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Publikation – ift Rosenheim
Dipl.-Ing. (FH) Knut Junge
Automatiktüren und -fenster – ein verbindliches Muss?
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Dipl.-Ing. (FH) Knut Junge
ift Rosenheim
Automatiktüren und -fenster – ein verbindliches
Muss?
Barrierefreiheit durch gezielte Automation
Das barrierefreie Bauen ist inzwischen nicht mehr nur eine Randerscheinung im Baugewerbe, dem der Charme von Pflege- oder Arzteinrichtungen anhaftet. Was ursprünglich
oft als freiwillige Selbstverpflichtung einiger vorausschauender Investoren und Planer verstanden wurde, hat inzwischen einen festen Platz in den Bauordnungen gefunden.
Mit der Novellierung der Musterbauordnung (MBO) und den – als Folge daraus – Anpassungen der jeweiligen Landesbauordnungen wurde insbesondere der Bereich „Barrierefreies Bauen“ erweitert und die Vorschriften präzisiert. In den meisten Bundesländern sind
die zugrundeliegenden DIN-Normen inzwischen mit einigen Modifikationen als „Technische Baubestimmung“ eingeführt und jetzt verbindlich zu beachten.
Damit ist ein weiterer Schritt auf dem Weg vollzogen, die Ziele des Behindertengleichstellungsgesetzes umzusetzen, wonach alle Menschen gleichberechtigt und so weit wie möglich selbstbestimmt am Leben teilnehmen sollen, auch wenn sie durch eine Behinderung
oder wegen ihres Alters beeinträchtigt sind. Aber auch der vermeintlich „gesunde Teil“ der
Bevölkerung gilt zeitweilig als eingeschränkt bewegungsfähig: beispielsweise Eltern mit
Kinderwagen oder Kleinkindern, Menschen beim Transport von sperrigen Einkäufen oder
Reisegepäck oder beim Laufen mit Krücken.
Normative Anforderungen
Die Bauverordnung, z.B. § 50 Barrierefreies Bauen der MBO regelt, welche Gebäude
bzw. wie viele Wohnungen barrierefrei zu errichten sind. DIN 18040 „Barrierefreies Bauen
– Planungsgrundlagen Teil 1 und Teil 2“ zeigen die technische Umsetzung, wobei sich
Teil 1 mit öffentlichen Gebäuden und Teil 2 mit Wohnungen (privater Wohnungsbau) beschäftigt.
Türen
Die barrierefreien Anforderungen an Türen sind in beiden Teilen der Norm in Kapitel 4.3.3
definiert. Grundsätzlich gilt: Türen müssen deutlich wahrnehmbar, leicht zu öffnen und
schließen und sicher zu passieren sein. Das Öffnen und Schließen mit geringem Kraft-
© 2014 Institut für Fenstertechnik e.V.; Theodor-Gietl-Straße 7-9; 83026 Rosenheim
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aufwand wird mit Bedienkräften und -momenten der Klasse 3 nach DIN EN 12217 (z. B.
25 N zum Öffnen des Türblatts bei Drehtüren und Schiebetüren) erreicht. Andernfalls sind
automatische Türsysteme erforderlich.
Tabelle 1
Klassifizierung der Bedienungskräfte und -momente. Sie werden gemäß DIN EN
12046-2 ermittelt. (Quelle: nach DIN EN 12217:2004-05)
Beständigkeit gegen:
Klasse 0
Klasse 1
Klasse 2
Klasse 3
Klasse 4
– 1)
75
50
25
10
Handbetätigte Beschläge
– maximales Moment (Nm)
– maximale Kraft (N)
–
–
10
100
5
50
2,5
25
1
10
Fingerbetätigte Beschläge
– maximales Moment (N in)
– maximale Kraft (N)
–
–
5
20
2,5
10
1,5
6
1
4
Schließkraft bzw. Kraft zur
Einleitung einer Bewegung,
Höchstwert (N)
1)
Keine Anforderungen
Dies ist oft der Fall, da die genannten Werte relativ schnell überstiegen werden. Dies gilt
vor allem für große und schwere Türflügel. Typisch hierfür sind neben den Hauseingangstüren die Brand- und Rauchschutztüren. Bei Türen in Tiefgaragen können ungünstige
Druckverhältnisse zu zusätzlichen Belastungen führen, die eine Automatisierung erforderlich machen.
