Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der
Transcrição
Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der
Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit Ina Hunger Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit Im sportpädagogischen Diskurs über das Grundschulalter ist immer wieder die Rede davon, dass Jungen und Mädchen geschlechtstypische Bewegungsinteressen und körperbezogene Interaktionsstile oftmals bereits entwickelt haben (Engel 1986; Pfister/Valtin 1993; Sinning 2003; Valtin/Klopffleisch 1996). Im Forschungskontext der frühen Kindheit wurde der Aspekt Geschlechtsspezifik dagegen bislang nur selten thematisiert. Dabei wird genau dort – in der frühen Kindheit – geschlechtstypisches Bewegungsverhalten einsozialisiert und werden einschlägige Handlungsorientierungen ausgebildet. Der Beitrag fokussiert auf diese Forschungslücke und stellt eine Studie vor, die u. a. auf die Frage abhebt, welche geschlechtsspezifischen Vorstellungen Eltern hinsichtlich der Körper- und Bewegungssozialisation ihrer Kinder haben und inwiefern sie selbst (bewusst oder unbewusst) die Jungen und Mädchen im Bereich Körper und Bewegung geschlechtsspezifisch erziehen und sozialisieren. Sozialkonstruktivistische Grundannahmen Kinder werden zwar – biologisch sichtbar – als Jungen oder als Mädchen geboren. Was sie jedoch später jeweils damit verbinden, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, welche geschlechts typischen Verhaltensmuster sie ausbilden oder welche Erwartungen sie mit ‚männlich sein’ und ‚weiblich sein’ verknüpfen, ist nicht naturgegeben. Vorstellungen von ‚Weiblichkeit’ und ‚Männlichkeit’, ihre Verkörperung und Symbolisierung sind vielmehr (auch) sozial bedingt; sie entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und durch die Übernahme von sozial Vorgegebenem. Die Konfrontation mit (in der jeweiligen Gesellschaft vorhandenen) geschlechtsbezogenen Erwartungen beginnt quasi gleich mit der Geburt. Schon gegenüber dem Säugling gibt es Interaktionsformen und Verhaltensinterpretationen, die mit dem (angenommenen) Geschlecht variieren und die weitere Entwicklung subtil prägen (vgl. Bilden 1998, S. 281). Die Baby-X-Studien geben davon (immer noch) eindrucksvoll Zeugnis. Die geschlechtsspezifischen Verhaltenserwartungen, einschlägigen Inter aktionsformen und Rückmeldungen nehmen in den ersten Lebensjahren – mehr oder weniger latent – stetig zu, 150 u. a. da das Kind nun verstärkt an sozialen Praktiken teilnimmt. Gleichzeitig nimmt das Kind seine Umwelt unter dem geschlechtsspezifischen Aspekt zunehmend differenzierter wahr und interpretiert sie. Auf subtile Weise und durch diverse Sozialisationsinstanzen lernen die Kinder in den ersten Lebensjahren bereits, was es heißt, ‚männlich’ oder ‚weiblich’ zu sein. Das heißt, aus der unendlichen Vielzahl an Vorgängen, Symboliken, Interaktionen etc., die die Umwelt, die Familie, der Kindergarten, die Medien etc. beinhalten, werden jeweils – ganz subtil – Informationen über das ‚weiblich’ und ‚männlich sein’ herausgezogen. So lernen die Kinder implizit oder explizit z. B. wer tenden ziell die körperlich schweren Arbeiten verrichtet, wer für das Sozial-emotionale zuständig ist, wer ein öffentlicher Sportstar ist, wer sich ‚zurecht macht’, wer kämpft usw. Bewusst oder unbewusst kann dieses Wissen ihr Denken und Handeln im Alltag orientieren. Bewegung und geschlechts spezifische Sozialisation Spielt Bewegung bei der geschlechtsspezifischen Sozialisation in der frühen Kindheit eine Rolle? Folgt man der einschlägigen Literatur, so entsteht der Eindruck, dass die beiden Themenfelder frühkindliche Bewegungssozialisation und