche gefunden. Sie wurde
von ihrer Mutter identifiziert und auch der
Mörder hat gestanden und wurde hingerichtet. Rund um diesen mysteriösen Kriminalfall, obwohl recht zeitlos wirkend,
dürfte er im ausgehenden 20. Jahrhundert
spielen, hat der Schweizer Autor Jürg
Amann seine „Kriminalnovelle“ angesiedelt. Er bedient sich dabei verschiedener
Erzählstränge. Ganz wie im Filmklassiker
SpannungBelletristik
10
Cotterill, Colin: Dr. Siri und seine
Toten
München: Goldmann 2008. 317 S.,
€ 18,50
Doktor Siri Paiboun hat seine beste Zeit als
Arzt schon hinter sich, doch nun wird er
mit 72 Jahren zum einzigen Leichenbeschauer von ganz Laos ernannt. Ausgestattet mit zwei französischen Lehrbüchern
aus den 50er-Jahren und unter der Mithilfe
einer neugierigen Krankenschwester und
eines an Down-Syndrom leidenden spitzfindigen Helfers beginnt er gemächlich seine neue Arbeit.
Abgesehen vom fortwährenden Mangel an allem Notwendigen und einer liebeskranken Sandwich-Verkäuferin, die ihn
ständig mit Köstlichkeiten versorgt, wäre
sein Leben in der laotischen Hauptstadt
durchaus zufriedenstellend, würde da
nicht plötzlich eine Leiche auftauchen, die
im wahrsten Sinne des Wortes nach großen Schwierigkeiten riecht. Denn auch im
verschlafenen Laos vermag die Vergiftung
einer Partei-Bonzin hektische Aktivitäten
auszulösen. Als die Leiche auch noch
spurlos verschwindet, ahnt Siri, dass er in
größere Schwierigkeiten geraten könnte.
Mit viel Geschick umschifft er jedoch alle
von der überforderten kommunistischen
Staatssicherheit gestellten Fallen und entdeckt seine Liebe zu forensischer Detailarbeit. Am Ende entlarvt er ein übles internationales Komplott und versucht sein altes
Leben wieder aufzunehmen.
Die Mischung aus apokalyptischem
Chaos, Improvisationsgabe und kommunistischer Unflexibilität in Laos beschreibt
Cotterill in lockerem Plauderton – und sie
verleiht der Geschichte eine besondere
Stimmungsdichte. Gewürzt wird das Ganze mit der Art von Humor, das das scheinbar Unabwendbare erträglich macht.
Thomas Buraner
Dahl, Arne: Ungeschoren
Aus dem Schwedischen übers.
München: Piper 2008. 413 S., € 20.50
Wer noch keinen von Arne Dahls Krimis
rund um die sogenannte A-Gruppe gelesen
hat, wird am Anfang dieses Romans wohl
etwas ratlos ob des komplizierten Beziehungsgeflechts zwischen den einzelnen
Mitgliedern der Ermittlungseinheit sein.
Außerdem gibt es diverse personelle Umbesetzungen und Neustrukturierungen.
Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten
sollten auch NeueinsteigerInnen Gefallen
an Dahls eigenwilligem und unkonventionellem Stil finden.
Nur langsam fügt sich alles zusammen
– und die Verwirrung wird eingeläutet von
vier Morden, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Eine junge kurdische
Frau, die aus Angst vor Repressalien durch
ihre Familie eine neue Identität angenommen hat, wird von ihrem Bruder enttarnt.
Als sie sich mit ihm treffen will, findet sie
ihn tot auf. Bald darauf wird ein Fernsehmacher, der für sogenanntes „Unterschichtenfernsehen“ in Form von menschenver-
achtenden Realitysoaps zuständig ist, ermordet. Ähnlich wie beim Kurdenmord
wird am Tatort eine bewaffnete Person angetroffen, womit zunächst alles klar zu
sein scheint. Aber zwei weitere Morde folgen und es gibt eine Verbindung zwischen
den vier Opfern: Jedes Opfer hat eine kleine Tätowierung ...
Zugegebenermaßen ist Dahls sechster
Roman rund um die A-Gruppe am Anfang
etwas zäh, doch mit Fortlauf der Geschichte, die von scharfsinnigen Analysen
und Betrachtungen der heutigen schwedischen Gesellschaft und ihren Brüchen
durchzogen ist, kommt Spannung in die
Geschichte.
Peter Hörschelmann
French, Nicci: Bis zum bitteren Ende
Aus dem Englischen übers.
München: Bertelsmann 2008. 414 S., € 20,60
Mit dem Thriller Bis zum bitteren Ende hat das Erfolgsduo Nicci Gerard und
Sean French nun seinen zehnten Spannungs-Roman veröffentlicht.
Astrid lebt in London und jobbt als Fahrradkurier. Was sie eigentlich vorhat in ihrem Leben weiß sie noch nicht so recht. Sie treibt locker und lässig dahin, wie
die meisten ihrer sechs Mitbewohner in der Wohngemeinschaft, in der sie lebt.
Als Fahrradbotin in einer Großstadt ist man extrem unfallgefährdet und auch Astrid erwischt es. Fast vor ihrer Haustür öffnet eine Nachbarin die Autotür und
Astrid knallt in voller Fahrt dagegen. Für sie verläuft die Sache relativ glimpflich.
Am nächsten Tag aber findet man die Nachbarin ermordet auf. Die Polizei ermittelt auch in Astrids WG. Kaum hat sich die Aufregung etwas gelegt, wird die
nächste Tote gefunden – und wieder ist Astrid unmittelbar involviert. Sie ist es
nämlich, die die Leiche findet. Nun beginnt es in der WG zu brodeln. Misstrauen und Angst breiten sich aus. Zudem will der Hauseigentümer, dass die
Mieter ausziehen, da er vorhat, das Haus zusammen mit seiner Freundin zu sanieren. Der nächste Mord passiert in der WG selbst. Nun beginn sich die Lage
zuzuspitzen ...
Im zweiten Teil des Buches findet ein Perspektivenwechsel statt. Der vorerst
noch unbekannte Täter erzählt die Geschichte
aus seiner Sicht – eine psychologisch interessante Wendung, in der sich eine krankhafte
Persönlichkeit selbst erklärt.
Bereits der erste Teil des Buches – die Beschreibung eines WG-Lebens mit einer bunt zusammen gewürfelten Gruppe Individualisten – ist
zügig und spannend zu lesen. Gut geschildert
ist vor allem der Prozess, in dem Angst und
Misstrauen die schrittweise Zersetzung der
Gemeinschaft bewirken. Auch im übrigen gestaltet sich Bis zum bitteren Ende als kurzweiliger und spannender Thriller, der ganz nach
dem Geschmack der ansehnlichen Fangemeinde von Nicci/French ausgefallen sein dürfte.
Maria Hammerschmid
BelletristikSpannung
Grimes, Martha: Inspektor Jury
lässt die Puppen tanzen
Aus dem Englischen übers.
München: Goldmann 2008. 381 S., € 20,60
Superintendent Jury ist verliebt, und zwar
in die Polizeipathologin Phyllis Nancy.
Mehr durch Zufall stolpert er in die
Ermittlungen eines neuen Mordfalls: Bill
Maples, ein exzentrischer Kunstsammler,
wird in einem vornehmen Restaurant tot
aufgefunden. Am Tatort erwartet Jury bereits eine neue Kollegin, die, wie könnte es
anders sein, äußerst attraktive Brasilianerin
Lu Aguilar. Die gemeinsamen Recherchen
führen Jury und Aguilar nicht nur auf die
richtige Fährte, sondern auch direkt in eine
heiße Affäre, die auf alle Beteiligten ansteckend wirkt.
Pikant sind auch die Entdeckungen, die
der Inspektor macht: Billy Marple scheint
ein Doppelleben geführt zu haben. Zum einen lebte er abgeschieden im Wohnhaus
des Dichters Henry James, zum anderen
tauchte er immer wieder in der Londoner
Schickeria auf. Die Freundschaft zu einem
dubiosen Deutschen, der als Privatsekretär
Maples fungierte, und Maples Faszination
für den Zweiten Weltkrieg bringen Jury und
Aguilar schließlich auf die richtige Fährte –
ins Berlin der 40er-Jahre ...
