WERKBLATT 65
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WERKBLATT 65 HEFT 2 / 27. JAHRGANG 2010 HERAUSGEBER: ALBERT ELLENSOHN & KARL FALLEND Susann Heenen-Wolff (Brüssel) Grundsätzliches zur psychoanalytischen Technik. aus französischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .3 Christian Kläui (Basel) The dark side of love. Überlegungen zu Eifersucht und Liebesübertragung . . . . . . . . . . . . .29 David Becker (Berlin) Zwischen Trauma und Traumadiskurs. Nachdenken über psychosoziale Arbeit im Gazastreifen. . . . . . . . . .50 Elisabeth Rohr (Frankfurt) Die kurdische Schülerin – Eine Fallinterpretation . . . . . . . . . . . . . . .87 ERINNERN WIEDERHOLEN DURCHARBEITEN Dorothea Steinlechner-Oberläuter (Salzburg) "Carusos Erbin?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 SCHNAPPSCHÜSSE Psychoanalyse in der Türkei. Eine Unterredung mit Talat Parman in Istanbul. Hale Usak, Klaus Posch, Monika Altenreiter. . . . . . . . . . . . . . . . . .120 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 WB_65.indd 1 12.11.10 10:18 Susann Heenen-Wolff, Studium der Pädagogik in Jerusalem und Frankfurt, Promotion zum Dr. phil. "Über den Niederschlag der Erfahrung von Antisemitismus und Assimilation im Denken von Freud". Gruppenanalytische Ausbildung in Heidelberg. Psychologiestudium an der Universität Paris X (Nanterre) und einzelanalytische Ausbildung an der Société Psychanalytique de Paris. Heute in Brüssel in freier Praxis tätig und Lehranalytikerin an der Belgischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Professorin für Klinische Psychologie an der Universität von Louvain (UCL) und der Freien Universität Brüssel (ULB) in Belgien. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt "Psychoanalyse und Freiheit", Peter Lang Verlag 2010. [email protected] 2 WB_65.indd 2 12.11.10 10:18 GRUNDSÄTZLICHES ZUR PSYCHOANALYTISCHEN TECHNIK AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE SUSANN HEENEN-WOLFF Jene, die an Europäischen oder anderen internationalen Kongressen teilnehmen, wissen, wie sehr sich die psychoanalytischen Kulturen voneinander unterscheiden. Am Markantesten ist die Trennung zweifellos zwischen der sogenannten britischen Tradition auf der einen Seite und der französischen Tradition auf der anderen. Die großen Figuren der britischen Psychoanalyse sind in Deutschland recht bekannt, Melanie Klein, Winnicott, Bion, Betty Joseph, Donald Meltzer, Margaret Mahler, Francis Tustin, Peter Fonagy. Auf französischer Seite sehen wir Lacan, Laplanche und Pontalis mit ihrem "Vokabular der Psychoanalyse", Janine Chasseguet-Smirgel, die mit ihren Arbeiten über Weiblichkeit in den 70/80er Jahren in Deutschland bekannt geworden ist, in letzter Zeit dann auch etwa Didier Anzieu und vor allem André Green. Sie sind aber hierzulande längst nicht so geläufig wie die englischen Kollegen. Ich möchte näher bringen, worin das Spezifische des französischen Zugangs zum Unbewußten besteht. Im Zentrum: der Text, die Übertragung, die Deutung Jacques Lacan, der in der Welt wohl bekannteste französische Psychoanalytiker, hat die französische Psychoanalyse insofern entscheidend geprägt, als er mit seinem Credo einer "Rückkehr" zu Freud in den 50er Jahren eine minutiöse, begeisterte und anhaltende Freudlektüre ausgelöst hat. André Green schreibt in diesem Zusammenhang: "Wenn man von intellektueller Arbeit spricht, dann kann die einsetzende Lektüre in diesem ganz besonderen Klima jener Epoche nicht unerwähnt bleiben, wo man nicht mehr die bis dahin praktizierte ‚rasche Lektüre' betrieb, vielmehr eine gründliche Studie der Freudschen Texte begann" (Green, 1994, S. 96, eigene Übersetzung). 3 WB_65.indd 3 12.11.10 10:18 Entsprechend Lacans Betonung der Wichtigkeit der Sprache und demnach des verwendeten Wortes in der analytischen Sitzung, ist auch der Freudsche Text als solcher ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten, manchmal mit geradezu an Bibelexegese erinnernder Hingabe! Vor eben diesem Hintergrund entstand übrigens das unersetzliche "Vokabular der Psychoanalyse" von Laplanche und Pontalis. Das Werk wird übrigens oft als Wörterbuch oder Lexikon mißverstanden. Sein Ziel ist aber vielmehr, die grundlegenden Konzepte der Psychoanalyse, ihre Bedeutung und Entwicklung innerhalb der Freudschen Theoriebildung verständlich zu machen. Vor demselben historischen Hintergrund sind auch die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um die aktuelle Neuübersetzung Freuds ins Französische unter Jean Laplanches wissenschaftlicher Leitung zu verstehen: jeder im Französischen gewählte Begriff könnte potentiell die Freudsche Botschaft verzerren oder gar verraten. Wenn man mit nur einem Satz das Spezifische der klinischen französischen Psychoanalyse charakterisieren wollte, wäre es dieser: hier wird ganz genau darauf gehört, was der Analysand tatsächlich sagt. In der Supervision wird auf ein Stundenprotokoll Wert gelegt, allerdings möglichst ohne Vorlage vorgetragen! Viele analytische Vorträge und Aufsätze gehen vom Text einer einzigen Sitzung aus, um deren unbewußte Dynamik zu verstehen, und verzichten ohne Verlust auf eine 4 WB_65.indd 4 12.11.10 10:18 Anamnese. Dieser Text ist der der freien Assoziation, die in Frankreich ganz besonders "beim Wort" genommen wird. Dies ist auch einer der Gründe dafür, daß französische Psychoanalytiker vergleichsweise eher schweigsam sind. Wir wissen ja, daß jede Intervention oder Deutung des Analytikers den Nachteil hat, die Assoziationskette des Analysanden zu unterbrechen. Jede Äußerung oder Deutung wird deshalb gewöhnlich gut überlegt und oft nicht ausgesprochen. Folgende Kennzeichen sind für die nicht-lacanianische französische Psychoanalyse über die verschiedenen Richtungen hinweg typisch: - die heftige Ablehnung der "amerikanischen" Ich-Psychologie, da diese von konfliktfreien Zonen des Ichs ausgeht, - das Festhalten an der Bedeutung des Infantil-Sexuellen und an der Freudschen Triebtheorie und damit der Ökonomie des psychischen Geschehens, - die überragende Bedeutung der Übertragung und deren Deutung und in diesem Zusammenhang die minutiöse Untersuchung des analytischen Prozesses und die Betonung der Funktionen des analytischen Rahmens. 1951, auf dem 14. Kongreß der französischsprachigen Psychoanalytiker legte Daniel Lagache eine genaue Untersuchung der Theorie der Übertragung vor und unterschied zwei verschiedene Ebenen von deren Deutung: - dem dynamischen Moment, das sichtbar macht, was sich im Hier und Jetzt ereignet, die Natur und die Richtung der Erregungen in der analytischen Situation. - dem genetischen Moment, das zeigt, welche subjektive Vergangenheit gegenwärtig aktualisiert ist. Die psychoanalytische Deutung zielt dementsprechend auf den Übergang zwischen dem "Hier und Jetzt" und dem Wieder-Erinnern dessen, was sich "damals und dort" ereignet hat. Zehn Jahre nach dieser theoretischen Verortung grenzte sich Serge Lebovici im selben Sinne und in Einvernehmen mit den meisten französischen Analytikern gegen die kleinianische Tradition ab. Vor allem wandte er sich gegen die Tendenz, immer abstraktere, lebensgeschichtlich zu wenig verankerte Deutungen zu geben, in Begriffen wie dem 5 WB_65.indd 5 12.11.10 10:18 "internalisierten" Objekt zu denken, ohne genau auf die jeweiligen bedeutungsvollen Unterschiede in der Geschichte des Einzelnen einzugehen. Wir sehen hier die Ablehnung einer als allzu statisch und unhistorisch verworfenen Konzeption des psychischen Werdens. Francis Pasche warf den Kleinianern gar vor, sie unterschieden nicht ausreichend zwischen topischer und zeitlicher Regression und würden deshalb neue, a-historische Phänomene ausmachen, die sie jedoch durch ihre Haltung induzierten (dazu insbes. Barande, 1975, S. 86-89). Noch kürzlich kritisierte Green, die Kleinianer hätten sich "dem Banner eines einzigen Gesichtspunkts" untergeordnet, nämlich "jenem der Entwicklung. (…) Melanie Klein behauptet, daß das, was sich mit der ältesten Vergangenheit verbindet, notwendigerweise auch das ist, was am Grundlegendsten und Determinierendsten für die Psyche ist" (Green, 2000, S.16 f., eigene Übersetzung). Dies widerspricht dem Freudschen Konzept des Traumas im Sinne eines nachträglichen Geschehens. In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Spezifikum der französischen Art, die Übertragung zu nutzen und zu deuten, zu verstehen. In Frankreich wird, anders als in der Kleinianischen Tradition, viel in der Übertragung gedeutet, um diese zu fördern und zu unterstreichen, wohingegen die Deutung der Übertragung so empfunden wird, daß diese die Übertragungsbewegungen letztlich dekonstruiert. Verdrängung, unbewußte Verknüpfung, Befriedigungserfahrung, halluzinatorische Wunschbefriedigung, Übertragung, Konstruktion, Nachträglichkeit, dies sind für die französische Psychoanalyse die wichtigen Schwerpunkte in der klinischen Arbeit. Psychoanalytische Richtungen, die die reparative Funktion der analytischen Beziehung vor dem Hintergrund realer kindlicher Traumata betonen, finden in Frankreich wenig Widerhall. Anders als in der angelsächsischen Tradition wird das "Subjekt" nicht nur als in einem unauflösbaren Konflikt zwischen Triebwelt einerseits und interaktiven Prozessen gehorchenden Erfordernissen einer Objektbeziehung andererseits begriffen, sondern strukturell der Nichterfüllung seiner Wünsche ausgeliefert. Letztlich sind es nicht Vater und Mutter, die am neurotischen oder psychotischen Scheitern des Subjekts Schuld sind, es ist vielmehr die 6 WB_65.indd 6 12.11.10 10:18 conditio humane an sich. Bei Lacan ist es die berühmte Funktion des "Nom-du-père/non-du-père", die dem "Begehren" und dem "Imaginären" eine strukturelle Grenze setzt. Auch bei den französischen Freudianern hat das ödipale Gesetz unausweichlich strukturelle und somit strukturierende Funktion. Dieses ödipale Geschehen ist allerdings genetisch wesentlich früher angesiedelt als bei Freud. Und während Lacans Konstruktion bei näherem Hinsehen die patriarchalische Struktur in Anlehnung an die christliche Dreifaltigkeit aufnimmt (der Vater zwingt den Sohn zum Verzicht und auferlegt ihm und der Mutter sein patriarchalisches Gesetz), heißt bei den französischen Freudianern das primäre Objekt das "vom Tage" und das "von der Nacht". Gemeint ist damit, daß die Mutter für das Kind teilweise zur Verfügung steht, teilweise aber eben auch nicht, zum Beispiel dann, wenn sie des Nachts nicht mit dem Kind ist. "Zäsur" ("la césure de l'amante") wird diese frühe, auf den späteren Ödipuskomplex verweisende und vorbereitende kindliche Erfahrung genannt (Braunschweig/Fain, Le jour, la nuit, und auch: Le Guen, L'oedipe précoce). Diese strukturalistische Akzentuierung hat beispielsweise in den 60er und 70er der Selbstpsychologie Kohutscher Ausrichtung den Eingang in die französische Psychoanalyse versperrt; auch die intersubjektivistische Strömung in der zeitgenössischen Psychoanalyse findet in Frankreich wenig Widerhall. Die Übertragung wird als die eines strukturellen, essentiellen und notwendigen Mangels angesehen; deren virtuelle Beschaffenheit zuungunsten der analytischen Beziehung, die auf ein reales Objekt zielt, wird unterstrichen. So schreibt etwa André Green, der große zeitgenössische Theoretiker der Psychoanalyse, über das Geschehen in der analytischen Sitzung: "Seine Gedanken aussprechen, als ob man allein wäre, und doch zu jemandem Abwesend-Anwesenden sprechen; dies führt dazu, daß dem äußeren Empfänger ein innerer Empfänger entspricht, ein anderes Objekt, das niemand anderes ist als das Subjekt selbst, bzw. ein Teil von ihm" (Green 2000, S. 73, eigene Übersetzung). Man sieht auch hier die Betonung der virtuellen Qualität des analytischen Raumes. Dieser (vergangenen) Realität kommt in dem Sinne Aufmerksamkeit zu, wie sich die Erlebnisse auf der Phantasieebene des Subjekts 7 WB_65.indd 7 12.11.10 10:18 heute auswirken. Im Zuge einer Neupositionierung innerhalb der Übertragungsbeziehung können Assoziationen, Wünsche, Phantasien, Träume des Analysanden, die während der Analyse auftauchen, nachträglich auf seine Vergangenheit wirken, was eine ökonomische Neuorganisation erlaubt, eine Umgestaltung der Imagines und so der inneren Welt des Analysanden allgemein. Didier Anzieu, der vor allem durch seine Forschung über Freuds Selbstanalyse und seine Arbeiten über psychische Hüllen, das "HautIch", bekannt geworden ist, definierte die Deutung so: "Die korrekte Deutung reproduziert die Freude des Kindes, durch einen symbolischen Vorgang das verlorene Objekt wiederzufinden" (Anzieu, 1970, zit. nach Barande, S. 93, eigene Übersetzung). René Roussillon, bedeutender Theoretiker ganz besonders der spezifischen Denkprozesse der "Grenzfälle" (Borderline), definiert in diesem Sinne das Ziel des analytischen Prozesses: "Mögliches Ziel der analytischen Arbeit ist nicht, ‚letzte' Inhalte aufzudecken, den ultima ratio eines unbewußten Motivs (..). Es handelt sich eher darum, die psychische Arbeit von den Auswirkungen einer Verkennung der inneren spezifischen Zwänge zu befreien, das heißt, das dadurch beeinträchtigte assoziative Geschehen zu befreien" (2001, S. IX, eigene Übersetzung). Der Narzißmus Der Narzißmus hat in der französischen Psychoanalyse kein so eindeutiges metapsychologisches Eigenleben angenommen, wie etwa in der angelsächsischen Tradition, ist vielmehr stets in Zusammenhang mit der Triebentwicklung, insbesondere der Autoerotik gedacht worden. Jean und Evelyne Kestemberg sind von einem "Selbst" ausgegangen - verstanden als ein im Werden begriffenen Ich -, das die primärnarzißtische Beziehung in der Autoerotik, später in der Lust am eigenen Geschehen, am eigenen "Funktionieren" auslebt. Sie meinten, man könne diese Lust am eigenen Funktionieren der phallischen Besetzung analog ansehen oder schlichtweg als Besetzung des gesamten Körpers. Dies sei eine Antwort auf die Kastrationsangst im Rahmen des sekun8 WB_65.indd 8 12.11.10 10:18 dären Narzißmus. Jedenfalls wird die narzißtische Entwicklung - ebenso wie die des Kindes - nicht ohne die große Bedeutung der autoerotischen Besetzung des Körperselbst gedacht. Hier liegt ein Grund, warum die Selbstpsychologie in der französischen Psychoanalyse nicht heimisch geworden ist. Die Abwesenheit von "pleasure-seeking", das Suchen nach lustvollen Erlebnissen bereits in der frühen Entwicklung des kleinen Menschenkindes, wie etwa bei Fairbairn, wird als entscheidendes Defizit angesehen. Die sekundärnarzißtische Besetzung des Selbst, diese Lust am eigenen Funktionieren, spielt nach französischer Auffassung im analytischen Prozeß eine zentrale Rolle - die Entwicklung der Fähigkeit zur freien Assoziation hat unter anderem die Funktion, die Besetzung des Selbst wiederherzustellen oder zu verstärken: der Analysand, wenn er sich der freien Assoziation nur überläßt, wird ganz allein die passenden Deutungen für sein psychisches Geschehen finden, was dem sekundären Narzißmus dann wiederum förderlich ist. In diesem 9 WB_65.indd 9 12.11.10 10:18 Zusammenhang ist der Tatbestand zu verstehen, daß in Frankreich Psychoanalytiker ganz besonders schweigsam sind. Sie schweigen, weil sie auf die Kraft und die Wirksamkeit des Zuhörens im Rahmen des analytischen settings setzen. Ich möchte das psychoanalytische Zuhören systematisieren, um anschaulich zu machen, wodurch sich dieses auszeichnet. Die spezifische Qualität des abwartenden, gleichschwebend aufmerksamen Zuhörens ist in der Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten theoretisch wenig behandelt worden. Allerdings hat der englische Psychoanalytiker Christopher Bollas vor einigen Jahren auf einem Europäischen Kongreß betont, daß seiner Auffassung nach Psychoanalytiker aus seiner analytischen Kultur zu viel während der Sitzung sprechen. Mit unserem Patienten schließen wir einen Vertrag: freies Sprechen in einem präzisen Rahmen mit Zusicherung von Diskretion und Neutralität: Freud: "Das macht den Eindruck, als strebten wir nur die Stellung eines weltlichen Beichtvaters an. Aber der Unterschied ist groß, den wir wollen von ihm nicht nur hören, was er weiß und vor anderen verbirgt, sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiß" (Freud 1938, S. 99). Damit es dazu kommen kann, bedarf es eines präzisen Rahmens: geschlossener Raum, Diskretion hinsichtlich des Gesprochenen, sprachlicher Austausch ohne Körperkontakt, die explizite Aufforderung frei zu sprechen, ein fester zeitlicher Rahmen. Der Analytiker wird weitestgehend zu vermeiden suchen, die psychischen Produktionen seines Patienten durch Ratschläge, Erklärungen, Suggestion oder Ermunterung zu beeinflussen. Es geht ja nicht primär darum - wie etwa in der Verhaltenstherapie -, daß der Patient seine konkrete Lebens- und Erlebensweise direkt verändert, vielmehr zielen wir im analytischen Prozeß darauf, daß der Patient sich über sein eigenes Denken klar wird, das heißt, seine psychische Realität erkennt. Der analytische Rahmen, insbesondere das Couch-Sessel-setting, fördert topische, zeitliche, formale und libidinöse Regression beim Patienten, die ihm eine Rückkehr in die Vergangenheit gestattet, insbesondere zu früheren Wünschen und deren Schicksal. Wir können in 10 WB_65.indd 10 12.11.10 10:18 diesem Zusammenhang von neuerlich ausgelösten Triebregungen, die in den meisten Fällen seit langem verschüttet waren, sprechen. Man könnte auch sagen, daß der analytische Rahmen mit seinem Übertragungsangebot neuerlich die Wunschmaschine des Patienten anwirft, was dann Auslöser zunächst positiver Übertragung, dann konturierter Übertragungsbewegungen und somit Motor von Veränderung sein wird. Das gleichschwebende Zuhören begünstigt auch beim Therapeuten eine formale Regression, die ihm erlaubt, seine psychische Aktivität in den Dienst des Hörens auf das, was der Patient sagt, aber vor allem nicht sagt, zu stellen. Zudem begünstigt das abwartende Zuhören die Bildung von "Ideenketten" beim Patienten: Wenn der Analytiker sich nicht in einen Austausch mit dem Patienten einläßt, dann sagt dieser erst das eine, dann kommt er zu etwas anderem, dann zu etwas Drittem, zwischendurch schweigt er vielleicht und wechselt so im Verlauf der Stunde von einem Thema zum anderen. Solche Ideenketten führen schrittweise zu den latenten Gedanken. Deren sprachliche Veräußerung verleiht diesen ein neues Gewicht, eine andere Realität, und führt so zu Veränderung oder Neumodellierung der inneren Welt und ihrer Objekte. Ich möchte jetzt ein Fallbeispiel vorstellen, um die Entwicklung von Ideenketten zu illustrieren, die nur bei abwartendem Zuhören des Analytikers entstehen, von Interventionen dagegen unweigerlich unterbrochen werden. Es handelt sich um einen dreißigjährigen jungen Mann, der mich wegen seiner, in seinen Augen zu großen Hemmungen aufsucht. Im Erstgespräch hatte er von einem autoritären Vater gesprochen und seine Mutter als eine Frau geschildert, die sich für die Familie aufopferte und unter der Fuchtel dieses hochfahrenden, manchmal gar sadistischen Mannes stand. Zu Beginn der Therapie kommen dem Analysanden viele schmerzhafte Begebenheiten aus seiner Kindheit und Adoleszenz, an die er schon lange nicht mehr gedacht hatte, wieder in den Sinn. Oft hatte er als Kind beschämende Situationen vor allem mit dem als sadistisch erlebten Vater erleben müssen. Es entsteht daneben das Bild einer deprimierten, in sich selbst gekehrten, wenig zugänglichen Mutter, die für ihre Kinder nur sehr wenig Einfühlung zeigte. 11 WB_65.indd 11 12.11.10 10:18 Ich höre diesen Schilderungen gleichschwebend aufmerksam zu, ohne daß ich viel dazu zu sagen gehabt hätte. Das abwartende Zuhören tut dann seine Wirkung, da sich der Patient durch mein Schweigen implizit ermuntert oder gedrängt fühlt, weiter zu sprechen. Das Schweigen des Analytikers hat ja strukturell destabilisierende Wirkung. Zunächst wird es als stille Anteilnahme empfunden, schließlich führt das kontinuierliche stille Zuhören aber zu einem Trauma a minima, und evoziert deswegen weiteres Sprechen. Theodor Reik merkte in diesem Zusammenhang an: "Langsam ändert das Schweigen des Psychoanalytikers seine Bedeutung für den Patienten. Es ist ihm etwas eingefallen, was er nicht gern sagt oder was schwierig zu sagen ist. Er spricht über andere Dinge, fühlt jedoch, daß er etwas unterdrückt. Dann schweigt er wie der Psychoanalytiker. Die Situation scheint zum ersten Mal zwar noch nicht unmöglich, aber zum ersten Mal unbehaglich. Der Patient, der so empfindet, beginnt wieder über Nebensächlichkeiten und Banalitäten zu sprechen, der beiseitege12 WB_65.indd 12 12.11.10 10:18 schobene Gedanke kommt jedoch wieder zurück. Es ist, als wolle er ausgesprochen werden und erzwingt Schweigen, da er in jeden anderen Gedankengang eindringt und stört. Der Patient kann sich jetzt vielleicht hilfesuchend an den Analytiker wenden, aber dieser schweigt, als sei dies das Natürlichste auf der Welt, als zähle es nicht, daß man sonst jegliche verlegen machende Stille vermeidet." (Reik, S. 140f.). Kommen wir zu meinem Patienten zurück: Durch das vorangehende Erzählen der unterschiedlichen Begebenheiten, und ohne daß ich Deutungen hätte geben müssen, kommen zum Bild einer kalten Mutter allmählich noch weitere Attribute hinzu. So erinnert er sich, daß seine Mutter morgens niemals aufstand, um das Frühstück für ihre drei Kinder zuzubereiten; diese mußten ab einem noch recht jungen Alter allein, sich jeweils auf die anderen Geschwister stützend, zurechtkommen. Er fragt sich, was die Mutter wohl machte, und meint, sie hätte wohl gerne ausgeschlafen. Wir sehen hier eine erste Anspielung auf seine noch vorbewußten Phantasien hinsichtlich des Innenlebens der Mutter. Wenig später kommt ihm folgende Begebenheit in den Sinn: Er war an einem Sommernachmittag im elterlichen Garten und spielte. Dann tauchte die Mutter auf und warf ein Holzscheit auf zwei kopulierende Katzen. Als der Patient dies berichtete, war Erschrecken seinerseits fühlbar, sich diese Szene sprechend zu vergegenwärtigen, denn sie brachte seine Mutterimago in Gefahr. Wir sehen hier jedenfalls, daß mit dem bloßen Erzählen dessen, was dem Patienten in den Sinn kommt, mit der Bildung von Ideenketten also, sich das Bild der Mutter zu verändern beginnt. Neben ihrer depressiven Abwesenheit wird ihre antisexuelle Passion deutlich; und zur Vorstellung einer vor allem kalten Mutter gesellt sich das einer Frau mit autoerotischer Aktivität, mit Eigenleben - jedenfalls morgens im Bett. Es braucht dann nur noch einen kleinen Schritt, bis der Patient eine Beziehung zwischen der bisherigen Mutterimago - die Mutter als Opfer des Vaters - und seiner allgemeinen Gehemmtheit und der besonderen gegenüber Frauen sieht. Er entdeckt, daß er bisher solche Schwierigkeiten hatte, sich als Mann in seiner Haut wohl zu fühlen, 13 WB_65.indd 13 12.11.10 10:18 weil er ein Schwarz-Weiß-Bild der Elternbeziehung in sich trug: der sadistische, durchwegs negativ gesehene Vater mißhandele die nur deprimierte Mutter. In diesem Sinn hatte er seine Gehemmtheit bisher auf sein negatives Bild vom Vater zurückgeführt. Dagegen meint er jetzt, daß das Ablehnen seiner Mutter all dessen, was mit Sexualität zu tun hat, vielleicht auch zu seinem negativen Selbstbild als Mann beigetragen hat. Diese neue Sicht ermöglicht ihm allmählich, seine Überzeugung, Frauen seien in erster Linie die Opfer von Männern, so wie die Mutter Opfer des Vaters gewesen sei, aufzugeben. Und eine erste Bresche ist geschlagen, um zu einer Neupositionierung gegenüber dieser phantasierten Urszene zu gelangen. Noch einmal: keine einzige verbal ausgesprochene Deutung war notwendig gewesen, um dem Patienten zu dieser ersten Veränderung der Elternimagines zu verhelfen. Das abwartende Zuhören hatte dazu geführt, den Patienten auf Dahinterliegendes, Latentes, zu verweisen, ihn zur Bildung von Ideenketten veranlaßt, und so seine Repräsentanzenwelt erweitert. Christopher Bollas unterstreicht die Tatsache, daß die Logik solcher Ideenketten sich nur im Rückblick enthüllen kann. "Die Bindungsfäden zwischen den Assoziationen residieren in den unbewussten Verbindungen unter den anscheinend unverbundenen manifesten Inhalten. Um dahin zu gelangen, muß der Analytiker mit möglichst freiem Geist zuhören. Wenn der Analytiker durch eine selektierende Haltung in seinem Zuhören blockiert ist, wenn er auf der Kante seines Sessel lauert, um zum Beispiel eine Übertragungsdeutung im Hier und Jetzt zu geben, dann wird er nicht nur niemals freie Assoziationen hören, sondern diese vielmehr zerstören. Mit seiner Deutung wird er die Assoziationskette unterbrechen und den Analysanden von freiem Denken abhalten" (Bollas, 2006, EPF Bulletin 60, S. 153). Das häufigste Problem sei, so meint Bollas vor dem Hintergrund seiner Supervisionserfahrungen, daß der allzu aktive Analytiker durch Interventionen "bereits zu Beginn der Stunde die Möglichkeit freier Assoziation zerstört" (op.cit. S. 159). Wie kann man sich erklären, daß die nach Freud zentrale Bedeutung des freien Sprechens, der Bildung von Ideenketten und das neutrale 14 WB_65.indd 14 12.11.10 10:18 zurückhaltende, gleichschwebend aufmerksame Zuhören zur Aufspürung unbewußter Vorstellungen in den letzten Jahrzehnten in der Psychoanalyse zunehmend in den Hintergrund geraten ist? "Mit der Zeit ist es dazu gekommen", schreibt Bollas, daß Analytiker "ihre Ziele verändert haben und jetzt mit Modellen arbeiten, die davon ausgehen, daß das Bewußtsein des Therapeuten das Unbewußte des Patienten in situ beobachten, erfassen oder deuten kann. Dies ist psychologisch aber nur möglich, wenn wir uns die Theorie vom Unbewußten aus dem Kopf schlagen" (op.cit., S 157). Vor allem die Einführung von Hypothesen zu psychischen Defiziten, entstanden in der frühen Objektbeziehung, hat zu dieser Entwicklung, so meine ich, beigetragen. Freud hatte den Seelenzustand des Individuums als Ergebnis eines Prozesses, in erster Linie eines psychischen Kräftespiels verstanden: zwischen Unbewußtem und Bewußtsein, zwischen Über-Ich, Ich und Es. Der Patient präsentiert also einen von der Abwehr ausgehandelten Kompromiß, im besten Fall eine strukturierte Neurose, im schlechteren Fall eine Psychose mit der damit einhergehenden selbstgeschaffenen Neo-Realität. Wenn man nun psychisches Leid metapsychologisch vor allem als Resultat von Defiziten denkt, dann gerät der intrapsychische Konflikt zwischen Triebwunsch, Ich und Über-Ich aus dem Blickwinkel. Nun haben wir aber nach Freud in der Analyse niemals sozusagen mit dem ehemals traumatisierten Kind zu tun. Mit dem Freudschen Konzept der Nachträglichkeit wissen wir, daß jede Erfahrung, traumatisch oder nicht, im Nachhinein in die Vorstellungswelt des Individuums eingebunden werden kann, und auf diese Weise dieser ursprünglichen Erfahrung nachträglich neue, andere Bedeutungen zukommen. So kann etwa eine frühere traumatische Erfahrung im Nachhinein sexualisiert werden, was überhaupt erst den häufig so masochistisch gefärbten Wiederholungszwang verständlich machen kann. Wenn wir also in der Analyse glauben, mit dem "Kind im Erwachsenen" zu tun zu haben, dann sind wir von der Freudschen Auffassung unbewußter Prozesse weit entfernt. Das uns vom Patienten präsentierte psychische Erleben und Geschehen kann jedoch nur Produkt von Vorstellungsund Denkprozessen des erwachsenen Patienten sein. 15 WB_65.indd 15 12.11.10 10:18 In diesem Sinn sind auch geäußerte Emotionen sozusagen mit Vorsicht zu genießen, da sie unbewußte Affekte und Repräsentanzen verbergen können. Aus Freudscher Perspektive kann man jenen Analytikern, die zu allererst den Wert des emotionalen Austauschs zwischen Therapeut und Patient in einem Übergangsraum (Winnicott) unterstreichen, die folgende kritische Frage stellen: Wie evaluieren sie die "Wahrhaftigkeit" der bewußt empfundenen Emotion, denn diese kann einen unbewußten dahinterliegenden Affekt, gekoppelt an unbewußte Phantasien, verschleiern! Nun wird oft dieser Freudschen Haltung entgegengehalten, daß das freie Assoziieren und das Deuten der Psycho-Logik von Ideenketten für neurotisch strukturierte Patienten ja einschlägig sein kann, es aber mit narzißtisch gestörten, Borderline- oder psychotischen Patienten nicht anwendbar sei, da diese zu freier Assoziation, d.h. zur Bildung unbewußt sinnvoller Ideenketten nicht fähig seien. Dieses Argument kommt freilich der Diagnose von Hirntod gleich. Jeder Schizophrene oder sonstwie psychiatrisch Kranke denkt selbstverständlich, wie der Durchschnittsneurotiker, in Ideenketten. Freuds Theorie der freien Assoziation ist bei näherer Hinsicht eine Theorie der bewußten und unbewußten Denkvorgänge überhaupt, die übrigens von der aktuellen neuropsychologischen Forschung bestätigt wird. Etwas anderes ist die Fähigkeit, diese Ideenketten produktiv in der Therapie zu verwenden. Unsere Patienten sind mehr - oder eben weniger - fähig, sich auf ihr eigenes Denken zu beziehen, dieses zuzulassen, ihm sein Recht einzuräumen, es zu beobachten und schließlich verstehend zur Kenntnis zu nehmen. Die Art und Weise des abwartenden Zuhörens des Analytikers wird dabei eine ganz entscheidende Rolle spielen. Nur wenn dieser darauf vertraut, daß die Ideenketten des Patienten das Entscheidende zutage fördern werden und eine entsprechende Haltung einnimmt, wird auch der Patient sich entsprechend einstellen können. Ich möchte festhalten: 1) Abwartendes Zuhören löst die Äußerung von Ideenketten - freie Assoziation - aus. Das Aussprechen von Ideen hat eine Rückwirkung auf den Sprechenden. 