Vom Bildband zum Pixel. - Antiquariat am Mehlsack
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Vom Bildband zum Pixel. - Antiquariat am Mehlsack
Vom Bildband zum Pixel. Wie das Internet die Aktfotografie verändert Die klassische Aktfotografie hat in Deutschland eine lange Tradition. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der zur Sonne und zum Licht strebende Körper der FKK-Bewegung immer schon auch fotografiert. Man war hier stets weniger prüde als in anderen Ländern, selbst in den dunkelsten Zeiten dieses Landes hatte die Aktfotografie im Schatten der FKK-Bewegung stets ihre Legitimation, wenngleich immer auch im Dienst des Politischen. Erst 1968 befreite sich das Aktfoto erstmals aus seiner ideologischen Umklammerung und kam danach in gewisser Hinsicht erstmals zu sich selbst. In den letzten fünfzehn Jahren kam es jedoch zu einem unübersehbaren Veränderungsprozess. Zum Einen bewirkte das Internet eine Popularisierung und Demokratisierung der Aktfotografie, zum Anderen hat die Entwicklung immer preisgünstigerer digitaler Fototechnik diese Dynamik forciert. Waren früher Bildbände das hauptsächliche Medium der Aktfotografie, hat sich heute das Genre weitgehend in Netz verlagert. Damit sich diese technologische Veränderung aber auch sozial durchsetzen konnte, musste die technologische Weiterentwicklung auf einen sozialen Wertewandel treffen, der eine hohe Akzeptanz von Akt- und Erotikfotografie mit sich bringt. Die Aktfotografie selbst differenzierte sich in diesem Prozess ihrer weitgehend sozialen Akzeptanz inhaltlich immer mehr aus und wurde abgelöst durch das, wofür man heute am ehesten den Oberbegriff "nude"Fotografie verwenden kann, die in ihren Rändern gleichsam ausfranste. Keine Frage - das Genre expandierte, oder vielleicht zutreffender: Es explodierte. Und die Dynamik beschleunigt sich. Fotobearbeitungsprogramme wie Fotoshop, Picasa und andere tragen hier ihren Anteil zur Ausdifferenzierung bei. Sie treten als moderner technischer Baustein in Erscheinung und ermöglichen ambitionierten Fotografen, virtuelle Welten zu erschaffen, die ebenso zur Kunst wie zum Kitsch gerinnen können. Entstand ein gutes Foto, frei nach einem Bonmot von Andreas Feininger in erster Linie im Kopf, bevor es auf Papier gedruckt wurde und im Idealfall auch zum Fotobildband gerann, so entsteht es heute meist am PC. Oder provozierend formuliert: Grafik schlägt Optik, Erotik konkurriert mit Ästhetik, Virtualität verdrängt Authentizität. Mit der populären Nude-Fotografie ist also ein sich selbst stets neu erzeugendes Genre der Fotografie entstanden, das eine ganz eigene neue Ausprägung in der an sich schon unübersichtlich gewordenen Welt der Kunstfotografie repräsentiert. An die Stelle der berühmten "Großen Fotografen" von früher sind heute hunderte, ja tausende mehr oder weniger professionelle Berufsund Hobby-Fotografen getreten, die auf verschiedenen online-communities und eigenen Websites ihre Fotos präsentieren und oft auch online verkaufen. Diese Entwicklung hat auch Konsequenzen auf die Präsentation und Vermarktung der Bildinhalte. An Stelle der früheren Monographie, des opulenten Akt-Bildbandes einiger weniger prominenter Aktfotografen steht heute die de facto museal anmutende Aneinanderreihung unterschiedlicher Werke in Communities, deren qualitativ beste dann für eine "Galerie" nominiert werden. Die dort gezeigten Fotos befinden sich also in einer Konkurrenzsituation und können von den "usern" kommentiert, empfohlen oder auch zur Löschung vorgeschlagen werden. Den sogenannten "Administratoren" dieser Communities kommt in diesem Kontext eine Zensur-Macht zu, deren Legitimität und Kompetenz oft im Halbdunkeln liegt. Die Dominanz des schnellen Klicks als Ausdruck der Postmoderne Aber nicht nur die technischen Bedingungen der Akt-Fotografie haben sich verändert, auch die soziokulturellen Umstände sind andere geworden. Für die in die Tausende gehenden ambitionierten Hobby- und Profi-Fotografen wurde das bereits aufgezeigt. Doch auch das Verhalten der Betrachter hat sich verändert. An die Stelle des früheren kontemplativen Betrachtens von Aktfotos im Rahmen einer womöglich