Martha Grimes gilt als Meisterin des
klassisch-britischen Kriminalromans – und
11
das als Amerikanerin. Sie hat mit Inspektor
Jury einen mittlerweile legendären Ermittler geschaffen. Ihr neuer Roman zeigt den
eingefleischten Junggesellen nun von einer
neuen Seite: zwischen Liebe und Leidenschaft. Auch wenn der Schluss Fragen offenlässt, ist es ein Vergnügen, das von witzigen Dialogen und einem gelungenen
Spannungsbogen getragene Buch zu lesen.
Thomas Pöltl
Hammesfahr, Petra: Erinnerung an
einen Mörder
Reinbek: Wunderlich 2008. 441 S., € 20,50
Eine wohlbehütete Kindheit gesteht Petra
Hammesfahr ihrem Protagonisten Felix in
ihrem neuesten Roman wirklich nicht zu.
In Erinnerung an einen Mörder hat er es
mit einer sadistischen Mutter und einem
wahren Drachen von Großmutter zu tun.
Die Mutter ist hochgradig frustriert über
die ungewollte Schwangerschaft in jungen
Jahren, die Großmutter voll des Hasses auf
das Kind Felix und dessen Vater, welche ihrer Ansicht nach die alleinige Schuld daran
tragen, dass die begabte Tochter, statt eine
gute Ausbildung und eine ebensolche Partie zu machen, als Ehefrau eines Gelegenheitsarbeiters endet.
Jahre der Vernachlässigung und der
Misshandlungen machen Felix und seine
beiden Schwestern durch, schikaniert und
gedemütigt von der Großmutter, geprügelt
von der Mutter – ohne Unterstützung des
augenscheinlich ahnungslosen Vaters, der
seiner zänkischen Ehefrau gegenüber ohnehin hilflos ist. Besonders schlimm trifft
es das dritte Kind, Baby Annika, das von
der Mutter täglich allein gelassen wird, sobald der Vater aus dem Haus ist. Als die
mütterlichen Misshandlungen dem Baby
schweren Schaden zufügen, rastet der Vater aus und richtet das an, was in den Zeitungen dann eine „blutige Familientragödie“ genannt wird.
Der achtjährige Felix überlebt, war sogar noch im Haus, erinnert sich aber nicht
daran, was er dort gesehen hat. Scheint
sein von einer liebenden Tante umsorgtes
Leben endlich friedlich zu werden, brechen während der Pubertät Erinnerungen
auf. Sein Versuch, endlich Klarheit über
das Schicksal seiner Familie zu erlangen,
bringt – je nach Gesprächspartner – so viele verschiedene Geschichten zu Tage, dass
es noch Jahre dauert, bis Felix Gewissheit
über die Geschehnisse während der „blutigen Familientragödie“ hat.
Fesselnd und mit tiefen Einblicken in
seelische Abgründe, die Hammesfahr-Fans
ahnen es schon, ist Erinnung an einen Mörder eine klare Empfehlung für LeserInnen
mit Interesse an psychologischen Krimis.
Isolde Grabner
Evanovich, Janet: Kalt erwischt
Aus dem Englischen übers.
München: Manhattan 2008. 303 S., € 17,50
Sie ist frech, sexy, chaotisch und hat einen Hang zu prekären Situationen: Stephanie Plum, ihres Zeichens Kopfgeldjägerin und
dank Bestsellerautorin Janet Evanovich bereits zum zwölften Mal im deutschsprachigen Serien-Einsatz. Chronisch pleite, versucht
sich die ehemalige Dessousverkäuferin mit der Jagd auf Verbrecher über Wasser zu halten – ein Unterfangen, das zur Freude der
zahlreichen Stephanie-Plum-Fans mehr schlecht als recht gelingt und beträchtlichen Unterhaltungswert bietet. Humoreske
Verwicklungen und jede Menge erotisches Beiwerk machen sichtlich Lust auf einen Plot, der rasch
umrissen ist: Stephanie Plum wird von einer Frau verfolgt, die sich als Gattin des bereits serienerprobten und unwiderstehlichen Rangers ausgibt. Dumm nur, dass eben jene Dame kurz nach dieser überraschenden Offenbahrung ermordet aufgefunden wird und Stephanies sexy Latino-Ranger nicht nur
zum Hauptverdächtigen wird, sondern auch noch die Entführung seiner zehnjährigen Tochter verkraften muss. Bei so viel Leid kann nur eines helfen: Stephanie muss auf eigene Faust ermitteln – im
Wettlauf gegen die Zeit und die Polizei, dafür aber mit umso erstaunlicheren Ergebnissen.
Janet Evanovich zeigt mit dem Krimi Kalt erwischt einmal mehr ihr Talent für packende Geschichten
mit jeder Menge Situationskomik. Witzige Dialoge und spannende Handlungsbögen treiben das
Geschehen voran und garantieren leicht konsumierbares Lesefutter für Krimifans. Die ausführlichen
Beschreibungen der durchtrainierten Männerkörper rund um die Protagonistin dürften allerdings auf
ein vorwiegend weibliches Leserinnenpublikum abzielen.
Martina Rényi
SpannungBelletristik
12
Indridason, Arnaldur: Todesrosen
Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 300 S.,
€ 19,50
Ausgerechnet auf dem Ehrengrab des
isländischen Freiheitskämpfers und Nationalhelden Jon Sigurdsson wird die Leiche
eines jungen Mädchens gefunden. Ist es Zufall oder ein politisches Statement, das der
Mörder abgeben wollte? Kommissar Erlendurs Recherchen führen in dubiose Wirtschaftsmachenschaften und in die schwierigen Lebensverhältnisse der isländischen
Landbevölkerung in all ihrer hoffnungslosen Einsamkeit. Anhand eines Einzelschicksals versucht Indridason auch die soziale
und gesellschaftspolitische Entwicklung Islands aufzuzeigen.
Die isländische Autorin Arnaldur Indridason hat neben Hakan Nesser und Henning Mankell einen fixen Platz in der nordeuropäischen Krimi-Szene erobert. Ihre Romane zeichnen sich durch sorgfältig recherchierte Hintergründe und authentisch gezeichnetes Lokalkolorit aus: ungewohnt
sonnige Sommernächte und Schlaflosigkeit,
Reykjaviker Stadtleben, einsame Fjorde,
karges Landleben. Neben den stimmig
dichten Atmosphären bestechen die markaten, starken Charaktere. Besonders die Figur
des grantigen Kommissars Erlendur, der nun
bereits im siebten Fall ermittelt, ist vielschichtig und interessant gestaltet. Meist reichen die Wurzeln eines Verbrechens tief in
die Vergangenheit zurück, akribisch gräbt
Indridason Stück für Stück die Wahrheit
aus, bis vor dem Publikum ein (meist tragisches) Schicksal bloß liegt.
Kurz Susanne
Khadra, Yasmina: Die Sirenen von
Bagdad
Aus dem Französischen übers.
München: Nagel & Kimche 2008. 314 S.,
€ 20,50
In Rückblenden erzählt der namenlose, 21jährige Ich-Erzähler seinen Werdegang
vom friedlichen und sensiblen jungen Iraker zum hasserfüllten, potentiellen Vollstrecker des größten und zerstörerischsten
Attentats in der Geschichte. Ein Virus, in
jahrelanger Arbeit entwickelt, soll 9/11 bei
weitem in den Schatten stellen.
Bei einer Razzia amerikanischer GIs in
seinem Heimatdorf wird die Beduinen-
familie durch das brutale Vorgehen der Soldaten zutiefst gedemütigt.
Seiner Ehre beraubt verlässt der junge
Mann sein Dorf und begibt sich nach Bagdad, wo er in die Fänge radikaler Fundamentalisten gerät. Um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen schließt er sich
dem Widerstand im Irak an. Er kommt als
Nachtwächter in einem Elektro-Laden unter, der aber nur Tarnung für Bomben bastelnde Extremisten ist. Weiters macht er die
Bekanntschaft des Dr. Jalal, einem einst
vom Westen geschätzten Kritiker der Extremisten, der aber längst die Seiten gewechselt hat und selbst an der Spirale des Hasses
dreht.
Yasmina Khadra ist das Pseudonym von
Mohammed Moulesshoul, einem ehemaligen ranghohen Offizier der algerischen Armee, der 2000 ins französische Exil ging.