Geschlechtersozialisation in der frühen Kindheit zunächst kaum Schnittstellen haben (Ausnahme: Gieß-Stüber 1999; Gieß-Stüber et al.; siehe auch Hunger 2007). Bewegung wird zwar in der Grundlagenliteratur als der Zugang zur Welt deklariert und es wird Bewegung eine zentrale Rolle im ganzheitlichen Entwicklungsprozess zugesprochen, insofern Bewegungs erfahrungen auch immer soziale, emotionale und Erfahrungen über sich selbst implizieren und damit nachhaltig das Selbstkonzept prägen (Zimmer 2009). Dass die Welt aber zweigeschlechtlich vorstrukturiert ist, dass sie für Jungen und Mädchen unterschiedliche Angebote, Identifikations- und Prof. Dr. phil. Ina Hunger Geschäftsführende Direktorin Leiterin der Abt. Sportpädagogik und -didaktik Anschrift der Verfasserin: Georg-August-Universtität Göttingen Sozialwissenschafliche Fakultät Institut für Sportwissenschaften Sprangerweg 2 37075 Göttingen Telefon: +49 (0) 551 39-89 16 Telefax. +49 (0) 551 39-1 94 00 E-Mail:ina.hunger@Sport. uni-goettingen.de geschlechtliche Inszenierungsmöglichkeiten bereithält, dass die Umwelt (Eltern, Erzieher/innen, Peers etc.) auf das Bewegungsverhalten von Jungen und Mädchen potenziell unterschiedlich reagiert, wurde in diesem Diskurs bislang kaum thematisiert. Der Bereich Bewegungssozialisation und -erziehung wird alles in allem als ein eher geschlechtsneutrales Terrain behandelt. Dabei offenbart ein kurzer Blick in die Wirklichkeit bereits, dass Jungen und Mädchen schon in der frühen Kindheit mit unterschiedlichen Verhaltenserwartungen (auch) im Bereich Bewegung konfrontiert werden: Da zeigen Super-, Spider- und Batman auf den Kleidungsstücken der meisten Kindergarten jungen sich derzeit in actionbereiten Posen, der Piraten- und Safarilook dominiert auf Brotdosen und Getränkeflaschen, Fußball ist durch diverse Accessoires präsent etc. Auch wenn selbstverständlich nicht alle und insbesondere die Jüngeren noch wenig mit der Symbolik anfangen können, signalisiert diese doch eindeutig: Jungen sind voller Power, sie sind raumgewinnend und angriffslustig, sie sind potenziell schnell und zweikampfstark! (Mit einer ähnlichen körpernahen Symbolik können Mädchen mit ihren Aufdrucken von tanzenden Prinzessinnen und grasenden Ponys dagegen nicht aufwarten.) Es ist davon auszugehen, dass u. a. auch diese geschlechts typischen Symboliken unbewusst den Erwartungshorizont für ‚Junge sein’ und ‚Mädchen sein’ (mit) abstecken und die verinnerlichten Vorstellungen von ‚männlich und weiblich sein’ im Kontext von Bewegungsaktivitäten orientierungs wirksame Funktion haben. Die Studie: „Geschlechtsspezifische Körperund Bewegungssozialisation in der frühen Kindheit“ Welche geschlechtsbezogenen Vorstellungen Mädchen und Jungen in ihrer frühen Kindheit in Hinblick auf Körper und Bewegung entwickelt haben, welche Inszenierungsformen Mädchen und Jungen wählen, um ihrer Geschlech terrolle im Kontext von Bewegungs aktivitäten Ausdruck zu verleihen oder inwiefern sich im Kindergartenalter typische Geschlechterdifferenzen im Kontext von Bewegungsaktivitäten bereits auf der Verhaltensebene konkret zeigen, ist, wie bereits erwähnt, empirisch bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Auch der Frage, inwiefern sich Erzieher/innen im Kindergarten und Eltern darüber bewusst sind, dass sich insbesondere im Kontext von Bewegungsaktivitäten einschlägige Sozialisationsprozesse vollziehen und einschlägiges geschlechtstypisches Verhalten eingeübt wird und inwiefern sie selbst – bewusst oder unbewusst – einer (traditionellen) geschlechtsspezifischen Erziehung im Bereich Körper und Bewegung Vorschub leisten, wurde bislang nicht systematisch nachge gangen. Genau an diesen