16 WB_65.indd 16 12.11.10 10:18 2) Abwartendes Zuhören verweist den Patienten auf Dahinterliegendes; auf latente Vorstellungen und damit verbundenes Agieren. 3) Abwartendes Zuhören im analytischen Rahmen ist unbewußt ein Äquivalent der frühen Mutterfunktion. 4) Abwartendes Zuhören bahnt die Fähigkeit, in Gegenwart der Mutter allein zu sein. 5) Abstinentes Zuhören ermöglicht dem Patienten einen Subjektivierungsprozeß, das heißt Erlebtes mit der eigenen inneren Realität in Verbindung bringen. 1) Abwartendes Zuhören löst die Äußerung von Ideenketten - freie Assoziation - aus Wir haben in meinem Fallbeispiel gesehen, inwieweit das abwartende Zuhören Ideenketten und somit Latentes zutage gefördert hat. Bei meinem Patienten hat die durch das abwartende Zuhören ausgelöste Ideenkette zur Erinnerung an die antisexuelle Passion der Mutter und dem damit einhergehenden Verständnis einer der Gründe für seine Hemmungen geführt. Dadurch ist es zu einer Neupositionierung der inneren Objekte bzw. Imagines gekommen. 17 WB_65.indd 17 12.11.10 10:18 Das Aussprechen von Ideen hat eine Rückwirkung auf den Sprechenden "Der Patient ist oft leicht erschrocken über das, was er gerade gesagt hat, und dennoch erleichtert, weil er es gesagt hat. Das Schweigen des Analytikers wirkt hier ermutigend und bewirkt mehr, als es Worte könnten (Reik, S. 142). Als mein Patient darüber sprach, daß seine Mutter ein Holzscheit auf die kopulierenden Katzen geworfen hatte, war er in der Tat erschrocken. Dies paßte wenig zum Bild einer gedemütigten unterjochten Frau, das er lange Zeit von seiner Mutter in sich getragen hatte. Sein Erschrecken war nicht nur dieser neuen Sicht geschuldet, vielmehr auch der damit implizit geäußerten Anklage der Mutter wegen ihrer Grobheit. In der Analyse war dies die erste aggressiv getönte Bewegung der Mutter gegenüber. Keine Intervention hätte hier Platz gehabt, die stille retroaktive Wirkung des Ausgesprochenen reichte völlig aus. Wir kennen sicherlich alle die Erfahrung, wie sehr sich unsere Lage ändert, wenn wir es "einmal gesagt" haben! "Es ist eine erstaunliche und kaum, beachtete psychologische Tatsache, daß den eigenen Worten, wenn sie einmal ausgesprochen sind, eine andere Wertung beigelegt wird, als wir uns es in Gedanken vorstellen. Das gesprochene Wort hat eine reaktive Wirkung auf den Sprecher. Das Schweigen des Analytikers intensiviert diese Reaktion; es funktioniert als Resonanzboden. Ein Analytiker, der eine Zeitlang dieses innere Ringen verfolgt, bekommt immer mehr den Eindruck, daß sich zwischen Kräften, die nach Ausdruck verlangen, und denen, die sie zum Schweigen bringen wollen, ein Kampf abspielt". (Reik, S. 141). 2) Abwartendes Zuhören verweist auf Dahinterliegendes; auf latente Vorstellungen und damit verbundenes Agieren Bereits durch das Erwähnen der Grundregel: "Sagen Sie einfach, was Ihnen so kommt" bedeuten wir unseren Patienten bereits, daß wir uns nicht damit zufrieden geben, was sie zunächst vortragen, das 18 WB_65.indd 18 12.11.10 10:18 Symptom oder Problem vielmehr in Klammern setzen zugunsten einer umfassenderen Erforschung ihres psychischen Realität. Unser Zuwarten bedeutet dem Patienten während der gesamten Analyse, daß niemals alles gesagt ist, es vielmehr immer noch Latentes und Unausgesprochenes hinter den geäußerten Worten gibt. Dieses Zuwarten-Zuhören ist der Garant dafür, daß Therapeut und Patient sich nicht zu rasch darauf einigen, was das "eigentliche" Problem des Patienten sei, bzw. was dessen "eigentliche" Gefühle sind. Hinter jeder Emotion, die geäußert wird, können, ich sage es noch einmal, unbewußte Affekte und Bilder stehen. Deshalb führt das aktiv emphatische Eingehen auf den Patienten häufig direkt am unbewußten Konflikt vorbei, da es vorschnell zu einer Einigung führt, worin das Problem des Patienten bestehe. 19 WB_65.indd 19 12.11.10 10:18 Dies ist ganz besonders augenfällig im Umgang mit mißbrauchten Patienten/Patientinnen. Oft wird hier davon ausgegangen, daß dieses traumatische Erlebnis an sich Kern der Psychopathologie sei. Das durch den Mißbrauch ausgelöste psychische Kräftespiel, die Art und Weise, wie dieser in die innere Welt eingebaut wird und zu aktuellem Agieren führt, ist aber nur dann erforschbar, wenn sich über die Bedeutung des Mißbrauchs nicht vorschnell geeinigt wird. In Belgien, aber nicht nur dort, gibt es inzwischen spezifische therapeutische Ausbildungsgänge für die Behandlung von mißbrauchten Patienten und Patientinnen. Aus psychoanalytischer Perspektive ist dies mit dem Versuch, Unbewußtes zu ergründen, natürlich überhaupt nicht zu vereinen. Dasselbe gilt für Überlebende von Folter, Genozid und Konzentrationslager. Wer solche Menschen vor dem Hintergrund des real Erlebten bereits psychopathologisch einordnet, versperrt den Weg zur Erforschung des Unbewußten und reduziert überdies das Individuum auf reales Geschehen. Das Schweigen des Analytikers hat insofern deutenden Charakter, als es die Dinge offen läßt, das Weitersprechen und Weiterwünschen auslöst, ohne bereits irgendeine Bedeutung deutend zu fixieren. Die Interventionen des Therapeuten haben ja immer auch die unerwünschte Begleiterscheinung, das freie Sprechen oder Assoziieren des Patienten zu stören und Bedeutungszusammenhänge durch deren Evozierung zu arretieren. Dazu kommt, daß sich das Sprechen des Patienten nur scheinbar an den Therapeuten richtet. Die Zurückhaltung hinsichtlich des Sprechens trägt dazu bei, den Analytiker als präsente Person in den Hintergrund geraten zu lassen, und dies ist Voraussetzung für die Entstehung eines virtuellen Raumes, in dem sich Probedenken und -phantasieren ausdrücken kann. Dem Patienten wird so bedeutet, daß der Analytiker sich nicht als direkter Adressat einer Botschaft sieht. Nur dann kann man die Übertragungsbewegungen des Patienten berücksichtigen, die sich ja unbewußt an die primären Objekte richten. Wenn der Therapeut viel spricht, bietet er sich unweigerlich als reales Objekt an und tritt damit aus der, ihm vom Patienten übertragenen Bedeutung heraus. 20 WB_65.indd 20 12.11.10 10:18 3) Abwartendes Zuhören im analytischen Rahmen hat unbewußte Äquivalenz der frühen Mutter. Ich habe bereits gezeigt, inwieweit abwartendes Zuhören dem Patienten einen stillen Raum, einen Resonanzboden zur Verfügung stellt, der unbewußt wie eine frühe haltgebende Mutter erlebt wird, die hilft, innere Erregung auszuhalten und zu temperieren. Im Schweigen kann man das Niveau der präverbalen Beziehung ansiedeln und die damit verbundene wohltuende, strukturierende Funktion. Die Position des Analytikers ähnelt ja in der Tat der der frühen Mutter: es ist eine rezeptive Position, die Zurückhaltung fordert, die Fähigkeit zu schweigen, Passivität, eine Warteposition, die erst die gleichschwebende Aufmerksamkeit möglich macht. Solche Rezeptivität ist Ergebnis psychischer Regression, die den Analytiker empfänglich macht für unbewußtes Material des Patienten. Dazu gehört auch, verwirrende, unverständliche Sequenzen auszuhalten, die es zunächst mit wohlwollendem Interesse stehen zu lassen gilt. Dies alles sind Haltungen, die auch die ausreichend gute Mutter ihrem Kind gegenüber einnimmt. Eng verbunden mit dieser Äquivalenz der frühen Mutter-KindBeziehung ist die Fähigkeit des Patienten, sich allein in Präsenz der Mutter denken zu können. 4) Die Fähigkeit, in Gegenwart der Mutter allein zu sein Wir wissen mit Winnicott, daß die Fähigkeit des Individuums, allein zu sein, einer der wichtigsten Zeichen affektiver Reife darstellt. "Die Fähigkeit zum Alleinsein [ist] fast vollständig synonym mit emotionaler Reife" (Winnicott, 1958, S. 39). Dabei gilt nach Winnicott: "Die Grundlage der Fähigkeit, allein zu sein, ist (..) ein Paradoxon; es ist die Erfahrung, allein zu sein, während jemand anders anwesend ist" (ibid, S. 38). Bei vielen unserer Patienten mangelt es an dieser Fähigkeit, und Abhängigkeit von anderen, von deren Präsenz und Wertschätzung für die Aufrechterhaltung des narzißtischen Gleichgewichts beherrscht das Feld. Dies wiederholt sich dann mit dem Analytiker und mündet in immer wiederholte Sätze wie: 21 WB_65.indd 21 12.11.10 10:18 "ich verstehe das nicht", "ich weiß nicht", "meinen Sie nicht auch?". Wenn der Therapeut auf freundliche, aber stille Weise dieses Suchen begleitet, wird der Patient mit der Zeit angstfreier sich seinen Gedanken überlassen, das heißt allein in Gegenwart des Analytikers sein können. Christopher Bollas sagt vor dem Hintergrund seiner minutiösen Untersuchung des Sprechverhaltens in der analytischen Therapie: "Einer der bemerkenswertesten Aspekte unserer Arbeit ist die Entdekkung, daß die meisten Analysanden explizit oder implizit Fragen in den Sitzungen stellen. So als ob es einen Wissenstrieb gibt, der unbewußte Fragen stellt und unbewußte Antworten ausarbeitet. Es ist tatsächlich so: wenn ein Patient eine explizite Frage stellt, dann wird er in den meisten Fällen kurz darauf diese Frage mit seinem Sprechen beantworten" (Bollas, 159). Man kann dies dem Analysanden aufzeigen und ihm auf diese Weise vermitteln, daß er auf sich selbst zählen kann. Nach Winnicott ist die Mutterbeziehung Matrix von Übertragung überhaupt. "Nur wenn er allein ist (d.h. in Gegenwart eines anderen Menschen), kann der Säugling sein eigenes personales Leben entdecken. Die pathologische Alternative ist ein falsches, auf Reaktionen auf äußere Erregungen aufgebautes Leben. Wenn der Säugling allein ist, und zwar in dem Sinn, in dem ich den Ausdruck gebrauche, und nur wenn er allein ist, kann der Säugling das tun, was man beim Erwachsenen ‚entspannen' nennen würde. Der Säugling kann unintegriert werden, herumtasten, in einem Zustand sein, in dem es keine Orientierung gibt; er kann in der Lage sein, eine Zeitlang zu existieren, ohne ein auf äußere Anstöße Reagierender oder ein aktiver Mensch mit gerichtetem Interesse oder gerichteter Bewegung zu sein. Der Schauplatz ist für ein Es-Erlebnis vorbereitet. Mit der Zeit kommt eine Empfindung oder ein Impuls. In diesem Rahmen wird die Empfindung oder der Impuls sich real anfühlen, und wirklich ein eigenes Erlebnis sein" (Winnicott, S. 42f). Eben dieses Geschehen wäre, was durch das stille Zuwarten in der Therapiesitzung erreicht werden könnte. Und um noch einmal Winnicott zu zitieren: "Eine große Zahl solcher Erfahrungen 22 WB_65.indd 22 12.11.10 10:18 bildet die Grundlage für ein Leben, das anstatt Vergeblichkeit Realität in sich hat. Das Individuum, das die Fähigkeit zum Alleinsein entwikkelt hat, ist ständig in der Lage, den persönlichen Impuls wieder zu entdecken, und der persönliche Impuls wird nicht vergeudet, weil der Zustand des Alleinseins etwas ist, was (wenn auch paradoxerweise) immer bedeutet, daß jemand anders da ist" (ibid. S. 43). Abstinentes Zuhören ermöglicht dem Patienten in diesem Sinne einen Subjektivierungsprozeß. 5) Abstinentes Zuhören ermöglicht dem Patienten einen Subjektivierungsprozeß Der Begriff der "Subjektivierung" findet sich nicht in den psychoanalytischen Wörterbüchern, ich möchte ihn deshalb hier definieren. Subjektivierung heißt: Erlebtes in subjektive Realität umwandeln, sich aneignen; Erlebtes mit der eigenen inneren Realität in Verbindung bringen; sich Erlebtes nach dessen Umwandlung aneignen; 23 WB_65.indd 23 12.11.10 10:18 Subjektivierung ist also Ergebnis der psychischen Fähigkeit, sich in Beziehung zur äußeren Realität über das eigene Geschehen, die inneren psychischen Vorgänge und Vorstellungen, Klarheit zu verschaffen. Nur das Sprechen des Patienten kann eine solche Symbolisierung des Erlebten und der damit verbundenen Gedanken, Phantasien, Affekte hervorbringen. Zuwarten bedeutet, daß die Antworten nicht vom Analytiker kommen können, sondern sich aus dem Prozeß ergeben werden, das heißt vom Patienten selbst. Die im Laufe einer Therapie gewonnene Lust, in der Sitzung in Gegenwart des Therapeuten zu denken, kann man als Äquivalent von gelungenem Autoerotismus ansehen, was wiederum auf den sekundären Narzißmus wohltuende Wirkung ausübt. Zum Abschluß noch einmal aus französischer Perspektive: Warum reden wir zuviel? Meine Erfahrungen als Supervisorin von jungen, aber auch weniger jungen Therapeuten und Analytikern konfrontieren mich immer wieder mit dem Phänomen, wie groß die Versuchung scheint, mit dem Patienten in eine Gesprächssituation zu gleiten, aus dem einfachen Grund, daß abwartendes Zuhören vom Analytiker selbst als unzureichend empfunden wird, dieser vielmehr dem Patienten möglichst rasch neue Sichtweisen anbieten will. Er interveniert und versperrt damit dem unbewußten Denken des Patienten die notwendige Zeit, damit die Dinge zum Vorschein kommen können. Dann befinden sich Patient und Analytiker im Widerstand gegen unbewußtes Material, meiner Erfahrung nach oft negative Übertragung. Bollas meint, daß eine überraschend große Anzahl von Analytikern nicht offen sind "für die Sequenzlogik und [sie] verpassen die Methode der freien Assoziation total. Sie können dies selbst ganz einfach feststellen, wenn Sie analytische Schriften lesen und darauf achten, wie selten die Sequenzlogik erwähnt wird. Dabei war dies der Dreh- und Angelpunkt des Freudschen Zuhörens und seiner Theorie der Technik, aber es ist äußerst selten, dies in der Literatur wiederzufinden" (Bollas, S. 164). Bereits Theodor Reik machte eine analoge Erfahrung: "Meine Erfahrung lehrt mich, daß nach der Anfangsphase der Analyse, während der wir mit der Persönlichkeit des Patienten bekannt werden, 24 WB_65.indd 24 12.11.10 10:18 seine Erlebnisse erfahren und die Art seiner Konflikte, Symptome, Hemmungen und Ängste erkennen, normalerweise eine Zeit der Verwirrung und Unsicherheit folgt, eine Art chaotischer Leere. Wir tappen im Dunkeln und können nicht sehen, wohin wir gehen. Wir sind nicht nur verwirrt und ratlos, sondern auch leicht ungeduldig und sogar ein bißchen ängstlich, wenn wir diese leisen Gefühle auch noch so gut verbergen können. Wir sind ungeduldig gegenüber dem Analysanden, weil wir selbst ungeduldig sind. Weshalb verhält er sich so unvernünftig? Warum flüchtet er sich in seine neurotischen Symptome, anstatt der Realität ins Auge zu sehen und seine Schwierigkeiten wie ein 25 WB_65.indd 25 12.11.10 10:18 erwachsener Mensch zu überwinden? Weshalb diese Spitzfindigkeiten und Seltsamkeiten, diese überflüssigen Ängste, diese quälenden Gedanken, Phobien und Zwänge? Welche Verschwendung emotionaler und intellektueller Energie, die besser verwendet werden könnte! Wir verstehen es nicht und sind deshalb ungeduldig. Wir schweben in Ungewißheit und sind sehr weit davon entfernt, alle Antworten zu wissen. Unsere anfängliche Sympathie dem Patienten gegenüber scheint gefährdet zu sein, weil wir so schrecklich begierig darauf sind, ihn ‚zu verstehen'" (Reik, S. 147). "Der Psychoanalytiker muß lernen, wie einer zum anderen ohne Worte spricht. Er muß lernen, mit dem dritten Ohr' zu hören. Es stimmt nicht, daß man schreien muß, um verstanden zu werden. Wenn man gehört werden will, dann flüstert man" (Reik, S. 165). Therapeutisches "Helfen-wollen", aktive Unterstützung richten näher betrachtet - Schranken auf, Schranken gegen das Unbewußte und damit auch Schranken gegen Neues, das möglich werden könnte. Das zuwartende Schweigen des Analytikers wird in Frankreich jedenfalls in diesem Sinne theoretisch begründet. Bibliographie: Barande I, Barande R (1975) Histoire de la psychanalyse en France. Privat, Toulouse Bollas, Christopher (2006), Vom Unbewußten erarbeitete Transformationen, EPF Bulletin 60, 144-173 Braunschweig D, Fain, M (1975) La nuit, le jour. Essai psychanalytique sur le fonctionnement mental. PUF, Paris Freud (1895) Studien über Hysterie (1905) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1912) Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. (1924) Kurzer Abriß der Psychoanalyse (1938) Abriß der Psychoanalyse Green A (1994) Un psychanalyste engagé. Conversations avec Manual Macias. Calmann-Lévy, Paris Green A (2000) Le temps éclaté. Les Editions de minuit, Paris Reik, Theodor, [1948], 1976, Hören mit dem dritten Ohr Roussillon R (2001) Le plaisir et la répétition. Théorie du processus psychique. Dunod, Paris Winnicott, DW. (1958), Die Fähigkeit, allein zu sein, in: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt, Fischer, 1988, 36-46 26 WB_65.indd 26 12.11.10 10:18 Neu im VS Verlag Bernd Nitzschke (Hrsg.) Die Psychoanalyse Sigmund Freuds Konzepte und Begriffe 2010. 298 S. (Schlüsseltexte der Psychologie) Br. EUR 29,95 ISBN 978-3-531-17000-8 Das Buch führt den Leser in das Gesamtwerk des großen Psychoanalytikers Sigmund Freud ein, mit dem Ziel die Systematik und innere Kohärenz des Freudschen Gedankengebäudes zu verdeutlichen, nachvollziehbar und verständlich zu machen. Als didaktisches Mittel werden dabei vornehmlich Freuds eigene Worte – sorgfältig zusammengestellt, aufbereitet und kommentiert – eingesetzt, die in sechs Kapitel gruppiert sind: Basiskonzepte, Methode der freien Assoziation, Sexualitätskonzept, Theorie der psychischen Erkrankung, Behandlungskonzept und Kulturtheorie. Änderungen vorbehalten. Stand: Oktober 2010. Erhältlich im Buchhandel oder beim Verlag. VS Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Abraham-Lincoln-Straße 46 | 65189 Wiesbaden tel +49 (0)611 / 78 78 – 285 | fax +49 (0)611 / 78 78 – 420 www.vs-verlag.de Wissen entscheidet 27 WB_65.indd 27 12.11.10 10:18 Christian Kläui, geb. 1952, Ausbildung zum Psychiater und Psychoanalytiker in Zürich, Rom und Basel, Psychoanalytische Privatpraxis in Basel. Mitherausgeber des "RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse" Viele Publikationen zu klinischen Themen der Psychoanalyse. Autor des Buches "Psychoanalytisches Arbeiten. Für eine Theorie der Praxis" erschienen 2008 im Verlag Hans Huber/Bern. [email protected] 28 WB_65.indd 28 12.11.10 10:18 THE DARK SIDE OF LOVE ÜBERLEGUNGEN ZU EIFERSUCHT UND LIEBESÜBERTRAGUNG CHRISTIAN KLÄUI Eifersucht Eifersucht - das ist mein Einstieg ins Thema: Zu Eifersucht finden wir bei Freud nicht allzu viel. Es gibt eine Arbeit von 1922, die explizit dazu Stellung nimmt: Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität. "Die Eifersucht gehört zu den Affektzuständen, die man ähnlich wie die Trauer als normal bezeichnen darf." So beginnt Freud. In der Analyse, so fährt er fort, erweist sich die Eifersucht als dreifach geschichtet: Neben der normalen oder konkurrierenden Eifersucht kann man auf projizierte und drittens auf wahnhafte Eifersucht stossen. Die konkurrierende Eifersucht ist komplex zusammengesetzt aus Schmerz um das verloren geglaubte Liebesobjekt, narzisstischer Kränkung, Selbstkritik bezüglich des eigenen Versagens in der Liebesbeziehung, Feindseligkeit gegenüber dem Rivalen resp. der Rivalin und möglicherweise auch aus umgekehrten homosexuellen Beimengungen. Sie hat ihre unbewussten Quellen in ödipalen und Geschwisterrivalitäten. Die projizierte Eifersucht wurzelt in eigenen Untreueregungen auf Grund der beständigen Versuchungen, die das Beziehungsleben links und rechts begleiten. Untreueregungen, die verleugnet und auf den Partner projiziert werden, der ja wohl "auch nicht viel besser ist als man selbst". Die wahnhafte Eifersucht schliesslich "entspricht einer vergorenen Homosexualität": "Als Versuch zur Abwehr einer überstarken homosexuellen Regung wäre sie (beim Manne) durch die Formel zu umschreiben: Ich liebe ihn ja nicht, sie liebt ihn." (GW XIII, 195ff) Die Eifersucht ist für Freud nicht nur Ergebnis dieser Affektkonstellationen, sondern selbst auch Ausgangspunkt für weitere Umwandlungen: Aus dem "Mutterkomplex" stammende eifersüchtige Regungen gegenüber älteren Brüdern können vom Jüngling unter dem Einfluss 29 WB_65.indd 29 12.11.10 10:18 der Erziehung und der Ohnmacht dieser Regungen umgewandelt werden in homosexuelle Liebe, die aus den ursprünglichen Rivalen die ersten Liebesobjekte macht. (GW XIII, 205f) Das ältere Geschwister wiederum möchte das nachkommende eifersüchtig verdrängen, kann aber nicht ohne eigenen Schaden an seiner feindseligen Regung festhalten und wird so zur Identifizierung mit den andern Kindern gezwungen. So entstehen Gemeinschaftsgefühle in Kinderstube und Schulzimmer, aber auch Identifizierungen wie diejenige der schwärmerisch in den Popstar verliebten Frauen untereinander. Soweit Freud. Zweierlei fällt auf: 1. Der wiederkehrende Bezug zu Norm und Normalität und 2. Das durchgehende Erklärungsmuster aus dem Gegensatz und der Verstrickung von Eros und Aggression. Auf den ersten Punkt kann ich hier nicht ausführlich eingehen: die Frage, welche Bedeutung der Normbegriff bei Freud hat, ist viel zu komplex und wäre ein Thema für sich.1 Nur einen Hinweis möchte ich geben: Freud scheint im Zusammenhang mit Eifersucht von Norm vor allem in einer Hinsicht zu sprechen: Als Zurückweisung nämlich einer grundsätzlichen Pathologisierung der Eifersucht und mehr noch als Zurückweisung der Pathologisierung der in der Eifersucht wirkenden 30 WB_65.indd 30 12.11.10 10:18 Triebkomponenten: Egoismus, feindselige und aggressive Wünsche, homosexuelle Regungen: all das ist "normal". Wir können nicht so tun, als ginge uns alle das nichts an. Das scheint mir die strategische Bedeutung zu sein, weswegen Freud das Normale der Eifersucht betont. Damit bin ich beim zweiten Punkt: Die grausamen, aggressiven, feindseligen Regungen, die Freud in der Eifersucht am Werk sieht und die sich mit liebenden Gefühlen und mit Trauer vermengen können. Vor allem die Geschwisterbeziehungen sind die Brutstätte der feindseligen Einstellungen: Freuds Argumentation, dass wir die Geschwister - mindestens in einem Teil unseres Herzens - am liebsten wieder weg haben möchten, ist nahe bei dem, was er im fast zeitgleichen Text über Die Verneinung entwickelt: Das ursprüngliche Urteil, das wir fällen, ist eins des Aufnehmens oder Ausstossens: Mit dem will ich nichts zu tun haben, ich will es am liebsten los sein. Die feindseligen Wünsche sind indes nicht immer sofort sichtbar, denn sie fallen auch unter die Verdrängung und können unter dem Druck der Erziehung und der Realität sich soweit umwandeln, dass sie gar Liebesbeziehungen begründen. Mischung, Verwandlung ins Gegenteil und projektive Umkehrung der Stossrichtung, all das spielt hier eine Rolle. Vereinfacht könnte man sagen, Eifersucht ist für Freud aus dem Wechselspiel der beteiligten Triebregungen und der ihnen geltenden Abwehrbemühungen zusammen gesetzt. Freud interessiert sich eigentlich die Ingredienzen der Eifersucht, für die einzelnen beteiligten Triebregungen und ihr funktionelles Interagieren, die sich wie die sieben Sachen zum Eifersuchtskuchen zusammenbacken. Nun gibt es aber auch die daraus fertig gebackene Eifersucht als eigenständiges Phänomen. Und diese bleibt in Freuds Optik vielleicht etwas unterbestimmt: Das Phänomen Eifersucht selbst wird, bevor es eigens in den Blick kommt, schon Gegenstand der Ingredienzen-Analyse. Vielleicht entsteht daraus der Eindruck, dass Freud vieles erfassen kann, was klinisch zweifellos und immer wieder von grosser Bedeutung ist, dass seine Ausführungen über die Eifersucht aber doch auch manches zu fragen übrig lassen. 31 WB_65.indd 31 12.11.10 10:18 Ich kann das Thema gewiss nicht erschöpfend weiter behandeln und möchte mich darauf beschränken, einen neuen Gedanken auszuführen: Mein Ausgangspunkt ist folgende Beobachtung: Wenn wir an der Oberfläche des Phänomens Eifersucht bleiben, so fällt gewiss ihr bohrender und quälender Charakter auf. Bohrend und quälend im doppelten Sinne: dass der Eifersüchtige sich in die innersten Regungen seines Partners bohren will und ihn damit, ohne Ruhe geben zu können, quält einesteils. Und dass sich die Eifersucht in uns Eifersüchtige selbst hineinbohrt und uns ruhelos quält andernteils. Eifersucht, um es simpel zu sagen, hält sich nicht an die Tatsachen, sondern an die Möglichkeiten. Wer eifersüchtig ist, ist Spezialist des schlimmen Verdachts. Wo auch immer eine Gelegenheit sein könnte, wo auch immer die Möglichkeit zur Untreue des oder der Geliebten sein könnte, da wird sie gewittert und im kleinsten Zeichen schon quälend als schiere Wahrheit erlebt. Auch ohne einen Eifersuchtswahn auszubilden, ist der Eifersüchtige auf die kleinsten Zeichen abonniert, die sich im nie ganz lückenlosen Alibi seines, seiner Geliebten als Versuchungskeime aufspüren lassen. Im Unterschied zum Wahnhaften behandelt er diese Zeichen nicht mit Gewissheit, sondern mit der quälenden Unruhe des immer nochmals Fragen-Müssens: "Hätte es nicht doch sein können?" "Und wenn sie/ er mir das sagt, was lässt sie/ er da wieder aus?" Usw. Mit diesem unablässigen Bohren in der Lücke, die jede Aussage und jede Wahrnehmung zwangsläufig haben, quält er/ sie sich selber oder auch seine Partnerin/ ihren Geliebten, bis diese es kaum mehr ertragen können. So beschäftigt sich, wer richtig eifersüchtig ist, ständig mit dem geliebten Anderen und ist doch meilenweit von ihm entfernt. Eine Analysantin lebte mehrere Jahre in heimlicher Beziehung mit einem verheirateten Mann, der dann seine Frau wegen ihr verliess. Sie hatte das nicht erwartet und sein Entscheid überraschte sie. Als sie nun ein "offizielles" Paar geworden waren, war sie bald von quälendsten und heftigsten Eifersuchtsattacken heimgesucht, die nicht nur auftraten, wenn ihr Freund mit einer anderen Frau sprach, sondern etwa auch wenn er einer anderen Frau möglicherweise Blicke hätte zuwerfen können. Es musste gar nichts Konkretes vorgefallen sein, allein die 32 WB_65.indd 32 12.11.10 10:18 Möglichkeit, dass etwas von ihr unbemerkt, heimlich - in ihrer Anoder Abwesenheit - hätte vorgefallen sein können, brachte sie in allergrösste Erregung. Ja, die Beziehungen, die er tatsächlich zu anderen Frauen unterhielt, waren für sie weit weniger bedrohlich. "Wenn er seine Frau wegen mir betrügen und verlassen konnte, dann kann er das auch mit mir tun", so musste sie denken - und wie hätte sie da jemals Sicherheit und Vertrauen finden können. Seine Art - zuverlässig, vernünftig, mit einem sehr geregelten Leben - war für sie gerade wegen seines überrumpelnden Entscheids für sie fragwürdig geworden. Er war ein offensichtlich etwas zwanghafter Mensch, dem sich das eigene Gefühlsleben nicht leicht erschloss und der zu Aussagen neigte, die die eigenen Ambivalenzen verkannten und daher für sie auch nie ganz schlüssig sein konnten. So musste sie ihn in ihrer wütenden Eifersucht immer wieder schütteln und rütteln, um das aus ihm herauszukriegen, was er "wirklich" dachte, was seine "wirkliche" innere Wahrheit war - und was sie nie finden konnte. Gerade das letzte Quentchen Ungewissheit bei all seinen Treuebekundungen verletzte und irritierte sie masslos und quälend. Und gerade darauf richtete sie unablässig ihr ganzes Interesse. So entstand eine Dynamik, die die Liebesbeziehung der beiden spaltete: Es gab die durchaus harmonische Liebesbeziehung mit einem reichen Schatz gemeinsamer Interessen, gegenseitiger Anregungen und wechselseitiger Faszination - und es gab jenen dämonischen Rest, den sie immer wieder und mit all ihrer Leidenschaft durch all seine Charakterhüllen hindurch suchen musste und aus ihm herausschütteln wollte. Und diese leidenschaftliche Bezogenheit auf das in ihm, was sich ihr und genauso ihm selbst entzog, erschütterte, erschwerte, ja verunmöglichte zeitweise ihre Liebesbeziehung. Es gab da etwas, das quer zur Liebesgeschichte lief und nicht zur Ruhe kommen konnte und diese mit unerbittlich grausamer Konsequenz zu zersetzen drohte. Und es gab, ich werde später darauf zurückkommen, ein interessantes sexuelles Symptom. Das ist sicher eine besondere, aber nicht wirklich aussergewöhnliche Geschichte, es ist der Kern wohl jeder rechten und das heisst leidenschaftlichen Eifersucht. 