Seine mehrfach ausgezeichneten Romane
wurden in 17 Sprachen übersetzt und über
drei Millionen mal verkauft. Mit Todesrosen präsentiert er einen hoch aktuellen
Thriller mit manchen Längen in der Handlung und fallweise bemühten Dialogen.
Günther Badstuber
Mankell, Henning: Der Chinese
Aus dem Schwedischen übers.
Wien: Zsolnay 2008. 603 S., € 24,90
Henning Mankell legt mit Der Chinese ein
weiteres Meisterstück seiner Erzählkunst
mit Sogwirkung vor: Was als konventioneller Kriminalroman beginnt, entwickelt sich
schnell zu einer vielschichtigen Story, die
ihren Bogen von der Geschichte versklavter Chinesen im amerikanischen Eisenbahnbau bis in das heutige Peking spannt.
In einem kleinen Dorf kommt es zu einem Massaker, fast die ganze Dorfbevölkerung, mehr oder weniger miteinander verwandt, wird abgeschlachtet. Die Polizei
tappt im Dunkeln, die Richterin Roslin entdeckt ihre Adoptiveltern unter den Opfern
und beginnt sich für den Fall zu interessieren. Bald gibt es einen Verdächtigen, der geständig ist und sich kurz danach selbst richtet. Rosalin ist die Lösung zu glatt, sie findet
Parallelen zu einem Massenmord in den
USA, bei dem auch entfernte Verwandte
von ihr untern den Mordopfern waren ...
Der Roman ist eine scharfsichtige Analyse des Umbruchs in der chinesischen
Gesellschaft und ein unangenehmer Blick
auf einen künftigen neuen Imperialismus
am afrikanischen Kontinent. Mankell recherchiert sehr genau und das merkt man
dem Buch auf jeder Seite an.
Peter Hörschelmann
Nabb, Magdalen: Vita Nuova
Zürich: Diogenes 2008. 321 S., € 20,50
Als das toskanische Gegenstück zu Donna
Leons Commissario Brunetti gilt seit langem der aus einfachen Verhältnissen stammende, in Florenz tätige Commissario
Guarnaccia. In diesem vierzehnten, von
der kürzlich verstorbenen Magdalen Nabb
verfassten Roman, bekommt er es mit
Menschenhandel und Sexsklaverei zu tun.
Vorerst sieht alles nach einem Mordfall
aus. Eine junge Frau wird in einem toskanischen Landgut erschossen aufgefunden.
Der Hausherr und Vater der jungen Frau
befindet sich gerade im Krankenhaus; es
gibt noch eine Schwester und ein Kind der
Ermordeten, von dem nicht bekannt ist,
wer der Vater ist. Der naheliegenden Erklärung, dass es sich um einen Raubmord
handle, kann Guarnaccia nichts abgewinnen. Junge osteuropäische Frauen betreuen den Haushalt in der Villa und es stellt
sich heraus, dass der Hausherr Paoletti im
früheren Leben seinen Reichtum mit Zuhälterei verdient hat. Der Commissario erfährt auf Umwegen, dass noch immer junge Frauen aus dem Osten nach Florenz geschleust werden, welche dann in einem
Sex-Etablissement oder in besagtem Haushalt landen. Er muss sich auch persönlich
in einen Nachtclub auf Recherche begeben, was schwerwiegende Folgen nach
sich zieht. Dabei hätte er in diesen Tagen
doch auf Wohnungssuche für sich und seine Familie gehen sollen. Erwartungsgemäß
gelingt es ihm nach vielen Verwicklungen,
den Fall zu lösen, eine neue Wohnung hat
der im Privatleben eher ungeschickte
Guarnaccia aber noch nicht gefunden.
Die Autorin vermittelt ein ungeschminktes Gesicht der Touristenhochburg
Florenz. Sie versteht es, die Probleme Italiens – Schattenwirtschaft, Korruption und
Xenophobie – an einem konkreten Fall exemplarisch darzustellen und die LeserInnen zugleich durch eine spannende Handlung und einen menschelnden Kommissar
bei der Stange zu halten.
Johanna Mitterhofer
BelletristikSpannung
Mistretta, Roberto: Der kalte Blick
der Rache
Aus dem Italienischen übers.
Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 347 S.,
€ 19,50
Maresciallo Bonnanos Vergnügen an diffizilen intellektuellen Herausforderungen ist
von Sherlock Holmes’ Spitzfindigkeit mindestens so weit entfernt wie Sizilien von
Großbritannien. Dennoch – vormachen
lässt sich der cholerische Carabiniere
nichts, weder von spitzfindigen Anwälten
noch von skrupellosen Menschenhändlern. Und wenn auch nicht mit der feinen
Klinge, so löst er seine Fälle doch ...
Roberto Mistretta beginnt seinen mittlerweile dritten Kriminalroman mit zwei
Handlungssträngen, die zuerst nichts miteinander zu tun haben. Während sich
Bonnano in Sizilien mit einem Eifersuchtsdrama, Korruption und vergifteten Hunden
herumschlägt, beginnt die zweite Geschichte im Kosovo während der ethnischen Säuberungen, inmitten von Kriegsgräueln, Vergewaltigungen, Morden.
Mistretta gibt seinem Maresciallo einen „volkstümlichen“ Charakter und eine
archetypisch sizilianische Umgebung.
Bonnano liebt gutes Essen und einen starken Espresso, er lebt mit Mutter und
Tochter, wobei sich die Mutter mehr als es
ihm lieb ist, immer wieder in seine Angelegenheiten einmischt. Dass zu Mistrettas
Vorbildern Andrea Camilleri gehört, verwundert nicht und lässt sich auch nicht
leugnen; er hat allerdings seinen eigenen
Stil und vor allem seine eigenen Ideen, die
Der kalte Blick der Rache aus dem Üblichen herausheben.
Isolde Grabner
Preston, Douglas: Credo. Das letzte
Geheimnis
Aus dem Amerikanischen übers.
München: Droemer Knaur 2008. 586 S.,
€ 17,50
In einem abgelegenen Labor irgendwo in
einem Navajo-Reservat erforscht eine
Gruppe von Wissenschaftlern eine neuartige Energiequelle: einen Teilchenbeschleuniger namens „Isabella“, der, „falls er funktioniert, den Urknall, die Entstehung der
Welt, nachahmen soll“. Doch der Versuch
misslingt und gerät außer Kontrolle: Ein
schwarzes Loch, das rasant größer wird,
13
eröffnet sich und auf dem Bildschirm erscheint eine mysteriöse Grußbotschaft
„Seid gegrüßt“.
Wird „Isabella“, wie einige befürchten,
die Erde in das schwarze Loch saugen?
Oder läutet die spektakuläre Panne nur die
Stunde des donnernden Fernsehpredigers
Spates ein, der vermeint, dass der Versuch
nur dazu diene, die Schöpfungsgeschichte
zu widerlegen und Gott auf seinem Thron
herauszufordern? Die Sache ist jedenfalls
heikel genug, dass Wyman Ford, ein früherer Mönch und nun Sonderbeauftragter
der US-Regierung eingeschleust wird, um
den Dingen auf den Grund gehen.
Das von Preston Douglas ersonnene
Szenario ist durchwegs spannend und
widmet sich neben den ungelösten Problemen der modernen Wissenschaft auch den
Aktivitäten jener in Amerika sehr aktiven
christlichen Rechten, die sich als religiöse
Fundamentalisten im Namen des Herrn
unangenehm stark in die Gesellschaft einmischen. Dabei werden Religion und Wissenschaft einander gegenüber gestellt,
ohne eine davon ins Recht zu setzen: Die
abgeschotteten Wissenschaftler und die bigotten Gläubigen sind gleichermaßen
Spiegelbild einer erschreckenden Realität.
Willi Saar
Nesser, Håkan: Mensch ohne Hund
Aus dem Schwedischen übers.
München: btb 2007. 541 S., € 20,60
Es hätte ein pompöses Fest werden sollen, die Doppelpensionierung des Pädagogen-Ehepaares Hermansson und der gemeinsame runde Geburtstag von Vater
und Tochter wenige Tage vor Weihnachten. Doch dann verursachte der einzige
Sohn Walter einen TV-Skandal und die Veranstaltung schrumpft auf ein einfaches
Familientreffen zusammen.
