WERKBLATT 65

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WERKBLATT 65
WERKBLATT 65
HEFT 2 / 27. JAHRGANG 2010
HERAUSGEBER:
ALBERT ELLENSOHN & KARL FALLEND
Susann Heenen-Wolff (Brüssel)
Grundsätzliches zur psychoanalytischen Technik.
aus französischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .3
Christian Kläui (Basel)
The dark side of love.
Überlegungen zu Eifersucht und Liebesübertragung . . . . . . . . . . . . .29
David Becker (Berlin)
Zwischen Trauma und Traumadiskurs.
Nachdenken über psychosoziale Arbeit im Gazastreifen. . . . . . . . . .50
Elisabeth Rohr (Frankfurt)
Die kurdische Schülerin – Eine Fallinterpretation . . . . . . . . . . . . . . .87
ERINNERN WIEDERHOLEN DURCHARBEITEN
Dorothea Steinlechner-Oberläuter (Salzburg)
"Carusos Erbin?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
SCHNAPPSCHÜSSE
Psychoanalyse in der Türkei.
Eine Unterredung mit Talat Parman in Istanbul.
Hale Usak, Klaus Posch, Monika Altenreiter. . . . . . . . . . . . . . . . . .120
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128
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Susann Heenen-Wolff, Studium
der Pädagogik in Jerusalem und
Frankfurt, Promotion zum Dr.
phil. "Über den Niederschlag der
Erfahrung von Antisemitismus
und Assimilation im Denken von
Freud". Gruppenanalytische Ausbildung in Heidelberg. Psychologiestudium an der Universität
Paris X (Nanterre) und einzelanalytische Ausbildung an der Société Psychanalytique de Paris. Heute
in Brüssel in freier Praxis tätig
und Lehranalytikerin an der Belgischen Gesellschaft für Psychoanalyse. Professorin für Klinische
Psychologie an der Universität
von Louvain (UCL) und der Freien Universität Brüssel (ULB) in
Belgien. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt "Psychoanalyse
und Freiheit", Peter Lang Verlag
2010.
[email protected]
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GRUNDSÄTZLICHES ZUR
PSYCHOANALYTISCHEN TECHNIK AUS
FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE
SUSANN HEENEN-WOLFF
Jene, die an Europäischen oder anderen internationalen Kongressen
teilnehmen, wissen, wie sehr sich die psychoanalytischen Kulturen
voneinander unterscheiden. Am Markantesten ist die Trennung zweifellos zwischen der sogenannten britischen Tradition auf der einen
Seite und der französischen Tradition auf der anderen.
Die großen Figuren der britischen Psychoanalyse sind in Deutschland recht bekannt, Melanie Klein, Winnicott, Bion, Betty Joseph,
Donald Meltzer, Margaret Mahler, Francis Tustin, Peter Fonagy. Auf
französischer Seite sehen wir Lacan, Laplanche und Pontalis mit ihrem
"Vokabular der Psychoanalyse", Janine Chasseguet-Smirgel, die mit
ihren Arbeiten über Weiblichkeit in den 70/80er Jahren in Deutschland
bekannt geworden ist, in letzter Zeit dann auch etwa Didier Anzieu und
vor allem André Green. Sie sind aber hierzulande längst nicht so geläufig wie die englischen Kollegen.
Ich möchte näher bringen, worin das Spezifische des französischen
Zugangs zum Unbewußten besteht.
Im Zentrum: der Text, die Übertragung, die Deutung
Jacques Lacan, der in der Welt wohl bekannteste französische Psychoanalytiker, hat die französische Psychoanalyse insofern entscheidend geprägt, als er mit seinem Credo einer "Rückkehr" zu Freud in
den 50er Jahren eine minutiöse, begeisterte und anhaltende Freudlektüre ausgelöst hat. André Green schreibt in diesem Zusammenhang:
"Wenn man von intellektueller Arbeit spricht, dann kann die einsetzende Lektüre in diesem ganz besonderen Klima jener Epoche nicht unerwähnt bleiben, wo man nicht mehr die bis dahin praktizierte ‚rasche
Lektüre' betrieb, vielmehr eine gründliche Studie der Freudschen Texte
begann" (Green, 1994, S. 96, eigene Übersetzung).
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Entsprechend Lacans Betonung der Wichtigkeit der Sprache und
demnach des verwendeten Wortes in der analytischen Sitzung, ist auch
der Freudsche Text als solcher ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit
geraten, manchmal mit geradezu an Bibelexegese erinnernder Hingabe! Vor eben diesem Hintergrund entstand übrigens das unersetzliche
"Vokabular der Psychoanalyse" von Laplanche und Pontalis. Das Werk
wird übrigens oft als Wörterbuch oder Lexikon mißverstanden. Sein
Ziel ist aber vielmehr, die grundlegenden Konzepte der Psychoanalyse, ihre Bedeutung und Entwicklung innerhalb der Freudschen Theoriebildung verständlich zu machen. Vor demselben historischen Hintergrund sind auch die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um
die aktuelle Neuübersetzung Freuds ins Französische unter Jean
Laplanches wissenschaftlicher Leitung zu verstehen: jeder im Französischen gewählte Begriff könnte potentiell die Freudsche Botschaft
verzerren oder gar verraten.
Wenn man mit nur einem Satz das Spezifische der klinischen französischen Psychoanalyse charakterisieren wollte, wäre es dieser: hier
wird ganz genau darauf gehört, was der Analysand tatsächlich sagt. In
der Supervision wird auf ein Stundenprotokoll Wert gelegt, allerdings
möglichst ohne Vorlage vorgetragen! Viele analytische Vorträge und
Aufsätze gehen vom Text einer einzigen Sitzung aus, um deren unbewußte Dynamik zu verstehen, und verzichten ohne Verlust auf eine
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Anamnese. Dieser Text ist der der freien Assoziation, die in Frankreich
ganz besonders "beim Wort" genommen wird. Dies ist auch einer der
Gründe dafür, daß französische Psychoanalytiker vergleichsweise eher
schweigsam sind. Wir wissen ja, daß jede Intervention oder Deutung
des Analytikers den Nachteil hat, die Assoziationskette des Analysanden zu unterbrechen. Jede Äußerung oder Deutung wird deshalb
gewöhnlich gut überlegt und oft nicht ausgesprochen.
Folgende Kennzeichen sind für die nicht-lacanianische französische
Psychoanalyse über die verschiedenen Richtungen hinweg typisch:
- die heftige Ablehnung der "amerikanischen" Ich-Psychologie, da
diese von konfliktfreien Zonen des Ichs ausgeht,
- das Festhalten an der Bedeutung des Infantil-Sexuellen und an der
Freudschen Triebtheorie und damit der Ökonomie des psychischen
Geschehens,
- die überragende Bedeutung der Übertragung und deren Deutung
und in diesem Zusammenhang die minutiöse Untersuchung des analytischen Prozesses und die Betonung der Funktionen des analytischen
Rahmens.
1951, auf dem 14. Kongreß der französischsprachigen Psychoanalytiker legte Daniel Lagache eine genaue Untersuchung der Theorie
der Übertragung vor und unterschied zwei verschiedene Ebenen von
deren Deutung:
- dem dynamischen Moment, das sichtbar macht, was sich im Hier
und Jetzt ereignet, die Natur und die Richtung der Erregungen in der
analytischen Situation.
- dem genetischen Moment, das zeigt, welche subjektive Vergangenheit gegenwärtig aktualisiert ist.
Die psychoanalytische Deutung zielt dementsprechend auf den
Übergang zwischen dem "Hier und Jetzt" und dem Wieder-Erinnern
dessen, was sich "damals und dort" ereignet hat.
Zehn Jahre nach dieser theoretischen Verortung grenzte sich Serge
Lebovici im selben Sinne und in Einvernehmen mit den meisten französischen Analytikern gegen die kleinianische Tradition ab. Vor allem
wandte er sich gegen die Tendenz, immer abstraktere, lebensgeschichtlich zu wenig verankerte Deutungen zu geben, in Begriffen wie dem
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"internalisierten" Objekt zu denken, ohne genau auf die jeweiligen
bedeutungsvollen Unterschiede in der Geschichte des Einzelnen einzugehen. Wir sehen hier die Ablehnung einer als allzu statisch und unhistorisch verworfenen Konzeption des psychischen Werdens. Francis
Pasche warf den Kleinianern gar vor, sie unterschieden nicht ausreichend zwischen topischer und zeitlicher Regression und würden deshalb neue, a-historische Phänomene ausmachen, die sie jedoch durch
ihre Haltung induzierten (dazu insbes. Barande, 1975, S. 86-89). Noch
kürzlich kritisierte Green, die Kleinianer hätten sich "dem Banner
eines einzigen Gesichtspunkts" untergeordnet, nämlich "jenem der
Entwicklung. (…) Melanie Klein behauptet, daß das, was sich mit der
ältesten Vergangenheit verbindet, notwendigerweise auch das ist, was
am Grundlegendsten und Determinierendsten für die Psyche ist"
(Green, 2000, S.16 f., eigene Übersetzung). Dies widerspricht dem
Freudschen Konzept des Traumas im Sinne eines nachträglichen
Geschehens.
In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Spezifikum der französischen Art, die Übertragung zu nutzen und zu deuten, zu verstehen. In
Frankreich wird, anders als in der Kleinianischen Tradition, viel in der
Übertragung gedeutet, um diese zu fördern und zu unterstreichen,
wohingegen die Deutung der Übertragung so empfunden wird, daß
diese die Übertragungsbewegungen letztlich dekonstruiert.
Verdrängung, unbewußte Verknüpfung, Befriedigungserfahrung,
halluzinatorische Wunschbefriedigung, Übertragung, Konstruktion,
Nachträglichkeit, dies sind für die französische Psychoanalyse die
wichtigen Schwerpunkte in der klinischen Arbeit. Psychoanalytische
Richtungen, die die reparative Funktion der analytischen Beziehung
vor dem Hintergrund realer kindlicher Traumata betonen, finden in
Frankreich wenig Widerhall. Anders als in der angelsächsischen Tradition wird das "Subjekt" nicht nur als in einem unauflösbaren Konflikt
zwischen Triebwelt einerseits und interaktiven Prozessen gehorchenden Erfordernissen einer Objektbeziehung andererseits begriffen,
sondern strukturell der Nichterfüllung seiner Wünsche ausgeliefert.
Letztlich sind es nicht Vater und Mutter, die am neurotischen oder
psychotischen Scheitern des Subjekts Schuld sind, es ist vielmehr die
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conditio humane an sich. Bei Lacan ist es die berühmte Funktion des
"Nom-du-père/non-du-père", die dem "Begehren" und dem "Imaginären" eine strukturelle Grenze setzt. Auch bei den französischen Freudianern hat das ödipale Gesetz unausweichlich strukturelle und somit
strukturierende Funktion. Dieses ödipale Geschehen ist allerdings
genetisch wesentlich früher angesiedelt als bei Freud. Und während
Lacans Konstruktion bei näherem Hinsehen die patriarchalische Struktur in Anlehnung an die christliche Dreifaltigkeit aufnimmt (der Vater
zwingt den Sohn zum Verzicht und auferlegt ihm und der Mutter sein
patriarchalisches Gesetz), heißt bei den französischen Freudianern das
primäre Objekt das "vom Tage" und das "von der Nacht". Gemeint ist
damit, daß die Mutter für das Kind teilweise zur Verfügung steht, teilweise aber eben auch nicht, zum Beispiel dann, wenn sie des Nachts
nicht mit dem Kind ist. "Zäsur" ("la césure de l'amante") wird diese
frühe, auf den späteren Ödipuskomplex verweisende und vorbereitende kindliche Erfahrung genannt (Braunschweig/Fain, Le jour, la nuit,
und auch: Le Guen, L'oedipe précoce). Diese strukturalistische Akzentuierung hat beispielsweise in den 60er und 70er der Selbstpsychologie
Kohutscher Ausrichtung den Eingang in die französische Psychoanalyse versperrt; auch die intersubjektivistische Strömung in der zeitgenössischen Psychoanalyse findet in Frankreich wenig Widerhall. Die
Übertragung wird als die eines strukturellen, essentiellen und notwendigen Mangels angesehen; deren virtuelle Beschaffenheit zuungunsten
der analytischen Beziehung, die auf ein reales Objekt zielt, wird unterstrichen.
So schreibt etwa André Green, der große zeitgenössische Theoretiker der Psychoanalyse, über das Geschehen in der analytischen Sitzung: "Seine Gedanken aussprechen, als ob man allein wäre, und doch
zu jemandem Abwesend-Anwesenden sprechen; dies führt dazu, daß
dem äußeren Empfänger ein innerer Empfänger entspricht, ein anderes
Objekt, das niemand anderes ist als das Subjekt selbst, bzw. ein Teil
von ihm" (Green 2000, S. 73, eigene Übersetzung). Man sieht auch
hier die Betonung der virtuellen Qualität des analytischen Raumes.
Dieser (vergangenen) Realität kommt in dem Sinne Aufmerksamkeit zu, wie sich die Erlebnisse auf der Phantasieebene des Subjekts
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heute auswirken. Im Zuge einer Neupositionierung innerhalb der
Übertragungsbeziehung können Assoziationen, Wünsche, Phantasien,
Träume des Analysanden, die während der Analyse auftauchen, nachträglich auf seine Vergangenheit wirken, was eine ökonomische Neuorganisation erlaubt, eine Umgestaltung der Imagines und so der
inneren Welt des Analysanden allgemein.
Didier Anzieu, der vor allem durch seine Forschung über Freuds
Selbstanalyse und seine Arbeiten über psychische Hüllen, das "HautIch", bekannt geworden ist, definierte die Deutung so: "Die korrekte
Deutung reproduziert die Freude des Kindes, durch einen symbolischen Vorgang das verlorene Objekt wiederzufinden" (Anzieu, 1970,
zit. nach Barande, S. 93, eigene Übersetzung).
René Roussillon, bedeutender Theoretiker ganz besonders der spezifischen Denkprozesse der "Grenzfälle" (Borderline), definiert in
diesem Sinne das Ziel des analytischen Prozesses: "Mögliches Ziel der
analytischen Arbeit ist nicht, ‚letzte' Inhalte aufzudecken, den ultima
ratio eines unbewußten Motivs (..). Es handelt sich eher darum, die
psychische Arbeit von den Auswirkungen einer Verkennung der inneren spezifischen Zwänge zu befreien, das heißt, das dadurch beeinträchtigte assoziative Geschehen zu befreien" (2001, S. IX, eigene
Übersetzung).
Der Narzißmus
Der Narzißmus hat in der französischen Psychoanalyse kein so eindeutiges metapsychologisches Eigenleben angenommen, wie etwa in
der angelsächsischen Tradition, ist vielmehr stets in Zusammenhang
mit der Triebentwicklung, insbesondere der Autoerotik gedacht worden. Jean und Evelyne Kestemberg sind von einem "Selbst" ausgegangen - verstanden als ein im Werden begriffenen Ich -, das die primärnarzißtische Beziehung in der Autoerotik, später in der Lust am eigenen Geschehen, am eigenen "Funktionieren" auslebt. Sie meinten, man
könne diese Lust am eigenen Funktionieren der phallischen Besetzung
analog ansehen oder schlichtweg als Besetzung des gesamten Körpers.
Dies sei eine Antwort auf die Kastrationsangst im Rahmen des sekun8
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dären Narzißmus. Jedenfalls wird die narzißtische Entwicklung - ebenso wie die des Kindes - nicht ohne die große Bedeutung der autoerotischen Besetzung des Körperselbst gedacht. Hier liegt ein Grund,
warum die Selbstpsychologie in der französischen Psychoanalyse
nicht heimisch geworden ist. Die Abwesenheit von "pleasure-seeking",
das Suchen nach lustvollen Erlebnissen bereits in der frühen Entwicklung des kleinen Menschenkindes, wie etwa bei Fairbairn, wird als
entscheidendes Defizit angesehen.
Die sekundärnarzißtische Besetzung des Selbst, diese Lust am eigenen Funktionieren, spielt nach französischer Auffassung im analytischen Prozeß eine zentrale Rolle - die Entwicklung der Fähigkeit zur
freien Assoziation hat unter anderem die Funktion, die Besetzung des
Selbst wiederherzustellen oder zu verstärken: der Analysand, wenn er
sich der freien Assoziation nur überläßt, wird ganz allein die passenden Deutungen für sein psychisches Geschehen finden, was dem
sekundären Narzißmus dann wiederum förderlich ist. In diesem
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Zusammenhang ist der Tatbestand zu verstehen, daß in Frankreich
Psychoanalytiker ganz besonders schweigsam sind. Sie schweigen,
weil sie auf die Kraft und die Wirksamkeit des Zuhörens im Rahmen
des analytischen settings setzen.
Ich möchte das psychoanalytische Zuhören systematisieren, um
anschaulich zu machen, wodurch sich dieses auszeichnet.
Die spezifische Qualität des abwartenden, gleichschwebend aufmerksamen Zuhörens ist in der Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten theoretisch wenig behandelt worden. Allerdings hat der englische
Psychoanalytiker Christopher Bollas vor einigen Jahren auf einem
Europäischen Kongreß betont, daß seiner Auffassung nach Psychoanalytiker aus seiner analytischen Kultur zu viel während der Sitzung
sprechen.
Mit unserem Patienten schließen wir einen Vertrag: freies Sprechen
in einem präzisen Rahmen mit Zusicherung von Diskretion und Neutralität: Freud: "Das macht den Eindruck, als strebten wir nur die
Stellung eines weltlichen Beichtvaters an. Aber der Unterschied ist
groß, den wir wollen von ihm nicht nur hören, was er weiß und vor
anderen verbirgt, sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiß"
(Freud 1938, S. 99).