33 WB_65.indd 33 12.11.10 10:18 Viele kennen wohl Michelangelo Antonionis Film blow up aus den 60er Jahren: Die Hauptfigur, ein aus Langeweile und Überdruss seinen Models gegenüber ekelhafter Fotograf, findet auf Aufnahmen, die er in einem Park gemacht hat, zufällig Hinweise auf einen Mord: Auf den Fotos könnte eine Leiche abgebildet sein und im Gebüsch zeigt sich ein undeutliches Etwas, das eine Waffe, eine Pistole vielleicht, sein könnte. Doch bei all seinem Bemühen setzt es sich im Bild nicht scharf zusammen, nur im Kopf des Fotografen. Am nächsten Tag findet er dann tatsächlich eine Leiche im Park, die aber bei einem weiteren Besuch verschwunden ist; in sein Atelier wird eingebrochen und die Negative verschwinden. Er hat nur noch den vergrösserten Abzug eines Fotos, die von den Einbrechern nicht gefunden worden war. Doch ist auf der Vergrösserung das Korn so grob, dass man weder Leiche noch Waffe sicher erkennen kann. Der Fotograf, davon nun gänzlich in Bann gezogen, versucht mit allen Mitteln, den Fleck, der die Leiche sein könnte, scharf hinzukriegen und es gelingt ihm nicht. Es ist nicht mehr als ein Etwas, das seine Bedeutung auf immer entzieht. In der Eifersucht geht es auch um ein solches Etwas, das nie mit Sicherheit und nie eindeutig festgestellt werden kann. Die Eifersucht betrifft eine Frage, die letztlich nie beantwortet werden kann und darum geradezu dafür geschaffen ist, nie aufhören zu können, uns und unsere Lieben zu plagen. In einem modifizierten Sinne finde ich hier wieder drei Schichten, aus denen sie sich zusammensetzt: Da ist zunächst die schmerzhafte Eifersucht, die auf die reale Untreue des oder der Geliebten reagiert. Das indes ist nicht die Eifersucht, die wir meinen, wenn wir von jemandem sagen, er sei ein eifersüchtiger Mensch. Da meinen wir eine Eifersucht, die sich, ohne durch ausgelebte Untreue bestätigt zu sein, allein an den möglichen heimlichen oder auch mitgeteilten Phantasien des andern entzündet. (Im Sinne von Freuds: Denken ist Probehandeln). Und, besonders heillos, weil in keiner Weise auszuräumen, die Eifersucht, der es schon genügt, dass der andere ein Unbewusstes hat und es demzufolge immer möglich ist, ihm oder ihr eine Untreueregung zu unterstellen, von der er oder sie selbst nichts weiss. Da genügt allein der Verdacht, dass er oder sie in 34 WB_65.indd 34 12.11.10 10:18 dieser oder jener Situation hätte in Versuchung kommen können oder, ohne dass er oder sie es überhaupt selbst gemerkt haben muss, versucht gewesen ist. Bei meiner Analysantin drehte sich alles um den Blick: Welche Blicke warf ihr Partner wohin? Blicke, von denen er vielleicht selber gar nichts wusste, die aber seine unbewussten Wünsche - möglicherweise - verrieten. Blicke, die sie sah, Blicke, die sie nicht sah. Blicke, die auf sie trafen und von ihr schweiften, ohne dass sie sie anhalten konnte. Ohne dass sie wissen konnte, wohin sie schweiften. Die Liebe ihres Partners galt ihr, seine Liebe blühte in ihrem Garten. Sein Blick indes liess sich nicht einfangen, wie ein Vogel kam er in ihren Garten und flog wieder weiter. Was können wir über diesen Blick sagen? Wie das "Etwas" in Antonionis Film ist er das, wovon meine Analysantin gebannt ist, das sie immerfort einzufangen sucht und das sich ihr doch nie in einer "wahren", gültigen Bedeutung erschliesst. Im Blick des Freundes, in dem körnigen Etwas auf der Fotografie bleibt ein ungezügelter Rest, der sich nicht in den Koordinaten der Liebesbeteuerungen und des Beziehungsblablas einfangen lässt. Da gibt es ein Etwas, das nicht mit einer Bedeutung zusammengebracht werden kann, ohne dass diese sofort wieder brüchig würde. In der Eifersuchtsinquisition wird etwas verhandelt, was eine Grenze des Alltagsgeredes markiert. Sie verweist und aktualisiert etwas, worüber wir gewöhnlich hinweggehen: Wir gehen für gewöhnlich davon aus, dass wir uns schon ungefähr verstehen und dass wir uns gegenseitig bemühen, das zu hören, was der andere uns sagen will und was er meint. Dass dabei immer ein Rest bleibt, der auch anders hörbar wäre, dass immer auch Bedeutungen mitschwingen können, die nicht gemeint waren, übergehen wir im Alltag gelassen. Nicht so indes in der Eifersucht: Diese hört noch den scheinbar belanglosesten Rest, verdächtigt noch die argloseste Formulierung, gibt noch dem unmerklichsten Zögern und dem leisesten Stolpern Beweiskraft. Im Deuten kann sie kein Analytiker übertreffen. Im eifersüchtigen Blick auf den Blick des andern, im suchenden Fokus von Antonionis Fotografen ist es gerade dieser gewöhnlich unbeleuchtete Rest, der grell als das eigentliche Problem hervortritt. 35 WB_65.indd 35 12.11.10 10:18 Und mehr noch: Es zeigt sich, dass dieser Rest auch so etwas wie die organisierende Kraft ist, um die sich das ganze Geschehen dreht: Weil er sich nie ganz aufklären und befriedigend fassen lässt, muss er immer wieder umkreist werden und wird zum Kern immer neuer Fragen: Was sucht Dein Blick? Was sagt er über Deine Wünsche? Was bin ich für diesen Deinen Blick? Wie kann ich es sein, die in den Fokus Deines Blickes kommt? Vergehend vor Empörung und Wut, schwelgend in der eigenen Schmach malt sich der Eifersüchtige rund um diesen Rest die lebhaftesten voyeuristischen Phantasmagorien aus mit einem sichtlichen Geniessen also, das an das "ihm selbst unbekannte Geniessen" des Rattenmannes erinnert. Freud hat die triebhaften Ingredienzen der Eifersucht analysiert und ich habe nun im Versuch, das Phänomen Eifersucht selbst zu umreissen, ihre objektale Seite in den Blick bekommen: Das Ergebnis, schnell gesagt, ist Folgendes: Das Objekt der Eifersucht ist nicht einfach das "Liebesobjekt", d.h. der oder die geliebte Andere. Das Objekt der Eifersucht ist aber auch nicht einfach der gehasste oder insgeheim homosexuell besetzte Rivale. Bei der so genannten begründeten Eifersucht, die auf gelebte Untreue reagiert, mag das zwar so erscheinen. Doch zeigt die so genannte unbegründete Eifersucht, wie sehr ihre Leidenschaft sich querlegt zur Liebesbeziehung. Denn ihr Objekt ist ein merkwürdiges, nicht recht fassbares Etwas, das wir im Herzen des Liebesobjektes am Werke vermuten und das wir am Ursprung des bewussten und mehr noch des unbewussten Begehrens des geliebten Mitmenschen vermuten und zu fassen bekommen und auf uns lenken wollen. Und wenn wir's nur genügend darauf abgesehen haben, setzen wir unseren Geliebten ganz schön zu und bohren uns recht quälend durch ihren schönen Schein hindurch. Um dieses unfassbare Objekt kreisen die Triebe in der Eifersucht: In der Eifersucht zielen meine Triebe auf dich, aber nicht auf dich, insofern als du das bist, was ich bewundere und was meine Ideale verkörpert, oder insofern als du das bist, was mich schützt und nährt. Meine Triebe zielen auf dich, aber nicht auf dich, insofern du mein Liebesobjekt nach dem narzisstischen oder nach dem Anlehnungstypus bist. Sondern sie zielen auf dich und durch dich hindurch auf das 36 WB_65.indd 36 12.11.10 10:18 Etwas, das dein Begehren ankurbelt: Das will ich aus dir und durch dich hindurch herauskitzeln (wenn's gut geht), herausfragen (wenn's mühsam ist), herausbohren (wenn's grausam wird). Für dieses Etwas als das Objekt, das im Liebesobjekt steckt und doch nicht das Liebesobjekt ist, gibt es bei Lacan einen Begriff, der seine Unfassbarkeit herausstreicht: Es ist das Objekt a. Die Eifersucht ist natürlich nur eine mögliche Spielart meiner Suche nach diesem nie ganz fassbaren Objekt a. Die Eifersucht macht auf manchmal dramatische Weise deutlich, dass ich in dir, den/ die ich liebe und durch dich hindurch etwas suche, das sich dir selbst entzieht und das etwas anderes ist, als all das, was du mir als Geliebter, als Geliebte bedeutest. Es gibt natürlich auch andere - und vielleicht weniger grausame Möglichkeiten, wie Liebe und Suche nach dem Objekt a ineinander greifen können. Bestenfalls in einer gelingenden Liebesbeziehung. Im Lieben ist das Objekt a sozusagen ein betörender Duft, der den oder die geliebte Andere auszeichnet. Da bleibt dann der Unterschied von Liebesobjekt und Objekt a meist verhüllt und demzufolge - auch für die theoretische Darstellung - in seinem Wirken viel weniger plastisch erfahrbar als in der Eifersucht, die überall den Duft des Verdachts wittert wie ein Abgrund, der sich im Andern auftut. 37 WB_65.indd 37 12.11.10 10:18 Auch dafür, für das Wirken des Objekt a in der gelingenden Liebessituation, möchte ich ein Beispiel geben - diesmal aus der Literatur. In einem Gedicht des spanischen Literaturnobelpreisträgers Juan Ramon Jimenez finden wir mit knappsten Mitteln herausgestellt, wie die Suche nach dem Objekt a gerade das ist, was die Liebe betörend macht: Ich entblätterte dich wie eine Rose, um deine Seele zu erblicken, und ich sah sie nicht. Aber alles rund herum - Horizonte der Länder und Meere alles, bis ins Unendliche wurde von einem durchdringenden Duft erfüllt2. Wir haben nun einige Dinge zu präzisieren, die am Beispiel der Eifersucht ins Spiel gekommen sind: 1. Das Liebesobjekt: Das ist der oder die andere, so wie wir sie Freud zufolge - entweder im narzisstischen Modus oder im Anlehnungstypus auswählen. Im Liebesobjekt finden wir also jemanden, der entweder meinen narzisstischen, imaginären Idealen entspricht, all dem, wie ich gerne sein möchte. Oder wir finden jemanden, von dem wir uns genauso geschützt, genährt und umsorgt fühlen können, wie von den ersten Bezugspersonen, (so dass sich die Objektwahl an die Befriedigung der Ichtriebe anlehnt) (Zur Einführung des Narzissmus, GW X, 154). In Lacans Worten: das Liebesobjekt, das ist der imaginäre andere, der unsere Vorstellungswelt eben im narzisstischen oder im Modus der Ichtriebe bedient. 2. Das Objekt a demgegenüber ist ein immer fehlendes, nie fassbares Reales, das am Ursprung unseres Begehrens wirkt: Es ist als solches nie ganz erreichbar, denn es ist das, wovon uns das Leben immer 38 WB_65.indd 38 12.11.10 10:18 schon getrennt hat und mit dem wir uns nicht wieder vereinigen können: In der Logik der Freud'schen Partialtriebe ausgedrückt, ist das zunächst die Mutterbrust, von der wir uns "abzustillen" haben, dann der Kot, als Inbegriff dessen, was sich von uns abtrennt, aber auch der Blick des Andern, unter dem wir uns als Gestalt, in unserer imaginären Ganzheit wahrnehmen können, der aber auch gerade das ist, was aus dem in sich kohärenten und geschlossenen Bild, das sich unserem Sehen präsentiert, herausfällt. Wir können uns das Objekt a in diesen Partialobjekten "imaginieren" in Hinsicht auf das Triebfeld, das in jeder konkreten Analysesituation dominiert: Wir können, was in Analysen zur Sprache kommt, daraufhin untersuchen, ob es einen eher oralen Zugang zum Liebesobjekt markiert, oder einen eher analen, phallischen oder skopischen - wie im Falle meiner Analysantin. Aber das Objekt a bleibt doch als solches immer unzugänglich und zwar insofern, als es nicht möglich ist, sich mit dem wieder zu vereinigen, wovon wir getrennt sind. Wir können das Objekt a folglich mit Freuds Gedanken des Todestriebs in Verbindung bringen: In der Psychoanalyse wissen wir, dass es mit dem Wünschen etwas auf sich hat, das nicht funktioniert: Wir können uns nicht mit einer Logik begnügen, die untersucht, was ein Subjekt sich wünscht, und wie es geschieht, dass der Wunsch in Handlung und Erfüllung übersetzt werden kann. Die Psychoanalyse zeigt, dass in der Befriedigung der Wunsch nicht verschwindet, sondern immer weiter will auf einem nie ganz erfüllbaren Weg. Eine vollständige Wunscherfüllung, so hat es der späte Freud herausgearbeitet, wäre das Werk des Todestriebes und hiesse in die Stummheit eines vorgeschichtlichen Zustands verfallen. Das Leben, das Werk des Eros, ist zunächst nichts anderes als Ablenkung vom Triebziel des Todestriebes. Aber insofern als das Objekt auch für Freud auf den Spuren des verlorenen Objekts gesucht wird, kann sich der Eros nicht einfach vom Sog des Todestriebes freimachen und ins Weite schweifen. Seine Bewegung ins Offene wird immer wieder vom Todestrieb auf das Verlorene hin zurückgebeugt und so entsteht eine Art Kreisbahn des Trieblebens, auf der wir viel Neues erfahren und schaffen können und doch immer auch das Determinierte wiederholen müssen. Im Kern dieser Kreis39 WB_65.indd 39 12.11.10 10:18 bahn steht bei Lacan das Objekt a, das in seiner Unerreichbarkeit den Platz des verlorenen Objekts bei Freud einnimmt, in seiner patialtriebhaften Ausformung aber auch den Weg des Eros prägt. Lacan gibt diesem Freud'schen Gedanken folgende Wendung: Für ihn ist das Objekt a so etwas wie der Motor des psychischen Geschehens überhaupt, insofern es um Wunsch und Trieb geht: Die Trennungssituation schafft einen Mangel, der als das nie zu stillende Unruhezentrum unser Begehren und triebhaftes Streben verursacht. Deswegen ist für Lacan das Objekt a nicht einfach das angestrebte Objekt, sondern das, was er Objekt-Ursache des Begehrens nennt. Die Spaltung von Liebesobjekt und Objekt a, die wir in der Eifersucht feststellen konnten, tritt hier als Spaltung in das imaginäre Objekt, auf das wir unsere Liebe richten, und in das reale - zwar vorstellbare, aber nie erreichbare - Objekt als Ursache unseres unbewusssten Wünschens zutage. Ich möchte diesem Unterschied von imaginärem Liebesobjekt und realem Objekt a noch etwas weiter folgen in Hinblick auf seine Konsequenzen für unser Beziehungsleben: Auf der Ebene des Liebesobjektes ist es einfach, sich vorzustellen, dass die Verhältnisse reziprok sein können, d.h. dass es eine sexuelle Beziehung gibt, die auf Gegenseitigkeit, Erfüllung und geteilten Gefühlen beruhen kann. Die Gefühle sind reziprok, das sagen uns auch die Intersubjektivitätstheorien und so handhaben wir es häufig etwas unbedacht im Umgang mit der Gegenübertragung. Indes wird auch rasch ersichtlich, dass dies auf der Ebene des Objekts a so nicht gilt: Das Objekt a ist nicht reziprok, (es kann nicht gespiegelt werden, wie Lacan sagt). Wenn wir in unserem Partner und durch ihn hindurch das Objekt a als Referenzpunkt unseres triebhaften Strebens suchen, dann bewegen wir uns auf einer Ebene, die eher etwas Projektives als etwas Identifikatorisches hat: Wir projizieren das verlorene, abwesende Objekt a in unseren Partner, ohne dass er weiss, wie ihm geschieht und was er soll. Wir bauen unseren Partner so in eine phantasmatische Landschaft ein, die ganz unsere eigene ist und in die er aus irgendeinem, für ihn selbst gar nicht unbedingt erfassbaren Grund hinein passt. 40 WB_65.indd 40 12.11.10 10:18 Othello zum Beispiel: Othello bringt in seiner Eifersucht sein eigenes Phantasma zum Vorschein, das tragischerweise denkbar wenig mit Desdemona zu tun hat: Er, der allseits geschätzte und geehrte Kriegsherr hat die Liebe der Schönsten und Edelsten Venedigs gewonnen, die sich ihm treu ergeben hingibt. Und er, er liebt sie auch. Doch nichts Klügeres fällt ihm ein, als sich von Jago den Floh des Verdachts ins Ohr setzen zu lassen und Desdemona der Untreue zu verdächtigen. In ein ausgewachsenes Eifersuchtsdelir steigert er sich hinein: "Lieber Kröte sein und von den Dünsten eines Kerkers leben, als dass ein Winkel im geliebten Wesen für andere sei", ruft er (III, 274).3 Und darin zeigt sich eben, wo er sich unbewusst als Subjekt positioniert: Othello ist für die anderen, inklusive für Desdemona der Held, die geliebte Glanzfigur und so sieht er sich auch und so tritt er auf. Das ist reziprok, 41 WB_65.indd 41 12.11.10 10:18 das geht auf und könnte der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte sein. Das ist Othellos imaginäre Position, das ist er als Liebesobjekt. Aber im Kern seines Herzens sieht es anders aus. Da ist und bleibt er der Fremdling, der Schwarze, der der venezianischen high society seine Dienste leisten darf und dann wieder gehen kann. Im Kern seines Herzens ist er die hässliche Kröte in der venezianischen Pracht. Wie gewinnt er Desdemona? Mit Abenteuergeschichten seiner Heldentaten in fernen Ländern. So weckt er ihre jugendliche Sehnsucht nach dem Andern. Doch, so muss er sie verdächtigen, wo hält so was schon? Am Schluss wird sie sich zurückbesinnen, ein venezianisches Edelwesen zu sein? Das sagt auch Jago, der Kenner der verborgenen Seiten der Menschen. Und das sagt auch Desdemonas Vater, der Othello beschuldigt, Desdemona mit unlauteren Mitteln, mit Höllenkunst, Gift und Trank verzaubert zu haben, denn wie sonst könnte sie sich zum allgemeinen Gespött machen und sich "an solches Unholds pechschwarze Brust, die Graun nicht Lust erregt" (I, 71) schmeissen? Pass auf, sagt er zu Othello, so wie sie mich hinterging, wird sie auch dich betrügen. Mit diesem väterlichen Blick ist Othello unbewusst identifiziert. Wie eine Prophezeiung wirkt er und bringt Othello schliesslich dahin, tatsächlich als scheusslich gewordener Rest aus dem Spiel herauszufallen, als Mörder, von dem man sich erschreckt abwendet. Weil er sich unbewusst als ausgestossener, geächteter Rest positioniert, muss er auch Desdemona unterstellen, im Grunde nichts anderes von ihm zu denken. Und das nun versucht er gequält quälend aus ihr als ihre eigentliche Wahrheit herauszupressen: Du liebst nicht mich, du liebst den schönen Deinesgleichen, Cassio - und in mir siehst du nur den Tölpel, den man wie das Schnupftuch gebrauchen und wegwerfen kann. Doch das ist nicht Desdemonas Wahrheit, die in der Eifersucht zum Vorschein kommt, es ist ganz allein seine phantasmatische Geschichte, die er ihr überstülpt und an die sie, im wahrsten Sinne des Wortes, glauben muss. Das also ist die Macht des Objekts a: Wenn Othello unbewusst die Kröte in Venedigs Glanz ist, so kann er sich von Desdemona nicht wirklich geliebt wissen, wenn sie seine heldenhafte imaginäre Gestalt liebt. Wirklich lieben, das ist Othellos unbewusstes, nur in der grausa42 WB_65.indd 42 12.11.10 10:18 men Zerstörung lösbares Drama, könnte sie ihn nur, wenn sie ihn als Kröte liebte. Neid Mit der Eifersucht nahe verwandt und nicht selten vermählt ist das Phänomen des Neids. Die Eifersucht richtet sich auf das Begehren des andern, das wir in seinen unberechenbaren Auswirkungen nie ganz auf sicher haben. Der Neid indessen richtet sich auf das unterstellte Geniessen des andern: Neidisch macht uns die Vorstellung, der andere habe ein erfülltes, quasi paradiesisches Geniessen, das uns unerreichbar ist. Die Trennung vom Objekt a schreibt sich ja auch in die Ökonomie des Geniessens ein: Unsere Ausrichtung auf das Objekt a macht ein Geniessen möglich, das aber auf der Folie des ungetrennten Zustands, des Zustands vor dem Verlust des Objekts a, immer nur als partiell erscheinen kann. Den ursprünglichen Zustand verklären wir nachträglich zu einem paradiesischen Zustand erfüllten Geniessens. Lacan hat in den Confessiones des heiligen Augustinus ein Beispiel für den Neid gefunden: Augustinus beschreibt das Kind, das den Milchbruder beneidet, der an der Brust der Amme ein rundum zufriedenes und glückliches Bild abgibt. Dieses Bild des vollendeten Glücks ist es Lacan zufolge, das wir beneiden, auch wenn wir in diesen Zustand ungetrennter Innigkeit nicht mehr zurück können. Der beneidete Zustand wird vorgestellt als einer, der Trennung und Wegfall des Objekts a aufzuheben oder ungeschehen zu machen vermöchte. Bei näherem Hinsehen fällt allerdings auch hier ins Auge, dass da etwas nicht aufgehen kann: Wir können diesen Zustand wohl beneiden, aber zurückhaben möchten wir ihn ja doch nicht - wer will schon zurück an die Mutterbrust. Es gibt, weiss Gott, grössere kulinarische Verlockungen! Der Neid zeigt also eine Kluft, die im Wünschen selbst am Wirken ist: Das debile Glück der sich in einer lallenden BabySprache wortlos verstehenden Verliebten macht uns neidisch, aber wenn der Zustand der seligen Wonne andauert, empfinden wir das als abstossend oder mindestens als bemitleidenswert. Unser Wünschen hat seine Paradiesvorstellungen, aber es sucht immer wieder die 43 WB_65.indd 43 12.11.10 10:18 Erneuerung in der Ablenkung. Wünschenswert ist der beneidete Glückszustand nur, insofern als er nicht erreichbar ist oder doch nur für Momente, die ihren Charme aus dem Kontrast mit dem unerfüllten Alltag bekommen. Das mag der Grund sein, warum Freud für die analytische Kur nicht Glück versprochen hat, sondern nur das alltägliche, gemeine Unglück, in das das neurotische Elend bestenfalls übergehen kann. Auch in Schillers Ballade vom Ring des Polykrates finden wir den gleichen Gedanken: Das glückliche Gelingen, "des Lebens ungemischte Freude" ist nichts für Menschen, das ist den Göttern vorbehalten - und das zieht auch den Neid der Götter auf sich. Glück droht in Grauen und Angst vor dem Untergang zu kippen: Wem alles immer gelingen will, der ist dem Verderben preisgegeben. Ich komme nun nochmals auf meine eifersüchtige Analysantin zurück: Sie war die älteste von drei Schwestern, nach ihr waren Zwillinge gekommen. Das eine der Zwillingsmädchen war die Hübsche der drei. Meine Patientin hatte sich sehr eng liiert mit der andern Schwester und die Hübsche war die ausgeschlossene Dritte: So war die Geschwisterkonstellation umgedreht: Jetzt bildete meine Analysantin mit der anderen Schwester eine Art Zwillingspaar und stand nicht mehr der Übermacht der kleinen Zwillinge gegenüber. Dieses Schicksal hatte sie der hübschen Schwester abgetreten. Doch das genügte nicht, denn dieser galt auch der Neid, weil sie, wie es schien, die Blikke des Vaters und der Männer auf sich zog. Erst nach längerer Zeit der Analyse erfuhr ich, dass es bei meiner Analysantin noch ein sexuelles Symptom gab: Wenn sie mit ihrem Partner, dem die Eifersuchtsattakken galten, Sex hatte, war es für sie, als steckte sie in einem anderen Körper. Für sie war es schwierig, Lust zu empfinden, denn das Gefühl war: Es ist gar nicht sie, die da gefickt wird, es ist eine andere. - Viele andere kamen in Frage, diese Rolle zu übernehmen, nie indes die hübsche Schwester, so betonte sie. Kein schlecht gebautes Symptom: Sie war nun im Sex in der Rolle derjenigen, auf die die Blicke des Mannes fielen. Sie hatte die beneidete Position derjenigen übernommen, die von den Männern begehrt wurde und unter deren Blick ein vollauf erfülltes Geniessen zu erleben schien. Und zugleich hatte sie sich mit dem begehrten männlichen 44 WB_65.indd 44 12.11.10 10:18 Blick identifiziert, sie war nun selbst zu dem Blick geworden, den sie so gerne auf sich gezogen hätte und dessen Unbeherrschbarkeit sie immer wieder in der Eifersucht erfahren musste. Eigentlich war sie nur als dieser Blick im Sexualakt anwesend, als diejenige, die schaut, wie sie als Körper einer anderen genommen wird. Der eifersüchtig gesuchte Blick ihres Partners, nun war sie es selbst - und die beneidete Szene des Geniessens, das die begehrte Frau unter diesem Blick empfinden mag, konnte sie, im Körper der andern steckend, verkörpern. Wenig Lust war kaum dabei, aber viel Geniessen - so könnte man dieses Symptom zusammenfassen. Liebesübertragung Ich komme nun zum Schluss noch auf die Liebesübertragung in der psychoanalytischen Kur zu sprechen: Was hatte Lacan wohl damit im Sinn, wenn er sagt, dass der Analytiker in der Kur die Position des Objekts a einnehmen müsse. Ich hoffe, dass mein Parcours durch die Gefilde der Eifersucht und des Neids die Voraussetzung geschaffen hat, um auf diese Frage eingehen zu können: Was geschieht in der Liebesübertragung? Freud zufolge ist die Liebesübertragung ein Widerstand: Die Frauen - er spricht über seine Erfahrungen - die Frauen wollen nicht mehr Kur, sie wollen "Suppenlogik mit Knödelargumenten". Lieben soll er sie, nicht analysieren, das ist nichts als schnöde Zurückweisung. Die Kur kann da einpacken. Aber Freud wäre nicht Freud, hätte er nicht das Talent, auch in so vertrackter Situation noch Fragen stellen zu können. Man könne sich nur fragen, so schreibt er, warum so bodenständig ausgerichtete Frauen "mit so unbeugsamer Liebesbedürftigkeit" doch Neurotikerinnen seien.4 In dieser Frage verrät sich gewiss Freuds eigenes Begehren zu forschen als ein persönliches Merkmal, das ihm überhaupt ermöglicht hat, die Psychoanalyse zu schaffen. Aber es verrät sich wohl auch etwas anderes: Die Liebesübertragung ist offenbar kein Gelingen. Die positive Übertragung, die milde Verliebtheit lassen wir Analytiker uns gerne gefallen. Morgenthaler etwa hat immer wieder betont: Mit der positi45 WB_65.indd 45 12.11.10 10:18 ven Übertragung muss man arbeiten, man muss sie nicht deuten. Die positive Übertragung und die analytische Arbeit gehen Hand in Hand. Die Liebesübertragung aber stellt sich offensichtlich gegen die Suche nach dem Unbewussten, gegen die Deutungsarbeit. Sie bricht wie Feueralarm in die Theateraufführung ein, so beschreibt es Freud. Die positive Übertragung, das ist die Theateraufführung - bricht die Liebesübertragung ein, so ist "fertig lustig", wie man in der Schweiz sagt. Ich denke, dass diese Aussage Freuds für jede Form der heftigen und zugespitzten Übertragung gilt, in der die analytische Deutungs- und Rekonstruktionsarbeit immer als Zumutung und der Analytiker als verständnislos und zurückweisend erlebt wird, wenn er darauf beharrt zu analysieren, statt die Forderungen der Analysanten zu erfüllen. Die Liebesübertragung bringt auch eine theoretische Schwierigkeit mit sich: Wenn wir die Analyse in der Art führen, wie das Freud etwa hinsichtlich der Eifersucht tut, wenn wir also die Liebes- und anderen Affektregungen dahingehend untersuchen, welche erotischen und aggressiven Komponenten in ihnen am Werk sind, dann leuchtet nicht unmittelbar ein, warum die Liebesübertragung kein Gelingen sein soll. Die Liebesfähigkeit des Analysanten ist damit doch unter Beweis gestellt, das könnte ja ein schönes Ergebnis einer Analyse sein. Warum also daran herummäkeln? Das Argument, dass die Übertragungsliebe keine echte Liebe sei, lässt Freud nicht gelten. Sehr bestimmt weist er 46 WB_65.indd 46 12.11.10 10:18 darauf hin, dass die Übertragungsliebe eine Liebe wie jede andere auch sei, da jede Liebe auf Übertragung beruhe. Also was können wir noch ins Feld führen? Dass die Liebesübertragung eine idealisierende Vermeidung negativer und feindseliger Übertragungsphantasien sei. Das ist gewiss ein wichtiges Argument, aber sticht es immer? Ich denke, dass Lacans Unterscheidung von Liebesobjekt und Objekt a, die ich an Hand der Eifersucht eingeführt habe, aus der Schwierigkeit helfen kann: Lacan bezeichnet die Liebesübertragung als ein "Schliessen des Unbewussten": Sie ist so ungefähr das Gegenteil der Eifersucht. Wo die Eifersucht durch die Liebe hindurch zum Objekt a vordringen will, da verschliesst sich die Übertragungsliebe vor jedem weiteren Suchen und will es mit dem Lieben gut sein lassen. Dies kann als Schliessen des Unbewussten verstanden werden, weil die Verschiebungs- und Verdichtungsvorgänge im Unbewussten für das liebende Subjekt jede Bedeutung verloren zu haben scheinen. Wenn das eifersüchtige Subjekt ganz genau weiss, dass wir alle Menschen mit einem Unbewussten und mit nie ganz zur Ruhe kommenden Wunschregungen sind, dass wir alle mit einem Rest unseres Herzens immer schon im Aufbruch sind, wie schön es auch sein mag, so will das liebende Subjekt nichts lieber, als sich über diese Wahrheiten hinwegtäuschen. Hinwegtäuschen - das tönt so negativ. Es gibt ja doch so etwas wie ein Gelingen der Liebe, vielleicht nicht allzu häufig, aber immerhin. Was