aufgeworfenen Fragen setzt unsere Untersuchung an. Ziel ist es, unter der Perspektive Körper und Bewegung empirischen Aufschluss über das geschlechtsspezifische Wissen, Denken und Verhalten von Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren zu erhalten. Ferner wollen wir aufdecken, welches (Problem-)Bewusstsein bei Erzieher/innen und Eltern in Bezug auf geschlechtsspezifische Sozialisation und Erziehung im Kontext von Körper und Bewegung vorliegt. Bezogen auf die Zielgruppe Kinder streben wir im Einzelnen an, • geschlechtsspezifische Vorstellungen der Kinder in Bezug auf Körper und Bewegung aufzudecken, • Bewegungssituationen zu identifizieren und zu interpretieren, in denen die Geschlechtszugehörigkeit sowie ein geschlechtsspezifisches symbolisches Repertoire eine besondere Rolle spielt, • und das Bewegungsverhalten der Jungen und Mädchen daraufhin zu analysieren, inwiefern es (bereits definiertem) geschlechtsstereotypischen Verhalten (z. B. in Hinblick auf raumexplorierende, ästhetischexpressive, wettbewerbsorientierte Bewegungsaktivitäten) entspricht. Bezogen auf die Erzieher/innen und Eltern versuchen wir aufzudecken, • welche geschlechtsspezifischen Vorstellungen sie hinsichtlich der Körper- und Bewegungssozialisation der Kinder haben und • inwiefern sie selbst (bewusst oder unbewusst) die Jungen und Mädchen im Bereich Körper und Bewegung geschlechtsspezifisch erziehen und sozialisieren – und damit unter Umständen an das Geschlecht gebundene Bevorteilungen und Benachteiligungen vollziehen. Die Untersuchung orientiert sich am qualitativen Paradigma. Mithilfe von kindzentrierten Interviewverfahren, videogestützten und teilnehmenden Beobachtungen sowie leitfadenorientierten Erwachseneninterviews werden die Daten erhoben; mit ausgewählten – an dem Konzept der Grounded Theory orientierten – Verfahren (Breuer 2009; Glaser/Strauss 1993) werden die gesammelten Daten ausgewertet. Perspektivisch sollen auf der Basis der Untersuchungsergebnisse die Rahmenbedingungen für eine bewusste und auf Chancengleichheit ausgerichtete Erziehung und Bildung für Mädchen und Jungen verbessert werden. Gefördert wird die Studie durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Die beteiligten Wissenschaftler/innen sind: Maika Beppering, Ina Hunger, Sabine Kubicek, Steffen Loick und Renate Zimmer. Erste Ergebnisse: Die Eltern Im Folgenden soll auf die Elternpers pektive fokussiert werden. Ich beziehe mich dabei auf die aus den Elterndaten generierten theoretischen Konzepte. Da die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, sind die Einblicke als vorläufig zu werten. Bei dem derzeitigen Stand der Untersuchung kann in der Tendenz festgehalten werden: Erschien im Gesamt der Interviews die Bewegungssozialisation und -erziehung der Mädchen und Jungen durch die Eltern zunächst sehr heterogen, so zeichnete sich bei systematischer Analyse der Daten ab, dass es in erster Linie folgende Kategorien sind, die für die Form der Bewegungserziehung und -sozialisation von Jungen und Mädchen entscheidend sind: „Bildungsferne Familie – Bildungsnahe Familie“, „Einfluss der Mutter – Einfluss des Vaters“, „Herkunftsdeutsch – Migra tionshintergrund“ sowie (unter Einschränkung) „Sportivität des Elternhauses – keine Sportivität“. Auf die Kategorien „bildungsfern – bildungsnah“ wird nun näher eingegangen. 