Damit es dazu kommen kann, bedarf es eines präzisen Rahmens:
geschlossener Raum, Diskretion hinsichtlich des Gesprochenen,
sprachlicher Austausch ohne Körperkontakt, die explizite Aufforderung frei zu sprechen, ein fester zeitlicher Rahmen. Der Analytiker
wird weitestgehend zu vermeiden suchen, die psychischen Produktionen seines Patienten durch Ratschläge, Erklärungen, Suggestion oder
Ermunterung zu beeinflussen. Es geht ja nicht primär darum - wie etwa
in der Verhaltenstherapie -, daß der Patient seine konkrete Lebens- und
Erlebensweise direkt verändert, vielmehr zielen wir im analytischen
Prozeß darauf, daß der Patient sich über sein eigenes Denken klar
wird, das heißt, seine psychische Realität erkennt.
Der analytische Rahmen, insbesondere das Couch-Sessel-setting,
fördert topische, zeitliche, formale und libidinöse Regression beim
Patienten, die ihm eine Rückkehr in die Vergangenheit gestattet, insbesondere zu früheren Wünschen und deren Schicksal. Wir können in
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diesem Zusammenhang von neuerlich ausgelösten Triebregungen, die
in den meisten Fällen seit langem verschüttet waren, sprechen. Man
könnte auch sagen, daß der analytische Rahmen mit seinem Übertragungsangebot neuerlich die Wunschmaschine des Patienten anwirft,
was dann Auslöser zunächst positiver Übertragung, dann konturierter
Übertragungsbewegungen und somit Motor von Veränderung sein
wird.
Das gleichschwebende Zuhören begünstigt auch beim Therapeuten
eine formale Regression, die ihm erlaubt, seine psychische Aktivität in
den Dienst des Hörens auf das, was der Patient sagt, aber vor allem
nicht sagt, zu stellen. Zudem begünstigt das abwartende Zuhören die
Bildung von "Ideenketten" beim Patienten: Wenn der Analytiker sich
nicht in einen Austausch mit dem Patienten einläßt, dann sagt dieser
erst das eine, dann kommt er zu etwas anderem, dann zu etwas Drittem, zwischendurch schweigt er vielleicht und wechselt so im Verlauf
der Stunde von einem Thema zum anderen.
Solche Ideenketten führen schrittweise zu den latenten Gedanken.
Deren sprachliche Veräußerung verleiht diesen ein neues Gewicht,
eine andere Realität, und führt so zu Veränderung oder Neumodellierung der inneren Welt und ihrer Objekte. Ich möchte jetzt ein Fallbeispiel vorstellen, um die Entwicklung von Ideenketten zu illustrieren,
die nur bei abwartendem Zuhören des Analytikers entstehen, von
Interventionen dagegen unweigerlich unterbrochen werden.
Es handelt sich um einen dreißigjährigen jungen Mann, der mich
wegen seiner, in seinen Augen zu großen Hemmungen aufsucht. Im
Erstgespräch hatte er von einem autoritären Vater gesprochen und
seine Mutter als eine Frau geschildert, die sich für die Familie aufopferte und unter der Fuchtel dieses hochfahrenden, manchmal gar sadistischen Mannes stand. Zu Beginn der Therapie kommen dem Analysanden viele schmerzhafte Begebenheiten aus seiner Kindheit und
Adoleszenz, an die er schon lange nicht mehr gedacht hatte, wieder in
den Sinn. Oft hatte er als Kind beschämende Situationen vor allem mit
dem als sadistisch erlebten Vater erleben müssen. Es entsteht daneben
das Bild einer deprimierten, in sich selbst gekehrten, wenig zugänglichen Mutter, die für ihre Kinder nur sehr wenig Einfühlung zeigte.
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Ich höre diesen Schilderungen gleichschwebend aufmerksam zu,
ohne daß ich viel dazu zu sagen gehabt hätte.
Das abwartende Zuhören tut dann seine Wirkung, da sich der Patient durch mein Schweigen implizit ermuntert oder gedrängt fühlt,
weiter zu sprechen. Das Schweigen des Analytikers hat ja strukturell
destabilisierende Wirkung. Zunächst wird es als stille Anteilnahme
empfunden, schließlich führt das kontinuierliche stille Zuhören aber zu
einem Trauma a minima, und evoziert deswegen weiteres Sprechen.
Theodor Reik merkte in diesem Zusammenhang an: "Langsam
ändert das Schweigen des Psychoanalytikers seine Bedeutung für den
Patienten. Es ist ihm etwas eingefallen, was er nicht gern sagt oder was
schwierig zu sagen ist. Er spricht über andere Dinge, fühlt jedoch, daß
er etwas unterdrückt. Dann schweigt er wie der Psychoanalytiker. Die
Situation scheint zum ersten Mal zwar noch nicht unmöglich, aber zum
ersten Mal unbehaglich. Der Patient, der so empfindet, beginnt wieder
über Nebensächlichkeiten und Banalitäten zu sprechen, der beiseitege12
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schobene Gedanke kommt jedoch wieder zurück. Es ist, als wolle er
ausgesprochen werden und erzwingt Schweigen, da er in jeden anderen Gedankengang eindringt und stört. Der Patient kann sich jetzt
vielleicht hilfesuchend an den Analytiker wenden, aber dieser schweigt,
als sei dies das Natürlichste auf der Welt, als zähle es nicht, daß man
sonst jegliche verlegen machende Stille vermeidet." (Reik, S. 140f.).
Kommen wir zu meinem Patienten zurück: Durch das vorangehende Erzählen der unterschiedlichen Begebenheiten, und ohne daß ich
Deutungen hätte geben müssen, kommen zum Bild einer kalten Mutter
allmählich noch weitere Attribute hinzu. So erinnert er sich, daß seine
Mutter morgens niemals aufstand, um das Frühstück für ihre drei Kinder zuzubereiten; diese mußten ab einem noch recht jungen Alter
allein, sich jeweils auf die anderen Geschwister stützend, zurechtkommen. Er fragt sich, was die Mutter wohl machte, und meint, sie hätte
wohl gerne ausgeschlafen. Wir sehen hier eine erste Anspielung auf
seine noch vorbewußten Phantasien hinsichtlich des Innenlebens der
Mutter. Wenig später kommt ihm folgende Begebenheit in den Sinn:
Er war an einem Sommernachmittag im elterlichen Garten und spielte.
Dann tauchte die Mutter auf und warf ein Holzscheit auf zwei kopulierende Katzen.
Als der Patient dies berichtete, war Erschrecken seinerseits fühlbar,
sich diese Szene sprechend zu vergegenwärtigen, denn sie brachte
seine Mutterimago in Gefahr.
Wir sehen hier jedenfalls, daß mit dem bloßen Erzählen dessen, was
dem Patienten in den Sinn kommt, mit der Bildung von Ideenketten
also, sich das Bild der Mutter zu verändern beginnt. Neben ihrer
depressiven Abwesenheit wird ihre antisexuelle Passion deutlich; und
zur Vorstellung einer vor allem kalten Mutter gesellt sich das einer
Frau mit autoerotischer Aktivität, mit Eigenleben - jedenfalls morgens
im Bett.
Es braucht dann nur noch einen kleinen Schritt, bis der Patient eine
Beziehung zwischen der bisherigen Mutterimago - die Mutter als
Opfer des Vaters - und seiner allgemeinen Gehemmtheit und der
besonderen gegenüber Frauen sieht. Er entdeckt, daß er bisher solche
Schwierigkeiten hatte, sich als Mann in seiner Haut wohl zu fühlen,
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weil er ein Schwarz-Weiß-Bild der Elternbeziehung in sich trug: der
sadistische, durchwegs negativ gesehene Vater mißhandele die nur
deprimierte Mutter. In diesem Sinn hatte er seine Gehemmtheit bisher
auf sein negatives Bild vom Vater zurückgeführt.
Dagegen meint er jetzt, daß das Ablehnen seiner Mutter all dessen,
was mit Sexualität zu tun hat, vielleicht auch zu seinem negativen
Selbstbild als Mann beigetragen hat. Diese neue Sicht ermöglicht ihm
allmählich, seine Überzeugung, Frauen seien in erster Linie die Opfer
von Männern, so wie die Mutter Opfer des Vaters gewesen sei, aufzugeben. Und eine erste Bresche ist geschlagen, um zu einer Neupositionierung gegenüber dieser phantasierten Urszene zu gelangen.
Noch einmal: keine einzige verbal ausgesprochene Deutung war
notwendig gewesen, um dem Patienten zu dieser ersten Veränderung
der Elternimagines zu verhelfen. Das abwartende Zuhören hatte dazu
geführt, den Patienten auf Dahinterliegendes, Latentes, zu verweisen,
ihn zur Bildung von Ideenketten veranlaßt, und so seine Repräsentanzenwelt erweitert.
Christopher Bollas unterstreicht die Tatsache, daß die Logik solcher
Ideenketten sich nur im Rückblick enthüllen kann. "Die Bindungsfäden zwischen den Assoziationen residieren in den unbewussten Verbindungen unter den anscheinend unverbundenen manifesten Inhalten.
Um dahin zu gelangen, muß der Analytiker mit möglichst freiem Geist
zuhören. Wenn der Analytiker durch eine selektierende Haltung in
seinem Zuhören blockiert ist, wenn er auf der Kante seines Sessel
lauert, um zum Beispiel eine Übertragungsdeutung im Hier und Jetzt
zu geben, dann wird er nicht nur niemals freie Assoziationen hören,
sondern diese vielmehr zerstören. Mit seiner Deutung wird er die
Assoziationskette unterbrechen und den Analysanden von freiem Denken abhalten" (Bollas, 2006, EPF Bulletin 60, S. 153). Das häufigste
Problem sei, so meint Bollas vor dem Hintergrund seiner Supervisionserfahrungen, daß der allzu aktive Analytiker durch Interventionen
"bereits zu Beginn der Stunde die Möglichkeit freier Assoziation zerstört" (op.cit. S. 159).
Wie kann man sich erklären, daß die nach Freud zentrale Bedeutung
des freien Sprechens, der Bildung von Ideenketten und das neutrale
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zurückhaltende, gleichschwebend aufmerksame Zuhören zur Aufspürung unbewußter Vorstellungen in den letzten Jahrzehnten in der Psychoanalyse zunehmend in den Hintergrund geraten ist? "Mit der Zeit
ist es dazu gekommen", schreibt Bollas, daß Analytiker "ihre Ziele
verändert haben und jetzt mit Modellen arbeiten, die davon ausgehen,
daß das Bewußtsein des Therapeuten das Unbewußte des Patienten in
situ beobachten, erfassen oder deuten kann. Dies ist psychologisch
aber nur möglich, wenn wir uns die Theorie vom Unbewußten aus dem
Kopf schlagen" (op.cit., S 157).
Vor allem die Einführung von Hypothesen zu psychischen Defiziten, entstanden in der frühen Objektbeziehung, hat zu dieser Entwicklung, so meine ich, beigetragen. Freud hatte den Seelenzustand des
Individuums als Ergebnis eines Prozesses, in erster Linie eines psychischen Kräftespiels verstanden: zwischen Unbewußtem und Bewußtsein, zwischen Über-Ich, Ich und Es. Der Patient präsentiert also einen
von der Abwehr ausgehandelten Kompromiß, im besten Fall eine
strukturierte Neurose, im schlechteren Fall eine Psychose mit der
damit einhergehenden selbstgeschaffenen Neo-Realität. Wenn man
nun psychisches Leid metapsychologisch vor allem als Resultat von
Defiziten denkt, dann gerät der intrapsychische Konflikt zwischen
Triebwunsch, Ich und Über-Ich aus dem Blickwinkel.
Nun haben wir aber nach Freud in der Analyse niemals sozusagen
mit dem ehemals traumatisierten Kind zu tun. Mit dem Freudschen
Konzept der Nachträglichkeit wissen wir, daß jede Erfahrung, traumatisch oder nicht, im Nachhinein in die Vorstellungswelt des Individuums eingebunden werden kann, und auf diese Weise dieser ursprünglichen Erfahrung nachträglich neue, andere Bedeutungen zukommen.
So kann etwa eine frühere traumatische Erfahrung im Nachhinein
sexualisiert werden, was überhaupt erst den häufig so masochistisch
gefärbten Wiederholungszwang verständlich machen kann. Wenn wir
also in der Analyse glauben, mit dem "Kind im Erwachsenen" zu tun
zu haben, dann sind wir von der Freudschen Auffassung unbewußter
Prozesse weit entfernt. Das uns vom Patienten präsentierte psychische
Erleben und Geschehen kann jedoch nur Produkt von Vorstellungsund Denkprozessen des erwachsenen Patienten sein.
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In diesem Sinn sind auch geäußerte Emotionen sozusagen mit Vorsicht zu genießen, da sie unbewußte Affekte und Repräsentanzen verbergen können. Aus Freudscher Perspektive kann man jenen Analytikern, die zu allererst den Wert des emotionalen Austauschs zwischen
Therapeut und Patient in einem Übergangsraum (Winnicott) unterstreichen, die folgende kritische Frage stellen: Wie evaluieren sie die
"Wahrhaftigkeit" der bewußt empfundenen Emotion, denn diese kann
einen unbewußten dahinterliegenden Affekt, gekoppelt an unbewußte
Phantasien, verschleiern!
Nun wird oft dieser Freudschen Haltung entgegengehalten, daß das
freie Assoziieren und das Deuten der Psycho-Logik von Ideenketten
für neurotisch strukturierte Patienten ja einschlägig sein kann, es aber
mit narzißtisch gestörten, Borderline- oder psychotischen Patienten
nicht anwendbar sei, da diese zu freier Assoziation, d.h. zur Bildung
unbewußt sinnvoller Ideenketten nicht fähig seien. Dieses Argument
kommt freilich der Diagnose von Hirntod gleich. Jeder Schizophrene
oder sonstwie psychiatrisch Kranke denkt selbstverständlich, wie der
Durchschnittsneurotiker, in Ideenketten. Freuds Theorie der freien
Assoziation ist bei näherer Hinsicht eine Theorie der bewußten und
unbewußten Denkvorgänge überhaupt, die übrigens von der aktuellen
neuropsychologischen Forschung bestätigt wird.
Etwas anderes ist die Fähigkeit, diese Ideenketten produktiv in der
Therapie zu verwenden. Unsere Patienten sind mehr - oder eben weniger - fähig, sich auf ihr eigenes Denken zu beziehen, dieses zuzulassen,
ihm sein Recht einzuräumen, es zu beobachten und schließlich verstehend zur Kenntnis zu nehmen. Die Art und Weise des abwartenden
Zuhörens des Analytikers wird dabei eine ganz entscheidende Rolle
spielen. Nur wenn dieser darauf vertraut, daß die Ideenketten des
Patienten das Entscheidende zutage fördern werden und eine entsprechende Haltung einnimmt, wird auch der Patient sich entsprechend
einstellen können.
Ich möchte festhalten:
1) Abwartendes Zuhören löst die Äußerung von Ideenketten - freie
Assoziation - aus. Das Aussprechen von Ideen hat eine Rückwirkung
auf den Sprechenden.
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2) Abwartendes Zuhören verweist den Patienten auf Dahinterliegendes; auf latente Vorstellungen und damit verbundenes Agieren.
3) Abwartendes Zuhören im analytischen Rahmen ist unbewußt ein
Äquivalent der frühen Mutterfunktion.
4) Abwartendes Zuhören bahnt die Fähigkeit, in Gegenwart der
Mutter allein zu sein.
5) Abstinentes Zuhören ermöglicht dem Patienten einen Subjektivierungsprozeß, das heißt Erlebtes mit der eigenen inneren Realität in
Verbindung bringen.
1) Abwartendes Zuhören löst die Äußerung von Ideenketten - freie
Assoziation - aus
Wir haben in meinem Fallbeispiel gesehen, inwieweit das abwartende Zuhören Ideenketten und somit Latentes zutage gefördert hat. Bei
meinem Patienten hat die durch das abwartende Zuhören ausgelöste
Ideenkette zur Erinnerung an die antisexuelle Passion der Mutter und
dem damit einhergehenden Verständnis einer der Gründe für seine
Hemmungen geführt. Dadurch ist es zu einer Neupositionierung der
inneren Objekte bzw. Imagines gekommen.
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Das Aussprechen von Ideen hat eine Rückwirkung auf den Sprechenden
"Der Patient ist oft leicht erschrocken über das, was er gerade
gesagt hat, und dennoch erleichtert, weil er es gesagt hat. Das Schweigen des Analytikers wirkt hier ermutigend und bewirkt mehr, als es
Worte könnten (Reik, S. 142). Als mein Patient darüber sprach, daß
seine Mutter ein Holzscheit auf die kopulierenden Katzen geworfen
hatte, war er in der Tat erschrocken. Dies paßte wenig zum Bild einer
gedemütigten unterjochten Frau, das er lange Zeit von seiner Mutter in
sich getragen hatte. Sein Erschrecken war nicht nur dieser neuen Sicht
geschuldet, vielmehr auch der damit implizit geäußerten Anklage der
Mutter wegen ihrer Grobheit. In der Analyse war dies die erste aggressiv getönte Bewegung der Mutter gegenüber.
Keine Intervention hätte hier Platz gehabt, die stille retroaktive
Wirkung des Ausgesprochenen reichte völlig aus. Wir kennen sicherlich alle die Erfahrung, wie sehr sich unsere Lage ändert, wenn wir es
"einmal gesagt" haben!