sagen uns diesbezüglich unsere Analysanten? Ich weiss nicht, was Ihre Erfahrungen sind, aber meine Erfahrung ist, dass sie sagen: Bei anderen Paaren gelingt, was in meiner Beziehung scheitert. Wenn man sie dann indes fragt, an welches Paar sie denken, kommen ihnen nur Beziehungen in den Sinn, die ebenso problematisch sind wie ihre eigene... Da ist also offensichtlich eine neidische Vorstellung am Werk, die ein erfülltes, gelingendes Geniessen bei den andern imaginiert, das bei näherem Zusehen zum Luftschloss wird. Aber ein Gelingen der Liebe muss ja nicht eine problemlose Liebe sein; ein Gelingen der Liebe setzt wohl eher voraus, dass eine Möglichkeit gefunden wurde, dem Dilemma zu entgehen, dass sich in der Liebe das Unbewusste schließt oder dass die Liebe ein Tannhäuserscher Venusberg der vollständigen 47 WB_65.indd 47 12.11.10 10:18 Erfüllung sein müsste. Dass also ein Weg gefunden wurde, in der Liebe, auf dem Boden der Liebe Platz zu lassen für all das, was mit der Suche nach dem Objekt a zu tun hat. Die Sublimierung, selten genug, ist gewiss eine solche Möglichkeit, vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, ein gemeinsames phantasmatisches Projekt aufzubauen, in dem die phantasmatischen Bezüge zum Objekt a von beiden Partnern untergebracht werden können. (Und nach dem gemeinsamen Hausbau geht dann allerdings die Beziehung in Brüche, heisst es). Und dann ist eine bewährte Strategie sicher die, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen und friedlich aneinander vorbei zu leben - ich weiss nicht, ob man das abwerten muss. Aber ich möchte mich da nicht weiter auf die Äste hinaus lassen, sondern nochmals auf das Gedicht von Juan Ramon Jimenez zurückkommen: Ich entblättere dich wie eine Rose und finde nichts, aber in dieser Suche nach dem Objekt a in dir entsteht etwas, das die Welt mir neu eröffnet und bis ins Unendliche beginnt sie zu duften. Ich entblätterte dich wie eine Rose, um deine Seele zu erblicken, und ich sah sie nicht. Aber alles rund herum - Horizonte der Länder und Meere alles, bis ins Unendliche wurde von einem durchdringenden Duft erfüllt. Beschreibt dies Gedicht das Gelingen der Liebe oder ist es als Produkt der Sublimierung deren Gelingen? Wie auch immer, es führt mich zurück zur Frage nach der Position des Analytikers: Jimenez beschreibt etwas, das sich in einem wesentlichen Punkt ganz entscheidend von dem unterscheidet, was wir aus der Liebesübertragung kennen: Das Gedicht kommt ohne Forderung daher, es transportiert nicht den Liebesanspruch, den wir so dringlich und ausschiesslich in der Liebesübertragung vorgetragen bekommen. Wenn die Liebesübertragung in 48 WB_65.indd 48 12.11.10 10:18 der Forderung "du musst mich lieben" das Unbewusste schliesst, dann öffnet sich das Gedicht "bis ins Unendliche". Und diesem Öffnen sind auch wir Analytiker verpflichtet. Ob das gut ist oder schlecht, sei dahin gestellt, es ist einfach unser Job. Wenn Lacan meint, dass der Analytiker in der Kur die Position des Objekts a verteten solle, so ist das ein Votum für diese öffnende Bewegung, ein Votum, sich der fortwährenden Suche des Begehrens zu verpflichten. In der Analyse kommt der Bezug zum Objekt a auch in der schönsten und heftigsten Liebesübertragung nicht zur Ruhe, es gibt da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird an der Liebesforderung festgehalten und es kommt zum Abbruch, oder die Durchquerung der Phase der Liebesübertragung kann gelingen und zu einer nachhaltigen Veränderung in der Kur führen. Gerade in den letzten Wochen hat mich eine frühere Analysantin nach gut zehn Jahren wieder kontaktiert. Es war damals eine Analyse, auf die ich nicht stolz war und die meines Erachtens daran gescheitert war, dass die Analysantin, in ihrem Liebeswunsch enttäuscht, sich aus der Analyse zurückgezogen hatte. Nun, zehn Jahre später, erzählte sie mir, wie viel sich in ihrem Leben in der Folge der Analyse verändert hatte und wie dankbar sie insbesondere war, dass die Analyse ihr geholfen hatte, Kinder zu haben und kreatives Potenzial freizusetzen: Neben Familie und Lehrerberuf mache sie nun Puppentheater. Für sie war es kein Abbruch, sondern ein Aufbruch gewesen. Offenbar - und zu meiner Überraschung - war diese Analyse doch nicht nur in den imaginären Forderungen an einen Analytiker, der zum Liebesobjekt genommen wurde, festgefahren, sondern hatte etwas von dem öffnen können, was die Analysantin mit dem Objekt a in Bezug setzt. Fußnoten: Vgl. Christian Kläui: Norm, Normalität und das Ende der Analyse, erscheint in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 4, 2010. 2 Juan Ramon Jimenez: Herz, stirb oder singe. Gedichte, übers. Hans Leopold Davi, Diogenes: Zürich 1958, 43 3 William Shakespeare: Othello, der Mohr von Venedig. Zit. nach der Übersetzung von Ludwig Tieck. 4 Sigmund Freud: Bemerkungen über die Übertragungsliebe, GW X, 315. 1 49 WB_65.indd 49 12.11.10 10:18 Priv.-Doz. Dr. phil. Dipl. Psych. David Becker, Direktor des Büros für psychosoziale Prozesse (OPSI) der Internationalen Akademie INA gGmbH an der FU Berlin, lehrt Sozialpsychologie an der Leibniz Universität Hannover und berät psychosoziale Projekte im In- und Ausland. Autor von "Die Erfindung des Traumas Verflochtene Geschichten", Berlin: Freitag, 2006. [email protected] 50 WB_65.indd 50 12.11.10 10:18 ZWISCHEN TRAUMA UND TRAUMADISKURS NACHDENKEN ÜBER PSYCHOSOZIALE ARBEIT IM GAZASTREIFEN DAVID BECKER Ausgangsprobleme: Arbeiten in einem unmöglichen Gebiet An der Klagemauer in Jerusalem betet ein frommer Jude. Touristen nähern sich ihm und fragen ihn, was genau er da macht. Der fromme Jude antwortet "ich bete hier dreimal am Tag für den Frieden" - "Frieden für wen?", wird er gefragt, "Frieden für die Juden, Frieden für die Palästinenser, Frieden in Israel, Frieden im Gaza, Frieden in der Westbank." "Und glauben Sie, daß das etwas nutzt?" "Ja, deshalb bete ich ja dreimal am Tag, … aber ich bete gegen eine Mauer." Ob der Realitäten im Nahen Osten bleibt einem das Lachen über diesen Witz im Halse stecken. Die meisten Menschen dort wünschen sich Frieden. Eigentlich weiß man auch, wie ein solcher Frieden aussehen könnte, aber irgendwie gelingt es den beteiligten Parteien (und das sind nicht nur Israelis und Palästinenser, sondern auch die gesamte internationale Gemeinschaft) immer wieder, den Konflikt zu verschärfen, weiterzuentwickeln, echte Friedensperspektiven in weite Ferne rücken zu lassen. Seit 2005 besuche ich Palästina - speziell den Gazastreifen - regelmäßig. Im Auftrag einer Schweizer Hilfsorganisation (CFD - Christlicher Friedensdienst) und der DEZA (Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) habe ich dort psychosoziale Projekte evaluiert und beraten. Nach dem Krieg im Gazastreifen 2009 habe ich zusammen mit KollegInnen aus Deutschland und der Schweiz und in Kooperation mit den palästinensischen PartnerInnen ein kleines supervisorisches Unterstützungsprojekt durchgeführt (finanziert durch die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland), welches nun 2010 eine Fortsetzung und Erweiterung erfahren hat und noch bis 2012 im Gazastreifen und in der Westbank umgesetzt wird. In sogenannten "ongoing conflicts" 51 WB_65.indd 51 12.11.10 10:18 zu arbeiten, ja speziell über die Möglichkeit psychosozialer Hilfen nachzudenken und diese tatsächlich zu entwickeln, ist immer und überall extrem schwierig. Ganz besonders gilt dies im Konfliktgebiet Palästina/Israel, denn die Verhältnisse verschlechtern sich dort seit Jahren unaufhaltsam. Für mich war es immer wieder überraschend zu erleben, dass ich mir von einem Besuch zum nächsten nicht mehr recht vorstellen konnte, was eigentlich noch schwieriger werden könnte. Und dann passierte wieder etwas, das die Gesamtverhältnisse um vieles hoffnungsloser erscheinen ließ als einige Monate vorher. Hinzu kommt, dass man sich als Deutscher in einem vielfach verminten Gebiet bewegt. Dan Bar On (2004) sprach vom unausweichlichen Spannungsdreieck Deutschland - Israel - Palästina. Fraglos ist, dass Deutsche und Israelis notwendigerweise ein spezielles Verhältnis zueinander haben, weil im Mittelpunkt ihrer Beziehungen der Holocaust, der deutsche Massenmord an Millionen von Juden steht. Dies ist die einzige Aussage, die problemlos zu treffen ist. Ab dann wird es schwierig. Darf man als Deutscher das Verhalten von Israelis gegenüber Palästinensern kritisieren? Wann versteckt sich hinter Sympathien für Palästina alter oder neuer Antisemitismus? Wie steht man zum Zionismus? Wer sind Juden? Wer sind Israelis? Wie reagiert man, wenn Palästinenser von Juden sprechen und Israelis meinen? Darf man, kann man die Situation von Israelis und Palästinensern vergleichen? Sollten sich Deutsche aus diesem Thema überhaupt heraushalten? Falls nicht, in welcher Rolle sollen sie auftreten? Ist es ihre Pflicht, Palästinenser die israelische Interessenlage klarzumachen? Ist es - umgekehrt - ihre Pflicht, israelisches Verhalten gegenüber den Palästinensern kritisch zu hinterfragen? Kann man überhaupt solidarisch mit Palästinensern sein, wenn man ständig auch noch ausgleichende Bemerkungen bezüglich Israels tätigen muss? Muss man überhaupt immer vermitteln? Man könnte die Fragen endlos fortsetzen, aber noch nicht mal auf die hier gestellten, kann ich eine sichere und klare Antwort geben. Ich kann nur berichten, dass es mir nach Besuchen im Gazastreifen, nachdem ich tagelang die Angst, die Zerstörung, die Demütigung und die konkrete Not miterlebt hatte, immer außerordentlich wichtig war, mich 52 WB_65.indd 52 12.11.10 10:18 mit geschätzten israelischen Freunden zu treffen, die ich informieren konnte und die mir halfen, Gefühle von Wut und Empörung, Urteile und Vorurteile, Israelkritik und Antisemitismus zu entwirren und so weit als möglich zu verstehen. Das Überschreiten der Grenze in Erez ist immer ein demütigender Vorgang, aber als Ausländer kommt man ja immerhin hin und her. Gazastreifen-Bewohner können das in der Regel seit Jahren nicht mehr. Und auch umgekehrt können sich fortschrittlich denkende Israelis nicht in den Gazastreifen trauen, was ihnen im Übrigen durch die eigene Regierung sowieso untersagt ist. Beeindruckend sind die Vorstellungen, die dabei auf beiden Seiten 53 WB_65.indd 53 12.11.10 10:18 über den jeweils anderen entwickelt werden, dem man nicht mehr als normalem Menschen gegenüber tritt, sondern nur im Rahmen militärischer - meist tödlicher - Auseinandersetzungen begegnet bzw. ausgeliefert ist. Ein Kollege wurde im Gazastreifen von einem kleinen Mädchen gefragt, wohin er denn jetzt ginge. Als er antwortete, er würde nun in Israel Freunde besuchen, war das 10-jährige Mädchen ehrlich erstaunt. Konnte man Israelis wirklich besuchen; gingen die den menschlich mit anderen Menschen um? Sie machte sich Sorgen um das gefährliche Vorhaben des Kollegen. Umgekehrt erläuterte mir ein Taxifahrer auf der etwa einstündigen Fahrt vom Flughafen Tel Aviv zum Grenzübergang nach Erez ganz überzeugt, dass alle Palästinenser aller Alterstufen nur Terroristen seien, und dass wir von der internationalen Gemeinschaft, die auch noch helfen wollten, nicht nur einem Betrug aufsäßen, sondern uns wirklich in Gefahr begeben würden. Er war nicht etwa böse auf mich oder kritisierte mich politisch, er war nur ziemlich überzeugt davon, dass ich realitätsfern und verrückt sein müsse, um dort helfen zu wollen. Natürlich gibt es auf beiden Seiten Menschen, die miteinander reden, die in Kontakt bleiben, die so weit wie möglich zusammenarbeiten. Aber die Möglichkeiten solcher Zusammenarbeit sind ob der Kriegsrealitäten immer geringer geworden. Wie so häufig in Konfliktgebieten, aber von mir nirgendwo mit solcher Intensität erlebt, ist man als von Außen Kommender scheinbar immer vor die Wahl gestellt, zur einen oder anderen Seite zu gehören, und entsprechend an der einen oder anderen Seite zum Verräter zu werden. Eine dritte Alternative scheint es nicht zu geben. Ich möchte im Folgenden einen Zweischritt versuchen: Einerseits möchte ich theoretisch über Trauma und Traumadiskurs nachdenken. Andererseits möchte ich die Arbeit im Gazastreifen in den vergangenen Jahren reflektieren, dabei auch über die Komplikationen internationaler Zusammenarbeit im psychosozialen Bereich nachdenken. Während ich also zunächst relativ ausführlich sowohl über wissenschaftsimmanente als auch über sozialpolitisch motivierte Entwicklungsstränge der Traumatheorie nachdenke, soll dies doch immer mit der Perspektive geschehen, schließlich wieder auf den Gazastreifen 54 WB_65.indd 54 12.11.10 10:18 zurückzukommen und zu fragen, welche Relevanz eine so verstandene Traumatheorie für die Praxis der internationalen Zusammenarbeit haben kann. Dabei berichte ich dann etwas ausführlicher über den aktuellen Arbeitskontext dort. Die doppelte Genealogie und Identität der Traumatheorie In ihrem hervorragenden Buch "L'Empire du Traumatisme"diskutieren Fassin und Rechtmann (2007) die Entwicklung der Traumatheorie als eine, der notwendigerweise eine doppelte Genealogie zu unterstellen ist, weil sich ihre Entwicklung nicht als gradliniger wissenschaftlicher Fortschritt von A nach B erklären lässt. Ihrer Ansicht nach entwickelt sich die Traumatheorie zwar auch im Rahmen bestimmter wissenschaftlicher Diskurse, gleichzeitig aber in Bezug auf und als Ergebnis von bestimmten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Traumatheorie ist also sowohl das Ergebnis wissenschaftsimmanenter Entwicklungen, als auch Ausdruck sich verändernder gesellschaftlicher Konflikte und hat entsprechend notwendig eine doppelte Identität, nämlich als klinisch-psychologischer Begriff einerseits und als moralische Kategorie in gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen andererseits. Wissenschaftsimmanent finden wir in den Anfängen der psychoanalytischen Traumatheorie die ursprüngliche Metapher vom Riss zwischen Selbst und Realität. Wir finden hier das entscheidende quantitative Moment, in welchem der psychische Apparat durch ein Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen überfordert wird und zusammenbricht. So formulieren Laplanche und Pontalis im Vokabular der Psychoanalyse 1977 Trauma als ein "Ereignis im Leben des Subjekts, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjekts adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft. Ökonomisch ausgedrückt ist das Trauma gekennzeichnet durch ein Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjekts und seiner Fähigkeit diese Reize psychisch zu bemeistern und zu bearbeiten, exzessiv sind" (S. 513). 55 WB_65.indd 55 12.11.10 10:18 Nun ist die frühe Freud'sche Traumatheorie eng verknüpft mit der Verführungstheorie. In dieser wird aber Trauma eben nicht als simples Reiz-Reaktions-Schema verstanden, sondern als zeitlich verzögerte, komplizierte Entwicklung. Zwar wird die kindliche Sexualität von Freud hier noch nicht wahrgenommen, aber es wird ein Beziehungs- verhältnis beschrieben, das durch die Unreife des Kindes und die "Reife" der Wünsche und der Taten des Erwachsenen gekennzeichnet ist. Dieses Verhältnis erhält später seine traumatische Wirkung, wenn das Kind herangereift ist und nachträglich das Ereignis in seiner vollen Bedeutung erfasst, weil nunmehr die eigenen Triebwünsche auftauchen. Das Trauma setzt sich so zusammen aus einer ursprünglich nicht verstandenen Überwältigungserfahrung und einer späteren Triebspannung, die das Ereignis nachträglich verstehbar und im selben Moment unerträglich macht. Interessant ist bei näherem Hinsehen an dieser frühen Traumakonzeption, dass sich bereits hier das Trauma nicht als simple Zusammenbruchserfahrung konstituiert, sondern aus einem langen, zeitlich weit gespannten Prozess resultiert, der von außen verursacht, aber intern komplex beantwortet wird, und die traumatische 56 WB_65.indd 56 12.11.10 10:18 Wirkung so eine Ergänzung zwischen zerstörendem Ereignis und Entwicklungs- bzw. Reifungsprozess ist. Als Freud dann 1897 die Verführungstheorie aufgibt und den Schwerpunkt der Forschung von außen nach innen verlagert, was, wie Ilse Grubrich-Simitis (1987) überzeugend nachweisen konnte, eben nicht der "Sturz aller Werte" (Freud, S., 1986) war, entdeckt er und wertet in ihrer Macht erstmals die kindliche Sexualität. Es ist die Zeit der drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Obwohl die Möglichkeit realer Traumatisierung - und damit zusammenhängend auch das Konzept der Nachträglichkeit - nie völlig aufgegeben werden, tritt das Thema doch in den Hintergrund. Offensichtlich war die Möglichkeit, perverse Eltern bzw. Erwachsene wahrzunehmen und gleichzeitig eine infantile Sexualität in all ihrer Komplexität anzuerkennen, zumindest für Freud und für sehr viele seiner Nachfolger, nicht möglich. Erst viele Jahre später finden wir relevante Überlegungen in diesem Zusammenhang bei Laplanche (1988). Allerdings galt schon damals und in diesem Sinne kann man durchaus von einer wissenschaftsimmanenten Weiterentwicklung sprechen - dass Ferenczi die reale Annahme der Traumatisierung durch Missbrauch nicht aufgab und auch die komplexen Beziehungsdimensionen, die dabei eine Rolle spielten, weiter beforschte. Und so kommt es dann 1932 zu dem bis heute beeindruckenden Aufsatz "Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind" (1933/1982) in welchem Ferenczi aufzeigt, wie traumatisch das missbrauchende Beziehungsgeschehen zwischen Erwachsenem und Kind ist und wie sehr die Tatsache, im Opfer der Sprache des Täters zu begegnen, eben nicht gegen das Opfer, sondern ganz im Gegenteil für seine extreme Zerstörung und traumatische Unterwerfung spricht. Und es ist auch Ferenczi, der in seinem Klinischen Tagebuch (1932) ein wesentliches Dilemma einer jedweden Traumabehandlung erstmals deutlich beschreibt: Befindet sich der Patient oder die Patientin im traumatischen Erleben, dann gibt es keine Sprache, keine Möglichkeit zur bewussten Kommunikation. Und umgekehrt: Wird über das Trauma gesprochen, kann zwar kommuniziert werden, aber es handelt sich um eine Art Rekonstruktion von außen. Diese Erkenntnis Ferenc57 WB_65.indd 57 12.11.10 10:18 zis ist deshalb so wichtig, weil hier erstmals verstanden wird, dass, wenn Trauma einen strukturellen Zusammenbruch bedeutet, man es mit zwei parallelen Seinszuständen zu tun bekommt, die nicht wirklich miteinander verknüpft sind. Auf der einen Seite steht eine externe Erinnerung an ein Erlebnis. Extern deshalb, weil man in diesem Erlebnis aufgehört hat zu existieren, quasi gestorben ist, also auch nicht auf normale Art und Weise erinnern kann. Und wenn man auf die Erlebnisstufe des Zusammenbruchs hin "regrediert", dann existiert keine Struktur mehr, mittels derer sprachliche Kommunikation und Reflexion möglich wäre. Ferenczis Patientin, mit der er diese Problematik erörterte, schlug vor, dass es vielleicht darum gehen könnte, stückchenweise das Sprechen wieder zu erlernen, also zwischen rekonstruierender Sprache und erlebnisintensiver Sprachlosigkeit so lange hin und her zu alternieren, bis die Spaltung weitgehend überwunden werden kann. Von Ferenczis "Beziehungspsychoanalyse" führt ein direkter Weg zu den späteren Formulierungen von Balint, Winnicott, Kahn u.a. der sogenannten Middle Group in England zuzurechnenden Analytikern. Es verschiebt sich hier der Blick weg vom Quantitativen hin zum Qualitativen, von der traumatischen Überwältigung hin zu der diese auslösenden traumatischen Beziehungssituation. Winnicott formuliert, dass es den Säugling allein gar nicht gibt, sondern nur den Säugling in Kombination mit der mütterlichen Fürsorge (1974). Balint (1966, 1970) entwickelt die Theorie der Grundstörung, Kahn das Konzept vom kumulativen Trauma, und schließlich sind es in den 80er Jahren Jonathan Cohen und Warren Kinston (1983), die eine objektbeziehungspsychologisch fundierte Traumakonzeption vorlegen. Bei ihnen verschiebt sich das Zentrum der traumatischen Problematik genau auf die Grenze zwischen Innen und Außen. Davon ausgehend, dass psychische Strukturen sich im Rahmen eines Mitteilungsprozesses entwickeln und erhalten, und zwar auf der Grundlage, dass nur Bedürfnisbefriedigungen zu psychischen Repräsentationen führen, auf denen wiederum Wünsche aufbauen können, definieren sie Trauma als den Zusammenbruch dieses Prozesses. Trauma ist somit immer nur im Rahmen einer sich prozesshaft entwickelnden Situation zu verstehen. 58 WB_65.indd 58 12.11.10 10:18 Der Bruch, um den es geht, ist immer im Individuum und in seiner Beziehungswelt. Die hier geschilderte Theorieentwicklung kann als wissenschaftsimmanente Entwicklung verstanden werden, bei der sicherlich die Tatsache eine wichtige Rolle gespielt hat, dass immer mehr Analytiker auch mit Kindern gearbeitet haben. Was also mit Melanie Klein und Anna Freud anfängt, findet bei Winnicott eine wichtige Fortsetzung, und dann später auch bei Spitz (1967), Mahler (1975), Bowlby (1983) und schließlich Stern (2003). Viele von ihnen erwähnen das Wort Trauma nur selten, aber man kann deutlich verfolgen, wie hier eine Theorie entsteht, die eben nicht entscheiden muss, ob Trauma nun von innen oder von außen kommt, sondern die den Fokus auf eine komplexe innerpsychische Realität setzt, gleichzeitig aber deutlich die andauernde Relevanz der externen Realität hervorhebt. 59 WB_65.indd 59 12.11.10 10:18 Nachdem ich nun versucht habe in Ansätzen innerpsychoanalytische, also wissenschaftsimmanente, Entwicklungen der Traumatheorie kurz zu skizzieren, möchte ich im Sinne der doppelten Genealogie das Ganze noch einmal, entlang bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse betrachten: Im Zentrum der Traumaproblematik stehen im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert verunglückte Eisenbahnreisende, Arbeitsunfälle in der Industrie und geschockte Soldaten. Folgt man den Diskussionen der damaligen Zeit, dann wird die Frage der Traumatisierung im Wesentlichen auf die Frage hin ausgerichtet, ob es sich um Versicherungsbetrüger, Simulanten und/oder Feiglinge handelt oder tatsächlich um Kranke. Die englischen Versicherungsgesellschaften beschäftigen sich - wie gesagt - mit der Frage, ob sie Opfern von Unglücken Entschädigungen zu zahlen hätten. In Deutschland geht es um die Frage, ob Arbeiter, die bei Unglücken in einer Fabrik nicht nur physischen, sondern auch psychischen Schaden davongetragen haben, vielleicht einen sekundären Krankheitsgewinn erzielen und einfach bezahlt nicht arbeiten wollen. Und beim berühmten shell shock des Ersten Weltkrieges geht es auch um die Frage, ob man es hier mit wirklich leidenden Menschen oder mit Feiglingen zu tun hat. Wer je die Lord-Peter-Wimsey-Romane von Dorothy Sayers gelesen hat, wird hier eine vehemente Verteidigerin des echten Leides der Soldaten vorfinden, aber er wird sich auch erinnern, dass Wimsey sich eigentlich nur schämt. Eigentlich erklärt sich seine Detektivarbeit als ein endloser Versuch über die Scham der Traumatisierung und ihre Folgen hinwegzukommen. Die Behandlungsmethoden der damaligen Zeit waren auch entsprechend. Hier ging es vor allem um Abschreckung, um terroristisches Austreiben von Trauma, Elektroschocks und Kaltwasserkuren waren besonders beliebt. In der Psychoanalyse ist dies die Zeit, in der es eben auch noch um Hypnose, also um die Frage der Beeinflussbarkeit ging. Und erst nach und nach tritt ein anderes Paradigma in den Vordergrund. Wenn wir nun einen Sprung nach vorne machen und die Zeit nach dem Holocaust fokussieren, stellen wir fest, dass die Haltung gegen60 WB_65.indd 60 12.11.10 10:18 über den Opfern eine ganz andere wird. Zwar muss auch hier um den Status der Opfer gekämpft werden, zwar gibt es - z.B. in Deutschland - eine lange Auseinandersetzung mit Psychiatern, die meinen, dass Depression eine endogene Krankheit sei, weshalb man im Umkehrschluss durch einen Aufenthalt im KZ nicht depressiv werden könne, aber all das ändert nichts daran, dass nach und nach die Opfer Anerkennung erfahren. Die Überlebenden des Holocaust sind die einzigen Zeugen. Man braucht sie, um die Verbrecher der Strafe zuführen zu können. Man beginnt sich um sie zu bemühen, um das ihnen geschehene, ungeheuerliche Unrecht zwar nicht wieder gutzumachen - weil das unmöglich ist - aber doch zu lindern. Der Holocaust wird also in gewissem Sinne zu einem relevanten Paradigma der moderneren Traumatheorie: Ja, sozialpolitische Verhältnisse können extremes Leid produzieren, ja, wir müssen dieses Leid anerkennen, ja, wir wollen die Opfer als positive Mitglieder der Gesellschaft werten und würdigen. Ihnen soll Recht widerfahren. Die Behandlungsmethoden der Traumatisierten verändern sich. Jetzt geht es nicht mehr um die Verhinderung des sekundären Krankheitsgewinns, sondern es geht darum, ein Leben wieder lebenswert zu machen, "die Überlebensschuld" so weit wie möglich zu bearbeiten. Mit dem Ende des Vietnamkrieges setzt der Siegeszug der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ein. In ihr bestätigt die offizielle Psychiatrie erstmals - und in Fortsetzung des in Bezug auf den Holocaust Gelernten - dass Menschen am Krieg krank werden können. Allerdings passiert hier eine kleine, aber wichtige Verschiebung. Ging es beim Holocaust noch eindeutig um die Opfer und deren Differenzierung von den Tätern, so geht es jetzt nur noch um Traumatisierte. Das konkrete Problem, mit dem man in den USA fertigwerden musste, waren schwer symptomatische und sozial auffällige ehemalige Soldaten. Um sie behandeln zu können, musste das Trauma auf ihre Zeit im aktiven Dienst festgelegt und eingeengt werden. Es ging also um ein Ereignis, nicht um einen Prozess. Dieses Ereignis musste in der Vergangenheit liegen mit Konsequenzen in der Gegenwart. Ob der betreffende Soldat nun ein Gefangener der Vietkong und dort gefoltert worden war oder ob er wie die Kriegsverbrecher von My Lai einfach 61 WB_65.indd 61 12.11.10 10:18 furchtbar viele Leute umgebracht hatte, spielte keine Rolle. Das auslösende Ereignis wurde als Stressor definiert. Täter konnten gestresst sein, Opfer konnten gestresst sein. Ein Autounfall konnte Stress produzieren, das KZ konnte Stress produzieren. Es fand also eine Art Entmoralisierung der Traumabegrifflichkeit statt. Während nun endlich die Möglichkeit der Traumatisierung für alle anerkannt war, wobei die relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA nicht nur der Vietnamkrieg, sondern auch die Frauenbewegung mit ihrer nach und nach erfolgreichen Denunziation von sexuellem Missbrauch war, kam es gleichzeitig zu einer Dekontextualisierung, zu einer Art politischen Entwertung der Traumabegrifflichkeit und entsprechend zu einer potentiellen Relativierung des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer. Es war Edward Said (1994), der darauf hingewiesen hat, dass gesellschaftliche bzw. historische Entwicklungen nicht nur in ihrer Zeitabfolge behandelt werden sollten, sondern dass immer auch die Geographie als zentrales, bestimmendes Moment mitzudenken ist. Nimmt man gesellschaftspolitische Entwicklungen in den Blick, so muss man notwendig auch fragen, ob sich nicht irgendjemand auch explizit mit den Traumatisierungen auf der anderen Seite der imperialen Weltteilung beschäftigt hat. Schließlich könnte man ja annehmen, dass nicht nur nordamerikanische Soldaten im Vietnamkrieg traumatisiert wurden. Es war der französisch-algerische Psychiater Franz Fanon, der bereits in seinem ersten Buch "Schwarze Haut, weiße Masken" (1952/1985) die traumatische Qualität der Beziehung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten überzeugend herausarbeitete. Er, der als Schwarzer in Martinique geboren wurde, sich dort für einen normalen Franzosen zu halten lernte, später dann in der Armee De Gaulles gegen die Deutschen kämpfte und gleichzeitig als Schwarzer diskriminiert wurde, verstand, dass die Weißen die Schwarzen erfunden hatten. Die Schwarzen verstanden sich selbst nicht als schwarz oder schmutzig oder hässlich - oder was auch immer für Wertigkeiten Weiße gegenüber Schwarzen verwendeten. Die Bewohner der afrikanischen Kolonien wurden also zu Schwarzen durch den Blick der Weißen. Was sollte nun ein Schwarzer tun, um seine eigene Identität 62 WB_65.indd 62 12.11.10 10:18 herauszuarbeiten. Wenn er sich bemühte eine eigene "Negritude" zu erfinden, authentisch schwarz zu werden, das koloniale Schwarz gegen "echtes" Schwarz einzutauschen, dann blieb er letztendlich doch gefangen in einer Selbstdefinition, die immer nur in Bezug auf Weiße herzustellen war. Verleugnete er umgekehrt seine Schwärze, wie etwa die Kinder auf Martinique, die in Schulaufsätzen beschrieben, wie sie während der Sommerferien angeblich mit rosigen Wangen über die Felder gerannt waren, dann war die unausweichliche Entfremdung nur noch gewalttätiger. Für Fanon gab es also in der imperialen und postimperialen Realität - was schließlich auch seine Teilnahme am algerischen Befreiungskampf motivierte - keine Möglichkeit einer Identitätskonstruktion, die nicht unausweichlich an der zentralen kolonialen Entfremdung anknüpfte. In seinem später verfassten Buch "Die Verdammten dieser Erde" (1969), das seinerzeit fälschlicherweise von vielen als Gewaltapologie gelesen worden ist, denunziert Fanon die extreme Gewalt, die die Kolonialmächte gegen die kolonisierten Völkern ausgeübt haben. Er beschreibt die Essenz der westlichen Zivilisation als Barbarei. In diesem Buch endet er aber seine Ausführungen dann auch in einer sehr ausführlichen Diskussion über traumatisierte Patienten. Fanon ist nicht berühmt geworden als Traumatheoretiker, aber wir finden in ihm einen Psychiater, der sich bemüht, das psychische Leid seiner Patienten, das im Zusammenhang mit Krieg, Verfolgung, Folter und Mord entstanden ist, einerseits auf seine sozialen Wurzeln zurückzuführen und andererseits in seinen relevanten psychischen Dimensionen anzuerkennen. Fanon entwickelt in diesem Sinne sehr frühzeitig eine Traumatheorie, die opferzentriert bleibt, die auch deutlich unterscheidet zwischen Tätern und Opfern, die aber vor allem sozialpolitische Bezüge weiterentwickelt, während sie gleichzeitig, ohne eine moralische Grundhaltung aufzugeben, durchaus versteht, dass auch Täter traumatisiert sein können, obwohl sie diese Tatsache von ihrer Verantwortung nicht entbindet. Fanon beschreibt die sich in den kolonialen Beziehungsverhältnissen verdinglichende strukturelle Gewalt und die sich daraus ergebenden unausweichlichen Widersprüche in der Identitätsbildung. Fast lacanianisch bilden bei ihm Traumata und essentielle Entfremdungen 63 WB_65.indd 63 12.11.10 10:18 die Grundlage einer jeden Identitätsentwicklung. Dies allerdings nicht so sehr ob des Wunsches der Mutter, mit dem das Kind, bevor es sich selbst als solches empfindet, besetzt wird, sondern ob der sozialpolitischen Realitäten von Unterdrückung und Zerstörung, wie sie die koloniale Welt mit sich gebracht hat. Edward Said baut auf Fanon auf und führt seine Gedanken noch ein Stück weiter. Für ihn gibt es zwischen Kolonialherren und Kolonisierten notwendigerweise verflochtene Geschichten. Nicht nur die Identität des Schwarzen ist unauflöslich mit der des Weißen verknüpft, sondern auch umgekehrt kann der Weiße sich nicht mehr ohne die Kolonisierten definieren. Said spricht von "overlapping territories". Er geht davon aus, dass auch in postkolonialen Verhältnissen das Machtgefälle zwischen Empire und Kolonie in gewissem Sinne erhalten bleibt, vor allem aber auch in der Kultur hüben und drüben sich weiter vergegenständlicht und fortsetzt. Genauso wie Fanon hält Said also die Bezugnahme auf die koloniale Katastrophe für unausweichlich, gerade auch in der heutigen Welt. Aber ein bisschen hoffnungsvoller sieht er die Möglichkeit hier wechselseitige hybridisierende Verknüpfungen aufzuzeigen und zu erklären. Er versucht Texte kontrapunktisch zu lesen, also unter Nutzung musikalischer Kategorien auch im imperialen Text die Gegenstimme zu entdecken. 