Fenster
Normative Vorgaben an die Barrierefreiheit von Fenstern finden sich lediglich in Kapitel
5.3.2 der DIN 18040 Teil 2 „Wohnungen“. Mindestens ein Fenster je Raum muss auch für
Menschen mit motorischen Einschränkungen bzw. für Rollstuhlnutzer leicht zu öffnen und
zu schließen sein. Leicht zu öffnen und zu schließen sind Fenster, wenn der manuelle
Kraftaufwand (Bedienkraft) zum Öffnen und Schließen von Fenstern höchstens 30 N, das
maximale Moment 5 Nm beträgt (Klasse 2 nach DIN EN 13115).
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Tabelle 2
Klassifizierung der Bedienungskräfte und -momente. Sie werden gemäß DIN EN
12046-1 ermittelt. (Quelle: nach DIN EN 13115:2001-11)
Widerstand gegen Bedienkräfte
Klasse 0
Klasse 1
Klasse 2
– 1)
100 N
30 N
–
–
100 N oder 10 Nm
50 N oder 5 Nm
30 N oder 5Nm
20 N oder 2 Nm
Schiebe und Flügelfenster
Beschläge
1) Hebelgriff (handbetätigt)
2) fingerbetätigt
1)
Keine Anforderungen
Bei größeren Abmessungen von Fenstern bzw. insbesondere Fenstertüren (Balkon und
Terrassentüren) werden die Werte schnell überschritten. Vor allem schwere Dreifachverglasungen führen bei diesen Elementen zu höheren Flügelgewichten und damit zu höheren Bedienkräften beim Öffnen und Schließen. Problematisch sind hohe Elemente, da der
Griffsitz in einer ergonomischen günstigen Höhe liegen soll. Bei barrierefreien Wohnungen, die eine uneingeschränkte Rollstuhlnutzung ermöglichen sollen, ist der Fenstergriff in
einer Greifhöhe von 85 cm bis 105 cm (über OFF) anzuordnen! Bei diesen Höhen wird
der Anteil der Flügelmasse oberhalb des Griffs immer größer und führt in Verbindung mit
der Lage der Verglasung im Flügel zu ungünstigen Hebelverhältnissen. Die geforderten
Bedienkräfte werden dabei vorwiegend beim Öffnen und Schließen aus der Kippstellung
überschritten.
Bild 1 Fenstertür mit zu hohen Griffhöhen
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Umsetzung
Zu beachten ist, dass bei einer Automatisierung aus Fenster und Türelementen Maschinen im Sinne der Maschinen-Richtlinie 2006/42/EG werden. Diese Anforderungen sind
umzusetzen und das nationale Geräte- und Produktsicherheitsgesetz ist zu erfüllen. Die
Umsetzung bei Türen erfolgt durch den Nachweis gemäß DIN 18650-1 und -2, die die
Nutzungssicherheit dieser Systeme regelt. Grundsätzlich sind auf Basis einer Gefahrenanalyse vor Inbetriebnahme Maßnahmen zur Absicherung von Gefahrenstellen erforderlich. Diese bestehen beispielsweise aus beidseitig über die gesamte Flügelbreite reichenden Sensoren für die Anwesenheitserkennung in Verbindung mit der bandseitigen Absicherung der Nebenschließkante. Im privaten (nicht-öffentlichen Bereich) ist die Risikoanalyse und Bewertung relativ einfach und überschaubar, da hier von eingewiesenen Nutzern
ausgegangen werden kann.
Als Vorzugslösung besonders für öffentliche Gebäude sind automatische Schiebetüren zu
nennen. Hierbei schlagen die Flügel nicht in notwendige Bewegungsflächen oder in Richtung des Benutzers auf, was insbesondere für Blinde und Sehbehinderte sehr vorteilhaft
ist. Auch das mitunter auftretende Problem der richtigen Anordnung der Bedienhöhe ist
damit gelöst. Allerdings haben diese Türen zur Öffnungsseite einen erhöhten Platzbedarf
oder benötigen eine Wandtasche. Daher sind diese Türsysteme im privaten Wohnbereich
nur selten vorzufinden.
Bild 2 Nachrüstung einer großen Haustür mit elektrischem Türschließer und Sensor
Im privaten Wohnbereich (z.B. Zimmertüren oder Wohnungseingangstüren) werden üblicherweise leichtere Türen verwendet, die gut mit einem Low-Energy(LE)-Antrieb angetrieben werden können. Diese Antriebe arbeiten mit geringer Kraft und langsamen
Schließgeschwindigkeiten, die bei einem Widerstand (Hand oder Gegenstand) die Tür
anhalten.