"Es ist eine erstaunliche und kaum, beachtete psychologische Tatsache, daß den eigenen Worten, wenn sie einmal ausgesprochen sind,
eine andere Wertung beigelegt wird, als wir uns es in Gedanken vorstellen. Das gesprochene Wort hat eine reaktive Wirkung auf den
Sprecher. Das Schweigen des Analytikers intensiviert diese Reaktion;
es funktioniert als Resonanzboden. Ein Analytiker, der eine Zeitlang
dieses innere Ringen verfolgt, bekommt immer mehr den Eindruck,
daß sich zwischen Kräften, die nach Ausdruck verlangen, und denen,
die sie zum Schweigen bringen wollen, ein Kampf abspielt". (Reik, S.
141).
2) Abwartendes Zuhören verweist auf Dahinterliegendes; auf latente
Vorstellungen und damit verbundenes Agieren
Bereits durch das Erwähnen der Grundregel: "Sagen Sie einfach,
was Ihnen so kommt" bedeuten wir unseren Patienten bereits, daß wir
uns nicht damit zufrieden geben, was sie zunächst vortragen, das
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Symptom oder Problem vielmehr in Klammern setzen zugunsten einer
umfassenderen Erforschung ihres psychischen Realität.
Unser Zuwarten bedeutet dem Patienten während der gesamten
Analyse, daß niemals alles gesagt ist, es vielmehr immer noch Latentes
und Unausgesprochenes hinter den geäußerten Worten gibt.
Dieses Zuwarten-Zuhören ist der Garant dafür, daß Therapeut und
Patient sich nicht zu rasch darauf einigen, was das "eigentliche" Problem des Patienten sei, bzw. was dessen "eigentliche" Gefühle sind.
Hinter jeder Emotion, die geäußert wird, können, ich sage es noch
einmal, unbewußte Affekte und Bilder stehen. Deshalb führt das aktiv
emphatische Eingehen auf den Patienten häufig direkt am unbewußten
Konflikt vorbei, da es vorschnell zu einer Einigung führt, worin das
Problem des Patienten bestehe.
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Dies ist ganz besonders augenfällig im Umgang mit mißbrauchten
Patienten/Patientinnen. Oft wird hier davon ausgegangen, daß dieses
traumatische Erlebnis an sich Kern der Psychopathologie sei. Das
durch den Mißbrauch ausgelöste psychische Kräftespiel, die Art und
Weise, wie dieser in die innere Welt eingebaut wird und zu aktuellem
Agieren führt, ist aber nur dann erforschbar, wenn sich über die Bedeutung des Mißbrauchs nicht vorschnell geeinigt wird. In Belgien, aber
nicht nur dort, gibt es inzwischen spezifische therapeutische Ausbildungsgänge für die Behandlung von mißbrauchten Patienten und Patientinnen. Aus psychoanalytischer Perspektive ist dies mit dem Versuch, Unbewußtes zu ergründen, natürlich überhaupt nicht zu vereinen. Dasselbe gilt für Überlebende von Folter, Genozid und Konzentrationslager. Wer solche Menschen vor dem Hintergrund des real
Erlebten bereits psychopathologisch einordnet, versperrt den Weg zur
Erforschung des Unbewußten und reduziert überdies das Individuum
auf reales Geschehen.
Das Schweigen des Analytikers hat insofern deutenden Charakter,
als es die Dinge offen läßt, das Weitersprechen und Weiterwünschen
auslöst, ohne bereits irgendeine Bedeutung deutend zu fixieren. Die
Interventionen des Therapeuten haben ja immer auch die unerwünschte Begleiterscheinung, das freie Sprechen oder Assoziieren des Patienten zu stören und Bedeutungszusammenhänge durch deren Evozierung
zu arretieren.
Dazu kommt, daß sich das Sprechen des Patienten nur scheinbar an
den Therapeuten richtet. Die Zurückhaltung hinsichtlich des Sprechens trägt dazu bei, den Analytiker als präsente Person in den Hintergrund geraten zu lassen, und dies ist Voraussetzung für die Entstehung
eines virtuellen Raumes, in dem sich Probedenken und -phantasieren
ausdrücken kann. Dem Patienten wird so bedeutet, daß der Analytiker
sich nicht als direkter Adressat einer Botschaft sieht. Nur dann kann
man die Übertragungsbewegungen des Patienten berücksichtigen, die
sich ja unbewußt an die primären Objekte richten. Wenn der Therapeut
viel spricht, bietet er sich unweigerlich als reales Objekt an und tritt
damit aus der, ihm vom Patienten übertragenen Bedeutung heraus.
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3) Abwartendes Zuhören im analytischen Rahmen hat unbewußte
Äquivalenz der frühen Mutter.
Ich habe bereits gezeigt, inwieweit abwartendes Zuhören dem Patienten einen stillen Raum, einen Resonanzboden zur Verfügung stellt,
der unbewußt wie eine frühe haltgebende Mutter erlebt wird, die hilft,
innere Erregung auszuhalten und zu temperieren. Im Schweigen kann
man das Niveau der präverbalen Beziehung ansiedeln und die damit
verbundene wohltuende, strukturierende Funktion. Die Position des
Analytikers ähnelt ja in der Tat der der frühen Mutter: es ist eine rezeptive Position, die Zurückhaltung fordert, die Fähigkeit zu schweigen,
Passivität, eine Warteposition, die erst die gleichschwebende Aufmerksamkeit möglich macht. Solche Rezeptivität ist Ergebnis psychischer Regression, die den Analytiker empfänglich macht für unbewußtes Material des Patienten. Dazu gehört auch, verwirrende, unverständliche Sequenzen auszuhalten, die es zunächst mit wohlwollendem
Interesse stehen zu lassen gilt. Dies alles sind Haltungen, die auch die
ausreichend gute Mutter ihrem Kind gegenüber einnimmt.
Eng verbunden mit dieser Äquivalenz der frühen Mutter-KindBeziehung ist die Fähigkeit des Patienten, sich allein in Präsenz der
Mutter denken zu können.
4) Die Fähigkeit, in Gegenwart der Mutter allein zu sein
Wir wissen mit Winnicott, daß die Fähigkeit des Individuums, allein
zu sein, einer der wichtigsten Zeichen affektiver Reife darstellt. "Die
Fähigkeit zum Alleinsein [ist] fast vollständig synonym mit emotionaler Reife" (Winnicott, 1958, S. 39).
Dabei gilt nach Winnicott: "Die Grundlage der Fähigkeit, allein zu
sein, ist (..) ein Paradoxon; es ist die Erfahrung, allein zu sein, während
jemand anders anwesend ist" (ibid, S. 38). Bei vielen unserer Patienten
mangelt es an dieser Fähigkeit, und Abhängigkeit von anderen, von
deren Präsenz und Wertschätzung für die Aufrechterhaltung des narzißtischen Gleichgewichts beherrscht das Feld. Dies wiederholt sich
dann mit dem Analytiker und mündet in immer wiederholte Sätze wie:
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"ich verstehe das nicht", "ich weiß nicht", "meinen Sie nicht auch?".
Wenn der Therapeut auf freundliche, aber stille Weise dieses Suchen
begleitet, wird der Patient mit der Zeit angstfreier sich seinen Gedanken überlassen, das heißt allein in Gegenwart des Analytikers sein
können.
Christopher Bollas sagt vor dem Hintergrund seiner minutiösen
Untersuchung des Sprechverhaltens in der analytischen Therapie:
"Einer der bemerkenswertesten Aspekte unserer Arbeit ist die Entdekkung, daß die meisten Analysanden explizit oder implizit Fragen in
den Sitzungen stellen. So als ob es einen Wissenstrieb gibt, der unbewußte Fragen stellt und unbewußte Antworten ausarbeitet. Es ist tatsächlich so: wenn ein Patient eine explizite Frage stellt, dann wird er
in den meisten Fällen kurz darauf diese Frage mit seinem Sprechen
beantworten" (Bollas, 159). Man kann dies dem Analysanden aufzeigen und ihm auf diese Weise vermitteln, daß er auf sich selbst zählen
kann.
Nach Winnicott ist die Mutterbeziehung Matrix von Übertragung
überhaupt.
"Nur wenn er allein ist (d.h. in Gegenwart eines anderen Menschen), kann der Säugling sein eigenes personales Leben entdecken.
Die pathologische Alternative ist ein falsches, auf Reaktionen auf
äußere Erregungen aufgebautes Leben. Wenn der Säugling allein ist,
und zwar in dem Sinn, in dem ich den Ausdruck gebrauche, und nur
wenn er allein ist, kann der Säugling das tun, was man beim Erwachsenen ‚entspannen' nennen würde. Der Säugling kann unintegriert
werden, herumtasten, in einem Zustand sein, in dem es keine Orientierung gibt; er kann in der Lage sein, eine Zeitlang zu existieren, ohne
ein auf äußere Anstöße Reagierender oder ein aktiver Mensch mit
gerichtetem Interesse oder gerichteter Bewegung zu sein. Der Schauplatz ist für ein Es-Erlebnis vorbereitet. Mit der Zeit kommt eine Empfindung oder ein Impuls. In diesem Rahmen wird die Empfindung oder
der Impuls sich real anfühlen, und wirklich ein eigenes Erlebnis sein"
(Winnicott, S. 42f). Eben dieses Geschehen wäre, was durch das stille
Zuwarten in der Therapiesitzung erreicht werden könnte. Und um noch
einmal Winnicott zu zitieren: "Eine große Zahl solcher Erfahrungen
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bildet die Grundlage für ein Leben, das anstatt Vergeblichkeit Realität
in sich hat. Das Individuum, das die Fähigkeit zum Alleinsein entwikkelt hat, ist ständig in der Lage, den persönlichen Impuls wieder zu
entdecken, und der persönliche Impuls wird nicht vergeudet, weil der
Zustand des Alleinseins etwas ist, was (wenn auch paradoxerweise)
immer bedeutet, daß jemand anders da ist" (ibid. S. 43).
Abstinentes Zuhören ermöglicht dem Patienten in diesem Sinne
einen Subjektivierungsprozeß.
5) Abstinentes Zuhören ermöglicht dem Patienten einen Subjektivierungsprozeß
Der Begriff der "Subjektivierung" findet sich nicht in den psychoanalytischen Wörterbüchern, ich möchte ihn deshalb hier definieren.
Subjektivierung heißt: Erlebtes in subjektive Realität umwandeln,
sich aneignen; Erlebtes mit der eigenen inneren Realität in Verbindung bringen; sich Erlebtes nach dessen Umwandlung aneignen;
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Subjektivierung ist also Ergebnis der psychischen Fähigkeit, sich in
Beziehung zur äußeren Realität über das eigene Geschehen, die inneren psychischen Vorgänge und Vorstellungen, Klarheit zu verschaffen.
Nur das Sprechen des Patienten kann eine solche Symbolisierung des
Erlebten und der damit verbundenen Gedanken, Phantasien, Affekte
hervorbringen.
Zuwarten bedeutet, daß die Antworten nicht vom Analytiker kommen können, sondern sich aus dem Prozeß ergeben werden, das heißt
vom Patienten selbst. Die im Laufe einer Therapie gewonnene Lust, in
der Sitzung in Gegenwart des Therapeuten zu denken, kann man als
Äquivalent von gelungenem Autoerotismus ansehen, was wiederum
auf den sekundären Narzißmus wohltuende Wirkung ausübt.
Zum Abschluß noch einmal aus französischer Perspektive: Warum
reden wir zuviel?
Meine Erfahrungen als Supervisorin von jungen, aber auch weniger
jungen Therapeuten und Analytikern konfrontieren mich immer wieder mit dem Phänomen, wie groß die Versuchung scheint, mit dem
Patienten in eine Gesprächssituation zu gleiten, aus dem einfachen
Grund, daß abwartendes Zuhören vom Analytiker selbst als unzureichend empfunden wird, dieser vielmehr dem Patienten möglichst rasch
neue Sichtweisen anbieten will. Er interveniert und versperrt damit
dem unbewußten Denken des Patienten die notwendige Zeit, damit die
Dinge zum Vorschein kommen können. Dann befinden sich Patient
und Analytiker im Widerstand gegen unbewußtes Material, meiner
Erfahrung nach oft negative Übertragung. Bollas meint, daß eine überraschend große Anzahl von Analytikern nicht offen sind "für die
Sequenzlogik und [sie] verpassen die Methode der freien Assoziation
total. Sie können dies selbst ganz einfach feststellen, wenn Sie analytische Schriften lesen und darauf achten, wie selten die Sequenzlogik
erwähnt wird. Dabei war dies der Dreh- und Angelpunkt des Freudschen Zuhörens und seiner Theorie der Technik, aber es ist äußerst
selten, dies in der Literatur wiederzufinden" (Bollas, S. 164).
Bereits Theodor Reik machte eine analoge Erfahrung: "Meine
Erfahrung lehrt mich, daß nach der Anfangsphase der Analyse, während der wir mit der Persönlichkeit des Patienten bekannt werden,
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seine Erlebnisse erfahren und die Art seiner Konflikte, Symptome,
Hemmungen und Ängste erkennen, normalerweise eine Zeit der Verwirrung und Unsicherheit folgt, eine Art chaotischer Leere. Wir tappen
im Dunkeln und können nicht sehen, wohin wir gehen. Wir sind nicht
nur verwirrt und ratlos, sondern auch leicht ungeduldig und sogar ein
bißchen ängstlich, wenn wir diese leisen Gefühle auch noch so gut
verbergen können. Wir sind ungeduldig gegenüber dem Analysanden,
weil wir selbst ungeduldig sind. Weshalb verhält er sich so unvernünftig? Warum flüchtet er sich in seine neurotischen Symptome, anstatt
der Realität ins Auge zu sehen und seine Schwierigkeiten wie ein
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erwachsener Mensch zu überwinden? Weshalb diese Spitzfindigkeiten
und Seltsamkeiten, diese überflüssigen Ängste, diese quälenden
Gedanken, Phobien und Zwänge? Welche Verschwendung emotionaler
und intellektueller Energie, die besser verwendet werden könnte! Wir
verstehen es nicht und sind deshalb ungeduldig. Wir schweben in
Ungewißheit und sind sehr weit davon entfernt, alle Antworten zu
wissen. Unsere anfängliche Sympathie dem Patienten gegenüber
scheint gefährdet zu sein, weil wir so schrecklich begierig darauf sind,
ihn ‚zu verstehen'" (Reik, S. 147).
"Der Psychoanalytiker muß lernen, wie einer zum anderen ohne
Worte spricht. Er muß lernen, mit dem dritten Ohr' zu hören. Es stimmt
nicht, daß man schreien muß, um verstanden zu werden. Wenn man
gehört werden will, dann flüstert man" (Reik, S. 165).
Therapeutisches "Helfen-wollen", aktive Unterstützung richten näher betrachtet - Schranken auf, Schranken gegen das Unbewußte
und damit auch Schranken gegen Neues, das möglich werden könnte.
Das zuwartende Schweigen des Analytikers wird in Frankreich jedenfalls in diesem Sinne theoretisch begründet.
Bibliographie:
Barande I, Barande R (1975) Histoire de la psychanalyse en France. Privat,
Toulouse
Bollas, Christopher (2006), Vom Unbewußten erarbeitete Transformationen,
EPF Bulletin 60, 144-173
Braunschweig D, Fain, M (1975) La nuit, le jour. Essai psychanalytique sur le
fonctionnement mental. PUF, Paris
Freud (1895) Studien über Hysterie
(1905) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
(1912) Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung.
(1924) Kurzer Abriß der Psychoanalyse
(1938) Abriß der Psychoanalyse
Green A (1994) Un psychanalyste engagé. Conversations avec Manual
Macias. Calmann-Lévy, Paris
Green A (2000) Le temps éclaté. Les Editions de minuit, Paris
Reik, Theodor, [1948], 1976, Hören mit dem dritten Ohr
Roussillon R (2001) Le plaisir et la répétition. Théorie du processus psychique.
Dunod, Paris
Winnicott, DW. (1958), Die Fähigkeit, allein zu sein, in: Reifungsprozesse und
fördernde Umwelt, Frankfurt, Fischer, 1988, 36-46
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Neu im VS Verlag
Bernd Nitzschke (Hrsg.)
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nachvollziehbar und verständlich zu machen. Als didaktisches Mittel
werden dabei vornehmlich Freuds eigene Worte – sorgfältig zusammengestellt, aufbereitet und kommentiert – eingesetzt, die in sechs
Kapitel gruppiert sind: Basiskonzepte, Methode der freien Assoziation,
Sexualitätskonzept, Theorie der psychischen Erkrankung, Behandlungskonzept und Kulturtheorie.
Änderungen vorbehalten. Stand: Oktober 2010.
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Wissen entscheidet
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Christian Kläui, geb. 1952,
Ausbildung zum Psychiater und
Psychoanalytiker in Zürich, Rom
und Basel, Psychoanalytische
Privatpraxis in Basel. Mitherausgeber des "RISS. Zeitschrift für
Psychoanalyse" Viele Publikationen zu klinischen Themen der
Psychoanalyse. Autor des Buches
"Psychoanalytisches Arbeiten.
Für eine Theorie der Praxis"
erschienen 2008 im Verlag Hans
Huber/Bern.
[email protected]
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THE DARK SIDE OF LOVE
ÜBERLEGUNGEN ZU EIFERSUCHT
UND LIEBESÜBERTRAGUNG
CHRISTIAN KLÄUI
Eifersucht
Eifersucht - das ist mein Einstieg ins Thema: Zu Eifersucht finden
wir bei Freud nicht allzu viel. Es gibt eine Arbeit von 1922, die explizit dazu Stellung nimmt: Über einige neurotische Mechanismen bei
Eifersucht, Paranoia und Homosexualität.