64 WB_65.indd 64 12.11.10 10:18 Said war Literaturwissenschaftler; er hat sich mit Traumata nicht beschäftigt, aber man kann mit seinen Theorien versuchen moderne Traumatheorien kontrapunktisch zu lesen: Da haben wir nun einerseits die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung. Diese Diagnose spricht von "post", obwohl es ein solches bei sozialpolitischen Traumatisierungen gar nicht gibt; sie spricht von Stress, obwohl Trauma immer mehr ist als Stress, nämlich Zusammenbruch; sie spricht von "Disorder", obwohl die künstliche Psychopathologisierung politischer Verhältnisse zu einer Verschlimmerung der Krankheit führen kann. Sie definiert eine unvollständige Symptomliste, und sie ist notwendigerweise eine Individualdiagnose, d.h. es gibt keine Möglichkeiten Familien zu diagnostizieren oder auch sogenannte sekundäre Traumatisierungen oder auch transgenerationale Prozesse zu verstehen. Sie ist grundsätzlich kulturell ignorant und sie hat ein rigides Zeitschema. Betrachtet man diese Charakteristiken genauer, so kann man gerade in den Leerstellen die verleugneten kolonialen Bezüge entdecken. Wie gesagt, die PTBS wird ja ursprünglich für US-amerikanische Soldaten erfunden, die in einem der letzten großen imperialen Kriege gekämpft haben, in Vietnam. Dieser Krieg wurde verloren. Die Schrecklichkeiten dieses Krieges sollten irgendwie anerkannt, aber seine politische Bedeutung, seine koloniale Zerstörungskraft gleichzeitig verleugnet werden. Das wird sehr deutlich in dem beeindruckenden Film "Apokalypse now". Hier wird nicht zufällig Joseph Conrads imperiale Schlüsselgeschichte "Das Herz der Finsternis" in die Gegenwart des Vietnamkrieges verlegt. Sind bei Conrad aber noch die imperialen Bezüge eindeutig mitzulesen (vergl. hierzu die hervorragende Analyse von Edward Said, 1994) so erhält der Schrecken in "Apokalypse now" eine zeitlose Dimension. Der Krieg an sich ist furchtbar, ob er nun in Vietnam oder sonst wo stattfindet, spielt eigentlich keine Rolle mehr. Genauso verfährt die posttraumatische Belastungsstörung: Leid wird anerkannt, aber seiner (kolonialen) Inhalte entkleidet. Soziale Prozesse werden als krankheitsverursachend wahrgenommen, selbst aber tabuisiert. Während mittels der PTBS Möglichkeiten entstehen, weltweit traumatisches Leid wahrzunehmen und zu behandeln, werden 65 WB_65.indd 65 12.11.10 10:18 gleichzeitig kulturspezifische Charakteristiken ignoriert und postkoloniale Machtverhältnisse verleugnet. Geschichte spielt plötzlich eine Rolle, wird aber auf ein lineares Reiz-Reaktions-Schema reduziert. Wie bereits ausgeführt, werden last not least Täter und Opfer relativierend als Traumatisierte anerkannt. Ganz anders und in ihren Implikationen diametral entgegengesetzt ist die Theorie der sequentiellen Traumatisierung von Hans Keilson. Sie kann verstanden werden einerseits (wissenschaftsimmanent) als der Höhepunkt einer Entwicklung der Traumatheorie, die mit Freud und Ferenczi beginnt, und - wie gezeigt - über Balint, Winnicott, Kahn u.a. bis zu Keilson führt. Sie muss aber auch andererseits verstanden werden als dichtester Ausdruck eines politischen Prozesses, in welchem infolge des Holocaust die Opfer von Traumatisierungen neu wahrgenommen und anders gewertet werden, was eine andere Traumatheorie impliziert. "Als Hauptschwierigkeit erweist sich die Formulierung der Kriteria aufgrund derer die verschiedenen Verfolgungsbelastungen nach Art und Gewicht klassifiziert und das Material einer Bearbeitung erschlossen werden kann. Alle erwähnten Autoren stimmen darin überein, dass es nicht möglich ist, erlittenes Leid in Zahlenwerten auszudrücken. Da auch wir diese Unmöglichkeit sehen, haben wir uns angesichts des breiten Spektrums der Belastungsmomente damit begnügt, die externen Faktoren der extremen Belastungssituation als Kriteria zu wählen, und die psychische Realität nicht zu messen. Katalogisiert wurde also nur, was dem betreffenden Kinde zugestoßen war, nicht wie es durch das Kind erlebt und verarbeitet wurde. Diese Kriteria dienen uns zugleich als Maß der Belastung" (Keilson, H., 1979, S. 426). Hans Keilson schreibt über jüdische Kriegswaisen in Holland, mit denen er während des Krieges im Untergrund gearbeitet hat, während sie von holländischen Familien versteckt wurden. Er hat mit ihnen nach dem Krieg gearbeitet als die Frage zu entscheiden war, ob sie wieder zurück in jüdische Familienmilieus gegeben werden oder ob sie bei den Familien bleiben sollten, bei denen sie Unterschlupf gefunden hatten, und er hat viele von ihnen viele Jahre später als Erwachsene noch einmal untersucht. Keilson hat damit die einzige bis heute exi66 WB_65.indd 66 12.11.10 10:18 stierende, wirklich überzeugende Langzeituntersuchung an traumatisierten Personen vorgenommen, und in diesem Zusammenhang seine Theorie der sequentiellen Traumatisierung entwickelt. Das oben ausführlich wiedergegebene Zitat versteckt in der zurückhaltend-wissenschaftlichen Sprache eine Reihe extrem wichtiger Aussagen zum Thema Trauma. Keilson stellt fest, dass man psychisches Leid nicht in Zahlenwerten ausdrücken kann, und dass deshalb das Hauptkriterium für eine extreme Belastungssituation - sprich Trauma - nur das sein kann, "was das Kind erlebt hat, was ihm zugestoßen war". Keilson legt also einen deutlich externen Schwerpunkt, verbindet ihn aber mit der Verpflichtung genau diesen auch zu beschreiben. Hier ist also nicht von einem abstrakten Stressor die Rede, sondern es geht darum, den konkreten Kontext der traumatischen Situation zu erfassen. Und dabei entwickelt Keilson dann seine bahnbrechende Überlegung, in welcher Trauma kein Ereignis mehr ist, sondern ein sequentieller Prozess. Das, was dem Kind zustößt, ist also nicht die eine oder die andere schreckliche Erfahrung, sondern ein langer Entwicklungsprozess mit unterschiedlichen Vorkommnissen. Und so definiert Keilson dann drei traumatische Sequenzen: 1. Die feindliche Besetzung der Niederlande mit dem beginnenden Terror gegen die jüdische Minderheit und den damit verbundenen Angriffen auf die soziale und psychische Integrität der jüdischen Familien. 2. Die direkte Verfolgung, d.h. die Deportation von Eltern und Kindern, respektive Trennung von Mutter und Kind, versteckt in improvisierten Pflegemilieus, Aufenthalt in Konzentrationslagern. 3. Die Nachkriegsperiode mit der Vormundschaftszuweisung als zentralem Thema. Keilson kann in seiner Untersuchung nachweisen, dass eine relativ günstige zweite und eine relativ ungünstige dritte traumatische Sequenz im Erwachsenenleben zu schwerwiegenderen Pathologien führt als eine relativ ungünstige zweite und eine günstige dritte. Keilson ist Psychoanalytiker und interessiert sich auch weiterhin selbstverständlich für die komplexen intrapsychischen Prozesse, die hier eine Rolle spielen, aber er erkennt vorbehaltlos die Relevanz des sozialpo67 WB_65.indd 67 12.11.10 10:18 litischen Kontextes an. Trauma ist nicht das Resultat eines Stressors, sondern es geht um Verfolgung durch die Nazis, es geht um Aufenthalt im KZ, es geht um das Problem der Vormundschaftszuweisung nach dem Krieg. Keilson schiebt endgültig den Prozess und Entwicklungsgedanken in der Traumatheorie in den Vordergrund. Das ist schwierig und unbequem aus vielerlei Gründen. Zum einen widerspricht es unser aller Grundvorstellung von Trauma, in welcher der Zusammenbruch als Folge einer Überwältigung stattfindet, quasi wie ein Blitzeinschlag. Dieses quantitative Moment verschwindet auch bei Keilson nicht völlig, aber es geht eben nicht um einen Blitzeinschlag mit Folgen, sondern um viele Blitzeinschläge, um Zusammenbrüche und partielle Rekonstruktionen, um neue Traumatisierungen, um Fortsetzungen alter Verletzungen etc. Dies stimmt eigentlich viel überzeugender überein mit dem, was traumatisierte Personen über ihre Erfahrungen vermitteln. Sehr selten gibt es wirklich dieses eindeutige und einzigartige Erlebnis mit symptomatischen Folgen. Viel häufiger gibt es ein schwierig zu durchschauendes Auf und Ab, gibt es Fragmentierungen und Akkumulationen, gibt es die Gleichzeitigkeit von Struktur und Strukturlosigkeit. Keilson ist unbequem, weil er uns zwingt dieser komplizierten Tatsache ins Auge zu sehen, aber er ist auch erleichternd, weil er endlich einen schlüssigen Rahmen dafür liefert, warum Traumata manchmal Symptome produzieren, manchmal nicht, und warum jemand krank werden kann, auch wenn das scheinbar ursprünglich auslösende Ereignis schon viele Jahre zurückliegt. Keilson ist noch aus einem weiteren Grunde unbequem, weil er deutlich macht, dass das Leid nicht nur in der Vergangenheit passiert ist, sondern immer auch in der Gegenwart. Der Vietnamsoldat ist also nicht nur traumatisiert, ob seiner Erfahrungen in Vietnam, sondern auch ob der sozialen Realitäten in den USA in der zu Ende gehenden Nixon-Ära. Der Holocaust-Überlebende in Israel ist traumatisiert nicht nur ob der KZ-Erfahrungen, sondern auch ob der aktuellen Realitäten in Israel. Und die Flüchtlinge aus Bosnien oder aus Tschetschenien sind nicht nur traumatisiert ob der Ereignisse in ihrem Heimatland, sondern auch aufgrund der Erfahrungen, die sie in den Aufnahmeländern machen. Schließlich ist Keilson auch deshalb unbequem, weil er 68 WB_65.indd 68 12.11.10 10:18 uns zwingt, den genauen traumatisierenden Kontext wirklich zu beschreiben. Traumata in Chile sind also nicht das Gleiche wie Traumata im Holocaust oder Traumata im Irak. Ein weiteres Problem ist, dass man die Sequenzen von Keilson nicht einfach übertragen kann, gerade weil man sie ja kontextspezifisch definieren muss. Um dies zu erleichtern habe ich selbst vor einigen Jahren versucht, sechs allgemeine Sequenzen zu definieren, die als Orientierung dienen können, kontextspezifisch die traumatischen Prozesse zu beschreiben. Diese erleichtern gegebenenfalls die Beschreibung traumatischer Prozesse in unterschiedlichen Gegenden der Welt, aber sie beseitigen natürlich nicht das Problem, dass der jeweilig spezifische Traumatisierungsprozess auch als solcher beschrieben und erfasst werden muss. (Becker, 2006)1 Wenn wir nun die posttraumatische Belastungsstörung mit der Konzeption der sequentiellen Traumatisierung vergleichen, dann stellen wir bei der PTBS Eindeutigkeit, konzeptionelle Klarheit und eine bessere Eingrenzbarkeit dessen wovon geredet wird, fest. Aber dies erfolgt zugunsten einer völligen Entkontextualisierung, zugunsten einer Psychologisierung sozialpolitisch verursachter Wunden. Bei Keilson ist es umgekehrt. Es ist weniger eindeutig, weniger fassbar, es macht unsere diagnostische Aufgabe um vieles schwieriger, aber es gibt uns die Möglichkeit den spezifischen Kontext angemessen zu würdigen und aufzugreifen. In diesem Sinne ist die Keilson'sche Theorie um vieles antiimperialer als die PTBS. Mit den hier entwickelten Überlegungen möchte ich die Diskussion um Traumatheorien nicht darauf reduzieren, welche nun besser oder schlechter sind. Vielmehr geht es mir darum, aufzuzeigen, dass Traumatheorien notwendigerweise immer auch Diskurse sind, und notwendigerweise immer auch moralische Werturteile. Wenn wir also über Traumatisierungen auch als klinisches Phänomen reden, dann nehmen wir gleichzeitig an einer gesellschaftlichen Diskussion teil. Der Streit um Traumatheorie, um PTSB hier und sequentielle Traumatisierung dort ist letztendlich auch Teil dessen, was die Traumatheorie von Anfang an war, nämlich Teil einer gesellschaftlichen Debatte darüber, was wir für Recht und Unrecht halten und wie wir mit den Opfern von 69 WB_65.indd 69 12.11.10 10:18 Verbrechen umgehen. In sehr vielen Gesellschaften werden die Opfer meistens noch härter bestraft als die Täter. Massenhafte Vergewaltigungen, wie sie z.B. im Bosnienkrieg stattfanden, waren bewusste Strategien, um die Vergewaltigungsopfer auszugrenzen. Trotzdem gilt wohl heute international im Wesentlichen ein Diskurs, der versucht, die Rechte von Opfern anzuerkennen und diesen Gültigkeit zu verschaffen. Moderne Traumatheorie nimmt an dieser Diskussion weiter teil. Und wenn man betrachtet, wie zum Teil heute über Flüchtlinge debattiert wird, dann stellt man fest, dass der politische Fortschritt, der die Anerkennung der Holocaust-Opfer bedeutet hat, so überzeugend doch nicht ist, weil auch bei Flüchtlingen die alte Debatte wieder auftaucht, ob es hier nicht um Simulanten ginge, die eigentlich gar nicht traumatisiert seien. Nichtsdestotrotz hat sich nun doch international ein großes HilfsBusiness installiert. Kein Kriegsgebiet der Welt, in dem nicht früher oder später Zentren aufgebaut werden, um den traumatisierten Opfern zu helfen. Wenn sie dann nach ein paar Jahren immer noch Symptome haben und der Hilfe bedürfen, fängt die internationale Gemeinschaft an zögerlich zu werden, werden Gelder gekürzt. Aber immerhin, man bemüht sich heutzutage ein bisschen bewusster um die, deren Leid eigentlich im Mittelpunkt jeder Hilfe stehen müsste. Allerdings ist auch dies natürlich ein Markt. Es war wohl erstmals während des Bosnienkrieges, dass man richtig sehen konnte, wie das funktioniert. Noch während geschossen wurde und Menschen starben, flogen die Helfer aus aller Welt ein und machten ihre Workshops über Conflict-Resolution, Non-violent-communication, Trauma-Treatment etc. Es gibt auf der Welt heutzutage mehrere tausend verschiedene Traumatherapien. Manche sind esoterischer als andere. Man kann sich Kerzen in die Ohren stecken, man kann EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) durchführen, man kann "debriefed" oder narrativ exponiert werden. Man kann sich auch auf die Kenntnisse lokaler Heiler verlassen. Selbstverständlich gibt es viel Kritisches, aber sicher auch einiges Positive über all diese Aktivitäten zu sagen. Grundsätzlich jedenfalls kann man einerseits mit Summerfield (1997) befürchten, dass der Trauma-Boom nur eine weitere internationale Verleugnungs70 WB_65.indd 70 12.11.10 10:18 strategie darstellt, um Leid zu entkontextualisieren und nicht wirklich zu bearbeiten. Oder man kann annehmen, dass dies zwar eine ständige Gefahr ist, dass es aber auch die kontrapunktische Möglichkeit gibt, sich besser mit dem Leid der Menschen in den verschiedensten Gegenden der Welt zu beschäftigen, dass dies aber notwendigerweise eine Auseinandersetzung ist, ein umkämpftes Feld, in welchem Trauma und Traumadiskurs ständig gleichzeitig stattfinden, verhandelt, entwickelt und eventuell verändert werden. Erfahrungen im Gaza Der Gazastreifen umfasst eine Fläche von ca. 364 qm, etwa 14% dieser Fläche sind für die Landwirtschaft nutzbar. Es leben dort etwa 1,5 Millionen Menschen, d.h. ca. 3960 Einwohner pro Quadratkilometer. 50% der Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt. Ein relevanter Teil der Bevölkerung besteht aus Flüchtlingen, und zwar seit 1948. Ab 1967 bauten die Israelis im Gazastreifen Siedlungen auf für ca. 7.000 Personen und besetzten damit 40% der Fläche des Gazastreifens. Im September 2005 zogen sich die Israelis aus diesen Siedlungen zurück. Von 1987 - 1993 gab es die sogenannte erste Intifada, die sich durch eine Beteiligung vieler unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb der palästinensischen Bevölkerung auszeichnete. 1993 kommt es zum Oslo-Abkommen und in der Folgezeit zur Schaffung der palästinensischen Autonomiebehörde. Von 2000 - 2005 dauert die zweite Intifada, die sich durch eine starke Militarisierung, d.h. Einengung auf militante politische Gruppen kennzeichnet. Bei den Wahlen in den palästinensischen Gebieten 2006 gewinnt die Hamas, was aber international niemand bereit ist anzuerkennen. 2007 übernimmt die Hamas mit einem Gewaltstreich die Kontrolle über den Gazastreifen. Im Sommer 2008 findet der letzte Libanonkrieg statt; Anfang 2009 greift Israel mit einem vierwöchigen Krieg massiv im Gazastreifen ein. Stellt man sich die Entwicklung im Gazastreifen, die hier nur grob skizziert wurde, im Sinne der von mir in Anlehnung an Keilson definierten sechs traumatischen Sequenzen vor, so könnte man annehmen, dass es dort eigentlich spätestens seit 1948 immer nur zwischen der 71 WB_65.indd 71 12.11.10 10:18 dritten und vierten Sequenz (direkter Terror und Chronifizierung) hin und her gegangen ist. Selbst wenn man bereit ist anzunehmen, dass Oslo 1993 kurzfristig die Perspektive eines Übergangs ermöglichte, so kann doch für die Folgezeit kein Zweifel daran bestehen, dass Krieg herrschte, und dass dieser bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt andauert. Im Gazastreifen gibt es verschiedene Zentren, die sich mit dem psychischen Leid der Bevölkerung befassen. Das bekannteste Zentrum dieser Art ist das Gaza-Community-Mental-Health-Program (GCMHP), das 1990 durch den Psychiater Dr. Eyad El-Sarraj gegründet wurde mit Dependancen in Gaza-Stadt, in Deir el Balah und in Khan Yunis. GCMHP bietet psychiatrische Versorgung, EEG, Physiotherapie, Psychotherapie für Erwachsene und Kinder an sowie Kinderheilkunde. Des Weiteren gibt es einen Schwerpunkt in CommunityArbeit, in der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften und in Forschung und Dokumentation. Ein Zweig von GCMHP ist das WomenEmpowerment-Program (WEP), das von Shadia El Sarraj, der Schwester von Dr. Sarraj gegründet wurde und schließlich vier Dependancen hatte (heute sind es noch drei) in Gaza-Stadt, in Beach-Camp, in Deir el Balah und Raffah. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Arbeit mit Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind und im Rahmen dieses Programms die Möglichkeit von Beratung und Therapie erhalten, sowie eine gewisse Berufsausbildung. GCMHP und WEP haben immer auch Advocacy-Arbeit gemacht, Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen und Katastrophenhilfe in den jeweils aktuellen Konfliktsituationen. Versucht man nun die psychosoziale Situation der Bevölkerung im Gaza zusammenzufassen, so kann man Folgendes festhalten: Die überwiegende Mehrheit sind Flüchtlinge in der dritten Generation; die ökonomische Situation ist geprägt durch Armut und Abhängigkeit, und das, was Ökonomen "De-Development" (Sara Roy, 1995) genannt haben. Was immer ökonomisch im Gazastreifen passiert, wird einseitig und total durch Israel bestimmt. Daran haben auch die Tunnel an der Grenze nach Ägypten wenig geändert. Der wichtigste Arbeitgeber im Gazastreifen ist UNRWA, die Behörde der Vereinten Nationen, die sich um die Flüchtlinge kümmert, Schulen unterhält und bis zum heu72 WB_65.indd 72 12.11.10 10:18 tigen Tage Essen verteilt. Der Gazastreifen war über 30 Jahre lang besetzt und außerdem ergab sich durch die Siedlungen eine interne Dreiteilung des Gebiets, d.h. der Kontakt von einem zum anderen Teil war häufig unterbrochen. In der ersten Intifada gab es einerseits eine breite Widerstandsbewegung, die für viele auch ermächtigende Erfahrungen bedeutete, aber es gab eben auch die israelische Antwort auf diesen Widerstand, d.h. viele Gefangene und viele öffentliche Demütigungen von Männern. Durch das Abkommen von Oslo entstanden vorübergehende Hoffnungen auf Öffnungen und auf eine neue demokratische und friedlichere Zeit, die aber schnell frustriert wurden, und die dann bald auch zu verstärkten innerpalästinensischen Schwierig73 WB_65.indd 73 12.11.10 10:18 keiten führten. Die zweite Intifada brachte dann - wie gesagt - eine erhebliche Militarisierung des Konfliktes und einen Ausschluss der Zivilbevölkerung von diesem Prozess. Es ergab sich also eine Art doppeltes Disempowerment. In all diesen Jahren ist es also richtig, von einem chronischen, niedrigschwelligen Krieg zu sprechen. Es gab Bomben, die Zerstörung von Häusern, Tote, Inhaftierte, das ständige Eingesperrtsein und die Belagerung. Und schließlich gab es bei all dem eine Großzahl von Kollaborateuren, auf die eine oder andere Weise in diese Rolle gezwungen und geächtet von allen. Betrachtet man nun etwas genauer die Situation unter den Palästinensern, dann sind deutlich die Existenz von Selbstmordattentätern oder "Märtyrern" wie die Palästinenser sagen, und das politische Verbot, die Toten zu betrauern. In einer Befragung von Kindern nach ihrem Berufswunsch gaben viele an, Märtyrer werden zu wollen, was nichts damit zu tun hat, dass palästinensische Kinder gerne sterben, aber sehr wohl etwas mit einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit und der Wahrnehmung, dass die Märtyrer zu öffentlichen Helden hochstilisiert werden. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist schwierig und von Missachtung und Gewalt gekennzeichnet. Insbesondere in der zweiten Intifada und nach der verschärften Abriegelung des Gazastreifens ist die Situation von Frauen immer schwieriger geworden. Häufig sind sie Opfer von Gewalt, dürfen diese aber nicht öffentlich anklagen. Ehrenmorde werden als Kavaliersdelikte angesehen. Seitdem die Hamas an der Macht ist, sind die Regeln für Frauen immer strenger geworden. Im Juni 2010 wurde als letzte seltsame Maßnahme einer Reihe ähnlicher Vorschriften das öffentliche Pfeiferauchen von Frauen verboten. Insgesamt hat sich bis zur Machtübernahme der Hamas immer mehr Gesetzlosigkeit ausgebreitet. Es gab Familien- und Clankonflikte, und wenn die Israelis ein Haus nicht zerstörten, dann konnte es durchaus sein, dass ein Nachbar das Haus zerstörte. Auch die Kämpfe zwischen Fatah und Hamas waren extrem schwierig. In vielen Familien gab es Mitglieder in beiden Organisationen und es gab entsprechend Opfer auf beiden Seiten zu beklagen. Seit der Machtergreifung durch die Hamas ist die interne Sicherheitslage im Gazastreifen besser geworden. 