Die Feier wird also im intimen Rahmen des bereits verkauften Elternhauses stattfinden. Der dominante Vater findet den Fehltritt seines Sohnes derart entwürdigend, dass er gemeinsam mit seiner Frau nach Spanien auswandern will. Was
noch niemand ahnt: Es wird die letzte Zusammenkunft der gesamten Familie sein.
Schon am Vorabend der Feier verschwindet Walter spurlos. Zunächst macht sich
niemand ernsthafte Sorgen; war er doch von jeher das Problemkind der Familie.
Als jedoch in der gleichen Woche auch der halbwüchsige Enkel Hendrik über
Nacht verschwindet, wendet sich die verzweifelte Familie endlich an die Polizei.
Inspektor Gunnar Barbarotti beginnt zu ermitteln. Die wenigen Ansatzpunkte verlaufen sehr schnell im Sand und monatelang scheint der Fall ungeklärt zu bleiben. Zufälle und Hartnäckigkeit führen letztlich zur Lösung der rätselhaften Vorkommnisse.
Der bekannte schwedische Autor Håkan Nesser führt nach seinem Kommissar Van
Veeteren einen neuen Protagonisten ein. Inspektor Gunnar Barbarotti ist geschieden, Vater von drei Kindern und steht in ständigem Zwiegespräch mit Gott. Wie in
Nessers übrigen Romanen erweisen sich die
Handelnden als Personen mit Ecken und Kanten.
Die Fassade der nach außen hin so perfekten Familie zerbröselt sehr rasch und die Polizeiarbeit
ist in erster Linie mühsame Alltagsroutine. Der
Autor lässt die LeserInnen an der Gedankenwelt
der ProtagonistInnen teilhaben. So ist man dem
Inspektor im Wissen um Ungereimtheiten meist
ein wenig voraus; maßgebliche Details bleiben
jedoch geschickt verborgen. Die entscheidende
Frage nach dem Täter beantwortet sich bald und
man beobachtet vorwiegend, wie sich die
einzelnen Familienmitglieder mit der neuen
Situation arrangieren.
Elisabeth Schögler
SpannungBelletristik
14
Vlugt van der, Simone: Finsternis
München: Diana 2008. 365 S., € 20,60
Der holländische Archäologe Bogaards
macht im ägyptischen Karnak eine sensationelle Entdeckung. Er findet den Beweis,
dass der Menschheit schon weit früher als
angenommen Elektrizität zur Verfügung
stand und diese in der sogenannten Bundeslade gespeichert wurde. Die ganze Geschichte des Abendlandes müsste daher
neu geschrieben und interpretiert werden.
Als er kurz darauf spurlos verschwindet, begibt sich sein Sohn auf die Suche
nach ihm und lernt dabei eine Maklerin
kennen, die ihn unterstützt. Gemeinsam
reisen sie nach Ägypten, ohne zu ahnen,
dass bereits ein Auftragskiller auf sie angesetzt wurde. Als wenig später eine Vertraute des Archäologen ermordet wird, erkennen sie erst, in welcher Gefahr sie tatsächlich schweben ...
Van der Vlugt versuchte sich mit Finsternis auf den Spuren Dan Browns und
scheiterte größtenteils. Neben einer sehr
verworrenen Grundidee reiht sich eine obskure Theorie nach der anderen. Die Rahmenhandlung, eine mehr als klischeehafte
Liebesgeschichte mit entsprechend schablonisierten Akteuren, rundet das Bild ab.
Thomas Buraner
Vandenberg, Philipp: Die achte
Sünde
Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 462 S.,
€ 20,60
Lukas Malberg, ein Münchner Antiquar,
trifft nach Jahren seine frühere Schulkollegin Marlene wieder und verliebt sich ein
bisschen in die gutaussehende Frau. Sie verspricht, ihm ein Geschäft zu vermitteln,
doch als Malberg in Rom ankommt und seine Freundin treffen will, findet er sie tot in
der Badewanne und wird selbst zum Gejagten. Auf der Suche nach dem Schuldigen
ereignen sich äußerst mysteriöse Dinge – so
ist die Wohnung, in der Malberg die tote
Marlene gefunden hat, nicht mehr auffindbar und am Begräbnis der jungen Frau nehmen auffallend viele in Schwarz gekleidete
Männer teil, die äußerst fotoscheu sind ...
In diesem routiniert geschriebenen
Thriller mixt Vandenberg all seine Zutaten
(wie geheimnisvolle Bruderschaften, Reliquien, wertvolle Bücher etc.) zu einem flotten Spannungsroman. Dass die Liebe nicht
zu kurz kommt, ist einerseits kein Fehler,
anderseits Anlass zu allerlei stereotypen
Wendungen. Ein wirklicher Wermutstropfen ist schließlich das ziemlich abrupte, geradezu lieblos wirkende Ende.
Elisabeth Ghanim
Historisches
Follett, Ken: Die Tore der Welt
Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 1296 S.,
€ 25,70
Nach 18 Jahren ist sie endlich da – die
Fortsetzung von Die Säulen der Erde. Allerdings macht es sich Ken Follett nicht allzu
leicht. Er knüpft nicht einfach dort an, wo
die Geschichte des fiktiven Orts Kingsbridge, seiner Kathedrale und deren BewohnerInnen aufgehört hat. Nein, Follett „überspringt“ praktisch 200 Jahre, siedelt den
Roman aber erneut in Kingsbridge an. Die
Tore der Welt beginnt damit, dass sich die
Kinder Merthin, dessen Bruder Ralf und
die beiden Mädchen Caris und Gwenda in
den nahen Wald schleichen, um dort den
selbstgebastelten Bogen von Merthin auszuprobieren. Hier werden sie Zeugen eines brutalen Kampfes, bei dem ein Ritter
zwei Männer der Königin tötet ...
Grautöne in der Charakterzeichnung
sind von Follet nicht vorgesehen. So tötet
Ralph gleich auf den ersten Seiten des Romans das geliebte Hündchen von Gwenda
– nur so zum Spaß. Damit ist den LeserInnen der Charakter von Ralph klar: Er ist
und bleibt abgrundtief böse.
Follets Figuren werden von einem
Schicksalsschlag zum nächsten gepeitscht.
Außerdem enthalten diese Schicksale so
ziemlich alles, was das Mittelalter klischeehalber zu bieten hat: Hexenprozesse,
Seuchen, handfeste Intrigen, brutale Vergewaltigungen, Mord und Verschwörung.
Dennoch hält einen das umfangreiche
Werk, das mit viel Liebe zum Detail geschrieben wurde und mit einer stets spannenden, wenngleich teilweise voraussehbaren Handlung aufwarten kann, schon
nach wenigen Seiten gefangen.
Elisabeth Ghanim
Klee, Elisabeth: Die Ketzerbibel
Reinbek: Wunderlich 2008. 478 S., € 17,40
Das Frauenleben im Mittelalter hatte im
wesentlichen nur zwei Lebensformen zu
bieten: entweder Ehe und Familie oder ein
Dasein als Nonne bzw. Eintritt in ein Kloster. Die Beginengemeinschaft war dazu
eine Alternative. Hier konnten Frauen außerhalb von patriarchalen Familiengemeinschaften und von Klostermauern ein
Leben in Selbstständigkeit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit führen.
Sie waren dadurch imstande, die sozial
auferlegten Rollen Ehe und Mutterschaft
zu verweigern und ihre Gemeinschaften
selbst zu organisieren. Durch ihr Nichteinordnen in hierarchische Strukturen wurden
sie von der römisch-katholischen Kirche
zum Teil als Häretikerinnen abgestempelt
und von der Inquisition verfolgt.
Der Roman von Elisabeth Klee spielt
zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem
Beginenkonvent in der Provence, als eine
halbverhungerte Bettlerin im südfranzösischen Pertuis auftaucht und von den dort
ansässigen Beginen aufgenommen wird.