"Die Eifersucht gehört zu den Affektzuständen, die man ähnlich wie
die Trauer als normal bezeichnen darf." So beginnt Freud. In der Analyse, so fährt er fort, erweist sich die Eifersucht als dreifach geschichtet: Neben der normalen oder konkurrierenden Eifersucht kann man
auf projizierte und drittens auf wahnhafte Eifersucht stossen. Die
konkurrierende Eifersucht ist komplex zusammengesetzt aus Schmerz
um das verloren geglaubte Liebesobjekt, narzisstischer Kränkung,
Selbstkritik bezüglich des eigenen Versagens in der Liebesbeziehung,
Feindseligkeit gegenüber dem Rivalen resp. der Rivalin und möglicherweise auch aus umgekehrten homosexuellen Beimengungen. Sie
hat ihre unbewussten Quellen in ödipalen und Geschwisterrivalitäten.
Die projizierte Eifersucht wurzelt in eigenen Untreueregungen auf
Grund der beständigen Versuchungen, die das Beziehungsleben links
und rechts begleiten. Untreueregungen, die verleugnet und auf den
Partner projiziert werden, der ja wohl "auch nicht viel besser ist als
man selbst". Die wahnhafte Eifersucht schliesslich "entspricht einer
vergorenen Homosexualität": "Als Versuch zur Abwehr einer überstarken homosexuellen Regung wäre sie (beim Manne) durch die Formel
zu umschreiben: Ich liebe ihn ja nicht, sie liebt ihn." (GW XIII, 195ff)
Die Eifersucht ist für Freud nicht nur Ergebnis dieser Affektkonstellationen, sondern selbst auch Ausgangspunkt für weitere Umwandlungen: Aus dem "Mutterkomplex" stammende eifersüchtige Regungen
gegenüber älteren Brüdern können vom Jüngling unter dem Einfluss
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der Erziehung und der Ohnmacht dieser Regungen umgewandelt werden in homosexuelle Liebe, die aus den ursprünglichen Rivalen die
ersten Liebesobjekte macht. (GW XIII, 205f) Das ältere Geschwister
wiederum möchte das nachkommende eifersüchtig verdrängen, kann
aber nicht ohne eigenen Schaden an seiner feindseligen Regung festhalten und wird so zur Identifizierung mit den andern Kindern
gezwungen. So entstehen Gemeinschaftsgefühle in Kinderstube und
Schulzimmer, aber auch Identifizierungen wie diejenige der schwärmerisch in den Popstar verliebten Frauen untereinander.
Soweit Freud. Zweierlei fällt auf:
1. Der wiederkehrende Bezug zu Norm und Normalität und
2. Das durchgehende Erklärungsmuster aus dem Gegensatz und der
Verstrickung von Eros und Aggression.
Auf den ersten Punkt kann ich hier nicht ausführlich eingehen: die
Frage, welche Bedeutung der Normbegriff bei Freud hat, ist viel zu
komplex und wäre ein Thema für sich.1 Nur einen Hinweis möchte ich
geben: Freud scheint im Zusammenhang mit Eifersucht von Norm vor
allem in einer Hinsicht zu sprechen: Als Zurückweisung nämlich einer
grundsätzlichen Pathologisierung der Eifersucht und mehr noch als
Zurückweisung der Pathologisierung der in der Eifersucht wirkenden
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Triebkomponenten: Egoismus, feindselige und aggressive Wünsche,
homosexuelle Regungen: all das ist "normal". Wir können nicht so tun,
als ginge uns alle das nichts an. Das scheint mir die strategische
Bedeutung zu sein, weswegen Freud das Normale der Eifersucht
betont.
Damit bin ich beim zweiten Punkt: Die grausamen, aggressiven,
feindseligen Regungen, die Freud in der Eifersucht am Werk sieht und
die sich mit liebenden Gefühlen und mit Trauer vermengen können.
Vor allem die Geschwisterbeziehungen sind die Brutstätte der feindseligen Einstellungen: Freuds Argumentation, dass wir die Geschwister
- mindestens in einem Teil unseres Herzens - am liebsten wieder weg
haben möchten, ist nahe bei dem, was er im fast zeitgleichen Text über
Die Verneinung entwickelt: Das ursprüngliche Urteil, das wir fällen, ist
eins des Aufnehmens oder Ausstossens: Mit dem will ich nichts zu tun
haben, ich will es am liebsten los sein.
Die feindseligen Wünsche sind indes nicht immer sofort sichtbar,
denn sie fallen auch unter die Verdrängung und können unter dem
Druck der Erziehung und der Realität sich soweit umwandeln, dass sie
gar Liebesbeziehungen begründen. Mischung, Verwandlung ins
Gegenteil und projektive Umkehrung der Stossrichtung, all das spielt
hier eine Rolle.
Vereinfacht könnte man sagen, Eifersucht ist für Freud aus dem
Wechselspiel der beteiligten Triebregungen und der ihnen geltenden
Abwehrbemühungen zusammen gesetzt. Freud interessiert sich eigentlich die Ingredienzen der Eifersucht, für die einzelnen beteiligten
Triebregungen und ihr funktionelles Interagieren, die sich wie die
sieben Sachen zum Eifersuchtskuchen zusammenbacken.
Nun gibt es aber auch die daraus fertig gebackene Eifersucht als
eigenständiges Phänomen. Und diese bleibt in Freuds Optik vielleicht
etwas unterbestimmt: Das Phänomen Eifersucht selbst wird, bevor es
eigens in den Blick kommt, schon Gegenstand der Ingredienzen-Analyse. Vielleicht entsteht daraus der Eindruck, dass Freud vieles erfassen kann, was klinisch zweifellos und immer wieder von grosser
Bedeutung ist, dass seine Ausführungen über die Eifersucht aber doch
auch manches zu fragen übrig lassen.
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Ich kann das Thema gewiss nicht erschöpfend weiter behandeln und
möchte mich darauf beschränken, einen neuen Gedanken auszuführen:
Mein Ausgangspunkt ist folgende Beobachtung: Wenn wir an der
Oberfläche des Phänomens Eifersucht bleiben, so fällt gewiss ihr bohrender und quälender Charakter auf. Bohrend und quälend im doppelten Sinne: dass der Eifersüchtige sich in die innersten Regungen seines
Partners bohren will und ihn damit, ohne Ruhe geben zu können, quält
einesteils. Und dass sich die Eifersucht in uns Eifersüchtige selbst
hineinbohrt und uns ruhelos quält andernteils.
Eifersucht, um es simpel zu sagen, hält sich nicht an die Tatsachen,
sondern an die Möglichkeiten. Wer eifersüchtig ist, ist Spezialist des
schlimmen Verdachts. Wo auch immer eine Gelegenheit sein könnte,
wo auch immer die Möglichkeit zur Untreue des oder der Geliebten
sein könnte, da wird sie gewittert und im kleinsten Zeichen schon
quälend als schiere Wahrheit erlebt. Auch ohne einen Eifersuchtswahn
auszubilden, ist der Eifersüchtige auf die kleinsten Zeichen abonniert,
die sich im nie ganz lückenlosen Alibi seines, seiner Geliebten als
Versuchungskeime aufspüren lassen. Im Unterschied zum Wahnhaften
behandelt er diese Zeichen nicht mit Gewissheit, sondern mit der
quälenden Unruhe des immer nochmals Fragen-Müssens: "Hätte es
nicht doch sein können?" "Und wenn sie/ er mir das sagt, was lässt sie/
er da wieder aus?" Usw. Mit diesem unablässigen Bohren in der
Lücke, die jede Aussage und jede Wahrnehmung zwangsläufig haben,
quält er/ sie sich selber oder auch seine Partnerin/ ihren Geliebten, bis
diese es kaum mehr ertragen können. So beschäftigt sich, wer richtig
eifersüchtig ist, ständig mit dem geliebten Anderen und ist doch
meilenweit von ihm entfernt.
Eine Analysantin lebte mehrere Jahre in heimlicher Beziehung mit
einem verheirateten Mann, der dann seine Frau wegen ihr verliess. Sie
hatte das nicht erwartet und sein Entscheid überraschte sie. Als sie nun
ein "offizielles" Paar geworden waren, war sie bald von quälendsten
und heftigsten Eifersuchtsattacken heimgesucht, die nicht nur auftraten, wenn ihr Freund mit einer anderen Frau sprach, sondern etwa auch
wenn er einer anderen Frau möglicherweise Blicke hätte zuwerfen
können. Es musste gar nichts Konkretes vorgefallen sein, allein die
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Möglichkeit, dass etwas von ihr unbemerkt, heimlich - in ihrer Anoder Abwesenheit - hätte vorgefallen sein können, brachte sie in allergrösste Erregung. Ja, die Beziehungen, die er tatsächlich zu anderen
Frauen unterhielt, waren für sie weit weniger bedrohlich. "Wenn er
seine Frau wegen mir betrügen und verlassen konnte, dann kann er das
auch mit mir tun", so musste sie denken - und wie hätte sie da jemals
Sicherheit und Vertrauen finden können. Seine Art - zuverlässig, vernünftig, mit einem sehr geregelten Leben - war für sie gerade wegen
seines überrumpelnden Entscheids für sie fragwürdig geworden. Er
war ein offensichtlich etwas zwanghafter Mensch, dem sich das eigene
Gefühlsleben nicht leicht erschloss und der zu Aussagen neigte, die die
eigenen Ambivalenzen verkannten und daher für sie auch nie ganz
schlüssig sein konnten. So musste sie ihn in ihrer wütenden Eifersucht
immer wieder schütteln und rütteln, um das aus ihm herauszukriegen,
was er "wirklich" dachte, was seine "wirkliche" innere Wahrheit war
- und was sie nie finden konnte. Gerade das letzte Quentchen Ungewissheit bei all seinen Treuebekundungen verletzte und irritierte sie
masslos und quälend. Und gerade darauf richtete sie unablässig ihr
ganzes Interesse. So entstand eine Dynamik, die die Liebesbeziehung
der beiden spaltete: Es gab die durchaus harmonische Liebesbeziehung
mit einem reichen Schatz gemeinsamer Interessen, gegenseitiger Anregungen und wechselseitiger Faszination - und es gab jenen dämonischen Rest, den sie immer wieder und mit all ihrer Leidenschaft durch
all seine Charakterhüllen hindurch suchen musste und aus ihm herausschütteln wollte. Und diese leidenschaftliche Bezogenheit auf das in
ihm, was sich ihr und genauso ihm selbst entzog, erschütterte,
erschwerte, ja verunmöglichte zeitweise ihre Liebesbeziehung. Es gab
da etwas, das quer zur Liebesgeschichte lief und nicht zur Ruhe kommen konnte und diese mit unerbittlich grausamer Konsequenz zu zersetzen drohte. Und es gab, ich werde später darauf zurückkommen, ein
interessantes sexuelles Symptom.
Das ist sicher eine besondere, aber nicht wirklich aussergewöhnliche Geschichte, es ist der Kern wohl jeder rechten und das heisst leidenschaftlichen Eifersucht.
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Viele kennen wohl Michelangelo Antonionis Film blow up aus den
60er Jahren: Die Hauptfigur, ein aus Langeweile und Überdruss seinen
Models gegenüber ekelhafter Fotograf, findet auf Aufnahmen, die er in
einem Park gemacht hat, zufällig Hinweise auf einen Mord: Auf den
Fotos könnte eine Leiche abgebildet sein und im Gebüsch zeigt sich
ein undeutliches Etwas, das eine Waffe, eine Pistole vielleicht, sein
könnte. Doch bei all seinem Bemühen setzt es sich im Bild nicht scharf
zusammen, nur im Kopf des Fotografen. Am nächsten Tag findet er
dann tatsächlich eine Leiche im Park, die aber bei einem weiteren
Besuch verschwunden ist; in sein Atelier wird eingebrochen und die
Negative verschwinden. Er hat nur noch den vergrösserten Abzug
eines Fotos, die von den Einbrechern nicht gefunden worden war.
Doch ist auf der Vergrösserung das Korn so grob, dass man weder
Leiche noch Waffe sicher erkennen kann. Der Fotograf, davon nun
gänzlich in Bann gezogen, versucht mit allen Mitteln, den Fleck, der
die Leiche sein könnte, scharf hinzukriegen und es gelingt ihm nicht.
Es ist nicht mehr als ein Etwas, das seine Bedeutung auf immer entzieht.
In der Eifersucht geht es auch um ein solches Etwas, das nie mit
Sicherheit und nie eindeutig festgestellt werden kann. Die Eifersucht
betrifft eine Frage, die letztlich nie beantwortet werden kann und
darum geradezu dafür geschaffen ist, nie aufhören zu können, uns und
unsere Lieben zu plagen. In einem modifizierten Sinne finde ich hier
wieder drei Schichten, aus denen sie sich zusammensetzt: Da ist
zunächst die schmerzhafte Eifersucht, die auf die reale Untreue des
oder der Geliebten reagiert. Das indes ist nicht die Eifersucht, die wir
meinen, wenn wir von jemandem sagen, er sei ein eifersüchtiger
Mensch. Da meinen wir eine Eifersucht, die sich, ohne durch ausgelebte Untreue bestätigt zu sein, allein an den möglichen heimlichen
oder auch mitgeteilten Phantasien des andern entzündet. (Im Sinne von
Freuds: Denken ist Probehandeln). Und, besonders heillos, weil in
keiner Weise auszuräumen, die Eifersucht, der es schon genügt, dass
der andere ein Unbewusstes hat und es demzufolge immer möglich ist,
ihm oder ihr eine Untreueregung zu unterstellen, von der er oder sie
selbst nichts weiss. Da genügt allein der Verdacht, dass er oder sie in
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dieser oder jener Situation hätte in Versuchung kommen können oder,
ohne dass er oder sie es überhaupt selbst gemerkt haben muss, versucht
gewesen ist.
Bei meiner Analysantin drehte sich alles um den Blick: Welche
Blicke warf ihr Partner wohin? Blicke, von denen er vielleicht selber
gar nichts wusste, die aber seine unbewussten Wünsche - möglicherweise - verrieten. Blicke, die sie sah, Blicke, die sie nicht sah. Blicke,
die auf sie trafen und von ihr schweiften, ohne dass sie sie anhalten
konnte. Ohne dass sie wissen konnte, wohin sie schweiften. Die Liebe
ihres Partners galt ihr, seine Liebe blühte in ihrem Garten. Sein Blick
indes liess sich nicht einfangen, wie ein Vogel kam er in ihren Garten
und flog wieder weiter.
Was können wir über diesen Blick sagen? Wie das "Etwas" in Antonionis Film ist er das, wovon meine Analysantin gebannt ist, das sie
immerfort einzufangen sucht und das sich ihr doch nie in einer "wahren", gültigen Bedeutung erschliesst. Im Blick des Freundes, in dem
körnigen Etwas auf der Fotografie bleibt ein ungezügelter Rest, der
sich nicht in den Koordinaten der Liebesbeteuerungen und des Beziehungsblablas einfangen lässt. Da gibt es ein Etwas, das nicht mit einer
Bedeutung zusammengebracht werden kann, ohne dass diese sofort
wieder brüchig würde. In der Eifersuchtsinquisition wird etwas verhandelt, was eine Grenze des Alltagsgeredes markiert. Sie verweist
und aktualisiert etwas, worüber wir gewöhnlich hinweggehen: Wir
gehen für gewöhnlich davon aus, dass wir uns schon ungefähr verstehen und dass wir uns gegenseitig bemühen, das zu hören, was der
andere uns sagen will und was er meint. Dass dabei immer ein Rest
bleibt, der auch anders hörbar wäre, dass immer auch Bedeutungen
mitschwingen können, die nicht gemeint waren, übergehen wir im
Alltag gelassen. Nicht so indes in der Eifersucht: Diese hört noch den
scheinbar belanglosesten Rest, verdächtigt noch die argloseste Formulierung, gibt noch dem unmerklichsten Zögern und dem leisesten
Stolpern Beweiskraft. Im Deuten kann sie kein Analytiker übertreffen.
Im eifersüchtigen Blick auf den Blick des andern, im suchenden Fokus
von Antonionis Fotografen ist es gerade dieser gewöhnlich unbeleuchtete Rest, der grell als das eigentliche Problem hervortritt.
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Und mehr noch: Es zeigt sich, dass dieser Rest auch so etwas wie
die organisierende Kraft ist, um die sich das ganze Geschehen dreht:
Weil er sich nie ganz aufklären und befriedigend fassen lässt, muss er
immer wieder umkreist werden und wird zum Kern immer neuer Fragen: Was sucht Dein Blick? Was sagt er über Deine Wünsche? Was bin
ich für diesen Deinen Blick? Wie kann ich es sein, die in den Fokus
Deines Blickes kommt? Vergehend vor Empörung und Wut, schwelgend in der eigenen Schmach malt sich der Eifersüchtige rund um
diesen Rest die lebhaftesten voyeuristischen Phantasmagorien aus mit einem sichtlichen Geniessen also, das an das "ihm selbst unbekannte Geniessen" des Rattenmannes erinnert.
Freud hat die triebhaften Ingredienzen der Eifersucht analysiert und
ich habe nun im Versuch, das Phänomen Eifersucht selbst zu umreissen, ihre objektale Seite in den Blick bekommen: Das Ergebnis,
schnell gesagt, ist Folgendes: Das Objekt der Eifersucht ist nicht einfach das "Liebesobjekt", d.h. der oder die geliebte Andere. Das Objekt
der Eifersucht ist aber auch nicht einfach der gehasste oder insgeheim
homosexuell besetzte Rivale. Bei der so genannten begründeten Eifersucht, die auf gelebte Untreue reagiert, mag das zwar so erscheinen.