74 WB_65.indd 74 12.11.10 10:18 Der Krieg Anfang 2009 hat noch einmal eine völlig neue Dimension an Zerstörung bedeutet. Die Bombardierungen waren massiv; es gab mehr Tote als je zuvor; es gab die Erfahrung zuzuschauen, wie Verwundete verbluten, weil man sie nicht ins Krankenhaus bringen durfte; es gab mit Kot beschmierte Wohnungen, in denen Drohungen standen, wir kommen wieder, wir treiben euch ins Meer, und es gab nach dem Rückzug der Israelis die Hamas, die im Angesicht massivster Zerstörungen das Ganze zum Sieg erklärte. Zusammenfassend ist es wohl richtig anzunehmen, dass im Gazastreifen von institutionalisiertem Disempowerment ausgegangen werden muss: Die Bevölkerung lebt in chronischer Angst, ist Opfer sequentieller Traumatisierung, Recht- und Rechtlosigkeit existieren nebeneinander, chronische Hoffnungslosigkeit scheint die bestmögliche Alternative zum totalen Terror. Ich habe - wie am Anfang dieses Artikels bereits erwähnt - den Gazastreifen seit 1995 in regelmäßigen Abständen besucht. Die KollegInnen von GCMHP waren mir als hochqualifiziert bekannt, die in einer schwierigen Lage versuchten kontextuell angemessene Angebote für die palästinensische Bevölkerung zu entwickeln. Dem Leiter von GCMHP war es in all diesen Jahren geglückt von keiner Seite der untereinander verfeindeten politischen Fraktionen vereinnahmt zu werden. Im Gegenteil er genoss - und genießt bis zum heutigen Tage - vielfältige Anerkennung. Seine Institution wird allgemein geschätzt, obwohl sie inzwischen auch eine Größe erreicht hat (es arbeiten dort über 100 Personen), die das Gesamtmanagement nicht unbedingt vereinfacht. Die grundsätzlich patriarchalen Strukturen der Gesellschaft lassen sich natürlich auch dort wiederfinden. In den letzten Jahren hat es auch von Seiten der Geldgeber Versuche gegeben, stärker auf die Ausrichtung von GCMHP Einfluss zu nehmen. Im Vordergrund stand dabei ein beliebtes Problem der internationalen Zusammenarbeit. Grundsätzlich leistet man gerne Katastrophenhilfe, aber bietet ungerne langfristige Dienste an. Man möchte helfen und lokale Strukturen entwickeln, aber eigentlich nicht Träger derselben sein. Im Gazastreifen dauert die Katastrophe nun schon ziemlich lange, und für den ausländischen Besucher ist es manchmal etwas überraschend, wenn er sieht, 75 WB_65.indd 75 12.11.10 10:18 dass ein "Flüchtlingslager" im Gazastreifen sehr viele Betonhäuser bedeutet, die sich in nichts vom Rest der Stadt unterscheiden, außer dass hier unwahrscheinlich viele Menschen auf sehr engem Raum zusammenleben. GCMHP begann seine Arbeit mit einer deutlichen "Service-Orientation", also einer Dienstleistung in Bezug auf die notleidende Bevölkerung. In diesem Zusammenhang war GCMHP kreativ und interessant, verknüpfte Community-Arbeit, psychotherapeutische Hilfe und politische Arbeit. Seit einigen Jahren nun gibt es aber Druck von außen einen stärkeren Multiplikatoreneffekt zu erzielen. Anders ausgedrückt: GCMHP soll weniger Dienstleistung anbieten und mehr Ausbildungsaktivitäten durchführen, also zu einem "Wissenszentrum" werden. So vernünftig dieser Gedanke in erster Instanz auch klingt, so fragwürdig ist er bei näherem Hinsehen. Da nämlich die Notlage andauert, sind gerade die Community-orientierten Dienstleistungen der Institution besonders gefragt. Wenn sie nun anfängt, sich im Wesentlichen umzuorientieren, und vor allem Aus- und Weiterbildung zu machen, und diese Aus- und Weiterbildung dann plötzlich auch noch typisch psychiatrisch-medizinisch orientiert wird, also die neuesten Traumatherapien versucht lokal zu importieren und anzuwenden, dann ergibt sich tendenziell ein doppeltes Problem: Erstens beteiligt man sich weniger an der psychosozialen Versorgung der Bevölkerung und zweitens intensiviert man eine Fortbildung, die perspektivisch entkontextualisierter wird. Natürlich sind dies nicht die einzigen Probleme. Es geht auch um Effizienz, es geht um die Frage, ob alle Mittel adäquat verwendet werden, ob nicht manche Ausgaben wenig mit einer bestimmten Arbeitsleistung und mehr mit einer Art Clan-Verantwortung für die Angestellten zu tun hat. Und natürlich haben auch die externen Geldgeber unterschiedliche Ziele. Beispielsweise hat die Schweizer Entwicklungshilfe eher neutrale Ansichten zum Thema der Therapiemethoden, wohingegen die Hilfe aus Dänemark, die eng verknüpft ist mit dem dortigen internationalen Traumazentrum, eventuell speziellere Ansätze und Ausrichtungen vertritt. Nach dem Krieg 2009 galt nun meine persönliche Sorge, ganz unmittelbar der Frage, ob die KollegInnen dort in dieser speziellen Situation eventuell auch externer Hilfe bedurften. Ich ging davon aus, 76 WB_65.indd 76 12.11.10 10:18 dass die Fachkräfte ebenso traumatisiert waren wie der Rest der Bevölkerung, und ich erfuhr gleichzeitig, dass GCMHP wieder einmal spezielle Katastrophenhilfe auf sich genommen hatte. In Absprache mit GCMHP und mit freundlicher Unterstützung durch die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes in Berlin kam es also zu einem kleinen Projekt, welches einerseits die lokale Ausbildung von zusätzlichen Hilfskräften finanzierte und andererseits ein begrenztes begleitendes Supervisionsangebot durch ein vierköpfiges Team aus dem Ausland. Unser Ansatz war dabei, im Abstand von etwa drei Monaten jeweils eine knappe Woche in den Gazastreifen zu fahren und parallele Workshops für KollegInnen anzubieten, zum einen, um ein minimales Containment zu ermöglichen, zum anderen aber auch, um gemeinsam zu überlegen, was jetzt die drängendsten Probleme waren und in welche Richtung die KollegInnen dort die Arbeit weiter entwickeln wollen würden. Wir konnten das Programm zwar nicht genau so durchführen, wie wir es ursprünglich geplant hatten, u.a. weil es nicht leicht war, die Schwierigkeiten bei der Einreise zu überwinden, aber insgesamt hatten wir doch Gelegenheit mit über 100 KollegInnen zu sprechen und schließlich eine Art gemeinsame Diagnose der Situation zu erstellen. Wir haben folgende Eindrücke festgehalten: 77 WB_65.indd 77 12.11.10 10:18 Eindrücke über die allgemeine psychosoziale Befindlichkeit der Bevölkerung im Gazastreifen: • Von der Ausnahmesituation zur Chronifizierung - von der sichtbaren Betroffenheit zur Normalität der Hoffnungslosigkeit. Die eigentliche Ausnahmesituation des Krieges ist jetzt vorbei, aber im Krieg hatte man noch mehr das Gefühl, hier und da helfen zu können. Jetzt gibt es keinen Krieg mehr und man sieht nur die Intensität der Zerstörung. • Schlüsselsymptome: Angst, Depression; • Schlüsselthemen: Trauer, Schuld, Gewalt, Machtlosigkeit, Wut und Betroffenheit, Misstrauen, ökonomische Probleme; • Schlüssel-Klienten: Kinder und Jugendliche (Verletzte, Verlust eines Familienmitgliedes, Verlust des Zuhauses, sekundäre Traumatisierung); Frauen: (Verwundete, Verlust von Familienmitgliedern, Verlust des Zuhauses, Opfer genderspezifischer und sexueller Gewalt); Männer: (Verwundete, Verlust von Familienmitgliedern, Verlust des Zuhauses, Opfer der Israelis, Opfer innerpalästinensischer Konflikte); Eindrücke von der psychosozialen Situation der Mental Health Professionals: Symptome: • "Multi tasking" - die Schwierigkeit überall zu sein und alles gleichzeitig zu tun; in Wirklichkeit aber nichts mehr zu Ende führen zu können; • die Schwierigkeit Hoffnung zu empfinden; • die Verpflichtung zu helfen und die Schwierigkeit, häufig nicht helfen zu können; zwischen Allmacht und Schuld; • die Schwierigkeit Grenzen zu setzen; • Umgang mit Wut Burn out: • Primäre Traumatisierung; • sekundäre Traumatisierung; • emotionale Erschöpfung; • wachsende Arbeitslast; • Teamprobleme 78 WB_65.indd 78 12.11.10 10:18 Eindrücke von der psychosozialen Situation anderer Berufstätiger (Lehrer): • Primäre Traumatisierung; • wachsende Arbeitslast; • Teamprobleme; • die Schwierigkeit mit Problemen umgehen zu müssen, auf die man beruflich nicht vorbereitet wurde; • der Umgang mit Gewalt, Hass und Aggression; • der Umgang mit Hoffnungs- und Hilflosigkeit; • der Umgang mit Angst; • der Umgang mit Verlust und Trauer; • der Umgang mit Trauma. Aus der hier stichpunktartig wiedergegebenen Diagnose wird deutlich, wie vielfach kompliziert die Situation der KollegInnen im Gazastreifen nach dem Krieg war. Ganz entscheidend war bei vielen der Wunsch und auch die Energie, in dieser Notlage etwas Helfendes zu tun, und plötzlich festzustellen, dass man nichts tun kann, dass man also wieder in die Chronifizierung abgleitet. Bei vielen war eine erhebliche Selbstbetroffenheit zu spüren, sie waren verzweifelt, hatten das Gefühl, die Israelis könnten jederzeit wiederkommen, und es fiel ihnen manchmal zu ihren PatientInnen einfach nichts mehr ein. Im Gespräch setzte dann meistens ein Wiederanknüpfen, auch an die eigene vorangegangene Reflexionstätigkeit und -fähigkeit ein. Es stellte sich auch heraus, dass z.B. der Umgang mit Bettnässen ein ganz anderer sein muss, wenn es - wie im Gazastreifen - so massiv auftritt, dass praktisch keine Familie davon verschont ist. Versucht man dann mit verhaltenstherapeutischen Einzeltherapiemethoden einzugreifen, verschlimmert man die Problematik eventuell noch. Auch wurde sehr deutlich, wie extrem schwierig der Umgang mit der eigenen Schwäche und der Notwendigkeit zu trauern in diesem Zusammenhang ist. Offiziell ist nach einem angeblichen Sieg Trauern sowieso nicht angesagt, aber auch über diese Vorgabe hinaus ist es extrem schwierig, in einer Situation von Zerstörung und Demütigung sich das Recht auf Trauer einzu79 WB_65.indd 79 12.11.10 10:18 räumen. Die Angst, dass die Verzweiflung ins Unendliche wächst ist nachvollziehbar sehr groß. Und noch ein weiteres spezielles Problem, auf das die palästinensischen KollegInnen hingewiesen haben sei hier erwähnt: Neuerdings wird der Gazastreifen mit Tramal überschwemmt, einem Schmerzmittel, dass gerade unter Jugendlichen immer mehr Verbreitung findet und inzwischen zu absoluten Schleuderpreisen im Gaza erworben werden kann. Ursprünglich wurde es wohl vor allem von den in den Tunneln arbeitenden Jugendlichen benutzt, weil man so in den engen sauerstoffarmen Tunneln länger durchhalten konnte, unempfindlicher gegen Schmerzen wurde. Inzwischen ist Tramal wie gesagt zur Modedroge geworden, mit all den furchtbaren Konsequenzen der Schmerzunempfindlichkeit, was auch die Aggressivität erhöht: Wenn auf einen eingeschlagen wird oder man selbst jemanden andern schlägt spürt man die Schmerzen weniger. 80 WB_65.indd 80 12.11.10 10:18 Wir haben mit den KollegInnen über die sich aus diesen Problemen ableitenden Bedürfnisse gesprochen. Sehr deutlich wurde dabei, wie wichtig es ist, zuverlässige lokale Supervisionsstrukturen aufzubauen, nicht nur für psychologische Fachkräfte, sondern auch für Lehrer und andere helfende Berufe. Dass es schwierig ist, solche Strukturen trotz des allgemeinen, auch wechselseitigen Misstrauens überhaupt herzustellen, ist sehr verständlich. Aber dass ein minimaler permanenter Reflexionsraum für Fachkräfte nötig ist, steht zwar außer Zweifel, ist aber auch sehr schwierig, weil unter gewissen Umständen Reflexion als Luxus erscheint und weil mitten in der Zerstörung Reflexion auch ein "Noch Mehr" an Verzweiflung bedeuten kann. Reflexion ist aber notwendig nicht nur um selbst handlungsfähig zu bleiben oder wieder zu werden, sondern ganz zentral auch um immer wieder angemessene lokale Antworten auf den spezifischen Traumatisierungsprozess zu finden. Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt war es, zu unterstützen, dass trotz aller Fortbildungsaktivitäten, GCMHP zu Recht auch Dienstleistungen betreibt. Es ist eine entwicklungspolitische Illusion zu erwarten, dass unter solchen Umständen Institutionen wie GCMHP vor allem Lehre betreiben können. Sie müssen - wenn sie glaubwürdig bleiben wollen - sich an einer, sowieso ungenügenden, Versorgung der Bevölkerung weiter beteiligen. Wenn man sich unter solchen Umständen grundlegende Perspektiven der psychosozialen Arbeit überlegt, dann geht es eben nicht darum, die ganze Welt zu verändern, aber vielleicht doch ein paar minimale Potentiale zu entwickeln. Vielleicht geht es im Gazastreifen darum, kleine Räume der Sicherheit zu schaffen, die ein Stück Reflexion, Trauer, Symbolisierung, Angstmanagement ermöglichen. Vielleicht geht es um den Kampf gegen Vereinzelung und Misstrauen, um Lebensplanung im Chaos, um die Verringerung von Selbstzerstörung, um psychosoziales Empowerment so weit wie möglich, inklusive der praktischen Bearbeitung der ökonomischen Überlebensstrategien. Es geht sicherlich auch um den Kampf für die Verringerung der Gewalt gegen Frauen, um den Schutz von Gewaltopfern, um die Bezeugung von Menschenrechtsverletzungen und um die Stärkung dessen, was es an Zivilgesellschaft noch gibt. Last not least geht es wohl um die Ver81 WB_65.indd 81 12.11.10 10:18 teidigung von Menschlichkeit in der Unmenschlichkeit. Und dazu gehört notwendigerweise die Unterstützung von Trauerprozessen. Aus den Schlussfolgerungen, die wir gemeinsam mit den KollegInnen im Gazastreifen erarbeitet haben, haben wir dann ein neues Projekt entwickelt, das - während ich diese Zeilen schreibe - seine Arbeit aufnimmt, wiederum finanziert durch die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland. Wir versuchen jetzt gemeinsam, auch mit KollegInnen in der Westbank, nachhaltige Supervisions- und Coachingstrukturen aufzubauen und gleichzeitig niedrigschwellige psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Sportaktivitäten zu ermöglichen. Dabei wird es zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen pädagogischen und psychologischen Fachkräften kommen, Konfliktverhalten und -umgang mit Aggression wird in der Arbeit mit den Kindern im Mittelpunkt stehen. In 4 Schulen in sozialen Brennpunkten werden insgesamt etwa 800 Jungen und Mädchen kontinuierlich und intensiv betreut und zwar im Rahmen von Fußballmannschaften. Die die Mannschaften betreuenden TrainerInnen, werden wiederum durch psychologische Fachkräfte begleitet. Gleichzeitig findet ein Supervisionstraining statt, das lokale und internationale Experten gemeinsam durchführen und in dem sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen jeweils 16 Personen ausgebildet werden, die während des gesamten Trainings wiederum ihrerseits jeweils eine Institution betreuen. So hofft das Projekt nicht nur 32 Personen auszubilden, ebenso wie ein tragfähiges lokales Curriculum für diese Ausbildung, sondern gleichzeitig ein stabiles Kooperationsnetzwerk zwischen jeweils 16 Institutionen zu erarbeiten. Ist dieses Projekt nun besser als viele andere? Ich glaube nicht, obwohl ich froh bin, dass wir hier etwas entwickeln, dass wir trotz allen Differenzen, allen postkolonialen Macht- und Interessensproblemen gemeinsam begründet haben. Allerdings ist es auch nicht der Zweck meiner Überlegungen hier, eine abschließende Wertung solcher Zusammenarbeit vorzunehmen. Vielmehr möchte ich aufzeigen, wie schwierig und kleinteilig diese Arbeit ist, und wie notwendig es gerade hierbei ist, sorgfältig mit einem kritischen Traumabegriff und im Bewusstsein eines immer politischen Traumadiskurses zu arbeiten. 82 WB_65.indd 82 12.11.10 10:18 Wie lächerlich ist es z.B., wenn man sich die oben geschilderten Verhältnisse im Gazastreifen vorstellt, mit dem PTBS-Diagnose-Schema zu arbeiten, schlimmer noch, es ist entfremdend und zerstörerisch. Eine Traumabegrifflichkeit für den Gazastreifen muss prozessorientiert und kontextgebunden sein. Alles andere ist notwendigerweise falsch. Selbstverständlich spielen postkoloniale Realitäten immer eine Rolle. Wir sind keine unbeteiligten Zuschauer, und wir mögen uns zwar hilflos fühlen, wenn wir dort arbeiten, aber aus der Sicht derjenigen, die dort leben, haben wir eine Macht, haben unsere Staaten eine Macht, die sie nicht nutzen, um den Frieden dort herbeizuführen. An dieser Verantwortung können wir nicht vorbei arbeiten, auch wenn wir uns hierzu individuell genauso machtlos fühlen, wie unsere Partner vor Ort. Ich bin der Ansicht, dass es sinnvoll ist, sich mit traumatisierten Menschen weltweit zu beschäftigen. Ich glaube auch, dass es in keinem Konfliktkontext genügend lokale Ressourcen gibt, um eine solche Arbeit eigenständig aufbauen und durchführen zu können. Es kommt also auf die internationale Hilfe an. Diese aber muss sehr viel selbstkritischer die eigene Begriffswelt hinterfragen und muss helfen echte kontextorientierte psychosoziale Arbeit zu entwickeln anstatt imperialen Ansätzen der Traumaarbeit Vorschub zu leisten. Eine nützliche Traumatheorie muss das Empire in Frage stellen. Im Gazastreifen gibt es einerseits eine lokal gut verankerte und strukturierte Traumaarbeit, vieljährige Erfahrungen und hoch qualifizierte Fachkräfte. Andererseits könnte diese Arbeit ohne externe Hilfe nicht geleistet werden und ist sie auch selbst immer wieder erheblichen Schwankungen unterworfen und zwar als Folge der stattfindenden Zerstörungsprozesse sowie der internationalen Einflussnahmen, die auch mittels Wissenschaft und Wissenschaftsimporten sich umsetzen. Der moderne Traumadiskurs stellt in mancher Hinsicht einen Rückschritt gegenüber den Errungenschaften und Entwicklungen in Folge des Holocaust dar. Er ist technizistisch und geriert sich als apolitisch, oder, was eben so schlimm ist, er wird zwar für eine politische Argumentation genutzt, aber die spezifischen Behandlungsmethoden werden abgespalten von der Wahrnehmung der sozialpolitischen Dimensionen und ohne sie selbst aus dieser Perspektive kritisch zu werten, 83 WB_65.indd 83 12.11.10 10:18 eingesetzt. Wissenschaft ist immer auch Wissenschaftsdiskurs. Traumaarbeit ist immer auch politischer Konflikt und zwar nicht nur um beispielsweise Opfer von Menschenrechtsverletzungen als solche zu definieren, sondern auch durch die Art und Weise wie bestimmte Behandlungsmethoden die Traumatisierten eher er- oder entmächtigen, die Anerkennung individuellen Leids und die Verknüpfung zwischen diesem und den gesellschaftlichen Prozessen eher ermöglichen oder eher verhindern, postkoloniale Beziehungsrealitäten eher anerkennen oder eher verleugnen. Der vorliegende Aufsatz kann auf viele der hier aufgeworfenen Fragen keine abschließenden Antworten geben, aber er versucht Ansatzpunkte dafür zu liefern, auf welche Art und Weise traumatische Prozesse und die unumgänglich mit ihnen verknüpften moralischen Diskurse vielfältig reflektiert werden müssen, um eine halbwegs sinnvolle Praxis zu ermöglichen. Literatur Balint, M. (1966): Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett Balint, M. (1970): Therapeutische Aspekte der Regression. Stuttgart: Klett Bar On, D. (2004): Erzähl dein Leben. Hamburg-Bergedorf: Edition Körber Stiftung Becker, D. (2006): Die Erfindung des Traumas - Verflochtene Geschichten. Berlin: Freitag Bowlby, B. (1983): Verlust, Trauer und Depression. Frankfurt a.M.: Fischer Cohen, J, Kinston, W. (1983): Repression Theory: A New Look at the Cornerstone. In: International Journal of Psychoanalysis, Vol. 65, 411 - 422 Fanon, F. (1952/1985): Schwarze Haut, weiße Masken. Hamburg. Reinbek Fanon, F. (1969): Die Verdammten dieser Erde. Hamburg: Reinbek Fassin, D., Rechtmann, R. (2007): L'Empire du Traumatisme. Paris: Flammarion Ferenczi, S. (1932/1988): Ohne Sympathie keine Heilung - Das klinische Tagebuch von 1932. Frankfurt a.M.: Fischer Ferenczi, S. (1933/1982): Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. In: ders. Schriften zur Psychoanalyse, Bd. 2. Frankfurt a.M.: Fischer, 303 - 313 Freud, S. (1905): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V. London: Imago 1942, 27 - 145 Freud, S. (1986): Briefe an Wilhelm Fließ 1887 - 1904, herausgegeben von J.M. Masson. Frankfurt a.M.: Fischer 84 WB_65.indd 84 12.11.10 10:18 Grubrich-Simitis, I. (1987):Trauma oder Trieb - Trieb und Trauma:. Lektionen aus Sigmund Freuds phylogenetischer Phantasie von 1915. Psyche 41, 11, 992 - 1023 Keilson, H. (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart: Enke Laplanche, J., Pontalis, J.B. (1977): Das Vokabular der Psychanalyse, 2 Bände, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Laplanche, J. (1988). Die Allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Tübingen: Edition Diskord Mahler, M., Pine, F., Bergmann, A. (1975): The Psychological Birth of the Human Infant. London: Hutchison & Co. Roy, S. (1995): The Gaza Strip: The Political Economy of De-development Washington D.C.: Institute for Palestine Studies Said, E. (1994): Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a.M.: Fischer Spitz, R. (1967): Vom Säugling zum Kleinkind.. Stuttgart: Klett Stern, D. (2003): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett Summerfield, D. (1997): Das Hilfsbusiness mit dem Trauma. In: Medico International (Hg.): Schnelle Eingreiftruppe "Seele" - Auf dem Weg in die therapeutische Weltgesellschaft. Frankfurt a. M.: Medico International. S. 9-24 Winnicott, D. W. (1974). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München: Kindler Fußnote: 1 Ich unterscheide wie folgt: 1. Vor Beginn des traumatischen Prozesses (dieses Zuvor muss bestimmt werden, gerade weil es in den meisten Fällen selbst bereits ein Danach ist). 2. Beginn der Verfolgung (dies deckt sich mit Keilsons erster Sequenz und beschreibt eine Phase, in welcher man rückblickend bereits den beginnenden Terror erkennen kann, aber in welcher es noch den Anschein hat, also ob die Dinge nicht ganz so existentiell bedrohlich wären). 3. Akute Verfolgung: der direkte Terror (diese Phase umfasst die Erfahrung schwerster existentieller Bedrohungen). 4. Akute Verfolgung: Chronifizierung (Krieg findet nicht als aktiver Dauer-Terror statt, sondern man kann immer zwischen Momenten des akuten Terrors und solchen unterscheiden, wo eigentlich nichts passiert, wo man wartet. Der Krieg oder die Diktatur gehen zwar weiter, insofern geht auch die akute Verfolgung weiter, aber sie ist in eine Etappe der Chronifizierung oder der scheinbaren Beruhigung eingetreten. Die 3. Und 4. Phase alternieren konstant). 5. Zeit des Übergangs (Nicht jedes Kriegsende ist eindeutig; manchmal dauert der Übergang viele Jahre. Manchmal gibt es Friedensverhandlungen und eine Zeitlang scheinen sich die Verhältnisse zu verbessern, und dann gibt es doch wieder Krieg. Auch Diktaturen hören nicht von einem Tag auf den anderen auf; es gibt also immer eine Übergangszeit mit ihren speziellen Eigengesetzlichkeiten. 6. Nach der Verfolgung (Diese Phase ist identisch mit Keilsons dritter Sequenz). 85 WB_65.indd 85 12.11.10 10:18 Elisabeth Rohr, Professorin für Interkulturelle Erziehung am Institut für Schulpädagogik. Phillips-Universität Marburg. Zuletzt: gemeinsam mit Ulrike Wagner-Rau und Mechthild Jansen (Hg.): Die halbierte Emanzipation? Fundamentalismus und Geschlecht. Königstein/Ts., 2007. [email protected] 86 WB_65.indd 86 12.11.10 10:18 DIE KURDISCHE SCHÜLERIN EINE FALLINTERPRETATION ELISABETH ROHR In den erziehungswissenschaftlichen Diskursen zum Thema Migration und Schule ist seit einigen Jahren ein weitreichender Paradigmenwechsel eingeleitet worden. Teilweise auch im Bündnis mit systemischen Theorieorientierungen werden zunehmend subjekt- und konfliktzentrierte Theorien nicht nur als antiquierte, sondern darüber hinaus auch als defizitorientierte Theorieansätze verworfen.1 Kritik und Ablehnung richten sich nicht nur, aber vorrangig an die Psychoanalyse, der man vorhält, zu wenig potential- und ressourcenorientiert zu denken und zu arbeiten. Unabhängig davon wie dieser Paradigmenwechsel zu werten ist, fällt allerdings auf, dass die systemisch orientierten Ansätze, zumindest was den Themenbereich Migration und Schule angeht, den Anspruch nach vermehrter Erkenntnisgewinnung bisher noch nicht haben einlösen können. So ist es bislang weder gelungen zu einer tragfähigen Diagnose der in allen PISA-Studien sich manifestierenden negativen Leistungsbilanz von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, noch zu einer Diagnose der hohen Koinzidenz von sozialer Herkunft und schulischem Versagen zu gelangen. Konsens scheint allerdings zu sein, dass die strukturellen Homogenisierungszwänge in den Schulen die Hauptschuld an dieser Leistungsmisere von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund tragen (Gomolla, Radtke 2002). Doch selbst in renommierten Studien wie der von Gogolin u.a.(2003), werden nur einige zaghafte Vermutungen2 als Erklärung für die Lernschwierigkeiten von Migrantenkindern und –jugendlichen angeboten und ansonsten Ratlosigkeit eingestanden. Solange aber nur nach manifesten und nicht auch nach unbewussten Faktoren geforscht wird, kann es nicht gelingen, misslingende Lernprozesse in ihrer Komplexität zu verstehen und entsprechend korrigierende Handlungsoptionen zu entwickeln. Was fehlt ist ein Ansatz, der in der Lage ist, nicht nur das Unbewusste in der schuli87 WB_65.indd 87 12.11.10 10:18 schen Institution, sondern auch das Unbewusste in den sozialen und kollektiven Interaktions- und Kommunikationsstrukturen der schulischen Beziehungen aufzudecken und zu verstehen. Von daher scheint es geboten, nicht nur die Vielschichtigkeit von migrationsgeprägten schulischen Kontexten in den Blick zu nehmen, sondern auch die zur Verfügung stehenden theoretischen und methodischen Potentiale der Psychoanalyse, der Ethnopsychoanalyse (Erdheim 1982) und der Gruppenanalyse (Foulkes 1974) für eine Analyse der schulischen Komplexität zu nutzen. Denn die Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schule lassen sich nicht alleine auf strukturelle Homogenisierungszwänge im schulischen Alltag und auf den scheiternden produktiven Umgang mit Heterogenität reduzieren. Gefragt ist hier der Einbezug des Unbewussten und zwar in einer multiperspektivischen Dimension: Es geht um die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, um die Beziehung zwischen Lehrern und Schulklasse, um die Beziehung zwischen Klasse und Schule und schließlich um die Beziehung zwischen Lehrerschaft und Schule. Nun hat es seit Freud eine ganze Reihe von erkenntnisreichen Studien über die vielfältigen Übertragungsbeziehungen im schulischen Kontext gegeben, wobei der Fokus hier überwiegend auf die Analyse der Lehrer-Schüler-Beziehung ausgerichtet war. Nicht nur Freud hat sich in einer seiner frühen Schriften (1914) mit der „Psychologie des Gymnasiasten“ beschäftigt und hier vor allem die Übertragungsdimensionen hervorgehoben, sondern dies hat später auch Fürstenau in seinen Überlegungen über die „Psychoanalyse der Schule als Institution“ (1964) aufgegriffen und schließlich Wellendorf in seiner Studie über „Schulische Sozialisation und Identität“ (1974) weiterentwickelt. Besonders bei Fürstenau wird die Komplexität der Übertragungsdimensionen zwischen Lehrer und Schüler und deren Auswirkungen auf das Lernverhalten auf eine zum Teil faszinierende Art analysiert. Fürstenau kann dabei ebenso wie Wellendorf überzeugend verständlich machen, warum es z.B. zu Disziplinlosigkeit kommt, warum Lehrer mit einem hohen Maß an Rigidität versuchen Zucht und Ordnung in die Klasse zu bringen und warum einige Schüler keine Chancen haben, 88 WB_65.indd 88 12.11.10 10:18 jemals mit ihren Leistungen zu reüssieren. Beide stimmen mit Freud und übrigens auch mit Adorno (1965) darin überein, dass die Schule als Institution mit einem kognitiven Leistungsauftrag nur durch zwanghafte Unterdrückung von libidinösen und aggressiven Triebstrebungen glaubt ihr Ziel, sprich Wissensvermittlung und kognitive Leistung, erreichen zu können. Dort aber wo die Abwehr und Unterdrückung dieser Triebwünsche nicht gelingt, kommt es zu regressiven Prozessen und damit zu schulischen Schwierigkeiten bis hin zu Lernstörungen, die jedoch, und darauf hat insbesondere Erdheim (1983) verwiesen, in der Sekundarstufe II, also in der Adoleszenzphase der Jugendlichen, andere Ausprägungen haben als in der Grundschule, also der Latenzphase der Kinder. In der Sekundarstufe II sind sowohl libidinös wie aggressiv motivierte Abwehrvorgänge und die damit verbundenen regressiven Prozesse zwangsläufig sexueller Natur, weil durch die Regression die ungelösten Konflikte der Adoleszenz reaktiviert werden. Erdheim (1983) betont hierbei, dass die Schule nicht nur Wiederholungen der verinnerlichten Erfahrungen aus dem Elternhaus in der Beziehung zu den Lehrern reproduziert, sondern sich auch als ein Ort anbietet, diese verinnerlichten Erfahrungen im Sinne einer „zweiten Chance“ zu korrigieren. Allerdings gesteht auch er ein, dass die Schule, so wie sie heute in aller Regel organisiert ist, dazu neigt, die elterlichen Übertragungsmuster zu fixieren und damit Schüler wie auch Lehrer in eine Regression zu versetzen, die die frühkindlichen, bzw. adoleszenten Konflikte auf beiden Seiten reaktiviert. Nun haben aber sowohl Wellendorf (1974) wie auch Bosse (1985) in ihren jeweiligen Studien hervorgehoben, dass es nicht reicht, lediglich die vorherrschenden Übertragungsbeziehungen zwischen Lehrern und Schülern zu analysieren, sondern darüber hinaus gilt es die schulischen Interaktions- und Kommunikationsprozesse als Ausdruck von „szenischen Arrangements“ (Wellendorf) und schließlich auch als Spiegelungen einer institutionell unbewussten Matrix3 aufzugreifen und zu verstehen. An Hand eines, zugegeben, drastischen Fallbeispiels eines schulischen Umgangs mit Migration, möchte ich verdeutlichen, welche 89 WB_65.indd 89 12.11.10 10:18 Vielfalt an institutionell unbewussten Dimensionen und individuellen wie institutionellen Übertragungen zu berücksichtigen sind, wenn es darum geht, zu einem Verstehen von libidinös wie aggressiv aufgeladenen sexualisierten Szenen in der Schule zu gelangen und dass erst ein (ethno)-psychoanalytisches Verstehen es ermöglicht, pädagogisch sinnvolle Handlungsoptionen zu entwickeln. Konkretes Anliegen ist es zu zeigen, dass die Komplexität der Situation ohne die Zuhilfenahme tiefenhermeneutischer Methoden wie des szenischen Verstehens und eines gruppenanalytischen Verständnisses der Institution unverstanden bleiben würde und ein Zugang zu den verborgenen Dimensionen dieses Falles nicht geleistet werden könnte. Der Fall In der Zeitschrift „Forum Politische Bildung“ vom Januar 1990 erschien ein Artikel, der über gravierende fremdenfeindliche Vorfälle in einer 9. Hauptschulklasse einer Stadtrandgemeinde Osthessens berichtete. Bemerkenswert an dem Fall ist, dass überhaupt darüber berichtet wurde und dass ein betroffener Lehrer dieser Schule, KlausUlrich Meier-Schreiber, darüber schrieb und reflektierte, warum es ihm, trotz aller pädagogischen Bemühungen, nicht gelungen war, diese fremdenfeindlichen Tendenzen zu überwinden. Für eine Sekundäranalyse eignet sich dieser Fall nicht nur wegen seiner inhaltlichen Dramatik, sondern auch weil entsprechende Fallbeschreibungen in der Literatur relativ rar sind und der Vorfall bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat.4 Wichtig zu erwähnen seien vorab zwei Punkte, die für das Verstehen der Dynamik des Fallgeschehens von großer Bedeutung sind: zum einen vertrat der Autor des Artikels den erkrankten Klassenlehrer in einer 9. Hauptschulklasse und zum anderen standen einige Schüler dieser