Danielle, so der Name der Frau, hat offenbar schreckliche Erlebnisse hinter sich und
ihr Gedächtnis verloren. Nach und nach
allerdings fügt sie sich in die Gemeinschaft
ein und wird durch ihre Kenntnisse in der
Heilkunde schnell anerkannt. Doch die
Verfolgung durch die Inquisition sorgt für
ständige Unsicherheit und Gefährdung –
sodass Danielle wieder fliehen muss. Ihr
Leben hängt in der Folge davon ab, ob sie
das Geheimnis um ihre Vergangenheit lösen kann ...
Die Protagonistin vereinigt in sich verschiedene Aspekte mittelalterlicher Medizingeschichte. Frauen waren an den medizinischen Fakultäten des Mittelalters und
der Neuzeit nicht zugelassen, nur die
Schule von Salerno war die einzige Lehranstalt, in der Frauen im Fach Medizin unterrichtet wurden.
Die Autorin erzählt eine spannungsreich angelegte Geschichte vor dem Hintergrund historischer Geschehnisse, welche Einblick in die Lebensformen und das
soziale Umfeld der Menschen im Mittelalter geben. Sie verbindet eine fiktive
Handlung mit geschichtlichen Tatsachen,
die einen großen LeserInnenkreis ansprechen dürfte.
Renate Zeller
BelletristikHistorisches
Thomas, Charlotte: Die Lagune des
Löwen
Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 956 S.,
€ 20,60.
Charlotte Thomas ist eine vielseitige Autorin, die unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht. Am bekanntesten sind
ihre Beziehungskomödien, die sie unter
dem Namen Eva Völler geschrieben hat
und die teilweise auch verfilmt wurden.
Den historischen Hintergrund von Die
Lagune des Löwen bildet das 16. Jahrhundert, eine geschehnisreiche und faszinierende Epoche, in der die italienische Renaissance ihren kulturellen Höhepunkt erreicht und Venedig seine Stellung im europäischen Machtgefüge langsam verliert.
Das Erstarken der neuen Kolonialmächte
Spanien und Portugal, das Zusammenbre-
15
chen des Gewürzmonopols sowie die regelmäßig auftretende, durch die Pest ausgelöste Seuchengefahr tragen zur Schwächung der Lagunenstadt bei.
Die vier ProtagonistInnen dieser Geschichte müssen ihr Leben als Straßenkinder fristen und sind vielen Gefahren ausgesetzt, die sie für immer verbinden. Die
Handlung geschieht auf mehreren Erzählebenen, die den Lebensweg der Hauptfiguren schildert, ihr Streben nach Glück
und Sicherheit, um nie wieder in Armut leben zu müssen und übermächtigen Gegnern ausgeliefert zu sein.
Laura, die Diebin, wird Apothekerin
und Antonio, ebenfalls Dieb, ein kompetenter Kaufmann und ihr Ehemann. Valeria, die spätere Kurtisane, findet in Carlo,
dem ehemaligen afrikanischen Sklaven,
dem die Lagunenstadt zur Heimat wird,
Essex, Karen: Leonardo und die Principessa
Aus dem Englischen übers.
Bergisch Gladbach: Ehrenwirth 2008. 398 S., € 17,95
Mit dem historischen Roman Leonardo und die Principessa, der bereits mit
dem Literaturpreis „Premio Roma“ ausgezeichnet wurde, gelang der jungen
amerikanischen Autorin Karin Essex endgültig der literarische Durchbruch. Sie
zeichnet ein durchaus akkurates und historisch stimmiges Bild der schwesterlichen Rivalität zwischen Isabella und Beatrice d’Este. Dabei ist der Autorin das
Kunststück gelungen sowohl das gesellschaftliche Leben, als auch die unterschiedlichen politischen Entwicklungen im Italien der Renaissance eindringlich zu schildern, ohne jemals in Kitsch oder eine seichte Liebesgeschichte abzudriften. Eine der weiteren Hauptpersonen des Romans ist Leonardo da Vinci
und dessen Beziehung zu seinem Auftraggeber Ludovico Sforza. Immer wieder streut die Autorin an passenden Stellen Auszüge aus den Tage- und Notizbüchern des großen Künstlers ein, was sicherlich nicht unwesentlich zum Reiz
des Romans beiträgt. So schildert Essex
unter anderem auf vergnügliche Weise
den ewigen Kampf Ludovico Sforzas mit
dem genialen Universalkünstler, der unbedingt die Bronzestatue eines Pferdes gießen möchte und dadurch einfach nicht
und nicht dazu kommt die gewünschten
Porträts von Beatrice und Isabella zu malen.
Leonardo und die Principessa ist sicherlich kein Roman für LeserInnen, die nur
seicht unterhalten werden und über erotische Verwicklungen im historischen Gewand lesen möchten. Wer aber einen historisch wirklich gut recherchierten Roman sucht, ist mit dem vorliegenden Buch
außerordentlich gut bedient.
Elisabeth Ghanim
den ruhenden Pol ihres unsteten Lebens.
Durch das ausgezeichnet recherchierte
Material, das historische Ereignisse mit
dem sozialen, geistigen und wirtschaftlichen Umfeld von Menschen mit fiktiven
Schicksalen verbindet, ist der Autorin ein
spannend zu lesender und einfallsreich gestalteter Roman gelungen, der trotz seines
einschüchternden Umfangs einen größeren LeserInnenkreis ansprechen dürfte.
Renate Zeller
Seyfried, Gerhard: Gelber Wind
oder Der Aufstand der Boxer
Frankfurt a. M.: Eichborn 2008. 500 S.,
€ 30,80
Peking im Jahr 1900. Im „verbotenen Palast“ herrscht die Kaiserinwitwe oder genauer: Sie lässt sich beherrschen. Mal von
Prinzen, die die „weißen Teufel“ Europa
und Japan hassen und diese mit Hilfe der
aufständischen Boxer, einer stetig wachsenden Geheimgesellschaft, vertreiben
wollen. Mal von ihrer Angst vor all jenen,
die sich Stücke aus ihrem Reich herausgeschnitten haben und eigene Hoheitsrechte
beanspruchen. Der technische Fortschritt
des Westens gilt den Chinesen als Übergriff in ihre so viel ältere, aus ihrer Sicht
höher stehende Kultur. Die „weißen Teufel“ sind jedoch überzeugt, dass sie den
Fortschritt für sich gepachtet haben und
Chinesen nur „gelbes Gesindel“ sind.
Die Boxer bündeln den Zorn der Einheimischen, formen daraus eine mächtige
Terrorgruppe. Ein Attentat gegen den deutschen Botschafter ist das Signal zum Aufstand, zur Eroberung Pekings – und zum
Einmarsch der Marinesoldaten. Kirchen
gehen in Flammen auf, Missionare, chinesische Christen und „fremde Teufel“ werden massakriert. Das chinesische Kaiserhaus gibt sich entsetzt, scheint aber im Geheimen mit den Aufständischen zu paktieren – und tut nichts.
Unter den Belagerten befindet sich
auch die gerade frisch in China eingetroffene Familie des deutschen Kaufmanns
Lenck. Dessen Sohn ist vor wenigen Tagen
bei einem Ausflug zur chinesischen Mauer
verschwunden – wahrscheinlich entführt.
55 Tage müssen die Belagerten unter immer dramatischeren Umständen ausharren
und um ihr Leben fürchten ...
Herbert Spötta
Belletristik
Historisches
16
Weigand, Sabine: Die Seelen im Feuer
Frankfurt a. M.: Krüger 2008. 528 S., € 20,50
Seit Jahren liegt der Schatten des großen Krieges um
Herrschaft und Glaube über dem Land, den man
später den 30-jährigen Krieg nennen wird. Die wohlhabende Bischofsstadt Bamberg wurde noch nicht
von Söldnerheeren heimgesucht, zum Schauplatz eines nicht minder grausigen Gemetzels ist sie aber
schon geworden – dem Kampf gegen Satan und seinen irdischen Helfershelfern, Hexen und Zauberern.
Jeder kann verdächtigt werden – und fast jeder wird
es auch. So wird irregeleiteter Aberglaube zum tödlichen politischen Werkzeug: Hexenwahn, Neid und Missgunst lassen willkürliche
Denunziationen ins Absurde ansteigen, grausame Folter liefert die Geständnisse:
Zu Hunderten werden Menschen gequält und ermordet, ganze Familien, von jenen der einfachen Bürger bis zu jenen der aufmüpfigen Stadthonoratioren, brennen auf den Scheiterhaufen vor der Stadt.