Doch zeigt die so genannte unbegründete Eifersucht, wie sehr ihre
Leidenschaft sich querlegt zur Liebesbeziehung. Denn ihr Objekt ist
ein merkwürdiges, nicht recht fassbares Etwas, das wir im Herzen des
Liebesobjektes am Werke vermuten und das wir am Ursprung des
bewussten und mehr noch des unbewussten Begehrens des geliebten
Mitmenschen vermuten und zu fassen bekommen und auf uns lenken
wollen. Und wenn wir's nur genügend darauf abgesehen haben, setzen
wir unseren Geliebten ganz schön zu und bohren uns recht quälend
durch ihren schönen Schein hindurch.
Um dieses unfassbare Objekt kreisen die Triebe in der Eifersucht:
In der Eifersucht zielen meine Triebe auf dich, aber nicht auf dich,
insofern als du das bist, was ich bewundere und was meine Ideale
verkörpert, oder insofern als du das bist, was mich schützt und nährt.
Meine Triebe zielen auf dich, aber nicht auf dich, insofern du mein
Liebesobjekt nach dem narzisstischen oder nach dem Anlehnungstypus bist. Sondern sie zielen auf dich und durch dich hindurch auf das
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Etwas, das dein Begehren ankurbelt: Das will ich aus dir und durch
dich hindurch herauskitzeln (wenn's gut geht), herausfragen (wenn's
mühsam ist), herausbohren (wenn's grausam wird).
Für dieses Etwas als das Objekt, das im Liebesobjekt steckt und
doch nicht das Liebesobjekt ist, gibt es bei Lacan einen Begriff, der
seine Unfassbarkeit herausstreicht: Es ist das Objekt a.
Die Eifersucht ist natürlich nur eine mögliche Spielart meiner
Suche nach diesem nie ganz fassbaren Objekt a. Die Eifersucht macht
auf manchmal dramatische Weise deutlich, dass ich in dir, den/ die ich
liebe und durch dich hindurch etwas suche, das sich dir selbst entzieht
und das etwas anderes ist, als all das, was du mir als Geliebter, als
Geliebte bedeutest.
Es gibt natürlich auch andere - und vielleicht weniger grausame Möglichkeiten, wie Liebe und Suche nach dem Objekt a ineinander
greifen können. Bestenfalls in einer gelingenden Liebesbeziehung. Im
Lieben ist das Objekt a sozusagen ein betörender Duft, der den oder
die geliebte Andere auszeichnet. Da bleibt dann der Unterschied von
Liebesobjekt und Objekt a meist verhüllt und demzufolge - auch für
die theoretische Darstellung - in seinem Wirken viel weniger plastisch
erfahrbar als in der Eifersucht, die überall den Duft des Verdachts wittert wie ein Abgrund, der sich im Andern auftut.
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Auch dafür, für das Wirken des Objekt a in der gelingenden Liebessituation, möchte ich ein Beispiel geben - diesmal aus der
Literatur. In einem Gedicht des spanischen Literaturnobelpreisträgers
Juan Ramon Jimenez finden wir mit knappsten Mitteln herausgestellt,
wie die Suche nach dem Objekt a gerade das ist, was die Liebe
betörend macht:
Ich entblätterte dich wie eine Rose,
um deine Seele zu erblicken,
und ich sah sie nicht.
Aber alles rund herum
- Horizonte der Länder und Meere alles, bis ins Unendliche
wurde von einem
durchdringenden Duft erfüllt2.
Wir haben nun einige Dinge zu präzisieren, die am Beispiel der
Eifersucht ins Spiel gekommen sind:
1. Das Liebesobjekt: Das ist der oder die andere, so wie wir sie Freud zufolge - entweder im narzisstischen Modus oder im Anlehnungstypus auswählen. Im Liebesobjekt finden wir also jemanden, der
entweder meinen narzisstischen, imaginären Idealen entspricht, all
dem, wie ich gerne sein möchte. Oder wir finden jemanden, von dem
wir uns genauso geschützt, genährt und umsorgt fühlen können, wie
von den ersten Bezugspersonen, (so dass sich die Objektwahl an die
Befriedigung der Ichtriebe anlehnt) (Zur Einführung des Narzissmus,
GW X, 154).
In Lacans Worten: das Liebesobjekt, das ist der imaginäre andere,
der unsere Vorstellungswelt eben im narzisstischen oder im Modus der
Ichtriebe bedient.
2. Das Objekt a demgegenüber ist ein immer fehlendes, nie fassbares Reales, das am Ursprung unseres Begehrens wirkt: Es ist als solches nie ganz erreichbar, denn es ist das, wovon uns das Leben immer
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schon getrennt hat und mit dem wir uns nicht wieder vereinigen können: In der Logik der Freud'schen Partialtriebe ausgedrückt, ist das
zunächst die Mutterbrust, von der wir uns "abzustillen" haben, dann
der Kot, als Inbegriff dessen, was sich von uns abtrennt, aber auch der
Blick des Andern, unter dem wir uns als Gestalt, in unserer imaginären
Ganzheit wahrnehmen können, der aber auch gerade das ist, was aus
dem in sich kohärenten und geschlossenen Bild, das sich unserem
Sehen präsentiert, herausfällt. Wir können uns das Objekt a in diesen
Partialobjekten "imaginieren" in Hinsicht auf das Triebfeld, das in
jeder konkreten Analysesituation dominiert: Wir können, was in Analysen zur Sprache kommt, daraufhin untersuchen, ob es einen eher
oralen Zugang zum Liebesobjekt markiert, oder einen eher analen,
phallischen oder skopischen - wie im Falle meiner Analysantin. Aber
das Objekt a bleibt doch als solches immer unzugänglich und zwar
insofern, als es nicht möglich ist, sich mit dem wieder zu vereinigen,
wovon wir getrennt sind.
Wir können das Objekt a folglich mit Freuds Gedanken des Todestriebs in Verbindung bringen: In der Psychoanalyse wissen wir, dass
es mit dem Wünschen etwas auf sich hat, das nicht funktioniert: Wir
können uns nicht mit einer Logik begnügen, die untersucht, was ein
Subjekt sich wünscht, und wie es geschieht, dass der Wunsch in Handlung und Erfüllung übersetzt werden kann. Die Psychoanalyse zeigt,
dass in der Befriedigung der Wunsch nicht verschwindet, sondern
immer weiter will auf einem nie ganz erfüllbaren Weg. Eine vollständige Wunscherfüllung, so hat es der späte Freud herausgearbeitet, wäre
das Werk des Todestriebes und hiesse in die Stummheit eines vorgeschichtlichen Zustands verfallen. Das Leben, das Werk des Eros, ist
zunächst nichts anderes als Ablenkung vom Triebziel des Todestriebes.
Aber insofern als das Objekt auch für Freud auf den Spuren des verlorenen Objekts gesucht wird, kann sich der Eros nicht einfach vom Sog
des Todestriebes freimachen und ins Weite schweifen. Seine Bewegung ins Offene wird immer wieder vom Todestrieb auf das Verlorene
hin zurückgebeugt und so entsteht eine Art Kreisbahn des Trieblebens,
auf der wir viel Neues erfahren und schaffen können und doch immer
auch das Determinierte wiederholen müssen. Im Kern dieser Kreis39
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bahn steht bei Lacan das Objekt a, das in seiner Unerreichbarkeit den
Platz des verlorenen Objekts bei Freud einnimmt, in seiner patialtriebhaften Ausformung aber auch den Weg des Eros prägt.
Lacan gibt diesem Freud'schen Gedanken folgende Wendung: Für
ihn ist das Objekt a so etwas wie der Motor des psychischen Geschehens überhaupt, insofern es um Wunsch und Trieb geht: Die Trennungssituation schafft einen Mangel, der als das nie zu stillende Unruhezentrum unser Begehren und triebhaftes Streben verursacht. Deswegen ist für Lacan das Objekt a nicht einfach das angestrebte Objekt,
sondern das, was er Objekt-Ursache des Begehrens nennt.
Die Spaltung von Liebesobjekt und Objekt a, die wir in der Eifersucht feststellen konnten, tritt hier als Spaltung in das imaginäre
Objekt, auf das wir unsere Liebe richten, und in das reale - zwar vorstellbare, aber nie erreichbare - Objekt als Ursache unseres unbewusssten Wünschens zutage.
Ich möchte diesem Unterschied von imaginärem Liebesobjekt und
realem Objekt a noch etwas weiter folgen in Hinblick auf seine Konsequenzen für unser Beziehungsleben: Auf der Ebene des Liebesobjektes ist es einfach, sich vorzustellen, dass die Verhältnisse reziprok sein
können, d.h. dass es eine sexuelle Beziehung gibt, die auf Gegenseitigkeit, Erfüllung und geteilten Gefühlen beruhen kann. Die Gefühle sind
reziprok, das sagen uns auch die Intersubjektivitätstheorien und so
handhaben wir es häufig etwas unbedacht im Umgang mit der Gegenübertragung.
Indes wird auch rasch ersichtlich, dass dies auf der Ebene des
Objekts a so nicht gilt: Das Objekt a ist nicht reziprok, (es kann nicht
gespiegelt werden, wie Lacan sagt). Wenn wir in unserem Partner und
durch ihn hindurch das Objekt a als Referenzpunkt unseres triebhaften
Strebens suchen, dann bewegen wir uns auf einer Ebene, die eher
etwas Projektives als etwas Identifikatorisches hat: Wir projizieren das
verlorene, abwesende Objekt a in unseren Partner, ohne dass er weiss,
wie ihm geschieht und was er soll. Wir bauen unseren Partner so in
eine phantasmatische Landschaft ein, die ganz unsere eigene ist und in
die er aus irgendeinem, für ihn selbst gar nicht unbedingt erfassbaren
Grund hinein passt.
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Othello zum Beispiel: Othello bringt in seiner Eifersucht sein eigenes Phantasma zum Vorschein, das tragischerweise denkbar wenig mit
Desdemona zu tun hat: Er, der allseits geschätzte und geehrte Kriegsherr hat die Liebe der Schönsten und Edelsten Venedigs gewonnen, die
sich ihm treu ergeben hingibt. Und er, er liebt sie auch. Doch nichts
Klügeres fällt ihm ein, als sich von Jago den Floh des Verdachts ins
Ohr setzen zu lassen und Desdemona der Untreue zu verdächtigen. In
ein ausgewachsenes Eifersuchtsdelir steigert er sich hinein: "Lieber
Kröte sein und von den Dünsten eines Kerkers leben, als dass ein Winkel im geliebten Wesen für andere sei", ruft er (III, 274).3 Und darin
zeigt sich eben, wo er sich unbewusst als Subjekt positioniert: Othello
ist für die anderen, inklusive für Desdemona der Held, die geliebte
Glanzfigur und so sieht er sich auch und so tritt er auf. Das ist reziprok,
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das geht auf und könnte der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte sein. Das ist Othellos imaginäre Position, das ist er als Liebesobjekt. Aber im Kern seines Herzens sieht es anders aus. Da ist und
bleibt er der Fremdling, der Schwarze, der der venezianischen high
society seine Dienste leisten darf und dann wieder gehen kann. Im
Kern seines Herzens ist er die hässliche Kröte in der venezianischen
Pracht. Wie gewinnt er Desdemona? Mit Abenteuergeschichten seiner
Heldentaten in fernen Ländern. So weckt er ihre jugendliche Sehnsucht nach dem Andern. Doch, so muss er sie verdächtigen, wo hält so
was schon? Am Schluss wird sie sich zurückbesinnen, ein venezianisches Edelwesen zu sein? Das sagt auch Jago, der Kenner der verborgenen Seiten der Menschen. Und das sagt auch Desdemonas Vater, der
Othello beschuldigt, Desdemona mit unlauteren Mitteln, mit Höllenkunst, Gift und Trank verzaubert zu haben, denn wie sonst könnte sie
sich zum allgemeinen Gespött machen und sich "an solches Unholds
pechschwarze Brust, die Graun nicht Lust erregt" (I, 71) schmeissen?
Pass auf, sagt er zu Othello, so wie sie mich hinterging, wird sie auch
dich betrügen. Mit diesem väterlichen Blick ist Othello unbewusst
identifiziert. Wie eine Prophezeiung wirkt er und bringt Othello
schliesslich dahin, tatsächlich als scheusslich gewordener Rest aus
dem Spiel herauszufallen, als Mörder, von dem man sich erschreckt
abwendet. Weil er sich unbewusst als ausgestossener, geächteter Rest
positioniert, muss er auch Desdemona unterstellen, im Grunde nichts
anderes von ihm zu denken. Und das nun versucht er gequält quälend
aus ihr als ihre eigentliche Wahrheit herauszupressen: Du liebst nicht
mich, du liebst den schönen Deinesgleichen, Cassio - und in mir siehst
du nur den Tölpel, den man wie das Schnupftuch gebrauchen und
wegwerfen kann. Doch das ist nicht Desdemonas Wahrheit, die in der
Eifersucht zum Vorschein kommt, es ist ganz allein seine phantasmatische Geschichte, die er ihr überstülpt und an die sie, im wahrsten
Sinne des Wortes, glauben muss.
Das also ist die Macht des Objekts a: Wenn Othello unbewusst die
Kröte in Venedigs Glanz ist, so kann er sich von Desdemona nicht
wirklich geliebt wissen, wenn sie seine heldenhafte imaginäre Gestalt
liebt. Wirklich lieben, das ist Othellos unbewusstes, nur in der grausa42
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men Zerstörung lösbares Drama, könnte sie ihn nur, wenn sie ihn als
Kröte liebte.
Neid
Mit der Eifersucht nahe verwandt und nicht selten vermählt ist das
Phänomen des Neids. Die Eifersucht richtet sich auf das Begehren des
andern, das wir in seinen unberechenbaren Auswirkungen nie ganz auf
sicher haben. Der Neid indessen richtet sich auf das unterstellte
Geniessen des andern: Neidisch macht uns die Vorstellung, der andere
habe ein erfülltes, quasi paradiesisches Geniessen, das uns unerreichbar ist. Die Trennung vom Objekt a schreibt sich ja auch in die Ökonomie des Geniessens ein: Unsere Ausrichtung auf das Objekt a macht
ein Geniessen möglich, das aber auf der Folie des ungetrennten
Zustands, des Zustands vor dem Verlust des Objekts a, immer nur als
partiell erscheinen kann. Den ursprünglichen Zustand verklären wir
nachträglich zu einem paradiesischen Zustand erfüllten Geniessens.
Lacan hat in den Confessiones des heiligen Augustinus ein Beispiel für
den Neid gefunden: Augustinus beschreibt das Kind, das den Milchbruder beneidet, der an der Brust der Amme ein rundum zufriedenes
und glückliches Bild abgibt. Dieses Bild des vollendeten Glücks ist es
Lacan zufolge, das wir beneiden, auch wenn wir in diesen Zustand
ungetrennter Innigkeit nicht mehr zurück können. Der beneidete
Zustand wird vorgestellt als einer, der Trennung und Wegfall des
Objekts a aufzuheben oder ungeschehen zu machen vermöchte.
Bei näherem Hinsehen fällt allerdings auch hier ins Auge, dass da
etwas nicht aufgehen kann: Wir können diesen Zustand wohl beneiden, aber zurückhaben möchten wir ihn ja doch nicht - wer will schon
zurück an die Mutterbrust. Es gibt, weiss Gott, grössere kulinarische
Verlockungen! Der Neid zeigt also eine Kluft, die im Wünschen selbst
am Wirken ist: Das debile Glück der sich in einer lallenden BabySprache wortlos verstehenden Verliebten macht uns neidisch, aber
wenn der Zustand der seligen Wonne andauert, empfinden wir das als
abstossend oder mindestens als bemitleidenswert. Unser Wünschen
hat seine Paradiesvorstellungen, aber es sucht immer wieder die
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Erneuerung in der Ablenkung. Wünschenswert ist der beneidete
Glückszustand nur, insofern als er nicht erreichbar ist oder doch nur
für Momente, die ihren Charme aus dem Kontrast mit dem unerfüllten
Alltag bekommen. Das mag der Grund sein, warum Freud für die analytische Kur nicht Glück versprochen hat, sondern nur das alltägliche,
gemeine Unglück, in das das neurotische Elend bestenfalls übergehen
kann. Auch in Schillers Ballade vom Ring des Polykrates finden wir
den gleichen Gedanken: Das glückliche Gelingen, "des Lebens ungemischte Freude" ist nichts für Menschen, das ist den Göttern vorbehalten - und das zieht auch den Neid der Götter auf sich. Glück droht in
Grauen und Angst vor dem Untergang zu kippen: Wem alles immer
gelingen will, der ist dem Verderben preisgegeben.
Ich komme nun nochmals auf meine eifersüchtige Analysantin
zurück: Sie war die älteste von drei Schwestern, nach ihr waren Zwillinge gekommen. Das eine der Zwillingsmädchen war die Hübsche der
drei. Meine Patientin hatte sich sehr eng liiert mit der andern Schwester und die Hübsche war die ausgeschlossene Dritte: So war die
Geschwisterkonstellation umgedreht: Jetzt bildete meine Analysantin
mit der anderen Schwester eine Art Zwillingspaar und stand nicht
mehr der Übermacht der kleinen Zwillinge gegenüber. Dieses Schicksal hatte sie der hübschen Schwester abgetreten. Doch das genügte
nicht, denn dieser galt auch der Neid, weil sie, wie es schien, die Blikke des Vaters und der Männer auf sich zog. Erst nach längerer Zeit der
Analyse erfuhr ich, dass es bei meiner Analysantin noch ein sexuelles
Symptom gab: Wenn sie mit ihrem Partner, dem die Eifersuchtsattakken galten, Sex hatte, war es für sie, als steckte sie in einem anderen
Körper. Für sie war es schwierig, Lust zu empfinden, denn das Gefühl
war: Es ist gar nicht sie, die da gefickt wird, es ist eine andere. - Viele
andere kamen in Frage, diese Rolle zu übernehmen, nie indes die
hübsche Schwester, so betonte sie.