Abschlussklasse im Verdacht, einige Jahre zuvor, Gräber auf dem jüdischen Friedhof geschändet zu haben. Dieser Verdacht konnte jedoch nie erhärtet werden. Nun zu den Vorfällen: Anfang des Jahres 1989 war eine kurdische Schülerin in die 9. Abschlussklasse einer Hauptschule gekommen. Sie 90 WB_65.indd 90 12.11.10 10:18 sah älter aus als in den Akten angegeben und ihr stand bereits der vierte Schulwechsel bevor. Sie wurde von Seiten des Direktors in die Klasse des erkrankten Lehrers und damit in jene Klasse gesetzt, die im Verdacht stand den jüdischen Friedhof geschändet zu haben. Ihre Situation dort gestaltete sich von Anfang an äußerst schwierig. Niemand wollte neben oder auch nur in ihrer Nähe sitzen. Alle pädagogischen Versuche des Lehrers sie zu integrieren, schlugen fehl. Argumente, Appelle und inhaltliche Diskussionen waren nutzlos. Die Haltung der Schüler änderte sich in keiner Weise, im Gegenteil, sie verhärtete sich noch. Eines Tages eskalierte die Situation: Auf der Fensterbank neben der Klassenzimmertür lag „ein großer grüner Gummihandschuh. Auf diesem Handschuh war mit Filzstift geschrieben: ‚Nur für Deutsche’ und ‚Bazillenschutz’. Die Beobachtung ergab, dass die deutschen Schüler, die den Klassenraum verließen, zunächst den Handschuh anzogen, dann die Türklinke anfassten und die Tür öffneten. Anschließend wurde der Handschuh wieder an die entsprechende Stelle gelegt“ (Meier-Schreiber 1990, S. 4). Auf Nachfrage stellten die Schüler die Sache zunächst als ‚harmlosen Spaß’ dar. Der beleidigende Charakter dieser Aktion und die damit verbundene Botschaft, dass nämlich die kurdische Mitschülerin Krankheitserreger mitgebracht haben könnte, war ihnen zwar klar, aber nicht problematisch. „Ach, wissen Se, der W.’, (ebenfalls ein Mitschüler) ‚hat auch AIDS, da müssen wir uns ja auch schützen“ (ebd.). Eine zweite Episode hatte ähnlich erschreckende Qualität. Vor Unterrichtsbeginn saßen alle deutschen Schüler eng zusammengekauert auf dem Fußboden vor dem Klassenzimmer. Auf die Frage des Lehrers, was denn das schon wieder zu bedeuten habe, wurde geantwortet: „Gehen Sie da nicht rein, die B. wirft mit Mülleimern, wir haben alle Angst“ (ebd.). Der Blick in den Klassenraum bot dann ein sehr eigentümliches Bild: Die Klasse war ganz leer. Vergleichsweise klein und verschüchtert saß B. auf ihrem Platz. Um sie herum lagen große Mengen Müll und ein umgekippter Papierkorb. Auf die Aufforderung hin kamen die 91 WB_65.indd 91 12.11.10 10:18 Schüler wieder in den Klassenraum und teilten auf Befragen mit, dass B. mit dem Mülleimer nach einem anderen Schüler geworfen habe. Genaueres Nachfragen ergab dann einen anderen Verlauf der Angelegenheit. „Die Schüler hatten – wohl nicht zum ersten Mal – den großen Mülleimer in der Pause auf den Tisch ihrer Mitschülerin gestellt. B. war daraufhin so in Wut geraten, dass sie den Eimer vom Tisch in Richtung auf den vermuteten Anstifter dieser Aktion gestoßen hatte… In der Folge stand fast jede Stunde auf dem Tisch von B. der Mülleimer, zeitweilig auch über ihren Stuhl entleert. Von diesem Zeitpunkt an kam B. nur noch sehr unregelmäßig zur Schule. Das hinderte die Schüler aber in keiner Weise daran, mit ihrer Aktion fortzufahren: es stand jetzt eben auf dem leeren Platz der Mülleimer“ (ebd.). Anknüpfungspunkt für die folgende Interpretation sind die zuvor beschriebenen Szenen: Dies möchte ich in einem ersten Schritt mit Hilfe des von Lorenzer (1971) entwickelten szenischen Verstehens interpretieren und diese Erkenntnisse dann in einem zweiten Schritt mit einer (ethno-) psychoanalytischen und zugleich institutionsbezogenen gruppenanalytischen Interpretation des schulischen Umgangs mit Fremdheit verbinden. Szene: Der Gummihandschuh In der ersten Szene bringt das demonstrative Überstreifen des Gummihandschuhs auf dem steht ‚nur für Deutsche’ und ‚Bazillenschutz’ eine Phantasie zum Ausdruck, die in der Vorstellung gipfelt, die kurdische Mitschülerin trage eine ansteckende, ja todbringende Erkrankung, nämlich AIDS in sich und es bestände die Gefahr sich zu infizieren. Diese Phantasie ist den Schülern durchaus bewusst und wird nicht verleugnet. Verleugnet wird allerdings die sexuelle Anspielung des übergestreiften Gummihandschuhs und dass diese Vorstellung sowohl eine erotische wie eine aggressive, eine bemächtigende wie auch eine gewalttätige Phantasie verbirgt. In dieser Szene geht es mithin um die Ambivalenz von Anziehung und Abwehr. Dabei scheinen die Berührungswünsche der Schüler so Anstoß erregend und so ängstigend, dass sie mit Krankheit und Tod in 92 WB_65.indd 92 12.11.10 10:18 Verbindung gebracht werden und nur als aggressive und gewalttätige Bemächtigungsphantasien zum Ausdruck kommen. Das im gleichen Zuge verbalisierte Schutzbedürfnis der Schüler wäre dann als Reaktion auf diese in der Begegnung mit der fremden, kurdischen Schülerin ausgelösten Phantasien zu begreifen, die sowohl von Angst und Schrecken, aber auch von Lust und Faszination geprägt sind. In dieser Szene wird mithin ein Bild von der Migrantin als sexualisiertem Objekt entworfen, wobei sie in der Projektion gleichsam zur Hure wird, die verführt, die aber auch gefährlich ist und vor der es sich deshalb zu schützen gilt.5 Szene: Die Schüler kauern vor der Tür In der zweiten Szene tauchen die Schüler in embryonaler Haltung auf. Sie sitzen, von Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht überwältigt wie gelähmt, eng zusammengekauert auf dem Flur vor dem Klassenzimmer. Sie scheinen wie ausgesetzte Kinder, auf der Flucht vor einem unerklärlichen Unheil. Selbst den Lehrer meinen sie vor diesem Unheil, das aus dem Klassenzimmer droht, warnen und bewahren zu müssen. Es ist die Wut und die Attacke der kurdischen Schülerin, die die Schüler vertrieben hat und die aus aggressiven Jugendlichen veräng93 WB_65.indd 93 12.11.10 10:18 stigte Kinder machte, die sich verfolgt und bedroht fühlten und sogar meinten, den Lehrer vor dem Zorn dieser Frau warnen zu müssen. In dieser von tiefer Regression geprägten Szene erscheinen die Schüler als die eigentlichen Opfer, während die kurdische Mitschülerin zur übermächtigen Angreiferin stilisiert wird, deren Attacken sie aus ihrem Klassenraum in die Obdachlosigkeit und Unwirtlichkeit des Flures getrieben haben. Es vermittelt sich der Eindruck, die Schüler seien nicht nur schutzbedürftig, sondern auch unschuldig und drinnen, in ihrem Klassenzimmer, hause eine völlig außer Kontrolle geratene Furie, angetreten sie zu vernichten. In der Phantasie der Schüler ist die kurdische Schülerin mithin zu einer grotesk überzeichneten, mächtigen und rachsüchtigen Gestalt geworden, während sie in ihrem eigenen Erleben immer mehr schrumpfen, immer hilfloser werden und sich schließlich wie kleine Kinder fühlen. D.h. die Schüler haben ihre eigenen sadistischen Impulse auf die kurdische Schülerin projiziert und fühlen sich nun als Opfer ihrer entfesselten Triebe, über die sie keine Kontrolle mehr haben. In dieser Szene wird mithin das Täter-Opfer-Verhältnis auf den Kopf gestellt. Dabei ist für die Schüler beunruhigend und bedrohlich, dass das Opfer ihrer Gewaltphantasien plötzlich die Verhältnisse umdreht und selbst zur Angreiferin wird und sie nun befürchten, jenes Schicksal zu erleiden, dass sie in ihrer Phantasie für ihr Opfer vorgesehen hatten. Projektive Identifikation lässt die kurdische Schülerin zur Täterin werden, wobei die Schüler, von ihren destruktiven und sadistischen Impulsen entlastet, in die Rolle regressiver Infantilität flüchten. Szene: Der Müll In der dritten Szene sitzt die kurdische Mitschülerin mitten im Müll, so als sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass sie nichts weiter als Abfall, Schmutz und Dreck sei. Dass sich die Schülerin hier zum ersten Mal zur Wehr setzt, verdeutlicht, dass Grenzen überschritten wurden und dass dieser Angriff außerordentlich kränkend und verletzend war. 94 WB_65.indd 94 12.11.10 10:18 Es ist ein Bild der Verrohung, der Verwahrlosung und der Demütigung, das sich hier ausbreitet und unwillkürlich erinnert an die nationalsozialistischen Strategien der Aussonderung und Vernichtung. In dieser Szene geht es mithin um Demütigung und Entwürdigung. Dabei wird die kurdische Mitschülerin zu einer abschreckenden Gestalt, ja zum Abfallprodukt degradiert, das ebenso wie der sie umgebende Müll zu entsorgen ist. Zugleich aber wird sie zum Sinnbild einer eruptiven Weiblichkeit, die Entsetzen wie auch Angst hervorruft und die in die Flucht treibt, weil ansonsten Vernichtung droht. Auch hier manifestieren sich Facetten der projizierten sadistischen Impulse auf die kurdische Schülerin, die in ihrer aggressiv aufgeladenen, jedoch von Verzweiflung getragenen Machtdemonstration, paranoide Ängste, gar Todesängste vor dem Verschlungenwerden heraufbeschwört. Hier hat sich die Lust vollkommen in Furcht aufgelöst und übrig bleibt nur noch Schmutz, Dreck und Müll und mittendrin, ein Häuflein Elend, die kurdische Schülerin. In diesen drei Szenen entfaltet sich also ein Drama, das gekennzeichnet ist von höchst verwirrenden und tabuisierten Emotionen, die von sexuellen Wünschen wie auch von Gewaltphantasien zeugen. Es lassen sich dabei drei verschiedene Bilder, die auf die fremde kurdische Schülerin projiziert werden und damit drei verschiedene Reaktionsweisen auf das Fremde erkennen. Die kurdische Schülerin erscheint in diesen Szenen: als eine sexuell erregende Frau, die Bemächtigungs- und Verführungsphantasien und damit sowohl aggressive wie libidinöse Impulse, aber auch VersagensInfantilisierungs- bis hin zu Kastrationsängsten heraufbeschwört, als eine von mächtigen Trieben besessene weibliche Gestalt, die depotenzierend und rachsüchtig zurück in die Hilflosigkeit der Kindheit, vielleicht sogar zurück in den Mutterschoß treibt, als unberührbare, Ekel und Widerwillen hervorrufende Frau, von der es sich abzugrenzen und die es zu verstoßen gilt, ansonsten droht eine Kontamination mit schmutzigen und anstößigen Phantasien, deren Macht nur mit Hilfe von Gewalt und Demütigung zu bannen ist. Entsprechend lässt sich in diesen Inszenierungen die Widerspiegelung von vier Reaktionsweisen auf das Fremde erkennen: Verführung, Bemächtigung, Regression und schließlich Demütigung. 95 WB_65.indd 95 12.11.10 10:18 Diese Reaktionsweisen sind dramatisierte Antworten auf die von der Fremden ausgehenden Faszination, Angst und Bedrohung und damit auch eine Reaktion auf die in jeder Begegnung mit Fremden heraufbeschworene Konfliktivität und Ambiguität (vgl. Erdheim 1982, Waldenfels 1997, Rohr 2003), die hier jedoch eine radikalisierte und dramatisierte Wendung erfahren. Betrachten wir nun die drei Szenen in ihrer Gesamtheit, so fällt ein wiederkehrendes Bild auf, das sich wie ein roter Faden durch alle drei Szenen hindurch zieht und das sich, trotz aller bereits angebotenen Deutungen, einem Verstehen noch verweigert. In allen Szenen geht es darum, dass die Schüler, obwohl sie als Täter agieren, sich als Opfer fühlen und aus dieser Rolle auch ihre Legitimation der Angriffe auf die kurdische Schülerin beziehen. Dieses Empfinden Opfer zu sein wird auch gegenüber dem Lehrer ausdrücklich verteidigt, der schreibt, dass die Schüler sich in einem „gerechten Abwehrkampf“ fühlten, „bei dem es fast um Leben oder Tod zu gehen schien“ (Meier-Schreiber, S. 5). Zugleich fällt auf, dass die Schüler immer wieder ihre Schutzbedürftigkeit artikulieren, dies aber bei dem Lehrer ungehört verhallt. Wieso aber fühlen sich die Schüler grundsätzlich als Opfer und warum lässt sich diese Wahrnehmung weder reflektieren noch transformieren und wie lässt sich ihre immer wieder hervorgehobene und selbst deklarierte Schutzbedürftigkeit verstehen? Damit komme ich zum zweiten Schritt meiner Interpretation, der psychoanalytischen und gleichzeitig gruppenanalytischen Betrachtung, wobei hier das gesellschaftliche, vor allem das institutionelle Umfeld und schließlich die unterschiedlichen Ebenen der institutionellen Beziehungsverhältnisse und damit die multiplen Übertragungsprozesse in die Interpretation mit einzubeziehen sind. Die gesellschaftliche Ebene Am Anfang des Artikels wird erwähnt, dass Schüler dieser Klasse im Verdacht standen, einen jüdischen Friedhof geschändet zu haben. Der nie ausgeräumte Verdacht dürfte sich in einem tiefen und in der Schule von allen geteilten Misstrauen gegenüber dieser Klasse nieder96 WB_65.indd 96 12.11.10 10:18 geschlagen haben. Waren sie deshalb so etwas wie die Parias der Schule, die mit ihren vermuteten Taten auch die Schule in Misskredit gebracht hatten und deshalb wenig geliebt und wenig geachtet? Warum aber wurde dieser Verdacht nie aufgeklärt? Lebten die Schüler eventuell in einem politischen Umfeld, in dem solche Schandtaten nicht nur geduldet, sondern stillschweigend vielleicht sogar gut geheißen wurden und von daher kein gesteigertes Interesse daran bestand, jüdische Friedhofschändungen aufzuklären? Galten die Schüler deshalb zwar als Akteure, aber nicht zwangsläufig auch als geistige Urheber der Tat? Sie alleine wurden jedoch der Tat verdächtigt. Das exkulpierte sie nicht, machte aber das Gefühl verständlich, warum sie sich als Opfer fühlten und warum auch die Schule offensichtlich nicht wagte, die Sache aufzuklären: Es wäre vielleicht wie ein Stich in das berühmte Wespennest gewesen. Diese Stillhaltetaktik brachte zwar keine Aufklärung, sorgte aber dafür, dass der Verdacht in der Schwebe gehalten wurde. Die institutionelle Ebene Aus einer fast überlesenen Bemerkung am Rande des Artikels geht hervor, dass die kurdische Schülerin schließlich in die Parallelklasse versetzt wurde und hier keinen weiteren fremdenfeindlichen Angriffen mehr ausgesetzt war. Dies mag auf die pädagogische Kunst des Klassenlehrers zurückzuführen sein, führt dann allerdings zu der Frage, warum sie zunächst von Seiten der Schulleitung in eine Klasse gesetzt wurde, die bereits die Erkrankung ihres Klassenlehrers und die Konfrontation mit dem Vertretungslehrer zu verkraften hatte und die zusätzlich im Verdacht antisemitischer Tendenzen stand? Eine solche Entscheidung ist weder rational, noch aus schulinterner Sicht nachvollziehbar. Es sei denn, die kurdische Schülerin wurde prinzipiell und von Anfang an als institutioneller Störfaktor betrachtet und entsprechend behandelt: Sie hatte öfter die Schule gewechselt. Machte sie das verdächtig? Es bleibt jedenfalls unklar, warum sie die Schule wechselte und ob Gründe für den häufigen Schulwechsel bekannt, bzw. von Seiten der neuen 97 WB_65.indd 97 12.11.10 10:18 Schule in einem Gespräch mit der Schülerin erforscht worden waren. Sie sah älter aus als in den Akten vermerkt. Schürte dies Misstrauen und wurde dies als bewusste Irreführung verstanden? Auch ihr Wunsch in eine Abschlussklasse eingeschult zu werden, war ungewöhnlich. Alles Fakten, die bei der Schulleitung auf wenig Begeisterung gestoßen sein dürften. Sie war nicht wirklich willkommen und ihr haftete der Makel an, quasi mit Lügen in die Schule zu drängen. Da es aber keine Möglichkeit gab, sie abzuweisen, setzte man sie wie zur Strafe, so scheint es, in eine Klasse, in der sie nur scheitern konnte. All dies geschah vermutlich weder bewusst, noch aus böser Absicht. Aber sie störte die schulischen Systemabläufe und institutionellen Regeln. So kam es zu einer unheilvollen Verkettung und Allianz von Zufällen, die sich in ihrer Potenzierung zum Drama für die kurdische Schülerin auswuchsen: Dazu trugen bei ein Schulsystem, das Migranten, beson98 WB_65.indd 98 12.11.10 10:18 ders Seiteneinsteiger, als Störenfriede betrachtet und tendenziell eher bestraft als fördert; Defizite auf Seiten eines institutionellen Umfeldes im Umgang mit Krisen und Konflikten in Kombination mit einem Mangel an interkulturellen Kompetenzen, sowie latent fremdenfeindliche Tendenzen auf Seiten von Schülern, die bislang keinen Umgang mit kulturell Fremden erproben und erleben konnten.6 In diesem Falle könnten die Schüler die Einschulung der kurdischen Schülerin in ihre Klasse als Zeichen eines unbewussten, institutionellen Bündnisses mit ihren latent fremdenfeindlichen Tendenzen verstanden haben, was sie ermutigte, entsprechend zu agieren. Auf diesem Hintergrund wäre es verständlich, wenn sich die Schüler dieser Klasse von der Schulleitung missbraucht und zugleich bestraft gefühlt hätten, da an sie ein Konflikt delegiert wurde, den die Schulleitung nicht hatte lösen können oder wollen. Wurde mithin ihr Gefühl Opfer und gleichzeitig schutzbedürftig zu sein, durch dieses Unvermögen der Schulleitung und deren heimlicher Allianz mit ihren fremdenfeindlichen Tendenzen, die sie jedoch an den Schülern bekämpften, noch verstärkt? Die Lehrer – Schüler – Beziehung Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt des psychoanalytischen und gruppenanalytischen Verstehens ist das Verhältnis Lehrer und Klasse. Als erstes fällt dabei ins Auge, dass der vertraute Klassenlehrer erkrankt war und zwar ausgerechnet im schulischen Abschlussjahr der Schüler. Statt seiner waren sie mit einem ihnen „fremden Lehrer“, einem Vertretungslehrer konfrontiert. Fast zeitgleich kam es zur Aufnahme der kurdischen Schülerin in die Klasse. Könnte es also sein, dass diese Situation in den Schülern das Gefühl auslöste, von dem eigenen Klassenlehrer in einer besonders prekären Situation, nämlich im Prozess des Abschiednehmens von der Schule und dann zusätzlich noch im Prozess der Begegnung mit einer „Fremden“, der kurdischen Schülerin, im Stich gelassen worden zu sein? Dies hat offensichtlich enorme Verlassenheitsängste ausgelöst, die dann im Verlaufe der Zeit und aufgrund mangelnder und falscher pädagogischer Interventionen immer mehr außer Kontrolle gerieten. 99 WB_65.indd 99 12.11.10 10:18 Erschwerend kam dann noch hinzu, dass nicht nur die vertraute, Halt bietende und Grenzen setzende männliche und väterliche Autoritätsfigur verschwunden war, sondern der Vertretungslehrer sich verstärkt der kurdischen Schülerin zuwandte, um ihr zu helfen, sich zu integrieren. In dem Maße aber wie sie in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte, fühlten sich die Schüler immer weiter an den Rand gedrängt, nicht mehr gesehen und mit ihren Beziehungswünschen und Bedürfnissen nicht wahrgenommen. Damit verfestigte sich auf fatale Weise der Eindruck eines Bündnisses zwischen dem Vertretungslehrer und der kurdischen Schülerin, den beiden Fremden, einem (ödipalen) Bündnis, von dem sich die Schüler zwangsläufig ausgeschlossen fühlen mussten. Doch weniger mit dem Vertretungslehrer als vielmehr mit der kurdischen Mitschülerin wurde eine Auseinandersetzung initiiert, weil sie als kulturell Fremde dem Vertretungslehrer bald näher zu stehen schien als die übrigen Schüler. Dies nährte ihre Phantasie, die kurdische Schülerin habe den Lehrer verführt und dieser habe sich auch von ihr verführen lassen. Ihr wurde mithin die Schuld angelastet, der Klasse auch noch den Vertretungslehrer genommen zu haben und er als Vertretungslehrer verstärkte dieses Gefühl noch, indem er zwar den Beziehungswunsch und die Schutzbedürftigkeit der kurdischen Schülerin, nicht aber auch die Beziehungswünsche und die Schutzbedürftigkeit der übrigen Schüler wahrnahm. Während er sich also hinter seinem gut gemeinten Vorhaben, die kurdische Schülerin zu integrieren, verschanzte, entzog er sich der emotionalen Beziehung zur Klasse und führte stattdessen mit den Schülern fachliche und politische Diskussionen, um sie zur Reflektion ihrer teilweise manifesten ausländerfeindlichen Positionen zu zwingen. Er opferte damit ungewollt unbewusst die kurdische Schülerin, statt sich selbst einer auch emotional geprägten und auf die Arbeitsbeziehung bezogenen Konfrontation mit der Klasse auszusetzen. So entstand ein pädagogisch beziehungsloser, aber hoch sexualisierter Raum, in dem der Vertretungslehrer und die kurdische Schülerin als phantasiertes Paar in Erscheinung traten und die Klasse sich zwangsläufig ausgeschlossen, infantilisiert und von Kastration bedroht fühlen musste. Deshalb fühlten sich die Schüler schließlich als 100 WB_65.indd 100 12.11.10 10:18 Opfer der sozusagen am falschen Objekt exerzierten Integrationsbemühungen. Sie begannen einen aus Verzweiflung, aber auch aus Rache geborenen Abwehrkampf. Zugrunde lag dieser Entwicklung eine Tendenz, nach der die Schüler ihre sexuellen Wünsche nicht mehr nur auf die kurdische Schülerin, sondern mittlerweile vor allem auf das Paar und damit zugleich auf den Vertretungslehrer projizierten, mit dem heimlichen Wunsch, diesen dazu zu zwingen, dem Verführungszauber der kurdischen Schülerin zu widerstehen, um so ihre Phantasien von Demütigung und Schändung zu teilen und auf diese Weise ihre Kastrationsängste zu mildern oder gar aufzulösen. Seine pädagogisch begründeten Bemühungen um die kurdische Schülerin verstärkten mithin die Kastrationsängste der Schüler, die wie im Abwehrkampf und als ginge es um Leben und Tod – wie der Lehrer selbst formulierte – wild um sich zu schlagen begannen. Die Schläge trafen aber nicht den als fragil erlebten Lehrer/Vater, sondern die kurdische Schülerin, die phantasierte Mutter und Megäre. Fatal war also, dass der Vertretungslehrer sich nicht als väterliche und grenzensetzende Autoritätsfigur einer Institution erwies, der in der Lage war, die adoleszenten, libidinös und aggressiv getönten sexuellen Phantasien und Wünsche der Schüler und die ihnen inhärente, destruktive Dynamik zu erkennen und einzudämmen und deshalb auch keinen Schutz bot, angesichts der als erregend erlebten Weiblichkeit der kurdischen Mitschülerin, was dann zur sexuellen Verführung, wie zur aggressiven Abgrenzung einlud. Während sich also die Beziehungslosigkeit zwischen Lehrer und Klasse in der Auseinandersetzung mit der kurdischen Schülerin reinszenierte, schlüpften die Schüler aus der Rolle der Opfer in die der Täter und machten die kurdische Schülerin zum Opfer ihrer Enttäuschung, ihrer Wut, ihrer Aggression und Frustration und meinten damit den Vertretungslehrer, vermutlich auch den erkrankten Klassenlehrer. Hier büßte mithin das Fremde für die Schwäche des Eigenen, wie es Waldenfels (1997, S. 133) formulierte. Auch in dieser Hinsicht wird mithin verständlich, warum sich die Schüler als Opfer fühlten: weil sie sich vom Klassenlehrer und zugleich vom Vertretungslehrer in dieser entscheidenden Schulphase, 101 WB_65.indd 101 12.11.10 10:18 wo es um das Abschiednehmen ging, im Stich gelassen fühlten und der Vertretungslehrer sich in ihrer Phantasie mit der kurdischen Schülerin, statt mit ihnen und der institutionell vorgegebenen Rolle, verbündet hatte. Die auf beide projizierte Phantasie eines Paares hat bei den Schülern, die sich sowieso schon verlassen fühlten, das Gefühl ausgeschlossen und verlassen zu sein, noch verschärft und dramatisiert und in der Folge massive Kastrationsängste heraufbeschworen. Dadurch eskalierte auch die vernichtende und ödipal gefärbte Aggression gegenüber der kurdischen Schülerin, weil eine Halt gebende und Grenzen setzende, männliche Autoritätsperson fehlte. Damit wird die adoleszente Entwicklungsaufgabe, die durch den bevorstehenden Abschied von der Institution Schule einen vorläufigen Höhepunkt erfährt, umgangen, die libidinösen Strebungen können nicht von den Autoritäten/Eltern abgezogen und auf andere Beziehungspartner übertragen werden. Das was begehrt wird, wird beseitigt. Damit wird eine Regression in kindliche Ohnmacht und Passivität vorangetrieben. Und der Lehrer/Vater? Ihn verleibt sich die Klasse als schwachen Vater, als Mittäter und –opfer ein und erzwingt auf diese Weise seine Solidarität und zwar mit dem Ergebnis, dass die kurdische Schülerin in die Parallelklasse versetzt wird, wo der Vertretungslehrer zuhause, d.h. Klassenlehrer ist. Ein vordergründiger Triumph, der aber nur kurzfristig über das Scheitern der eigentlichen Aufgabe hinweg zu täuschen vermag. Schüler und Adoleszenz Die in der szenischen Interpretation zum Ausdruck gelangten regressiven und sexualisierten Bilder und Reaktionsweisen auf die fremde Schülerin, sind jedoch auch zu begreifen als eine Widerspiegelung der inneren Welt der mitten in der Adoleszenz befindlichen Jugendlichen, wobei diese Bilder von extremer Zerrissenheit künden: von einem Schwanken zwischen Größen- und Kleinheitsphantasien, von Erfahrungen von Ohnmacht und Kränkung. Die dazu gehörenden inneren Vorstellungen, Impulse, Wünsche und Ängste haben in den zuvor herausgearbeiteten Bildern und Metaphern über das Fremde 102 WB_65.indd 102 12.11.10 10:18 deutlich Gestalt angenommen. Hier wird nun darüber hinaus deutlich, dass immer wieder die eigene Aggressivität, die bis hin zu Vergewaltigungsphantasien und Demütigungsakten reicht, verleugnet und in ihr Gegenteil verkehrt wird. So entsteht ein Opferdiskurs, der undurchdringlich, intransigent und unreflektierbar scheint. Hier lassen sich innerpsychische Szenarien erkennen, die uns von fremdenfeindlichen Gewalttätern vertraut sind (vgl. Streeck-Fischer 1992, Bohleber 1992). Und gerade dieses Schwanken zwischen Größen- und Potenzphantasien einerseits und Erfahrungen von Ohnmacht und Impotenz andererseits bei einem gleichzeitigen Mangel an verlässlichen männlichen Identifikationsfiguren, scheint eine immer wiederkehrende Konstante in der psychischen Disposition fremdenfeindlicher Gewalttäter. Dieser virulente, adoleszente Identitätskonflikt hat sich auch in der Begegnung mit der kurdischen Schülerin dramatisch in Szene gesetzt 103 WB_65.indd 103 12.11.10 10:18 und sich verdichtet zum Gefühl, am Abgrund zu stehen und zwar alleine am Abgrund zu stehen: Denn der potentiell Halt versprechende Vertretungslehrer entzieht sich der emotionalen Auseinandersetzung mit der Klasse, attackiert sie stattdessen mit politischen Diskursen, statt sich in seiner Rolle als Lehrer und als institutionell legitimierte Autoritätsfigur anzubieten, die imstande ist, den durchbrechenden adoleszenten Verführungs- und Bemächtigungsphantasien Grenzen zu setzen, indem er schützt vor der erregenden Weiblichkeit der kurdischen Schülerin. So kommt es zu den destruktiv geprägten, malignen regressiven Tendenzen, zu einer Verstärkung von Kastrationsängsten, die zurücktreiben in das Reich der frühen Kindheit und die mühsam erworbenen adoleszenten Loslösungs- und Autonomieprozesse wieder rückgängig machen. Dabei steht die Klasse vor dem Dilemma, Abschied zu nehmen von der Schule – ebenfalls eine zentrale Aufgabe der Adoleszenz – aber unglücklicherweise hat sich der Klassenlehrer zuvor schon verabschiedet, so dass die schulischen Trennungserfahrungen extrem erschwert sind (ähnlich jener Situation, in denen Eltern sich in der Adoleszenz der Kinder scheiden lassen). Der aus der Trennungserfahrung resultierende Autonomiegewinn kann auf diese Weise nicht realisiert werden. Und so setzen die Schüler alles daran, die kurdische Schülerin zu vertreiben, nicht zuletzt auch aus Rache und Enttäuschung an ihrem Klassenlehrer, der sie im Stich ließ und ihnen damit die eigene Loslösung versagte und eine Chance zur Autonomieentwicklung stahl. Den Klassenlehrer haben sie gebraucht und stattdessen wird ihnen wie zum Hohn von der Schulleitung eine fremde, kurdische Schülerin in den Raum gesetzt. Aus Wut und Verzweiflung wird sie „vernichtet“, letztendlich auch um die schmerzhaften Verlassenheitsängste, die die bevorstehende Statuspassage „Eintritt ins Berufsleben“ ihnen noch zumutet und die sie nun alleine zu bewältigen haben, zu verdrängen. In diesem regressiv geprägten Verhalten äußert sich mithin eine ungenügend ausgeprägte Ich-Automonie wie auch destruktive Über – Ich Anteile, die mit dafür verantwortlich sind, die Kurdin mit narzisstischer Libido zu besetzen, um sie dann dafür zu bestrafen und zu „vernichten“. 