151 Familiäre Bewegungssozialisation von Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit Bildungsferne Eltern Mit – dem Untersuchungsstand geschuldet – noch hohem Abstraktionsgrad kann festgehalten werden, dass in bildungsfernen Familien tendenziell eine im klassischen Sinne geschlechtsspezifische Sozialisation und Erziehung im Bewegungsbereich vorherrscht. Traditionelle Zuschreibungen von ‚Mädchen und Junge sein’ werden kaum in Frage gestellt: Jungen „sind eben eher wild“, „kämpferisch“, „voll Power“ und „auf Vergleich aus“; Mädchen sind dagegen „eher ruhiger“ und „verträglicher“, „wenn auch zickig“. Auffällig erscheint in diesem Zusammenhang das von den Eltern (vor allem den Müttern) gewählte Outfit der Kinder: Das der Mädchen kann in der Tendenz als das Bewegungsverhalten einschränkend bezeichnet werden (nicht für das Laufen, Springen, Klettern geeignetes Schuhwerk, vielfache Accessoires in Frisur und an Kleidung etc., empfindliche ‚Rosa-Kleidung’, die die Mädchen oftmals selbst „nicht schmutzig machen wollen“); das Outfit der Jungen kann dagegen alles in allem als bewegungsfunktional und robust, zum Teil auch als explizit für raumexplorierende Bewegung ausgelegt (Military-Look, Alltagssportzeug) umschrieben werden. Als ‚geschlechtsuntypisch’ ausgelegtes (Bewegungs-)Verhalten der Jungen wird in der Tendenz negativ gewertet („da war ich so’n bisschen schockiert!“) und auch sanktioniert. Die Eltern, vor allem die Väter, fordern ein „jungenhaftes“ Bewegungsverhalten vielfach aktiv ein („beim Schwimmen hat er [der Vater] ihn dann total gedrängt, da von der ganz obersten Station die Rutsche runterzurutschen, obwohl F. schon in der Mitte total Angst hatte. … Der will aus ihm eben einen richtigen Jungen machen“) und unterstützen es, wann immer es geht („gleich im Fußballverein angemeldet“). Als von den Eltern „eigentlich mädchenuntypisch“ umschriebenes Bewegungsverhalten („die ist wild und eher draufgängerisch“, „die spielt auch Fußball“) wird dagegen akzeptiert und in der Tendenz sogar positiv konnotiert („an der ist ein Junge verloren gegangen“). Hier zeigt sich gewissermaßen eine Aufwertung des Mädchens, indem es in den klassischen Bereich des „jungenspezifischen Bewegungsverhal152 tens“ verortet wird, was implizit mit Mut, Raumexploration, Durchsetzungsfähigkeit, Ballsicherheit etc. umschrieben wird. Auch wenn die Eltern dieses – für sie mädchenuntypische – Bewegungsverhalten nicht aktiv fördern (wollen), legen die Eltern die Verhaltensmöglichkeiten von Mädchen doch als relativ weit aus. Zusammenfassend kann gesagt werden: Die Eltern haben einen individuums bezogenen Blick auf ihre Kinder – (sie charakterisieren ihre Kinder als eher temperamentvoll, phantasievoll etc.) und erläutern ihr Erziehungsverhalten, ohne dass sie explizit auf das Geschlecht abheben. Dass sie in der Tendenz geschlechtstypisch erziehen bzw. sozialisieren, spielt sich auf der Bewusstseinsebene nicht (voll) realisiert ab. In den Bereich der bewussten Reflexion geraten die geschlechtstypi schen Erwartungen erst, sobald das kindliche Bewegungsverhalten deutlich vom verinnerlichten und normativ abgesteckten Rahmen der gesellschaftlichen Erwartungen abweicht. In diesen Fällen wird bei Jungen sorgenvoll interveniert („wenn der solche Art Bewegung macht, … wird der doch dann ausgelacht“), bei Mädchen wird das ‚geschlechtsuntypische’ Verhalten dagegen toleriert bzw. ‚auf Zeit gesetzt’ („Das verliert sich schon, bevor die ihren Freund hat!“). – Oder wie es eine Mutter formuliert: „Man versucht einen Jungen eigentlich wie einen Jungen zu erziehen und bei Mädchen ist es egal.