Kein schlecht gebautes Symptom: Sie war nun im Sex in der Rolle
derjenigen, auf die die Blicke des Mannes fielen. Sie hatte die beneidete Position derjenigen übernommen, die von den Männern begehrt
wurde und unter deren Blick ein vollauf erfülltes Geniessen zu erleben
schien. Und zugleich hatte sie sich mit dem begehrten männlichen
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Blick identifiziert, sie war nun selbst zu dem Blick geworden, den sie
so gerne auf sich gezogen hätte und dessen Unbeherrschbarkeit sie
immer wieder in der Eifersucht erfahren musste. Eigentlich war sie nur
als dieser Blick im Sexualakt anwesend, als diejenige, die schaut, wie
sie als Körper einer anderen genommen wird. Der eifersüchtig
gesuchte Blick ihres Partners, nun war sie es selbst - und die beneidete Szene des Geniessens, das die begehrte Frau unter diesem Blick
empfinden mag, konnte sie, im Körper der andern steckend, verkörpern. Wenig Lust war kaum dabei, aber viel Geniessen - so könnte
man dieses Symptom zusammenfassen.
Liebesübertragung
Ich komme nun zum Schluss noch auf die Liebesübertragung in der
psychoanalytischen Kur zu sprechen: Was hatte Lacan wohl damit im
Sinn, wenn er sagt, dass der Analytiker in der Kur die Position des
Objekts a einnehmen müsse. Ich hoffe, dass mein Parcours durch die
Gefilde der Eifersucht und des Neids die Voraussetzung geschaffen
hat, um auf diese Frage eingehen zu können:
Was geschieht in der Liebesübertragung? Freud zufolge ist die Liebesübertragung ein Widerstand: Die Frauen - er spricht über seine
Erfahrungen - die Frauen wollen nicht mehr Kur, sie wollen "Suppenlogik mit Knödelargumenten". Lieben soll er sie, nicht analysieren, das
ist nichts als schnöde Zurückweisung. Die Kur kann da einpacken.
Aber Freud wäre nicht Freud, hätte er nicht das Talent, auch in so vertrackter Situation noch Fragen stellen zu können. Man könne sich nur
fragen, so schreibt er, warum so bodenständig ausgerichtete Frauen
"mit so unbeugsamer Liebesbedürftigkeit" doch Neurotikerinnen
seien.4
In dieser Frage verrät sich gewiss Freuds eigenes Begehren zu forschen als ein persönliches Merkmal, das ihm überhaupt ermöglicht hat,
die Psychoanalyse zu schaffen. Aber es verrät sich wohl auch etwas
anderes: Die Liebesübertragung ist offenbar kein Gelingen. Die positive Übertragung, die milde Verliebtheit lassen wir Analytiker uns gerne
gefallen. Morgenthaler etwa hat immer wieder betont: Mit der positi45
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ven Übertragung muss man arbeiten, man muss sie nicht deuten. Die
positive Übertragung und die analytische Arbeit gehen Hand in Hand.
Die Liebesübertragung aber stellt sich offensichtlich gegen die Suche
nach dem Unbewussten, gegen die Deutungsarbeit. Sie bricht wie
Feueralarm in die Theateraufführung ein, so beschreibt es Freud. Die
positive Übertragung, das ist die Theateraufführung - bricht die Liebesübertragung ein, so ist "fertig lustig", wie man in der Schweiz sagt.
Ich denke, dass diese Aussage Freuds für jede Form der heftigen und
zugespitzten Übertragung gilt, in der die analytische Deutungs- und
Rekonstruktionsarbeit immer als Zumutung und der Analytiker als
verständnislos und zurückweisend erlebt wird, wenn er darauf beharrt
zu analysieren, statt die Forderungen der Analysanten zu erfüllen.
Die Liebesübertragung bringt auch eine theoretische Schwierigkeit
mit sich: Wenn wir die Analyse in der Art führen, wie das Freud etwa
hinsichtlich der Eifersucht tut, wenn wir also die Liebes- und anderen
Affektregungen dahingehend untersuchen, welche erotischen und
aggressiven Komponenten in ihnen am Werk sind, dann leuchtet nicht
unmittelbar ein, warum die Liebesübertragung kein Gelingen sein soll.
Die Liebesfähigkeit des Analysanten ist damit doch unter Beweis
gestellt, das könnte ja ein schönes Ergebnis einer Analyse sein. Warum
also daran herummäkeln? Das Argument, dass die Übertragungsliebe
keine echte Liebe sei, lässt Freud nicht gelten. Sehr bestimmt weist er
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darauf hin, dass die Übertragungsliebe eine Liebe wie jede andere auch
sei, da jede Liebe auf Übertragung beruhe. Also was können wir noch
ins Feld führen? Dass die Liebesübertragung eine idealisierende Vermeidung negativer und feindseliger Übertragungsphantasien sei. Das
ist gewiss ein wichtiges Argument, aber sticht es immer? Ich denke,
dass Lacans Unterscheidung von Liebesobjekt und Objekt a, die ich an
Hand der Eifersucht eingeführt habe, aus der Schwierigkeit helfen
kann:
Lacan bezeichnet die Liebesübertragung als ein "Schliessen des
Unbewussten": Sie ist so ungefähr das Gegenteil der Eifersucht. Wo
die Eifersucht durch die Liebe hindurch zum Objekt a vordringen will,
da verschliesst sich die Übertragungsliebe vor jedem weiteren Suchen
und will es mit dem Lieben gut sein lassen. Dies kann als Schliessen
des Unbewussten verstanden werden, weil die Verschiebungs- und
Verdichtungsvorgänge im Unbewussten für das liebende Subjekt jede
Bedeutung verloren zu haben scheinen. Wenn das eifersüchtige Subjekt ganz genau weiss, dass wir alle Menschen mit einem Unbewussten
und mit nie ganz zur Ruhe kommenden Wunschregungen sind, dass
wir alle mit einem Rest unseres Herzens immer schon im Aufbruch
sind, wie schön es auch sein mag, so will das liebende Subjekt nichts
lieber, als sich über diese Wahrheiten hinwegtäuschen.
Hinwegtäuschen - das tönt so negativ. Es gibt ja doch so etwas wie
ein Gelingen der Liebe, vielleicht nicht allzu häufig, aber immerhin.
Was sagen uns diesbezüglich unsere Analysanten? Ich weiss nicht, was
Ihre Erfahrungen sind, aber meine Erfahrung ist, dass sie sagen: Bei
anderen Paaren gelingt, was in meiner Beziehung scheitert. Wenn man
sie dann indes fragt, an welches Paar sie denken, kommen ihnen nur
Beziehungen in den Sinn, die ebenso problematisch sind wie ihre eigene... Da ist also offensichtlich eine neidische Vorstellung am Werk, die
ein erfülltes, gelingendes Geniessen bei den andern imaginiert, das bei
näherem Zusehen zum Luftschloss wird. Aber ein Gelingen der Liebe
muss ja nicht eine problemlose Liebe sein; ein Gelingen der Liebe
setzt wohl eher voraus, dass eine Möglichkeit gefunden wurde, dem
Dilemma zu entgehen, dass sich in der Liebe das Unbewusste schließt
oder dass die Liebe ein Tannhäuserscher Venusberg der vollständigen
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Erfüllung sein müsste. Dass also ein Weg gefunden wurde, in der
Liebe, auf dem Boden der Liebe Platz zu lassen für all das, was mit der
Suche nach dem Objekt a zu tun hat. Die Sublimierung, selten genug,
ist gewiss eine solche Möglichkeit, vielleicht gibt es auch die Möglichkeit, ein gemeinsames phantasmatisches Projekt aufzubauen, in dem
die phantasmatischen Bezüge zum Objekt a von beiden Partnern untergebracht werden können. (Und nach dem gemeinsamen Hausbau geht
dann allerdings die Beziehung in Brüche, heisst es). Und dann ist eine
bewährte Strategie sicher die, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen und
friedlich aneinander vorbei zu leben - ich weiss nicht, ob man das
abwerten muss.
Aber ich möchte mich da nicht weiter auf die Äste hinaus lassen,
sondern nochmals auf das Gedicht von Juan Ramon Jimenez zurückkommen: Ich entblättere dich wie eine Rose und finde nichts, aber in
dieser Suche nach dem Objekt a in dir entsteht etwas, das die Welt mir
neu eröffnet und bis ins Unendliche beginnt sie zu duften.
Ich entblätterte dich wie eine Rose,
um deine Seele zu erblicken,
und ich sah sie nicht.
Aber alles rund herum
- Horizonte der Länder und Meere alles, bis ins Unendliche
wurde von einem
durchdringenden Duft erfüllt.
Beschreibt dies Gedicht das Gelingen der Liebe oder ist es als Produkt der Sublimierung deren Gelingen? Wie auch immer, es führt mich
zurück zur Frage nach der Position des Analytikers: Jimenez beschreibt
etwas, das sich in einem wesentlichen Punkt ganz entscheidend von
dem unterscheidet, was wir aus der Liebesübertragung kennen: Das
Gedicht kommt ohne Forderung daher, es transportiert nicht den Liebesanspruch, den wir so dringlich und ausschiesslich in der Liebesübertragung vorgetragen bekommen. Wenn die Liebesübertragung in
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der Forderung "du musst mich lieben" das Unbewusste schliesst, dann
öffnet sich das Gedicht "bis ins Unendliche". Und diesem Öffnen sind
auch wir Analytiker verpflichtet. Ob das gut ist oder schlecht, sei dahin
gestellt, es ist einfach unser Job.
Wenn Lacan meint, dass der Analytiker in der Kur die Position des
Objekts a verteten solle, so ist das ein Votum für diese öffnende Bewegung, ein Votum, sich der fortwährenden Suche des Begehrens zu
verpflichten. In der Analyse kommt der Bezug zum Objekt a auch in
der schönsten und heftigsten Liebesübertragung nicht zur Ruhe, es gibt
da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird an der Liebesforderung festgehalten und es kommt zum Abbruch, oder die Durchquerung der Phase der Liebesübertragung kann gelingen und zu einer
nachhaltigen Veränderung in der Kur führen.
Gerade in den letzten Wochen hat mich eine frühere Analysantin
nach gut zehn Jahren wieder kontaktiert. Es war damals eine Analyse,
auf die ich nicht stolz war und die meines Erachtens daran gescheitert
war, dass die Analysantin, in ihrem Liebeswunsch enttäuscht, sich aus
der Analyse zurückgezogen hatte. Nun, zehn Jahre später, erzählte sie
mir, wie viel sich in ihrem Leben in der Folge der Analyse verändert
hatte und wie dankbar sie insbesondere war, dass die Analyse ihr
geholfen hatte, Kinder zu haben und kreatives Potenzial freizusetzen:
Neben Familie und Lehrerberuf mache sie nun Puppentheater. Für sie
war es kein Abbruch, sondern ein Aufbruch gewesen. Offenbar - und
zu meiner Überraschung - war diese Analyse doch nicht nur in den
imaginären Forderungen an einen Analytiker, der zum Liebesobjekt
genommen wurde, festgefahren, sondern hatte etwas von dem öffnen
können, was die Analysantin mit dem Objekt a in Bezug setzt.
Fußnoten:
Vgl. Christian Kläui: Norm, Normalität und das Ende der Analyse, erscheint
in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 4, 2010.
2
Juan Ramon Jimenez: Herz, stirb oder singe. Gedichte, übers. Hans Leopold
Davi, Diogenes: Zürich 1958, 43
3
William Shakespeare: Othello, der Mohr von Venedig. Zit. nach der Übersetzung von Ludwig Tieck.
4
Sigmund Freud: Bemerkungen über die Übertragungsliebe, GW X, 315.
1
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Priv.-Doz. Dr. phil. Dipl. Psych.
David Becker, Direktor des Büros
für psychosoziale Prozesse
(OPSI) der Internationalen Akademie INA gGmbH an der FU
Berlin, lehrt Sozialpsychologie an
der Leibniz Universität Hannover
und berät psychosoziale Projekte
im In- und Ausland. Autor von
"Die Erfindung des Traumas Verflochtene
Geschichten",
Berlin: Freitag, 2006.
[email protected]
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ZWISCHEN TRAUMA
UND TRAUMADISKURS
NACHDENKEN ÜBER PSYCHOSOZIALE ARBEIT
IM GAZASTREIFEN
DAVID BECKER
Ausgangsprobleme: Arbeiten in einem unmöglichen Gebiet
An der Klagemauer in Jerusalem betet ein frommer Jude. Touristen
nähern sich ihm und fragen ihn, was genau er da macht. Der fromme
Jude antwortet "ich bete hier dreimal am Tag für den Frieden" - "Frieden für wen?", wird er gefragt, "Frieden für die Juden, Frieden für die
Palästinenser, Frieden in Israel, Frieden im Gaza, Frieden in der Westbank." "Und glauben Sie, daß das etwas nutzt?" "Ja, deshalb bete ich
ja dreimal am Tag, … aber ich bete gegen eine Mauer."
Ob der Realitäten im Nahen Osten bleibt einem das Lachen über
diesen Witz im Halse stecken. Die meisten Menschen dort wünschen
sich Frieden. Eigentlich weiß man auch, wie ein solcher Frieden aussehen könnte, aber irgendwie gelingt es den beteiligten Parteien (und
das sind nicht nur Israelis und Palästinenser, sondern auch die gesamte
internationale Gemeinschaft) immer wieder, den Konflikt zu verschärfen, weiterzuentwickeln, echte Friedensperspektiven in weite Ferne
rücken zu lassen. Seit 2005 besuche ich Palästina - speziell den
Gazastreifen - regelmäßig. Im Auftrag einer Schweizer Hilfsorganisation (CFD - Christlicher Friedensdienst) und der DEZA (Schweizer
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) habe ich dort psychosoziale Projekte evaluiert und beraten. Nach dem Krieg im Gazastreifen 2009 habe ich zusammen mit KollegInnen aus Deutschland
und der Schweiz und in Kooperation mit den palästinensischen PartnerInnen ein kleines supervisorisches Unterstützungsprojekt durchgeführt (finanziert durch die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes
der Bundesrepublik Deutschland), welches nun 2010 eine Fortsetzung
und Erweiterung erfahren hat und noch bis 2012 im Gazastreifen und
in der Westbank umgesetzt wird. In sogenannten "ongoing conflicts"
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zu arbeiten, ja speziell über die Möglichkeit psychosozialer Hilfen
nachzudenken und diese tatsächlich zu entwickeln, ist immer und
überall extrem schwierig. Ganz besonders gilt dies im Konfliktgebiet
Palästina/Israel, denn die Verhältnisse verschlechtern sich dort seit
Jahren unaufhaltsam. Für mich war es immer wieder überraschend zu
erleben, dass ich mir von einem Besuch zum nächsten nicht mehr recht
vorstellen konnte, was eigentlich noch schwieriger werden könnte.
Und dann passierte wieder etwas, das die Gesamtverhältnisse um vieles hoffnungsloser erscheinen ließ als einige Monate vorher.
Hinzu kommt, dass man sich als Deutscher in einem vielfach verminten Gebiet bewegt. Dan Bar On (2004) sprach vom unausweichlichen Spannungsdreieck Deutschland - Israel - Palästina. Fraglos ist,
dass Deutsche und Israelis notwendigerweise ein spezielles Verhältnis
zueinander haben, weil im Mittelpunkt ihrer Beziehungen der Holocaust, der deutsche Massenmord an Millionen von Juden steht. Dies ist
die einzige Aussage, die problemlos zu treffen ist. Ab dann wird es
schwierig. Darf man als Deutscher das Verhalten von Israelis gegenüber Palästinensern kritisieren? Wann versteckt sich hinter Sympathien für Palästina alter oder neuer Antisemitismus? Wie steht man zum
Zionismus? Wer sind Juden? Wer sind Israelis? Wie reagiert man,
wenn Palästinenser von Juden sprechen und Israelis meinen? Darf
man, kann man die Situation von Israelis und Palästinensern vergleichen? Sollten sich Deutsche aus diesem Thema überhaupt heraushalten? Falls nicht, in welcher Rolle sollen sie auftreten? Ist es ihre
Pflicht, Palästinenser die israelische Interessenlage klarzumachen? Ist
es - umgekehrt - ihre Pflicht, israelisches Verhalten gegenüber den
Palästinensern kritisch zu hinterfragen? Kann man überhaupt solidarisch mit Palästinensern sein, wenn man ständig auch noch ausgleichende Bemerkungen bezüglich Israels tätigen muss? Muss man
überhaupt immer vermitteln?
Man könnte die Fragen endlos fortsetzen, aber noch nicht mal auf
die hier gestellten, kann ich eine sichere und klare Antwort geben. Ich
kann nur berichten, dass es mir nach Besuchen im Gazastreifen, nachdem ich tagelang die Angst, die Zerstörung, die Demütigung und die
konkrete Not miterlebt hatte, immer außerordentlich wichtig war, mich
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mit geschätzten israelischen Freunden zu treffen, die ich informieren
konnte und die mir halfen, Gefühle von Wut und Empörung, Urteile
und Vorurteile, Israelkritik und Antisemitismus zu entwirren und so
weit als möglich zu verstehen. Das Überschreiten der Grenze in Erez
ist immer ein demütigender Vorgang, aber als Ausländer kommt man
ja immerhin hin und her. Gazastreifen-Bewohner können das in der
Regel seit Jahren nicht mehr. Und auch umgekehrt können sich fortschrittlich denkende Israelis nicht in den Gazastreifen trauen, was
ihnen im Übrigen durch die eigene Regierung sowieso untersagt ist.