signierten Monografie (z.B. Gunter Sachs Bildband „T“), ist heute das Klicken des "Users" getreten, der innerhalb kürzester Zeit viele Dutzende Nude-Fotos konsumiert. Sein Aufwand für das schnelle Gucken steht in scharfem Kontrast zu den oft in stundenlanger Arbeit entstandenen Inszenierungen der Fotografen und/oder Producer am PC. Aktaufnahmen, die beispielsweise in der STERN -Community – einer der führenden Plattformen dieser Arteingestellt sind, werden zwar innerhalb von 24 Stunden an die 1000 mal angeklickt, aber so gut wie nie kommentiert. Verstärkt wird dieses schnelle "Durchklicken" durch die onlineAktfotografie noch, dass der soziale Wertewandel dazu führte, dass heute eine unüberschaubare Anzahl attraktiver junger Models, meist aus Osteuropa, für Nude-Fotografie zur Verfügung steht, was für sich genommen schon die Expansion und Beschleunigung des Genres befördert. Im diesen Kontext hat sich das Genre denn auch deutlich pornographisiert und wird in der Kunst denn auch als "porn-chic" bezeichnet. Die Aktfotografie hat sich hier nicht nur zur "erotischen Fotografie" gewandelt, wie sie innerhalb der STERN-Community abgegrenzt wird. Hier gehen manche Nude-Fotografen wie etwa der Fotograf Petter Hegre noch weiter und nehmen auf ihrer Website unübersehbare Anleihen bei der Pornographie. Hier werden dann nicht nur die erotischen Inszenierungen einer einzelnen Person gezeigt oder sind Darstellungen der primären Geschlechtsorgane obligatorisch, sondern agieren zwei oder mehrere Darstellerinnen auf den dargestellten Inhalten offen sexuell, aber mit mehr oder weniger erklärtem künstlerischen Habitus. Die einzige fotografische Membran, die diese inszenierten Szenarios bei Fotografen wie Hegre zur kommerziellen Massen-Hardcore-Pornographie noch abgrenzen, ist der Verzicht der Ablichtung von Penetration. Anzumerken ist hier, dass diese skizzierte Entwicklung keiner moralisch-ethischen Bewertung unterliegen soll, sondern einzig dazu dient, Tendenzen der zeitgenössischen Akt- und Nude-Fotografie aufzuzeigen und soziologisch transparenter zu machen. Aber eins ist klar: Der klassische Aktbildband ist out, zum Aussterben verdammt: Zu teuer, zu statisch, zu „langweilig“. Es geht doch nichts über ein gutes Buch. Die „neue“ Aktfotografie ist hybrider Natur: Freizügiger, bunter, schriller. Dass die besten Aktbildbände heute fast nur noch in Antiquariaten gefunden werden, wissen die Sammler allerdings schon länger. Für die Aktfotografie im Internet und ihre junge Schwester - die Nude-Fotografie mit ihren vielen neuen Gesichtern - lässt sich also für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts festhalten: Die klassische Schwarz-Weiss-Aktfotografie stirbt nicht aus, verlässt gleichsam nur ihr ehemals papiernes Gehäuse, wird bunter, aber dennoch zunehmend zu einem Nischenprodukt. Die heutige onlinenude-Fotografie umfasst hingegen deutlich mehr als Aktfotografie; sie macht Anleihen bei Pornografie und Modefotografie, wobei die generalisierte Ästhetik der Aktfotografie abgelöst wurde durch zahllose individualisierte Muster erotischer Inszenierung. Die kostenlosen bzw. preisgünstigen Präsenzund Nutzungsmöglichkeiten von Nude-Fotografie führen einerseits zu einer Explosion und Beschleunigung der erotischen Bilderflut unterhalb des pornographischen Genres. Auf der anderen Seite verflachen zumindest nicht zwingend die Qualitäten der so zahlreich gewordenen Foto-Producer, wohl aber die der "user". Deren "beschleunigter Blick", den der italienische Soziologe Paul Virillio schon vor Jahren in anderem Zusammenhang beschrieben hat, entfaltet im Bereich der Online-Aktfotografie nun seine volle Dynamik. Der klassischen Aktfotografie wünscht man, dass sie in ihrer Nische, wenn auch in die Jahre gekommen und freizügiger als in ihren Jugendjahren und technisch perfekt geliftet, weiter dahindümpeln möge und ihren Betrachtern weiter das bereiten möge: Die kontemplative Freude an Fotos von gut inszenierten Körper von Männern und Frauen im Präsentationsrahmen eines klassischen, handwerklich gut gemachten Bildbandes. So gilt auch hier die aus meiner Sicht noch immer gültige Erkenntnis: © Dr. Andreas Kleemann