Auch die junge Apothekerstochter Johanna gerät mit ihrer ganzen Familie in den
Strudel aus Hexenwahn und machtpolitischer Ranküne. Ihr Schicksal verflicht
sich mit jenem des Stadtschreibers, der im ehernen Glauben an die Unfehlbarkeit
der Kirche die „Buchführung“ des Folterns und Brennens übernommen hat, als
auch mit dem des jungen Arztes Cornelius, der mit Gleichgesinnten den aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Willkürherrschaft aufnimmt.
Der Historikerin und Ausstellungsmacherin Sabine Weigand gelingt es vortrefflich,
Die Seelen im Feuer nicht in jenen klebrigen Kitsch abgleiten zu lassen, wo sich
viele Hervorbringungen des Genres „historischer Roman“ so bequem räkeln. Die
Autorin nutzt die Schicksalslinien ihrer ProtagonistInnen als verbindende Klammer für das, was sie an historisch Verbürgtem schonungslos offenlegt: einen wahrhaft bedrückenden Blick zurück in eine Welt, die auch einmal Europa war. Eine
Welt, die ihre Menschen in grausame Abhängigkeit zwang – gleichermaßen gegenüber einer willkürlich herrschenden Obrigkeit und den Ängsten und Zwängen
der eigenen, beschränkten Weltsicht zwischen Glaube und Aberglaube.
Isolde Grabner
Unterhaltung
Adams, Carrie: Stieftöchter und andere Katastrophen
Berlin: Ullstein 2008. 444 S., € 20,50
Carrie Adams erzählt in anrührender Weise vom „Zusammenraufen“ einer Patchworkfamilie: dem schwierigen Alltag und
dem ständigen Drahtseilakt aller Familienmitglieder, ohne ständige gegenseitige
Vorwürfe miteinander zu kommunizieren.
Besonders authentisch und lebensnah wird
die Geschichte durch die wechselnden Erzählperspektiven der beiden Hauptfiguren.
Da ist Bea, perfekte Mutter dreier reizender Töchter, die nach der Scheidung erkennt, dass sie ihren Mann noch immer
liebt, und die Karrierefrau Tessa, die sich
mit Mitte 30 unsterblich in den charmanten James verliebt und nun alles versucht,
um auch von dessen Töchtern akzeptiert
zu werden. Die beiden kleineren Mädchen machen es Tessa leicht; doch Amber,
wunderschön, talentiert und mit 14 Jahren
gerade mitten in der Pubertät, versteht es
wunderbar, ihren Vater zu manipulieren
und seine neue Freundin stets als „böse
Stiefmutter“ darzustellen. Während Tessa
also verzweifelt um Anerkennung kämpft
und teilweise an James zweifelt, gerät Bea
in eine verhängnisvolle Spirale von Diätwahn und Alkoholsucht, die letztendlich
in einem Zusammenbruch gipfelt.
Der Autorin ist es gelungen, eine eindringliche Geschichte zu erzählen, teils
recht witzig und doch niemals seicht, wie
es Umschlag und Klappentext vermuten
lassen könnten.
Gabi Stolba
Haran, Elizabeth: Im Schatten des
Teebaums
Aus dem austral. Englisch übers.
Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. 557 S.,
€ 17,50
Auf den ersten Blick wirkt die Handlung
verheißungsvoll: Die junge Reporterin
Eliza ist um 1900 in Australien einer spannenden Story auf der Spur. Die Recherchen führen sie in einen Ort, wo angeblich
ein Tiger gesichtet wurde, der wiederholt
die Schafe der Farmer reißt. Eliza verstrickt
sich im Zuge der Nachforschungen immer
mehr in ihre eigene Familiengeschichte,
denn in besagtem Ort wohnt auch ihre
Tante Matilda, die jeden Kontakt zu Elizas
Familie abgebrochen hat.
Erst am Ende des mehr als 500-seitigen
Romans wird das verhängnisvolle Geheimnis gelüftet, das die Familie entzweit
hatte.
Als junge Frau von ihrer eigenen
Schwester vor eine Kutsche gestoßen, trug
Matilda schwere Verletzungen und lebenslange Entstellungen davon. Aus Angst vor
Zurückweisung hatte Matilda ihren Verlobten Richard verlassen, der später die
Schwester heiratete.
Auf diese „Entdeckung“ werden die LeserInnen allerdings von Beginn der Erzählung an vorbereitet. Wenig Überraschendes bieten auch die Pärchenkonstellationen, die das „happy end“ ausmachen: Matilda und ihr ehemaliger Verlobter Richard
lieben einander noch immer; Richards
Ehefrau Henrietta hat praktischerweise ohnehin seit jeher ein Verhältnis mit ihrem
ehemaligen Jugendfreund.
Die Hauptfigur Eliza schließlich entdeckt nach einigen recht konstruierten Verwicklungen und trotz ihrer Tierliebe ihre
Gefühle für den Großwildjäger Brodie, der
den Tiger hätte erschießen sollen. In der
Aufregung all dieser Verliebtheiten verkommen die Ereignisse rund um den Tiger
und die geheimnisvollen Schafdiebstähle
zu Nebenhandlungen. Die schwarz-weiß
gezeichneten Figuren agieren höchst berechenbar in einem vorhersehbaren Handlungsrahmen.
Der Roman ist bestenfalls LeserInnen
zu empfehlen, die gern an der Hand genommen und auf jede nachfolgende Wendung vorbereitet werden und eine Vorliebe
für Romane mit australischem Flair haben.
Katharina Zucker
Belletristik
Unterhaltung
Jones, Kelly: Das Mysterium der
Madonna
Aus dem Amerikanischen übers.
München: Page & Turner 2008. 415 S.,
€ 20,60.
Florenz, die Stadt der Renaissance, ist der
wichtigste Ort im Leben von Suzanne
Cunningham, einer Kunstprofessorin aus
Idaho, die als junges Mädchen die Hochwasserkatastrophe von 1966 miterlebt, als
der Arno weite Teile der Stadt überschwemmt. Viele junge Leute aus aller
Welt, die sich zu diesem Zeitpunkt in der
Stadt aufhalten, helfen mit, die schon beschädigten Kunstschätze in Sicherheit zu
bringen. Die junge Amerikanerin verliebt
sich in den Kunstrestaurateur Stefano, der
aber verheiratet ist. Gemeinsam retten sie
ein Madonnenbild aus den Uffizien.
30 Jahre später liest Suzanne in einem
Artikel, dass dieses Gemälde damals zerstört wurde. Aufgeregt über diese Unwahrheit nimmt sie sofort das Angebot einer
Professur in Florenz an, um sich auf Spurensuche zu begeben. Ihr geht es nicht nur
um das verschollene Bild, sondern auch
um ihren Sohn, den sie damals zur Adoption freigeben musste. Das neue Leben er-
17
möglicht ihr, mit den vergangenen Geschehnissen abzuschließen und sich zukünftigen Lebensperspektiven zu öffnen.
Vor dem Hintergrund der beeindruckenden Sehenswürdigkeiten der toskanischen Metropole erzählt die Autorin von
vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen, die sie zu einer abenteuerlichen Geschichte vermengt. Ein umsichtig gestalteter und gut lesbarer Roman.
Renate Zeller
Trollope, Joanna: Immer freitagabends
Berlin: Bloomsbury 2008. 349 S., € 20,50
Immer freitagabends treffen sich sechs
Frauen in der Londoner Fulham Road in
der Wohnung der ältesten von ihnen,
Eleanor. Es sind Frauen von unterschiedlichem Alter, Charakter und Lebensstil. So
verschieden sie sind, sie halten zusammen, und das Ritual der wöchentlichen
Begegnung bestätigt und bestärkt ihre
Freundschaft.
Das stabile Gefüge gerät ins Wanken,
als eine der Frauen, Paula, einen Mann
kennen lernt. Die Treffen bei Eleanor wer-
den seltener. Dennoch bleibt sie das Zentrum der Gruppe, denn die Frauen wissen,
dass sie jederzeit bei ihr vorbeikommen
können. Davon machen sie auch ausgiebig Gebrauch, als es im Leben einer jeden
zu Veränderungen und Krisen kommt.