Beeindruckend sind die Vorstellungen, die dabei auf beiden Seiten
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über den jeweils anderen entwickelt werden, dem man nicht mehr als
normalem Menschen gegenüber tritt, sondern nur im Rahmen militärischer - meist tödlicher - Auseinandersetzungen begegnet bzw. ausgeliefert ist.
Ein Kollege wurde im Gazastreifen von einem kleinen Mädchen
gefragt, wohin er denn jetzt ginge. Als er antwortete, er würde nun in
Israel Freunde besuchen, war das 10-jährige Mädchen ehrlich erstaunt.
Konnte man Israelis wirklich besuchen; gingen die den menschlich mit
anderen Menschen um? Sie machte sich Sorgen um das gefährliche
Vorhaben des Kollegen. Umgekehrt erläuterte mir ein Taxifahrer auf
der etwa einstündigen Fahrt vom Flughafen Tel Aviv zum Grenzübergang nach Erez ganz überzeugt, dass alle Palästinenser aller Alterstufen nur Terroristen seien, und dass wir von der internationalen
Gemeinschaft, die auch noch helfen wollten, nicht nur einem Betrug
aufsäßen, sondern uns wirklich in Gefahr begeben würden. Er war
nicht etwa böse auf mich oder kritisierte mich politisch, er war nur
ziemlich überzeugt davon, dass ich realitätsfern und verrückt sein
müsse, um dort helfen zu wollen. Natürlich gibt es auf beiden Seiten
Menschen, die miteinander reden, die in Kontakt bleiben, die so weit
wie möglich zusammenarbeiten. Aber die Möglichkeiten solcher
Zusammenarbeit sind ob der Kriegsrealitäten immer geringer geworden. Wie so häufig in Konfliktgebieten, aber von mir nirgendwo mit
solcher Intensität erlebt, ist man als von Außen Kommender scheinbar
immer vor die Wahl gestellt, zur einen oder anderen Seite zu gehören,
und entsprechend an der einen oder anderen Seite zum Verräter zu
werden. Eine dritte Alternative scheint es nicht zu geben.
Ich möchte im Folgenden einen Zweischritt versuchen: Einerseits
möchte ich theoretisch über Trauma und Traumadiskurs nachdenken.
Andererseits möchte ich die Arbeit im Gazastreifen in den vergangenen Jahren reflektieren, dabei auch über die Komplikationen internationaler Zusammenarbeit im psychosozialen Bereich nachdenken.
Während ich also zunächst relativ ausführlich sowohl über wissenschaftsimmanente als auch über sozialpolitisch motivierte Entwicklungsstränge der Traumatheorie nachdenke, soll dies doch immer mit
der Perspektive geschehen, schließlich wieder auf den Gazastreifen
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zurückzukommen und zu fragen, welche Relevanz eine so verstandene
Traumatheorie für die Praxis der internationalen Zusammenarbeit
haben kann. Dabei berichte ich dann etwas ausführlicher über den
aktuellen Arbeitskontext dort.
Die doppelte Genealogie und Identität der Traumatheorie
In ihrem hervorragenden Buch "L'Empire du Traumatisme"diskutieren
Fassin und Rechtmann (2007) die Entwicklung der Traumatheorie als
eine, der notwendigerweise eine doppelte Genealogie zu unterstellen
ist, weil sich ihre Entwicklung nicht als gradliniger wissenschaftlicher
Fortschritt von A nach B erklären lässt. Ihrer Ansicht nach entwickelt
sich die Traumatheorie zwar auch im Rahmen bestimmter wissenschaftlicher Diskurse, gleichzeitig aber in Bezug auf und als Ergebnis
von bestimmten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Traumatheorie ist also sowohl das Ergebnis wissenschaftsimmanenter
Entwicklungen, als auch Ausdruck sich verändernder gesellschaftlicher Konflikte und hat entsprechend notwendig eine doppelte Identität, nämlich als klinisch-psychologischer Begriff einerseits und als
moralische Kategorie in gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen
andererseits.
Wissenschaftsimmanent finden wir in den Anfängen der psychoanalytischen Traumatheorie die ursprüngliche Metapher vom Riss zwischen Selbst und Realität. Wir finden hier das entscheidende quantitative Moment, in welchem der psychische Apparat durch ein Ereignis
oder eine Reihe von Ereignissen überfordert wird und zusammenbricht. So formulieren Laplanche und Pontalis im Vokabular der Psychoanalyse 1977 Trauma als ein "Ereignis im Leben des Subjekts, das
definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjekts
adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften
pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft. Ökonomisch ausgedrückt ist das Trauma gekennzeichnet durch
ein Anfluten von Reizen, die im Vergleich mit der Toleranz des Subjekts und seiner Fähigkeit diese Reize psychisch zu bemeistern und zu
bearbeiten, exzessiv sind" (S. 513).
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Nun ist die frühe Freud'sche Traumatheorie eng verknüpft mit der
Verführungstheorie. In dieser wird aber Trauma eben nicht als simples
Reiz-Reaktions-Schema verstanden, sondern als zeitlich verzögerte,
komplizierte Entwicklung. Zwar wird die kindliche Sexualität von
Freud hier noch nicht wahrgenommen, aber es wird ein Beziehungs-
verhältnis beschrieben, das durch die Unreife des Kindes und die
"Reife" der Wünsche und der Taten des Erwachsenen gekennzeichnet
ist. Dieses Verhältnis erhält später seine traumatische Wirkung, wenn
das Kind herangereift ist und nachträglich das Ereignis in seiner vollen
Bedeutung erfasst, weil nunmehr die eigenen Triebwünsche auftauchen. Das Trauma setzt sich so zusammen aus einer ursprünglich nicht
verstandenen Überwältigungserfahrung und einer späteren Triebspannung, die das Ereignis nachträglich verstehbar und im selben Moment
unerträglich macht. Interessant ist bei näherem Hinsehen an dieser
frühen Traumakonzeption, dass sich bereits hier das Trauma nicht als
simple Zusammenbruchserfahrung konstituiert, sondern aus einem
langen, zeitlich weit gespannten Prozess resultiert, der von außen verursacht, aber intern komplex beantwortet wird, und die traumatische
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Wirkung so eine Ergänzung zwischen zerstörendem Ereignis und Entwicklungs- bzw. Reifungsprozess ist.
Als Freud dann 1897 die Verführungstheorie aufgibt und den
Schwerpunkt der Forschung von außen nach innen verlagert, was, wie
Ilse Grubrich-Simitis (1987) überzeugend nachweisen konnte, eben
nicht der "Sturz aller Werte" (Freud, S., 1986) war, entdeckt er und
wertet in ihrer Macht erstmals die kindliche Sexualität. Es ist die Zeit
der drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). Obwohl die Möglichkeit realer Traumatisierung - und damit zusammenhängend auch
das Konzept der Nachträglichkeit - nie völlig aufgegeben werden, tritt
das Thema doch in den Hintergrund. Offensichtlich war die Möglichkeit, perverse Eltern bzw. Erwachsene wahrzunehmen und gleichzeitig
eine infantile Sexualität in all ihrer Komplexität anzuerkennen, zumindest für Freud und für sehr viele seiner Nachfolger, nicht möglich. Erst
viele Jahre später finden wir relevante Überlegungen in diesem
Zusammenhang bei Laplanche (1988). Allerdings galt schon damals
und in diesem Sinne kann man durchaus von einer wissenschaftsimmanenten Weiterentwicklung sprechen - dass Ferenczi die reale
Annahme der Traumatisierung durch Missbrauch nicht aufgab und
auch die komplexen Beziehungsdimensionen, die dabei eine Rolle
spielten, weiter beforschte. Und so kommt es dann 1932 zu dem bis
heute beeindruckenden Aufsatz "Sprachverwirrung zwischen dem
Erwachsenen und dem Kind" (1933/1982) in welchem Ferenczi aufzeigt, wie traumatisch das missbrauchende Beziehungsgeschehen
zwischen Erwachsenem und Kind ist und wie sehr die Tatsache, im
Opfer der Sprache des Täters zu begegnen, eben nicht gegen das
Opfer, sondern ganz im Gegenteil für seine extreme Zerstörung und
traumatische Unterwerfung spricht.
Und es ist auch Ferenczi, der in seinem Klinischen Tagebuch (1932)
ein wesentliches Dilemma einer jedweden Traumabehandlung erstmals deutlich beschreibt: Befindet sich der Patient oder die Patientin
im traumatischen Erleben, dann gibt es keine Sprache, keine Möglichkeit zur bewussten Kommunikation. Und umgekehrt: Wird über das
Trauma gesprochen, kann zwar kommuniziert werden, aber es handelt
sich um eine Art Rekonstruktion von außen. Diese Erkenntnis Ferenc57
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zis ist deshalb so wichtig, weil hier erstmals verstanden wird, dass,
wenn Trauma einen strukturellen Zusammenbruch bedeutet, man es
mit zwei parallelen Seinszuständen zu tun bekommt, die nicht wirklich
miteinander verknüpft sind. Auf der einen Seite steht eine externe
Erinnerung an ein Erlebnis. Extern deshalb, weil man in diesem Erlebnis aufgehört hat zu existieren, quasi gestorben ist, also auch nicht auf
normale Art und Weise erinnern kann. Und wenn man auf die Erlebnisstufe des Zusammenbruchs hin "regrediert", dann existiert keine
Struktur mehr, mittels derer sprachliche Kommunikation und Reflexion möglich wäre. Ferenczis Patientin, mit der er diese Problematik
erörterte, schlug vor, dass es vielleicht darum gehen könnte, stückchenweise das Sprechen wieder zu erlernen, also zwischen rekonstruierender Sprache und erlebnisintensiver Sprachlosigkeit so lange hin
und her zu alternieren, bis die Spaltung weitgehend überwunden werden kann.
Von Ferenczis "Beziehungspsychoanalyse" führt ein direkter Weg
zu den späteren Formulierungen von Balint, Winnicott, Kahn u.a. der
sogenannten Middle Group in England zuzurechnenden Analytikern.
Es verschiebt sich hier der Blick weg vom Quantitativen hin zum Qualitativen, von der traumatischen Überwältigung hin zu der diese auslösenden traumatischen Beziehungssituation. Winnicott formuliert, dass
es den Säugling allein gar nicht gibt, sondern nur den Säugling in
Kombination mit der mütterlichen Fürsorge (1974). Balint (1966,
1970) entwickelt die Theorie der Grundstörung, Kahn das Konzept
vom kumulativen Trauma, und schließlich sind es in den 80er Jahren
Jonathan Cohen und Warren Kinston (1983), die eine objektbeziehungspsychologisch fundierte Traumakonzeption vorlegen. Bei ihnen
verschiebt sich das Zentrum der traumatischen Problematik genau auf
die Grenze zwischen Innen und Außen. Davon ausgehend, dass psychische Strukturen sich im Rahmen eines Mitteilungsprozesses entwickeln und erhalten, und zwar auf der Grundlage, dass nur Bedürfnisbefriedigungen zu psychischen Repräsentationen führen, auf denen
wiederum Wünsche aufbauen können, definieren sie Trauma als den
Zusammenbruch dieses Prozesses. Trauma ist somit immer nur im
Rahmen einer sich prozesshaft entwickelnden Situation zu verstehen.
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Der Bruch, um den es geht, ist immer im Individuum und in seiner
Beziehungswelt. Die hier geschilderte Theorieentwicklung kann als
wissenschaftsimmanente Entwicklung verstanden werden, bei der
sicherlich die Tatsache eine wichtige Rolle gespielt hat, dass immer
mehr Analytiker auch mit Kindern gearbeitet haben. Was also mit
Melanie Klein und Anna Freud anfängt, findet bei Winnicott eine
wichtige Fortsetzung, und dann später auch bei Spitz (1967), Mahler
(1975), Bowlby (1983) und schließlich Stern (2003). Viele von ihnen
erwähnen das Wort Trauma nur selten, aber man kann deutlich verfolgen, wie hier eine Theorie entsteht, die eben nicht entscheiden muss,
ob Trauma nun von innen oder von außen kommt, sondern die den
Fokus auf eine komplexe innerpsychische Realität setzt, gleichzeitig
aber deutlich die andauernde Relevanz der externen Realität hervorhebt.
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Nachdem ich nun versucht habe in Ansätzen innerpsychoanalytische, also wissenschaftsimmanente, Entwicklungen der Traumatheorie
kurz zu skizzieren, möchte ich im Sinne der doppelten Genealogie das
Ganze noch einmal, entlang bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse betrachten:
Im Zentrum der Traumaproblematik stehen im ausgehenden 19. und
im beginnenden 20. Jahrhundert verunglückte Eisenbahnreisende,
Arbeitsunfälle in der Industrie und geschockte Soldaten. Folgt man
den Diskussionen der damaligen Zeit, dann wird die Frage der Traumatisierung im Wesentlichen auf die Frage hin ausgerichtet, ob es sich
um Versicherungsbetrüger, Simulanten und/oder Feiglinge handelt
oder tatsächlich um Kranke. Die englischen Versicherungsgesellschaften beschäftigen sich - wie gesagt - mit der Frage, ob sie Opfern von
Unglücken Entschädigungen zu zahlen hätten. In Deutschland geht es
um die Frage, ob Arbeiter, die bei Unglücken in einer Fabrik nicht nur
physischen, sondern auch psychischen Schaden davongetragen haben,
vielleicht einen sekundären Krankheitsgewinn erzielen und einfach
bezahlt nicht arbeiten wollen. Und beim berühmten shell shock des
Ersten Weltkrieges geht es auch um die Frage, ob man es hier mit
wirklich leidenden Menschen oder mit Feiglingen zu tun hat. Wer je
die Lord-Peter-Wimsey-Romane von Dorothy Sayers gelesen hat, wird
hier eine vehemente Verteidigerin des echten Leides der Soldaten vorfinden, aber er wird sich auch erinnern, dass Wimsey sich eigentlich
nur schämt. Eigentlich erklärt sich seine Detektivarbeit als ein endloser Versuch über die Scham der Traumatisierung und ihre Folgen hinwegzukommen.
Die Behandlungsmethoden der damaligen Zeit waren auch entsprechend. Hier ging es vor allem um Abschreckung, um terroristisches
Austreiben von Trauma, Elektroschocks und Kaltwasserkuren waren
besonders beliebt. In der Psychoanalyse ist dies die Zeit, in der es eben
auch noch um Hypnose, also um die Frage der Beeinflussbarkeit ging.
Und erst nach und nach tritt ein anderes Paradigma in den Vordergrund.
Wenn wir nun einen Sprung nach vorne machen und die Zeit nach
dem Holocaust fokussieren, stellen wir fest, dass die Haltung gegen60
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über den Opfern eine ganz andere wird. Zwar muss auch hier um den
Status der Opfer gekämpft werden, zwar gibt es - z.B. in Deutschland
- eine lange Auseinandersetzung mit Psychiatern, die meinen, dass
Depression eine endogene Krankheit sei, weshalb man im
Umkehrschluss durch einen Aufenthalt im KZ nicht depressiv werden
könne, aber all das ändert nichts daran, dass nach und nach die Opfer
Anerkennung erfahren. Die Überlebenden des Holocaust sind die einzigen Zeugen. Man braucht sie, um die Verbrecher der Strafe zuführen
zu können. Man beginnt sich um sie zu bemühen, um das ihnen
geschehene, ungeheuerliche Unrecht zwar nicht wieder gutzumachen
- weil das unmöglich ist - aber doch zu lindern. Der Holocaust wird
also in gewissem Sinne zu einem relevanten Paradigma der moderneren Traumatheorie: Ja, sozialpolitische Verhältnisse können extremes
Leid produzieren, ja, wir müssen dieses Leid anerkennen, ja, wir wollen die Opfer als positive Mitglieder der Gesellschaft werten und
würdigen. Ihnen soll Recht widerfahren. Die Behandlungsmethoden
der Traumatisierten verändern sich. Jetzt geht es nicht mehr um die
Verhinderung des sekundären Krankheitsgewinns, sondern es geht
darum, ein Leben wieder lebenswert zu machen, "die Überlebensschuld" so weit wie möglich zu bearbeiten.
Mit dem Ende des Vietnamkrieges setzt der Siegeszug der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ein. In ihr bestätigt die offizielle
Psychiatrie erstmals - und in Fortsetzung des in Bezug auf den Holocaust Gelernten - dass Menschen am Krieg krank werden können.
Allerdings passiert hier eine kleine, aber wichtige Verschiebung. Ging
es beim Holocaust noch eindeutig um die Opfer und deren Differenzierung von den Tätern, so geht es jetzt nur noch um Traumatisierte. Das
konkrete Problem, mit dem man in den USA fertigwerden musste,
waren schwer symptomatische und sozial auffällige ehemalige Soldaten. Um sie behandeln zu können, musste das Trauma auf ihre Zeit im
aktiven Dienst festgelegt und eingeengt werden. Es ging also um ein
Ereignis, nicht um einen Prozess. Dieses Ereignis musste in der Vergangenheit liegen mit Konsequenzen in der Gegenwart. Ob der betreffende Soldat nun ein Gefangener der Vietkong und dort gefoltert
worden war oder ob er wie die Kriegsverbrecher von My Lai einfach
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furchtbar viele Leute umgebracht hatte, spielte keine Rolle. Das auslösende Ereignis wurde als Stressor definiert. Täter konnten gestresst
sein, Opfer konnten gestresst sein. Ein Autounfall konnte Stress produzieren, das KZ konnte Stress produzieren. Es fand also eine Art
Entmoralisierung der Traumabegrifflichkeit statt. Während nun endlich die Möglichkeit der Traumatisierung für alle anerkannt war, wobei
die relevanten gesellschaftlichen Entwicklungen in den USA nicht nur
der Vietnamkrieg, sondern auch die Frauenbewegung mit ihrer nach
und nach erfolgreichen Denunziation von sexuellem Missbrauch war,
kam es gleichzeitig zu einer Dekontextualisierung, zu einer Art politischen Entwertung der Traumabegrifflichkeit und entsprechend zu
einer potentiellen Relativierung des Verhältnisses zwischen Täter und
Opfer.