104 WB_65.indd 104 12.11.10 10:18 Fazit Das Auftauchen der kurdischen Schülerin legt verborgene Schwächen und unbewusste Einstellungen des schulischen Systems offen: Ihr Auftauchen wird als Störung erlebt, damit thematisiert sie die institutionelle Heterogenitätsphobie, Zwanghaftigkeit und Triebfeindlichkeit ritualisierter schulischer Abläufe, die keinerlei Abweichung und Flexibilität dulden. Außerdem verweist ihre Anwesenheit in der Klasse des erkrankten Lehrers auf ein ressourcenarmes System, das auf Grund von finanziell künstlich knapp gehaltenen Bildungsausgaben keinerlei personell verträgliche und „kundenfreundliche“ Auffangstrukturen entwickeln konnte. Darüber hinaus verweist die Anwesenheit der kurdischen Schülerin in dieser Klasse unmittelbar auf die eklatante Abwesenheit des Klassenlehrers, was jedoch von der Schule in seiner affektiven Bedeutung völlig verleugnet, von den Schülern hingegen, unbewusst als Drama erlebt wird. Die Eingliederung der kurdischen Schülerin in eben jene Klasse, die im Verdacht steht, den jüdischen Friedhof geschändet zu haben, lässt darüber hinaus eine institutionell unbewusste Matrix sichtbar werden, die fremdenfeindliche Tendenzen in der Schülerschaft unbewusst stützt und die zugleich die Hilflosigkeit der involvierten, aber institutionell allein gelassenen Lehrer im Umgang mit fremdenfeindlichen Diskursen offen legt. Politisch ambitionierte Diskussionen im Unterricht sind dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie wie hier geschehen – jenseits aller bewussten Intentionen – als Waffen gegen fremdenfeindliche Tendenzen und als Waffen gegen die als überwältigend erlebten und von der kurdischen Schülerin ausgelösten Verführungs- und Bemächtigungsphantasien und damit gegen die aufbrechenden libidinösen und aggressiven Triebstrebungen der Schüler eingesetzt werden. Statt Integration wird eine institutionelle Ausstoßung und Abtreibung in Szene gesetzt und fatalerweise an die aufgrund ihrer vermuteten antisemitischen Tendenzen prädisponierte Klasse delegiert. Am destruktiv entgleisten Verhältnis zur kurdischen Schülerin kommt schließlich die schulisch ebenfalls verleugnete Virulenz des adoleszenten Triebgeschehens - zwischen Begehren und Abwehr, zwischen Dämonisierung und Sexualisierung 105 WB_65.indd 105 12.11.10 10:18 zu schwanken – zum Ausdruck und wird aufgrund des abwesenden Klassenlehrers auf höchst aggressive Weise an der kurdischen Schülerin ausagiert. Nicht der Konflikt an sich, aber die Eskalation des Konfliktes wäre vermutlich vermeidbar gewesen: Dazu hätte es 1. einer veränderten Wahrnehmung bedurft: denn weder die Schüler, noch der Vertretungslehrer und schon gar nicht die kurdische Schülerin wurden schulintern in ihrer Bedürftigkeit, in ihrer Überforderung und in ihrer Fragilität wahrgenommen. In dieser besonderen Situation wäre die Kompetenz der Schulleitung in ihrer Verpflichtung zur Fürsorglichkeit gegenüber Angestellten wie Anempfohlenen gefordert und gefragt gewesen. Schon bei den ersten Anzeichen des Konfliktes hätte 2. ein institutionell organisiertes Krisenmanagement (z.B. Klassenkonferenz unter Einbezug der Eltern mit externer Moderation) einsetzen müssen, um die überbordenden Affekte in Grenzen zu halten und containment anzubieten, weiteres Agieren zu sanktionieren und Möglichkeiten und Instrumente der Bearbeitung und Konfliktbewältigung zur Verfügung zu stellen. 3. wäre es von entscheidender Bedeutung gewesen, statt in dieser Situation im Unterricht über Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zu debattieren, über die Bedeutung der Abwesenheit und Erkrankung des Klassenlehrers und die bevorstehende Trennung von der Schule und die anstehende und offensichtlich hoch angstbesetzte Statuspassage zu reflektieren. Dafür braucht es jedoch emotional geschützte Räume und institutionell verankerte Rituale – außerhalb des unmittelbaren Unterrichts, jedoch im Kontext des institutionellen Umfelds Schule und mit Unterstützung spezifisch geschulter Experten. 4. Schule muss generell störungsfreundlicher werden und Diversitätstoleranz einüben und als essentielle Lernerfahrung in das institutionelle Selbstverständnis integrieren. D.h. Schule in einer globalisierten Welt muss nicht nur lernen mit Diversität angstfreier und damit souveräner umzugehen, sondern auch die damit verbundenen Ambivalenzen, Ambiguitäten und unauflösbaren Widersprüche zu ertragen und dafür containment anzubieten. 106 WB_65.indd 106 12.11.10 10:18 Bibliographie: Adorno, Th. W. (1971): Tabus über den Lehrberuf. In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg. v. G. Kadelbach. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 70-87. Akashe-Böhme, F. (1994): Frausein Fremdsein. Frankfurt/M. (Fischer). Apitzsch, U. (2003): Zur Dialektik der Familienbeziehungen und zu GenderDifferenzen innerhalb der Zweiten Generation. In: Psychosozial 93, 67-80. Bohleber, W. (1992): Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus. Psychoanalytische Überlegungen. Psyche, 8, 689-709. Boos-Nünning, Ursula, Karakasoglu, Y. (2005) Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Münster, New York, München, Berlin (Waxmann). Bosse, H. (1985): Jugend und Schule. Schritte zu einer Institutionsanalyse anhand einer Interpretation einer Schulfeier in Westafrika. In: Ch. Wulf (Hg.): Im Schatten des Fortschritts. Saarbrücken, Fort Lauderdale (Breitenbach) 95-114. Büttner, Ch. u.a. (Hg.) (1998): Brücken und Zäune. Interkulturelle Pädagogik zwischen Fremden und Eigenem. Gießen (Psychosozial). Erdheim, M. (1982): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess. Frankfurt/M. (Suhrkamp). Forster, G. (1843): Entdeckungsreise nach Tahiti und in die Südsee 1772 –1775. Hg. von Hermann Homann, entnommen aus Georg Forster’s sämtliche Schriften. Herausgegeben von dessen Tochter. In neun Bänden. Erster und zweiter Band. Leipzig (Brockhaus) 1843, Stuttgart (Edition Erdmann)1988. Foulkes, S. H. (1964): Gruppenanalytische Psychotherapie. Übers. I. Pfeiffer. München (Pfeiffer) 1992. Freud, S.(1914): Zur Psychologie des Gymnasiasten. GW X, 204-207 Fürstenau, P. (1964): Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. Das Argument 29, 65-78. Gogolin, I., Neumann, U., Roth, H.-J. (2003): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung. Bund Länder Kommission, Bonn. Gomolla, M.; Radtke, F.-O. (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen (Leske + Budrich). Lorenzer, A. (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt/M. (Suhrkamp). Malinowski, B. (1967): Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes. Neuguinea 1914-1918. Übers. N. T. Lindquist. Frankfurt/M. (Syndikat) 1986. Rohr, E. (2003): Interkulturelle Kompetenz. Ein gemeinsamer und gegenseitiger Lernprozess in einer sich globalisierenden Welt. In: Wege zum Menschen. 8, 507-521. 107 WB_65.indd 107 12.11.10 10:18 Rohr, E. (2007): Let’s Talk. Kommunikation in interkulturellen Schulsituationen. In. B. Schnabel und M. Bianchi-Schaeffer (Hg.) (2007), 55-70. Said, E. (1978): Orientalismus. Frankfurt/M. (Fischer) 1979. Schnabel, B. und M. Bianchi-Schaeffer (Hg.) 2007: Das interkulturelle Klassenzimmer. Potentiale entdecken. Anregungen für Lehrerinnen und Lehrer. Frankfurt (Brandes & Apsel). Streeck-Fischer, A. (1992): Adoleszenz und Rechtsradikalismus. In. Psyche 8, 745-768. Waldenfels, B. (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt/M. (Suhrkamp). Wellendorf, F (1973): Schulische Sozialisation und Identität. Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. Weinheim, Basel (Beltz). Anmerkungen: 1 So entstehen Studien zur Situation von z.B. weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund (z.B. Boos-Nünning-Karakosoglu), die keinerlei Ambivalenz, geschweige denn Konfliktivität in der Identitätsentwicklung der jungen Frauen mehr erkennen können, bzw. psychoanalytische Verstehensmodi, etwa der Hinweis auf regressive Aspekte in der Mutter-Tochter-Beziehung reflexartig als defizitorientiert abqualifizieren (Apitzsch 2003). 2 Dazu zählen der unsichere Aufenthaltsstatus, die Pflege der Herkunftssprache in den Familien, das bildungsferne Milieu der Eltern 3 im Sinne einer spezifisch strukturierten Dynamik 4 Rechtsradikale Vorfälle im Schwalm-Eder-Kreis, bei denen ein Mädchen und sein Bruder in einem Zelt schwer verletzt wurden, zeigen mit welcher Selbstverständlichkeit sich diese Gruppierungen in der Öffentlichkeit zeigen und wie wenig ernst die Gefahr genommen wird, die von ihnen ausgeht (vgl. http:// www.netz-gegen-nazis.de/artikel/neonazis-ueberfallen-zeltlager, letzter Zugriff 15.9.2008). 5 Ein Topos, der sich in den Berichten der europäischen Eroberer und Entdekker ebenso wiederfindet, wie in der wissenschaftlichen, ethnographischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und sich heute im westlichen Bild des Orients bewahrt hat (vgl. Forster 1979, Malinowski 1986, Said 1986, AkasheBöhme 1994). 6 Entgegen landläufiger Meinung zeigen Untersuchungen sehr deutlich, dass häufiger und alltäglicher Kontakt mit Migrantenjugendlichen in der Schule fremdenfeindliche Tendenzen mildert (vgl. http://www.innovations-report.de/ html/berichte/gesellschaftswissenschaften/bericht-1585.html, letzter Zugriff 5.8.08) 108 WB_65.indd 108 12.11.10 10:18 JOURNAL für Psychoanalyse 51 Psychoanalytische Sozialarbeit In Abgrenzung und Ergänzung zur klassischen Psychoanalyse kommt die Spannbreite unterschiedlicher Behandlungssettings zur Sprache, wie etwa die sozialpädagogische Familienbegleitung, die Betreuung von Flüchtlingen in prekären psychosozialen Situationen oder die Behandlung von Jugendlichen mit schwersten Persönlichkeitsstörungen, die aus jeglichem Rahmen sozialpsychiatrischer Institutionen herausgefallen sind. Im Zentrum der verschiedenen Beiträge steht die Auseinandersetzung, wie in unterschiedlichsten Settings Räume des Denkens, Handelns und Behandelns eröffnet werden können, die ohne die Anwendung psychoanalytischer Konzepte unzugänglich bleiben würden. 2010, 232 S., 15.5 x 22.5 cm, ISBN 978-3-03777-094-8 Einzelheft SFr. 29.– / € 18.90 Abonnement: Fr. 75.—/€ 48.60 für 3 aufeinander folgende Hefte Beiträge zum Schwerpunktthema «Vielleicht wird einmal ein amerikanischer Millionär …»: Zur Geschichte der psychoanalytischen Sozialarbeit | Achim Perner (Berlin) Verein für psychoanalytische Sozialarbeit Zürich, vpsz | Esther Leuthard (Zürich) Angst – Wissen und Nicht-Wissen. Settingkonstruktionen in der Psychoanalytischen Sozialarbeit | Martin Feuling (Tübingen) Bemerkungen über den Unterschied von psychoanalytischer Sozialarbeit und Psychoanalyse | Achim Perner (Berlin) Jahre mit Werner | Joachim Staigle (Tübingen) Geldverwaltung gibt zu Reden | Heini Bader (Zürich) Niemand hat mich gern: Die Geschichte einer Familienbegleitung | Esther Leuthard (Zürich) Von Pflastern und Pflanzen. Die ethnopsychoanalytische Betreuung von Asylsuchenden im Ethnologisch-Psychologischen Zentrum (EPZ) Zürich | Antje Krueger (Bremen) Damit Freiheit nisten kann: Psychoanalytische Sozialarbeit im Verein EXIT-sozial | Elisabeth Rosenmayr (Linz) Empfangen, zuhören, hören. Das kleine Kind in der Maison Verte | Marie-Hélène Malandrin (Paris) Psychoanalytischen Sozialarbeit. Interview mit Martin Feuling, Heidi Schär Sall, Ursula Leuthard. Fragen: Markus Weilenmann und Gregor Busslinger) www.seismoverlag.ch [email protected] 109 WB_65.indd 109 12.11.10 10:18 „CARUSOS ERBIN?“ EIN KLÄRUNGSVERSUCH DOROTHEA STEINLECHNER-OBERLÄUTER Im März 2009, als sich das Nachrichtenmagazin „profil“ mit der mutmaßlichen Verstrickung von Igor Caruso in NS-Verbrechen befasst hatte, traf ich im Wartezimmer meines Zahnarztes zufällig auf einen jener Assistenten, bei dem ich in den ersten Semestern meines Studiums einige Vorlesungen besucht hatte. Ich habe zwischen 1977 und 1983 am Salzburger Psychologischen Institut studiert, also während jener Jahre, die heute auch als „Ära Caruso“ bezeichnet werden. Caruso hatte einen von drei Lehrkanzeln inne, die anderen waren von Revers und Roth besetzt, Schindler hatte eine a.o.Professur inne. Insbesondere zwischen Roth und Caruso bestanden große wissenschaftliche Differenzen. Caruso stand für eine gesellschaftskritische, die sozialen Aspekte berücksichtigende psychoanalytische Wissenschaftstradition, Roth für eine positivistische, am naturwissenschaftlichen Modell orientierte Psychologie. Die Situation am Institut habe ich von Anfang an sehr polarisiert erlebt. Die jeweiligen Professoren hatten ihre Kreise von AssistentInnen und StudentInnen um sich. Der Mann im Wartezimmer war „damals“ dem NichtCaruso-Lager zugeordnet gewesen. Ich gab mich als eine ehemalige Studentin zu erkennen. Der Mann freute sich sehr, dass ich ihn erkannt und angesprochen hatte. Nach einer kurzen Nachfrage, was ich beruflich denn so mache, begann er 110 WB_65.indd 110 12.11.10 10:18 dann jedoch ungefragt im Tonfall des höchsten Abscheus und des höchsten Triumphs über Caruso herzuziehen: nun sei es offenbar: Caruso habe kleine Kinder getötet oder dazu beigetragen; so jemand habe an der Universität unterrichtet… Es schien nun eindeutig bewiesen zu sein, dass Caruso ein menschenverachtender Verbrecher gewesen sei, und in der Folge schienen alle, die sich damals für Psychoanalyse interessiert hatten, im Nachhinein ins Unrecht gesetzt – und zwar 111 WB_65.indd 111 12.11.10 10:18 sowohl menschlich als auch fachlich. Offenbar hatte er mich dadurch, dass ich ihn angesprochen hatte, automatisch dem Nicht-Caruso-Lager zugeordnet und war davon ausgegangen, dass ich diesen genauso verabscheute, wie er das offensichtlich tat. Nun reagierte ich aber mit Einwänden und mit der Nachfrage, ob denn diese Mittäterschaft wirklich so eindeutig bewiesen sei. Da wandelte sich die Stimmung. Meine Einwände wurden vom Tisch gewischt, und schnell wurde klar, dass ich allein durch dieses Nachfragen selbst in den Dunstkreis der NSSympathisanten gekommen war und ganz selbstverständlich der Caruso-Gruppe zugeordnet wurde. Wenn ich heute daran denke, kommt mir der Begriff Sippenhaftung in den Sinn. Damals war ich erstaunt und verblüfft, wie schnell und selbstverständlich diese Zuordnung erfolgt ist, aus der es aufgrund der emotionalen Polarisierung kein Entkommen zu geben schien. Wie ich wirklich zu Caruso stand oder stehe schien dabei keine Rolle zu spielen. Diese Episode ist mir wieder eingefallen, als ich im letzten Werkblatt eine andere Zuordnung erlebte. Während ich in der Szene beim Zahnarzt aufgrund meiner (von meinem Gesprächspartner phantasierten Nähe) zu Caruso sehr schnell in eine abgewertete, geradezu verabscheuungswürdige Position gerückt wurde, fand ich mich in Karl Fallends Artikel „Carusos Erben“ plötzlich in einem positiv konnotierten Zusammenhang wieder: „Es ist wohl auch eine Erbschaft von Carusos Wirken, dass Salzburg ein Zentrum der Psychoanalyse-Geschichtsschreibung wurde. Ausgehend von den federführenden Arbeiten von Wolfgang Huber und Johannes Reichmayr folgte eine einzigartige Reihe von Dissertationen und Publikationen zur Geschichte der Psychoanalyse, ihrer Institutionalisierung, Verfolgung oder Vertreibung oder biographische Arbeiten über Alfred Adler, August Aichhorn, Michael Balint, Siegfried Bernfeld, Rudolf Ekstein, Otto Fenichel, Wilhelm Reich – um einige zu nennen.“(Fallend 2010) Ich gehe davon aus, dass mit der Arbeit über Rudolf Ekstein meine 1983 eingereichte und 1985 als Buch erschienene biographische Arbeit „Rudolf Ekstein – Leben und Werk. Kontinuität und Wandel in der Lebensgeschichte eines Psychoanalytikers“ gemeint ist. Ich finde mein 112 WB_65.indd 112 12.11.10 10:18 Buch nun der Erbschaft von Caruso oder Carusos Wirken subsumiert – und bin wieder irritiert. Ich habe zwar zwischen 1977 und 1983 am Psychologischen Institut in Salzburg studiert. Mit der Entstehung meiner Dissertation hatte Caruso aber überhaupt nichts zu tun. Wieder finde ich mich Caruso näher gerückt, als es meinem subjektiven Empfinden entspricht. Umgekehrt hat es aber auch Situationen gegeben, in denen ich mich sehr gerne auf das Wir-Gefühl der Caruso-StudentInnen eingelassen und in euphorischer Weise genossen habe. Beispiel dafür ist die Uraufführung der von Michael Kolnberger verfassten Filmbiographie „I.A. Caruso“ (April 2009 in Salzburg). Die Uraufführung wurde zu einem riesigen „Klassentreffen“ von Studenten, Studentinnen, damaligen Assistenten, Assistentinnen und Professoren. Manche von ihnen hatte ich Jahre oder Jahrzehnte nicht gesehen. Ein Wir-Gefühl stellt sich sofort ein, verstärkte sich während des Films, als „unser“ alter Hörsaal 311 gezeigt wurde und über die alten Zeiten gesprochen wurde und hielt auch dem anschließenden Feiern bis weit in die Nacht stand. Ja, „wir“ hatten eine große Zeit erlebt mit bedeutenden Lehrern, ja, „wir“ waren widerständig und reflexiv und mutig gewesen, ja, in Folge haben „wir“ selber bemerkenswerte wissenschaftliche Werke publiziert. Auch hier war es zunächst gar nicht wichtig – weder mir noch den anderen –, in welchem Verhältnis ich persönlich wirklich zu Caruso gestanden bin, was ich von ihm gelernt und übernommen habe und was er – als Person oder als Symbol – für meine wissenschaftliche und berufliche Entwicklung bedeutet hat. Erst sehr spät, in kleinem Kreis, ergaben sich in dem in oder anderen Zwiegespräch die ersten Differenzierungen, wenn man begann zu fragen, zu erzählen, oder zu hören, wie sich denn die Details dieser grandiosen Epoche für einzelne wirklich angefühlt hatten. Und noch eine letzte Episode möchte ich berichten. Diese hat sich erst jüngst während der aktuellen Arbeit an vorliegendem Text zugetragen: Als ich in einem Pausengespräch während einer Fortbildung erzählte, an einem Artikel über Caruso und die Zeit meines Studiums zu arbeiten, wurde ich von den jüngeren PsychologInnen spontan sehr bewundert und beneidet, dass ich das Glück gehabt hatte, eine so tolle 113 WB_65.indd 113 12.11.10 10:18 und interessante Zeit miterlebt zu haben. Wieder war ich irritiert, weil keine/r es wichtig fand, zu fragen, wie das denn damals für mich gewesen sei, mit Caruso. Allein durch die Erwähnung des Namens schien alles gesagt zu sein – diesmal in positiv-idealisierender Richtung. Innerhalb kurzer Zeit hatte ich als ehemalige Studentin eine Reihe von sowohl abwertenden und als auch idealisierenden Zuschreibungen erlebt. Zusätzlich haben mich einige Aussagen im schon erwähnten Beitrag „Carusos Erben“ von Karl Fallend in besonderer Weise angeregt und herausgefordert, mir selber die Frage zu stellen, inwieweit ich mich eigentlich selbst als „Carusos Erbin“ sehe, bzw. zu differenzieren, an welcher Stelle ich diese Bezeichnung für mich gelten lassen möchte und an welcher nicht. 114 WB_65.indd 114 12.11.10 10:18 Obwohl ich Caruso selbst nur zwei Mal gesehen habe, prägte er die Jahre meines Studiums entscheidend mit: als von älteren Kollegen, die bei ihm noch Vorlesungen gehört hatten, hochverehrter Professor; als Eminenz im Hintergrund, der eine fortschrittliche, gesellschaftskritische psychoanalytische Wissenschaftsauffassung repräsentierte, mit der ich mich bald identifizierte; als Symbol für jene Gruppe von Studierenden, die den legendären Kampf um eine adäquate Nachbesetzung von Carusos Lehrstuhl nach dessen Emeritierung in kreativer und mutiger Weise aufnahmen, und mit deren Zielsetzung ich mich solidarisierte. Auf der Basis der Akzeptanz dieses Einflusses ergibt sich für mich dennoch die Notwendigkeit von Differenzierung und auch Abgrenzung: Bezüglich meiner Arbeit über Ekstein ist mir eine Abgrenzung von der Zuordnung „Carusos Erbe“ besonders wichtig: Es war nicht Caruso, sondern der a.o.Prof. Sepp Schindler, der mit mir gemeinsam die historisch-biographische Fragestellung entwickelte, die Dissertation begleitete und begutachtete und der die nachfolgende Publikation als einen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Psychoanalyse würdigte und unterstützte. Zweitbegutachter war Eduard Grünewald. Eine direkte Erbschaft ist also nicht gegeben. Eine Erbschaft Carusos könnte demnach in meinem Fall höchstens eine indirekte sein und wäre davon abzuleiten, dass Caruso durch seine personellen Entscheidungen das psychologische Angebot am Institut jener Jahre entscheidend mit gestaltet hat. Wie dargestellt habe ich von der durch Caruso initiierten und geförderten freigeistigen Atmosphäre sehr profitiert. Diese Wirksamkeit gilt es –mit einem gewissen Stolz derjenigen, die dabei war – zu würdigen. Trotzdem finde ich es schade, die genuinen Beiträge und Forschungsansätze seiner Assistenten einer pauschalierten „Erbschaft“ zu subsumieren, statt diese selbst differenziert darzustellen und kritisch zu würdigen. So könnte in Vergessenheit geraten, dass es außer Caruso eine Anzahl von Lehrenden gegeben hat, die vielleicht weniger charismatisch und spektakulär, aber inhaltlich konsequent und fundiert ebenfalls Psychoanalyse lehrten und die die gesellschaftliche Bedingtheit 115 WB_65.indd 115 12.11.10 10:18 psychischer Phänomene einerseits und der psychischen Verankerung gesellschaftlich-politischer Zustände andererseits sehr wohl im Blick hatten. Für mich waren dies beispielsweise – und bei der Aufzählung handelt es sich um eine subjektiv begründete Auswahl – Ewald Englert, Johannes Reichmayr, Axel Krefting und eben Sepp Schindler. Diesen Lehrenden fühle ich mich in Wertschätzung bis heute verbunden. Sie haben mein Denken und meine Forschungsambitionen bis heute in entscheidender Weise beeinflusst: Bei Ewald Englert las ich Marcuse, Adorno, Fromm, Jacoby. Durch ihn habe ich begriffen, dass der „Charakter“, dessen Systematisierung, Kategorisierung und Pathologisierung im Rahmen der allgemeinen Psychologie- und Psychopathologievorlesungen betrieben worden war, nicht vom Himmel fällt, sondern durch gesellschaftliche Strukturen mit gestaltet und geschliffen wird. Englert brachte mir nahe, dass Persönlichkeitsmerkmale durch bestimmte historische Konstellationen begünstigt oder verworfen werden. Ich erfuhr, was „repressive Entsublimierung“ ist und die Aufmerksamkeit für dieses Phänomen ist mir bis heute hilfreich, wenn es darum geht, Funktionalität oder Subversivität scheinbar fortschrittlicher Prozesse zu verstehen. Bei Krefting und Reichmayr studierte ich die tiefenhermeneutische Methode in Theorie und Praxis. Wir analysierten die damals brandneu in die Kinos gekommenen Disney-Produktion „E.T.“ und ich begriff, dass Psychoanalyse nicht nur die Therapiesituation meint, sondern dass in ihrem methodischen Kern eine lebendige Auseinandersetzung mit der Buntheit kultureller Äußerungsformen mit angelegt ist. Durch die Lektüre von Devereux und Lorenzer eröffnete sich mir ein methodischer Zugang auf individuelle und gesellschaftliche Phänomene, der mir bis heute in Beruf und Alltag unverzichtbar geblieben ist. Weiters habe ich die Dozenten Krefting und Reichmayr stets als respektvolle und zum eigenen Denken ermutigende Lehrer erlebt. Sepp Schindler machte mir in seinen Vorlesungen und Seminaren zur Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie die sozio-kulturelle Bedingtheit jeder psychischen Entwicklung deutlich, vermittelte mir ein profundes Wissen über die Entwicklungspsychologie der verschiedenen Lebensphasen und ermöglichte mir an Hand des psy116 WB_65.indd 116 12.11.10 10:18 choanalytischen Modells den Einstieg in ein differenziertes Verständnis für die Dialektik von Natur-Kultur, von Individuum und Gesellschaft und von Körper und Psyche. Sepp Schindler begleitete auch meine Dissertation. Er bemühte sich auch Jahre und Jahrzehnte, nachdem seine Dissertanten und Dissertantinnen in verschiedenen Berufsfeldern untergekommen waren, den Kontakt zu ihnen zu halten und die Vernetzung zwischen seinen ehemaligen Schülern und Schülerinnen zu fördern. Bei Eduard Grünewald fand sich für manch psychoanalytisch interessierte/n Studierende/n eine Nische, mit einem psychoanalytischen Thema auch nach der Emeritierung Carusos unterzukommen. Und nun, Caruso: Während der Arbeit zu vorliegendem Artikel hab ich meine alten Kolloquienzeugnisse hervorgeholt. Zu meiner Überraschung besitze ich tatsächlich einen „Schein“ mit der Unterschrift Igor Carusos, wo er mir ein „Sehr gut“ für die Lehrveranstaltung „Einführung in die Tiefenpsychologie“ zuerkannte. Ich habe Caruso nie als Vortragenden in einer Lehrveranstaltung erlebt, geschweige denn ein Kolloquium bei ihm abgelegt. Es waren die Assistenten Landolt, Reiter und Englert, die die Vorlesung abhielten, aber so wie ihre Unterschriften auf den Zeugnissen nicht aufscheinen, drohen ihre Namen in der Geschichtsschreibung hinter dem Mythos Caruso zu verschwinden. In vielen Diskussionen ist mir das Argument begegnet, dass eigentlich alles, was am Institut rund um Psychoanalyse passiert ist, Carusos Wirken und seiner Erbschaft zuzuschreiben sei – allein aus dem Grund, weil er derjenige war, der die verschiedenen Lehrenden ans Institut berufen und dort gefördert hat. Dass Carusos Wirken eine bestimmte Atmosphäre hervorgerufen hat – wie immer man zu dieser auch stehen möchte –, ist unberufen. Seine Assistenten aber im Bausch und Bogen dieser Erbschaft zuzurechnen reduziert – wie ich ausgeführt habe – interessante persönliche und intellektuelle Unterschiedlichkeiten auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner und leistet damit der ohnehin schon bestehenden Überhöhung und Mythisierung von Caruso weiteren Vorschub. Eine kleine Polemik möchte ich mir an dieser Stelle nicht verknei117 WB_65.indd 117 12.11.10 10:18 fen: Wie weit soll man in dieser Erbfolge eigentlich zurückgehen? Wenn die, die bei Caruso und seinen Assistenten studiert haben, der Erbschaft Carusos zuzurechnen sind, Caruso seinerseits aber von Revers berufen wurde – müssen sich nun alle mit der Tatsache auseinandersetzen, auch die Erben von Revers zu sein? Dass die Gleichsetzung von Caruso mit „dem Institut“ immer noch wirksam ist, zeigt auch der Irrtum, der Fallend in seinem Beitrag unterlaufen ist, wenn er schreibt, „dass die Institutsgruppe Psychologie nach der Emeritierung Carusos 1979 und seinem Tod 1981 für den Fortbestand des Instituts kämpfte.“ (Fallend 2010:102). Nun war es doch so, dass durch die Emeritierung Carusos der Fortbestand des Instituts selbst nie zur Disposition gestanden ist. Der studentische Kampf bezog sich vielmehr auf die Nachbesetzung der freigewordenen Professur. Carusos Erbin? Der Klärungsprozess ist kein einfacher und noch nicht beendet. Wenn ich nun meine subjektive Sichtweise und meine bisherigen Überlegungen dazu in die öffentliche Debatte einbringe, so in der Überzeugung, dass es der Perspektiven verschiedener Zeitzeugen bedarf, um aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Vielfalt der Vermittlung von Psychoanalyse am damaligen Instituts aufzeigen, eines Instituts, das nicht nur das Carusos war. Dass dieser Erinnerungsprozess, in dem individuelle und kollektive Geschichte neu angeeignet und bewertet werden kann, ohne Idealisierung oder Abwertung der Person Carusos, des jeweils „anderen“ oder auch der eigenen Position vor sich geht, halte ich für die größte Herausforderung in diesem Unterfangen. Literatur: Fallend, K: „Carusos Erben“. Reflexionen in einer erhitzten Auseinandersetzung. In: Werkblatt Nr. 64, 1/2010:100-128 Oberläuter, Dorothea: Rudolf Ekstein – Leben und Werk. Kontinuität und Wandel in der Lebensgeschichte eines Psychoanalytikers. Wien, 1985. 118 WB_65.indd 118 12.11.10 10:18 0SYCHOSOZIAL6ERLAG Frauen beraten Frauen (Hg.) Sibylle Plogstedt InA nerkennung Knastmauke der Differenz Feministische Beratung und Psychotherapie 285 Seiten · Broschur · € 26,90 ISBN 978-3-8379-2045-1 Was verstehen wir heute unter feministischer Beratung und Psychotherapie? Diese Frage stellte »Frauen beraten Frauen« den Autorinnen, die in Fachartikeln, Dialogen und literarischen Texten darauf geantwortet haben. Der Sammelband verbindet Theorie und Praxis feministischer Beratung und Psychotherapie. Fallvignetten zeigen eine Themen- und Methodenvielfalt in der professionellen Beziehung von Frau zu Frau auf. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung 472 Seiten · Broschur · € 32,90 ISBN 978-3-8379-2094-9 Was ist aus den etwa 200.000 politischen Gefangenen der DDR geworden? Sibylle Plogstedt hat 25 von ihnen aufgesucht und festgestellt, dass die Helden und Heldinnen von einst heute in Armut leben. Ein Buch für alle, die sich für die deutsche Einheit interessieren und nicht wissen, warum heute ehemalige Funktionäre im Amt sind und nicht diejenigen, die für die deutsche Einheit gekämpft haben. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 06 41 - 969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de 119 WB_65.indd 119 12.11.10 10:18