Im Mittelpunkt des Romans steht die
Bedeutung funktionierender Freundschaften für Frauen in jedem Lebensabschnitt,
besonders, wenn sie mit Job und Kindern
ziemlich viel um die Ohren haben. Der
Mann, in den Paula sich verliebt, stellt eine
existenzielle Bedrohung für dieses Gefüge
dar, bleibt als Figur aber blass und verschwindet auf ebenso unauffällige Weise,
wie er sich das ganze Buch hindurch verhalten hat.
Auch die Geschehnisse, die für einige
der Frauen kurzfristig dramatische Folgen
haben, schildert Trollope relativ unaufgeregt. Die Geschichte plätschert geruhsam
dahin, man folgt den Gedankenströmen
und Dialogen der Frauen und ist mit ihnen
erleichtert, wenn nach einer unsicheren
Zeit wieder Stabilität und Ordnung einkehren. Wichtig ist der Autorin die Bedeutung weiblicher Berufstätigkeit als Grundlage ökonomischer Unabhängigkeit.
Georgia Latzke
Freud, Esther: Liebe fällt
Aus dem Englischen übers.
Berlin: Bloomsbury 2008. 286 S., € 20,50
Die Überraschung ist groß, als der englische Literaturprofessor seiner halbwüchsigen Tochter einen gemeinsamen Urlaub in der
Toskana vorschlägt. Die fast 17-jährige Lara ist das Produkt einer kurzen leidenschaftlichen Beziehung mit einer ehemaligen
Studentin. Bei ihrer Mutter aufgewachsen, ist ihr der meist ferne Vater fremd geblieben. Nun also reist sie drei lange Wochen
mit ihm nach Italien. Es wird eine Zeit der Annäherung, des Reifens, des Abschiednehmens.
Während sich London auf die bevorstehende „Hochzeit des Jahres“ von Kronprinz Charles und Lady Di vorbereitet, bemüht
sich Lara, in der für sie ungewohnten Umgebung heimisch zu werden. Vaters Freunde sind eine
mondäne Gesellschaft durch alle Altersgruppen. Das junge Mädchen versucht sich in der Gruppe
zu behaupten und verliebt sich dabei prompt in den meistbegehrten Junggesellen der Region.
Langsam erkennt sie auch dunkle familiäre Schatten der Vergangenheit, die weit in die
Gegenwart zu reichen scheinen. In Rückblenden erschließt sich den LeserInnen Laras Kindheit
und bruchstückhaft auch die Vergangenheit des Vaters. Schließlich aber verlässt die junge
Engländerin Italien nach für sie und ihren Vater einschneidenden Erlebnissen als selbstbewusste
junge Frau.
Esther Freud, eine Urenkelin von Sigmund Freud, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht. Die
einzigartigen Erfahrungen des jungen Mädchens, die sie in Liebe fällt vor dem malerischen
Hintergrund des italienischen Sommers und der weltweit stattfindenden Berichterstattung über die
„Märchenhochzeit“ des englischen Thronfolgers beschreibt, gestalten sich als kurzweilige Lektüre.
Die in einen stimmigen Handlungsrahmen gekleideten Gefühlsschwankungen der jugendlichen
Protagonistin schließlich bleiben in jedem Moment nachvollziehbar.
Elisabeth Schögler
Belletristik
18
Schicksale
Archer, Jeffrey: Der gefälschte
König
Dahl, Sophie: Die Spiele der
Erwachsenen
Aus dem Englischen übers.
München: Scherz 2008. 239 S., € 18,40
Aus dem Englischen übers.
Berlin: Bloomsbery 2008. 299 S., € 20,50
Jeffrey Archer, vom Beginn seiner Karriere
an von der Literaturkritik verrissen, von
seiner in die Millionen gehenden Fangemeinde nichtsdestotrotz unbeirrbar als
einer der weltbesten Geschichtenschreiber
verehrt, hat einmal mehr seine Steherqualitäten unter Beweis gestellt und einen
zweijährigen Gefängnisaufenthalt zu einem neuerlich veritablen und wohl höchst
einträglichen Erfolg umgemünzt.
Die Kurzgeschichtensammlung basiert
nach seiner eigenen Aussage auf Erzählungen von Mitgefangenen. Jede einzelne der
insgesamt neun Geschichten soll, wenn
auch frei ausgeschmückt, auf Fakten beruhen. Das zu glauben, fällt einem bei der einen oder anderen Story schwer, was aber
daran liegen mag, dass es einem unbescholtenen Bürger für gewöhnlich an krimineller Fantasie mangelt. Gerade davon wiederum scheinen Archers Häfenbrüder mehr
besessen zu haben, als die Polizei erlaubt.
Daher dürfen sie sich nun über die literarische Würdigung ihrer Gerissenheit durch
den Gerissensten unter ihnen freuen.
Einige der solchermaßen Geadelten
haben mit ihren ausgefeilten Plänen zumindest vorübergehend Erfolg, andere setzen von vornherein aufs falsche Pferd.
Dass auch der genialste Mordplan schiefgehen kann, zeigt die Geschichte vom
schlauen Manager, der seine Angetraute
mit gesundheitlich bedenklichem St. Petersburger Leitungswasser ins Jenseits zu
befördern trachtet. Seinem Ruf als weltbester lebender Kurzgeschichten-Schreiber
wird Archer mit diesen Stories nicht gerecht. Sie sind originell, aber ihre literarische Qualität ist fragwürdig. Die treue LeserInnenschaft des bunten Hundes Jeffrey
Archer wird dagegen wohl von einem weiteren großen Wurf des Meisters schwärmen. Und was Literaturkritik meint, ist
Lord Archer sowieso egal. Er sieht sich als
Neid-Opfer und beantwortet die zum Teil
hämische Kritik an seinen literarischen
Ambitionen mit großzügigen Spenden für
wohltätige Zwecke. Ein Schelm, wer dahinter ein schlechtes Gewissen vermutet.
Franz Plöckinger
Marina, eine überaus schöne Frau, ist erst
16, als sie ihre Tochter Kitty zur Welt
bringt. Kittys Vater, ein reicher, aber verheirateter Mann, versorgt Mutter und Tochter
mit viel Geld. Kitty bekommt ihn nie zu sehen und wächst bei den Eltern ihrer Mutter
auf, bis sie zwölf Jahre alt ist. Dann folgt
eine Katastrophe der anderen: Marina verfällt einem Guru und gibt Kitty ins Internat.
Später nimmt sie sie zu sich und dem Guru
in die USA, der die beiden bald zurückschickt. In England entfremdet sich Kitty
immer mehr von ihrer Mutter, gerät in
Kontakt mit Alkohol und Rauschgift, nächtelange Besuche in Lokalen häufen sich.
Mit 15 geht sie zum ersten Mal mit einem
Jungen ins Bett. Marina verliert allen Einfluss auf Kitty, ist selbst drogensüchtig. Da
begreift Kitty, dass sie weg muss ...
Jahre später lebt sie verheiratet in New
York und erwartet ein Baby. Da erfährt sie,
Marina sei nach einem Selbstmordversuch
in eine Nervenklinik eingeliefert worden.
Kitty trifft die Mutter am Krankenbett, erkennt ihre Liebe und verzeiht ihr. Statt eigentlicher Handlung gibt es eher drastische Milieuschilderungen; kein angenehm
zu lesendes Buch.
Dorothea Schadauer
Fatah, Sherko: Das dunkle Schiff
Salzburg: Jung u. Jung 2008. 440 S., € 22
Das dunkle Schiff erzählt die Geschichte
des jungen Kurden Kerim aus dem Nordirak, dessen alevitische Familie eine Gaststätte betreibt. Als sein Vater durch einen
absichtlich herbeigeführten Verkehrsunfall
getötet wird – die Kurden leiden nicht nur
unter dem Regime von Saddam, sondern
sind auch untereinander religiös zerstritten
– muss er die Verantwortung für den Familienbetrieb übernehmen. Bei einer Versorgungsfahrt werden der junge Mann und
sein Auto von einer militanten Gruppe entführt, bei der er sich vom Gefangenen zum
Gefolgsmann wandelt. Er möchte aber weder zum brutalen Mörder noch zum
Selbstmordattentäter werden. Daher flieht
er und entkommt als blinder Passagier auf
einem „dunklen Schiff“ zu seinem Onkel
nach Deutschland. Dort muss sich Kerim
in einer fremden Kultur zurechtfinden und
sich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen, die als erlebtes Trauma schubweise
wiederkehrt. Er driftet in eine Parallelgesellschaft ab, wo er seinem Schicksal nicht
entkommen kann.