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Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass gemäß den Verordnungen der Berufsgenossenschaften für das Arbeiten an elektrischen Einrichtungen eine Qualifikation als Elektrofachkraft erforderlich ist, die sich aber einfach durch eine Weiterbildung zur „Elektrofachkraft
für festgelegte Tätigkeiten“ erwerben lässt.
Beratung
Für eine kompetente Beratung ist das Studium der umfangreichen Detailregelungen zwingend erforderlich. Hierzu zählen auch Kenntnisse über produktübergreifende Zusammenhänge, wie sinnvolle Anordnung von Tür- und Fensterelementen, Auswirkungen unterschiedlicher Behinderungsarten etc. Dies ist für viele Metallbauer Neuland und möglicherweise abschreckend. Doch neben der Herausforderung bietet es große Chancen für
ein neues, lukratives Betätigungsfeld, sprich einen Mehrwert für die eigenen Produkte.
Dennoch scheuen sich viele Metallbauer vor Fenstern und Türen mit Elektroantrieben,
obwohl die Wertschöpfung hoch ist und ein Folgegeschäft mit Wartungs- und Servicearbeiten winkt.
Neben dem Komfortgewinn von automatischen Türen und Fenstern für alle Menschen
oder der ggf. gesetzlichen Verpflichtung zum Einbau dieser Elemente ist ein weiteres
schlagkräftiges Argument die Förderfähigkeit. So sieht das KfW-Programm 159 „Altersgerecht Umbauen“ das Nachrüsten von automatischen Tür-, Tor-, oder Fensterantrieben explizit vor.
Achtung:
Der Betreiber wird zwar vom Metallbauer beraten und aufgeklärt, muss aber letztlich eigenverantwortlich entscheiden, in welchem Umfang er die gesetzlich vorgeschriebenen
Absicherungsmaßnahmen umsetzen will, denn er ist für die Verkehrssicherheit der automatischen Türsysteme verantwortlich. Der Metallbauer sollte aber aus Haftungsgründen
die Aufklärung auf jeden Fall dokumentieren.
Fazit
Bei konsequenter Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen wird die Zahl der automatischen Elemente deutlich steigen, hier liegt ein großes Marktpotenzial. Im Gegensatz hierzu ist die Zahl der Anbieter, die diese Elemente als betriebsfertige Komplettlösung anbieten überschaubar.
Schließlich bleibt der Appell, dass – unabhängig von den Anforderungen des Bauordnungsrechts – das barrierefreie Bauen selbstverständlicher Bestandteil der Planungen
sein sollte. Alle Menschen – unabhängig von Alter und Einschränkung – profitieren davon.
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Weitere Informationen
Literatur
 Beuth-Kommentar zu DIN 18040 Tel 1
 Beuth-Kommentar zu DIN 18040 Tel 1
 ifz info TU-07/1 „Barrierefreie Türen für den privaten Wohnbereich
 VFF Merkblätter
o KB.01 Kraftbetätigte Fenster
o KB.02 Anschluss elektrischer Bauteile im Fenster- und Fassadenbau
Beratungsstellen,
z.B. der Architektenkammer
www.FT-online.de
www.nullbarriere.de,
KfW-Förderprogramm
Die Bundesregierung begegnet der drohenden Verknappung geeigneter,
barrierefreier Wohnbereiche in Form von Investitionshilfen. Seit dem 1. April 2009
existieren hierzu Förderprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).
Gefördert werden alle (Umbau)-Maßnahmen, die Menschen unabhängig von Alter
und Einschränkung (Behinderung) eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen.
Dazu zählen insbesondere alle Maßnahmen zur Barrierereduzierung in der Wohnung,
im Wohngebäude und im Wohnumfeld. Grundsätzlich ist alles förderfähig; was in DIN
18040-2 festgelegt ist Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, dass vor allem
ältere Menschen lange in ihrem gewohnten Umfeld leben können.
Die Eckdaten im Überblick:
TitelP
Programm 159 „Altersgerecht Umbauen“
Gütigkeit
Seit April 2012, bis 30.06.2014 befristet
Konditionen
100% der förderfähigen Kosten, max. 50.000 € pro Wohneinheit
Voraussetzung
Durchführung durch Fachunternehmen
Link, Anträge
www.kfw-foerderbank.de
Infos zum Autor
Knut Junge ist am ift Rosenheim Leiter der „Technischen
Auskunft“. Er ist Lehrbeauftragter an der Hochschule Rosenheim
für den Bereich Barrierefreiheit und langjähriges Mitglied in
Normausschüssen für das barrierefreie Bauen
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