“ Bildungsnahe Eltern Während ein Großteil der bildungsfernen Eltern das (Bewegungs-)Verhalten von Jungen und Mädchen vordringlich als Resultat von biologischen Prozessen sieht, betonen viele bildungsnahe Eltern zunächst den sozialisatorischen und erzieherischen Einfluss auf das Bewegungsverhalten von Jungen und Mädchen. Sie wollen (in der Tendenz) die Kinder unabhängig von ihrem Geschlecht in ihrer Persönlichkeits entwicklung fördern und sprechen Bewegung dabei einen großen Stellenwert zu. Grundsätzlich deuten sie an, dass sie sich ein Aufweichen der Rollenklischees, insbesondere der „typischen Mädchenrolle“ wünschen. Auffällig erscheint dabei, dass die Väter in dem Fußball spielen ihrer Töchter gleichsam den Beweis für eine emanzipatorische Weiterentwicklung der Gesellschaft sehen (wollen). („Die alten Bilder stimmen eben nicht mehr“). Die Eltern argumentieren in Bezug auf die Bewegungserziehung ihrer Kinder tendenziell persönlichkeitsbezogen und sehen einen potenziellen Zugewinn an Kompetenzen durch ermunternde Bewegungserziehung bei den Mädchen (im Sinne von: Mädchen müssen sich mehr zutrauen, Durchsetzungsstärke zeigen etc.); bei ihren Söhnen formu lieren sie zwar keinen allgemeinen Aufholbedarf an persönlichen Kompetenzen (im Rahmen der Jungensozialisation), deuten aber an, dass auch bei Jungen die traditionellen gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen nicht mehr „so“ dominieren würden. Bei näherer Betrachtung der Interviewaussagen verlieren die Aussagen, die sich auf emanzipatorische Bemühungen beziehen, jedoch ihren zunächst eindeutigen und handlungsorientierenden Charakter. Zum einen fällt auf, dass auch diese Eltern rein äußerlich die Mädchen und Jungen ‚typisierend’ ausstatten (Kleidung, Kinderzimmer, Spielzeug, Sportzeug), in der Überzahl traditionelle Sport- und Bewegungs aktivitäten aktiv unterstützen (Mädchen: Tanzen und Reiten; Jungen Fußball) und einschlägige Erfahrungsräume geschlechtsgebunden eröffnen (z. B. Raufen, Kissenschlacht und Wettrennen mit Jungen). Die Eltern stellen diese Tendenz der Reproduktion klassischer Muster interessanterweise jedoch primär als „zwangsweise“ Handlung bzw. unter dem Aspekt der Notwendigkeit dar. („Sie zieht nichts anderes an als Rosa … es musste Tanzen sein!“) Genau an diesem Punkt, wo der kindliche Wille als Handlungsgrund für das Unterstützen traditioneller Geschlechteraspekte angegeben wird, kommen die Eltern (auch in den Interviews) oftmals ins Zweifeln, ob der sozialisatorische Ansatz zur Erklärung von geschlechtstypischen Verhalten wirklich trägt („Da kommt man irgendwie nicht gegen an“) oder ob sich im Bereich Bewegung nicht vielleicht doch die ‚natürliche Wesensart’ von Jungen und Mädchen zeigt. Oftmals werden im Interview an dieser Stelle ähnliche Erfahrungen befreundeter Eltern und auch Versatzstücke von veröffentlichen Meinungen angeführt, um die Plausibilität des eigenen Zweifelns zu untermauern. Nur äußerst selten wird in Betracht gezogen, dass sie, die Eltern, selbst über Jahre hinweg geschlechtstypische Haltungen (nachweislich) durch Spielzeug, Kleidung und Accessoires genährt und subtil das kindliche Verhalten beeinflusst haben, dass die Umwelt polarisierende Zuschreibungen von Geburt an vorhielt, dass die Peers im Sinne eines verinnerlichten geschlechtsspezifischen Normenspektrums einschlägige Verhaltensbewertungen vornahmen und vor diesem Hintergrund – in der frühkindlichen Phase des Aufbaus einer Geschlechtsidentität – eine aktive Rollenauslegung im Sinne der vorgefundenen, gesellschaftlichen Geschlechtstypik eigentlich nicht verwundern dürfe. Dieser Zweifel am ‚sozial Verursachten’ bzw. die mehr oder weniger latente biologische Idee der Wesensmerkmale wird nochmals virulent im Vergleich zwischen Sohn und Tochter. Insbesondere wenn es um den Punkt Bewegungsaktivitäten geht, wird Jungen im Allgemeinen ein größerer Bewegungs- Literatur Bilden, H. (1991). Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: K. Hurrelmann/D. Ulich (Hrsg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung (S. 120–129). Weinheim: Beltz. Breuer, F. (2009). Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Engel, R. (1986). Sportivität und Geschlechtsrolle bei Schulanfängern. Ahrensburg: Czwalina. Gieß-Stüber, P. (1999). Kinder als Subjekte in einer zweigeschlechtlich strukturierten Lebenswelt. Brennpunkte der Sportwissenschaft, 20, 167–182. Gieß-Stüber, P./Voss, A./Petry, K. (2003). GenderKids – Geschlechteralltag in der frühkindlichen Bewegungsförderung. In: aus der Zeitschrift motorik 4/2010, S. 150–153 drang und ein höheres Konkurrenzverhalten im ‚Sport’ zugesprochen, infolge ein regelmäßigeres Ausleben ihrer Bewegungsbedürfnisse und damit die Eröffnung identitätsstiftender Momente (auspowern, sich in Vergleichssituationen erleben) ermöglicht. Traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit im Bereich von ‚Bewegung und Sport’ sind – trotz emanzipatorischer Bemühungen und der sozialen Erwünschtheit neuer ‚Rollenbilder’ – offensichtlich nach wie vor bei bildungsfernen und -nahen Eltern vorhanden und orientieren vielfach das Handeln im Bereich der frühkindlichen Bewegungserziehung und -sozialisation. In den ersten Lebensjahren, in denen die Kinder motorische Fähigkeiten erst entwickeln müssen (z. B. laufen, klettern, springen), scheint die ‚Beeinflussung’ in Form von geschlechtsspezifischen Verhaltens- erwartungen und Rückmeldungen zunächst äußerst subtil zu sein und wird auf der Bewusstseinsebene kaum realisiert. Mit zunehmender Bewegungssicherheit steigen aber offensichtlich die an die Bewegungsaktivitäten geknüpften sozialen Erwartungen – vor dem Hintergrund des verinnerlichten geschlechtsspezifischen Normenspektrums. Die Eltern sehen in – der mit dem Lebensalter zunehmenden – aktiven Auslegung der Geschlechtertypik durch das Kind selbst oftmals eine Bestätigung für ihre (m.o.w. latente) Theorie der Wesensmerkmale – dass geschlechtstypisches Bewegungsverhalten auch als eine Konsequenz der Verarbeitung sozialer Realität gilt, wird in diesem Zusammenhang oftmals ausgeblendet. Unsere gegenwärtigen Forschungsbemühungen richten sich auf die Ausdifferenzierung der familiären Strukturen und Hintergründe (Migration, Familiensituation etc.), um tieferen Einblick in die Form der Erwartungen und Verhaltensinterventionen zu erhalten. I. Hartmann-Tews/P. GießStüber/M. L. Klein/Chr. Kleindienst-Cachay/K. Petry (Hrsg.), Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport (S. 69–108). Opladen: Leske + Budrich. Gieß-Stüber, P. (2006). Frühkindliche Bewegungsförderung, Geschlecht und Identität. In: I. Hartmann-Tews/B. Rulofs (Hrsg.), Handbuch Sport und Geschlecht (S. 98–111). Schorndorf: Hofmann. Glaser, B. G./Strauss, A. L. (1993). Die Entdeckung gegenstandsbezogener Theorie. Eine Grundstrategie qualitativer Sozialforschung. In: C. Hopf/E. Weingarten (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung (3. Aufl.) (S. 91–111). Stuttgart: KlettCotta. Hunger, I. (2007). Typisch Mädchen – Typisch Junge!? Bewegungserziehung und geschlechts- spezifische Sozialisation. Motorik, 30 (1), 12–16. Pfister, G./Valtin, R. (Hrsg.). (1993). MädchenStärken. Probleme der Koedukation in der Grundschule. Frankfurt/Main: Arbeitskreis Grundschule. Sinning, S. (2003). Geschlechtsproblematik im Schulsport der Grundschule. In: G. Köppe/ J. Schwier (Hrsg.), Handbuch Grundschulsport (S. 3–29). Baltmannsweiler: Schneider. Valtin, R./Klopffleisch, R. (1996). „Mädchen heulen immer gleich“ – Stereotype über Mädchen und Jungen. In: R. Valtin/U. Warm (Hrsg.), Frauen machen Schule (S. 103–112). Frankfurt/Main: Arbeitskreis Grundschule. Zimmer, R. (2007). Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern. Freiburg: Herder. Fazit 153