Am Beispiel einer Lebensgeschichte
zeigt der Autor verschiedenen Formen von
Extremismus auf, wie er verführt und wie
man ihm ausgeliefert bleibt. Ein fundiert
politischer und mit abenteuerlichen Elementen gespickter Roman, der sich überzeugend auf die reflektierende Perspektive
des Protagonisten stützt.
Renate Zeller
Rasker, Maya: Wenn du eine
Landschaft wärst
Aus dem Niederländischen übers.
München: Luchterhand 2008. 283 S.,
€ 20,60
Der Amsterdamer Geologe Abel lebt auf
einem Berg in den spanischen Pyrenäen.
Hier fühlt er sich frei und ungebunden.
Seine wissenschaftliche Karriere hat er
aufgegeben. Hin und wieder kommen
Gruppen von Studenten, die er durch die
Landschaft führt. In so einer Gruppe begegnet er der jungen Geologin Xenia. Abel
fühlt sich von der herben Frau angezogen.
Xenia bleibt bei ihm in seinem abgelegenen Haus auf dem Berg. Da überrascht die
beiden ein Wetterumschwung. Mit knapper Not und schwer verletzt entkommen
sie einer Lawine und erreichen getrennt
das Tal. Jahre später begegnen sie sich in
Amsterdam zufällig wieder. Ihre Beziehung flammt erneut auf. Abel erfährt von
der Existenz seines Sohnes Max. Das stürzt
ihn in eine tiefe Krise ...
Wenn du eine Landschaft wärst ist ein
vielschichtiger Roman mit sorgfältig gezeichneten Charakteren. Die Autorin erzählt in klarer, eindringlicher Sprache.
Endgültige Antworten zu den großen Lebensthemen gibt es nicht. Hier steht am
Ende ein schönes Zusammenfinden. Beeindruckend sind die Schilderungen der
herben Landschaft der Pyrenäen und seiner Bewohner.
Maria Hammerschmid
Belletristik
Schicksale
Sendker, Jan-Philipp: Das Flüstern
der Schatten
München: Karl Blessing 2007. 446 S.,
€ 20,60
Der 50-jährige Deutsch-Amerikaner Paul
lebt seit mehr als 30 Jahren in China. Nach
dem Tod seines Sohnes Justin und der
nachfolgenden Scheidung von seiner Ehefrau zieht er sich aus der Gesellschaft zurück. Er vertauscht die schillernde Kulisse
von Hongkong mit einer beschaulichen
Insel, wo er sich dem Gärtnern, Meditieren
und den Erinnerungen an Justin hingibt.
Nur zwei Menschen gelingt es, sein
Eremitendasein zu durchbrechen: Christine Wu, eine schöne und intelligente Frau,
deren Annäherungsversuche er nur zögernd erwidert, und Kommissar David
Zhang, ein scheuer Mann, der ein Bündel
Erinnerungen aus seiner Jugendzeit in der
Roten Armee mit sich schleppt. Pauls beschauliches Leben findet ein Ende, als eine
reiche Amerikanerin ihn bittet, ihr bei der
Suche nach ihrem verschwundenen Sohn
zu helfen. Paul gerät so in einen scheinbar
aussichtslosen Kampf gegen brutale Mafiabosse und korrupte Polizisten. Obgleich er
den letzten Halt zu verlieren droht, öffnet
sich ihm auch das Tor zu einem neuen,
selbstbestimmten Leben.
Dem Autor, der jahrelang als Asien-
19
korrespondent tätig war, gelingt es dank
seiner Chinaerfahrung, das Alltagsleben
Chinas und Hongkongs detailgetreu zu
vermitteln. Daneben schildert er, eingebunden in einen Kriminalfall, das psychologisch feinsinnig dargelegte Schicksal
dreier Menschen, die einander auf vielfältige Weise verbunden und an einem Wendepunkt ihres Lebens abgekommen sind.
Irene Minainyo
Winton, Tim: Atem
Aus dem austral. Englisch übers.
München: Luchterhand 2008. 235 S.,
€ 17,50
Tim Winton gehört zu den erfolgreichsten
und produktivsten Schriftstellern Australiens. Für seine Arbeit als Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Essays, fürs
Fernsehen und Bühne adaptierten Romanversionen sowie Kinderbüchern wurde er
mehrfach ausgezeichnet.
In Atem wählt er einen sehr offenen,
nicht wertenden Zugang zu einem „Problem-Thema“. Die beiden Freunde Bruce
und Loonie waren schon als Kinder die
schwarzen Schafe ihres kleinen Ortes in
Westaustralien. Das ändert sich auch
nicht, als die beiden Halbwüchsigen das
Surfen als Ventil für ihre überschüssigen
Energien entdecken.
Waren es zuerst nur kleine Wetten,
zum Beispiel wer länger unter Wasser die
Luft anhalten konnte, so kommt mit dem
Wellenreiten ein neuer Faktor zum eh
schon wetteifernden Jugendverhalten dazu
– der Kick. Mit dem Surfen finden die beiden auch die Passion ihres Lebens; hier
können sie ihre Sucht nach Grenzen erweiternden Gefahrensituationen und der
süchtig machenden Hormonausschüttung
des Kleinhirnes umfassend befriedigen.
Der Sport bzw. ihr Konkurrenzverhalten macht die Freunde allerdings langsam
zu erbitterten Feinden und das „off board“.
Auslöser ist der Kampf um die Gunst eines
älteren Surfers, welcher zuerst beide unter
seine Fittiche nehmen will, dann aber nur
einen der beiden fördert. Als nur Loonie
protegiert wird und mit dem Surf-Guru um
die Welt reist, beginnt Bruce mit dessen
Frau ein Verhältnis, welches das Ende einer
Ära für alle Beteiligten einläutet.
Überzeugend schildert Winton, wie
man als anfälliger Charakter in ein Abhängigkeitsverhältnis rutschen kann – und
wie die „Coolness“ einer alternativen Lebensplanung irgendwann auch die Niederungen des betreffenden Lebensstils – Surftrips werden durch Drogenschmuggel finanziert – berührt.
Hermann Gamauf
Hansen, Erik Fosnes: Das Löwenmädchen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 395 S., € 20,60
Mit Das Löwenmädchen führt der in New York geborene Norweger Erik Fosnes Hansen auf drastische Weise vor Augen, wie
unsere Gesellschaft mit Außenseitern umgeht. In einer kalten Dezembernacht im Jahre 1912 kommt in einem Dorf in
Norwegen ein Kind zu Welt. Die Mutter stirbt bei der Geburt und der Vater möchte anfangs nichts mit dem Säugling zu tun
haben, zumal das Mädchen über und über mit hellem, seidigem Haar bedeckt ist. Ein seltener Gendefekt ist Schuld an Evas
Behaarung. Sie wird Zeit ihres Lebens damit leben müssen. Hausarzt und Apothekersgattin
helfen dem verbitterten Witwer. Doch vor der Öffentlichkeit wird das Kind versteckt – was
natürlich zu Spekulationen im Ort führt.
Abgeschottet von der Außenwelt erschafft sich das kleine Mädchen seine eigene Phantasiewelt. Evas einziger Vertrauter ist ein Funker, der ihr das Morsen beibringt und sie dadurch
aus der Enge ihres Zimmers befreit.
Mit dem Eintritt in die Schule verändert sich Evas Leben, die anderen Kinder stoßen und
verspotten sie, für die Wissenschaft ist sie ein interessantes Schauobjekt, das schamlos ausgenützt wird. Als heranwachsende junge Frau hat sie Gefühle wie jeder Teenager. Doch es
kommt der Zeitpunkt, da muss sich Eva entscheiden, ob sie ihr Leben als Außenseiterin in
der Dorfgemeinschaft weiter führen oder sich einer Truppe anschließen will, die „menschliche Kuriositäten“ zur Schau stellt ...
Ein kluger und trauriger Roman über „Normalität“ und „Abartigkeit“ – in schönen Bildern
erzählt.
Gabi Stolba