Es war Edward Said (1994), der darauf hingewiesen hat, dass
gesellschaftliche bzw. historische Entwicklungen nicht nur in ihrer
Zeitabfolge behandelt werden sollten, sondern dass immer auch die
Geographie als zentrales, bestimmendes Moment mitzudenken ist.
Nimmt man gesellschaftspolitische Entwicklungen in den Blick, so
muss man notwendig auch fragen, ob sich nicht irgendjemand auch
explizit mit den Traumatisierungen auf der anderen Seite der imperialen Weltteilung beschäftigt hat. Schließlich könnte man ja annehmen,
dass nicht nur nordamerikanische Soldaten im Vietnamkrieg traumatisiert wurden. Es war der französisch-algerische Psychiater Franz
Fanon, der bereits in seinem ersten Buch "Schwarze Haut, weiße
Masken" (1952/1985) die traumatische Qualität der Beziehung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten überzeugend herausarbeitete.
Er, der als Schwarzer in Martinique geboren wurde, sich dort für einen
normalen Franzosen zu halten lernte, später dann in der Armee De
Gaulles gegen die Deutschen kämpfte und gleichzeitig als Schwarzer
diskriminiert wurde, verstand, dass die Weißen die Schwarzen erfunden hatten. Die Schwarzen verstanden sich selbst nicht als schwarz
oder schmutzig oder hässlich - oder was auch immer für Wertigkeiten
Weiße gegenüber Schwarzen verwendeten. Die Bewohner der afrikanischen Kolonien wurden also zu Schwarzen durch den Blick der
Weißen. Was sollte nun ein Schwarzer tun, um seine eigene Identität
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herauszuarbeiten. Wenn er sich bemühte eine eigene "Negritude" zu
erfinden, authentisch schwarz zu werden, das koloniale Schwarz gegen
"echtes" Schwarz einzutauschen, dann blieb er letztendlich doch
gefangen in einer Selbstdefinition, die immer nur in Bezug auf Weiße
herzustellen war. Verleugnete er umgekehrt seine Schwärze, wie etwa
die Kinder auf Martinique, die in Schulaufsätzen beschrieben, wie sie
während der Sommerferien angeblich mit rosigen Wangen über die
Felder gerannt waren, dann war die unausweichliche Entfremdung nur
noch gewalttätiger. Für Fanon gab es also in der imperialen und
postimperialen Realität - was schließlich auch seine Teilnahme am
algerischen Befreiungskampf motivierte - keine Möglichkeit einer
Identitätskonstruktion, die nicht unausweichlich an der zentralen kolonialen Entfremdung anknüpfte. In seinem später verfassten Buch "Die
Verdammten dieser Erde" (1969), das seinerzeit fälschlicherweise von
vielen als Gewaltapologie gelesen worden ist, denunziert Fanon die
extreme Gewalt, die die Kolonialmächte gegen die kolonisierten Völkern ausgeübt haben. Er beschreibt die Essenz der westlichen Zivilisation als Barbarei. In diesem Buch endet er aber seine Ausführungen
dann auch in einer sehr ausführlichen Diskussion über traumatisierte
Patienten. Fanon ist nicht berühmt geworden als Traumatheoretiker,
aber wir finden in ihm einen Psychiater, der sich bemüht, das psychische Leid seiner Patienten, das im Zusammenhang mit Krieg, Verfolgung, Folter und Mord entstanden ist, einerseits auf seine sozialen
Wurzeln zurückzuführen und andererseits in seinen relevanten psychischen Dimensionen anzuerkennen. Fanon entwickelt in diesem Sinne
sehr frühzeitig eine Traumatheorie, die opferzentriert bleibt, die auch
deutlich unterscheidet zwischen Tätern und Opfern, die aber vor allem
sozialpolitische Bezüge weiterentwickelt, während sie gleichzeitig,
ohne eine moralische Grundhaltung aufzugeben, durchaus versteht,
dass auch Täter traumatisiert sein können, obwohl sie diese Tatsache
von ihrer Verantwortung nicht entbindet.
Fanon beschreibt die sich in den kolonialen Beziehungsverhältnissen verdinglichende strukturelle Gewalt und die sich daraus ergebenden unausweichlichen Widersprüche in der Identitätsbildung. Fast
lacanianisch bilden bei ihm Traumata und essentielle Entfremdungen
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die Grundlage einer jeden Identitätsentwicklung. Dies allerdings nicht
so sehr ob des Wunsches der Mutter, mit dem das Kind, bevor es sich
selbst als solches empfindet, besetzt wird, sondern ob der sozialpolitischen Realitäten von Unterdrückung und Zerstörung, wie sie die koloniale Welt mit sich gebracht hat.
Edward Said baut auf Fanon auf und führt seine Gedanken noch ein
Stück weiter. Für ihn gibt es zwischen Kolonialherren und Kolonisierten notwendigerweise verflochtene Geschichten. Nicht nur die Identität des Schwarzen ist unauflöslich mit der des Weißen verknüpft,
sondern auch umgekehrt kann der Weiße sich nicht mehr ohne die
Kolonisierten definieren. Said spricht von "overlapping territories". Er
geht davon aus, dass auch in postkolonialen Verhältnissen das Machtgefälle zwischen Empire und Kolonie in gewissem Sinne erhalten
bleibt, vor allem aber auch in der Kultur hüben und drüben sich weiter
vergegenständlicht und fortsetzt. Genauso wie Fanon hält Said also die
Bezugnahme auf die koloniale Katastrophe für unausweichlich, gerade
auch in der heutigen Welt. Aber ein bisschen hoffnungsvoller sieht er
die Möglichkeit hier wechselseitige hybridisierende Verknüpfungen
aufzuzeigen und zu erklären. Er versucht Texte kontrapunktisch zu
lesen, also unter Nutzung musikalischer Kategorien auch im imperialen Text die Gegenstimme zu entdecken.
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Said war Literaturwissenschaftler; er hat sich mit Traumata nicht
beschäftigt, aber man kann mit seinen Theorien versuchen moderne
Traumatheorien kontrapunktisch zu lesen:
Da haben wir nun einerseits die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung. Diese Diagnose spricht von "post", obwohl es ein solches bei sozialpolitischen Traumatisierungen gar nicht gibt; sie spricht
von Stress, obwohl Trauma immer mehr ist als Stress, nämlich Zusammenbruch; sie spricht von "Disorder", obwohl die künstliche Psychopathologisierung politischer Verhältnisse zu einer Verschlimmerung
der Krankheit führen kann. Sie definiert eine unvollständige Symptomliste, und sie ist notwendigerweise eine Individualdiagnose, d.h.
es gibt keine Möglichkeiten Familien zu diagnostizieren oder auch
sogenannte sekundäre Traumatisierungen oder auch transgenerationale
Prozesse zu verstehen. Sie ist grundsätzlich kulturell ignorant und sie
hat ein rigides Zeitschema.
Betrachtet man diese Charakteristiken genauer, so kann man gerade
in den Leerstellen die verleugneten kolonialen Bezüge entdecken. Wie
gesagt, die PTBS wird ja ursprünglich für US-amerikanische Soldaten
erfunden, die in einem der letzten großen imperialen Kriege gekämpft
haben, in Vietnam. Dieser Krieg wurde verloren. Die Schrecklichkeiten dieses Krieges sollten irgendwie anerkannt, aber seine politische
Bedeutung, seine koloniale Zerstörungskraft gleichzeitig verleugnet
werden. Das wird sehr deutlich in dem beeindruckenden Film "Apokalypse now". Hier wird nicht zufällig Joseph Conrads imperiale Schlüsselgeschichte "Das Herz der Finsternis" in die Gegenwart des Vietnamkrieges verlegt. Sind bei Conrad aber noch die imperialen Bezüge
eindeutig mitzulesen (vergl. hierzu die hervorragende Analyse von
Edward Said, 1994) so erhält der Schrecken in "Apokalypse now" eine
zeitlose Dimension. Der Krieg an sich ist furchtbar, ob er nun in Vietnam oder sonst wo stattfindet, spielt eigentlich keine Rolle mehr.
Genauso verfährt die posttraumatische Belastungsstörung: Leid
wird anerkannt, aber seiner (kolonialen) Inhalte entkleidet. Soziale
Prozesse werden als krankheitsverursachend wahrgenommen, selbst
aber tabuisiert. Während mittels der PTBS Möglichkeiten entstehen,
weltweit traumatisches Leid wahrzunehmen und zu behandeln, werden
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gleichzeitig kulturspezifische Charakteristiken ignoriert und postkoloniale Machtverhältnisse verleugnet. Geschichte spielt plötzlich eine
Rolle, wird aber auf ein lineares Reiz-Reaktions-Schema reduziert.
Wie bereits ausgeführt, werden last not least Täter und Opfer relativierend als Traumatisierte anerkannt.
Ganz anders und in ihren Implikationen diametral entgegengesetzt
ist die Theorie der sequentiellen Traumatisierung von Hans Keilson.
Sie kann verstanden werden einerseits (wissenschaftsimmanent) als
der Höhepunkt einer Entwicklung der Traumatheorie, die mit Freud
und Ferenczi beginnt, und - wie gezeigt - über Balint, Winnicott, Kahn
u.a. bis zu Keilson führt. Sie muss aber auch andererseits verstanden
werden als dichtester Ausdruck eines politischen Prozesses, in welchem infolge des Holocaust die Opfer von Traumatisierungen neu
wahrgenommen und anders gewertet werden, was eine andere Traumatheorie impliziert.
"Als Hauptschwierigkeit erweist sich die Formulierung der Kriteria
aufgrund derer die verschiedenen Verfolgungsbelastungen nach Art
und Gewicht klassifiziert und das Material einer Bearbeitung erschlossen werden kann. Alle erwähnten Autoren stimmen darin überein, dass
es nicht möglich ist, erlittenes Leid in Zahlenwerten auszudrücken. Da
auch wir diese Unmöglichkeit sehen, haben wir uns angesichts des
breiten Spektrums der Belastungsmomente damit begnügt, die externen Faktoren der extremen Belastungssituation als Kriteria zu wählen,
und die psychische Realität nicht zu messen. Katalogisiert wurde also
nur, was dem betreffenden Kinde zugestoßen war, nicht wie es durch
das Kind erlebt und verarbeitet wurde. Diese Kriteria dienen uns
zugleich als Maß der Belastung" (Keilson, H., 1979, S. 426).
Hans Keilson schreibt über jüdische Kriegswaisen in Holland, mit
denen er während des Krieges im Untergrund gearbeitet hat, während
sie von holländischen Familien versteckt wurden. Er hat mit ihnen
nach dem Krieg gearbeitet als die Frage zu entscheiden war, ob sie
wieder zurück in jüdische Familienmilieus gegeben werden oder ob sie
bei den Familien bleiben sollten, bei denen sie Unterschlupf gefunden
hatten, und er hat viele von ihnen viele Jahre später als Erwachsene
noch einmal untersucht. Keilson hat damit die einzige bis heute exi66
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stierende, wirklich überzeugende Langzeituntersuchung an traumatisierten Personen vorgenommen, und in diesem Zusammenhang seine
Theorie der sequentiellen Traumatisierung entwickelt.
Das oben ausführlich wiedergegebene Zitat versteckt in der zurückhaltend-wissenschaftlichen Sprache eine Reihe extrem wichtiger Aussagen zum Thema Trauma. Keilson stellt fest, dass man psychisches
Leid nicht in Zahlenwerten ausdrücken kann, und dass deshalb das
Hauptkriterium für eine extreme Belastungssituation - sprich Trauma
- nur das sein kann, "was das Kind erlebt hat, was ihm zugestoßen
war". Keilson legt also einen deutlich externen Schwerpunkt, verbindet ihn aber mit der Verpflichtung genau diesen auch zu beschreiben.
Hier ist also nicht von einem abstrakten Stressor die Rede, sondern es
geht darum, den konkreten Kontext der traumatischen Situation zu
erfassen. Und dabei entwickelt Keilson dann seine bahnbrechende
Überlegung, in welcher Trauma kein Ereignis mehr ist, sondern ein
sequentieller Prozess. Das, was dem Kind zustößt, ist also nicht die
eine oder die andere schreckliche Erfahrung, sondern ein langer Entwicklungsprozess mit unterschiedlichen Vorkommnissen. Und so
definiert Keilson dann drei traumatische Sequenzen:
1. Die feindliche Besetzung der Niederlande mit dem beginnenden
Terror gegen die jüdische Minderheit und den damit verbundenen
Angriffen auf die soziale und psychische Integrität der jüdischen
Familien.
2. Die direkte Verfolgung, d.h. die Deportation von Eltern und Kindern, respektive Trennung von Mutter und Kind, versteckt in improvisierten Pflegemilieus, Aufenthalt in Konzentrationslagern.
3. Die Nachkriegsperiode mit der Vormundschaftszuweisung als
zentralem Thema.
Keilson kann in seiner Untersuchung nachweisen, dass eine relativ
günstige zweite und eine relativ ungünstige dritte traumatische
Sequenz im Erwachsenenleben zu schwerwiegenderen Pathologien
führt als eine relativ ungünstige zweite und eine günstige dritte. Keilson ist Psychoanalytiker und interessiert sich auch weiterhin selbstverständlich für die komplexen intrapsychischen Prozesse, die hier eine
Rolle spielen, aber er erkennt vorbehaltlos die Relevanz des sozialpo67
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litischen Kontextes an. Trauma ist nicht das Resultat eines Stressors,
sondern es geht um Verfolgung durch die Nazis, es geht um Aufenthalt
im KZ, es geht um das Problem der Vormundschaftszuweisung nach
dem Krieg. Keilson schiebt endgültig den Prozess und Entwicklungsgedanken in der Traumatheorie in den Vordergrund. Das ist schwierig
und unbequem aus vielerlei Gründen. Zum einen widerspricht es unser
aller Grundvorstellung von Trauma, in welcher der Zusammenbruch
als Folge einer Überwältigung stattfindet, quasi wie ein Blitzeinschlag.
Dieses quantitative Moment verschwindet auch bei Keilson nicht völlig, aber es geht eben nicht um einen Blitzeinschlag mit Folgen, sondern um viele Blitzeinschläge, um Zusammenbrüche und partielle
Rekonstruktionen, um neue Traumatisierungen, um Fortsetzungen
alter Verletzungen etc. Dies stimmt eigentlich viel überzeugender
überein mit dem, was traumatisierte Personen über ihre Erfahrungen
vermitteln. Sehr selten gibt es wirklich dieses eindeutige und einzigartige Erlebnis mit symptomatischen Folgen. Viel häufiger gibt es ein
schwierig zu durchschauendes Auf und Ab, gibt es Fragmentierungen
und Akkumulationen, gibt es die Gleichzeitigkeit von Struktur und
Strukturlosigkeit. Keilson ist unbequem, weil er uns zwingt dieser
komplizierten Tatsache ins Auge zu sehen, aber er ist auch erleichternd, weil er endlich einen schlüssigen Rahmen dafür liefert, warum
Traumata manchmal Symptome produzieren, manchmal nicht, und
warum jemand krank werden kann, auch wenn das scheinbar ursprünglich auslösende Ereignis schon viele Jahre zurückliegt.
Keilson ist noch aus einem weiteren Grunde unbequem, weil er
deutlich macht, dass das Leid nicht nur in der Vergangenheit passiert
ist, sondern immer auch in der Gegenwart. Der Vietnamsoldat ist also
nicht nur traumatisiert, ob seiner Erfahrungen in Vietnam, sondern
auch ob der sozialen Realitäten in den USA in der zu Ende gehenden
Nixon-Ära. Der Holocaust-Überlebende in Israel ist traumatisiert nicht
nur ob der KZ-Erfahrungen, sondern auch ob der aktuellen Realitäten
in Israel. Und die Flüchtlinge aus Bosnien oder aus Tschetschenien
sind nicht nur traumatisiert ob der Ereignisse in ihrem Heimatland,
sondern auch aufgrund der Erfahrungen, die sie in den Aufnahmeländern machen. Schließlich ist Keilson auch deshalb unbequem, weil er
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uns zwingt, den genauen traumatisierenden Kontext wirklich zu
beschreiben. Traumata in Chile sind also nicht das Gleiche wie Traumata im Holocaust oder Traumata im Irak.
Ein weiteres Problem ist, dass man die Sequenzen von Keilson
nicht einfach übertragen kann, gerade weil man sie ja kontextspezifisch definieren muss. Um dies zu erleichtern habe ich selbst vor einigen Jahren versucht, sechs allgemeine Sequenzen zu definieren, die als
Orientierung dienen können, kontextspezifisch die traumatischen
Prozesse zu beschreiben. Diese erleichtern gegebenenfalls die
Beschreibung traumatischer Prozesse in unterschiedlichen Gegenden
der Welt, aber sie beseitigen natürlich nicht das Problem, dass der
jeweilig spezifische Traumatisierungsprozess auch als solcher
beschrieben und erfasst werden muss. (Becker, 2006)1
Wenn wir nun die posttraumatische Belastungsstörung mit der Konzeption der sequentiellen Traumatisierung vergleichen, dann stellen
wir bei der PTBS Eindeutigkeit, konzeptionelle Klarheit und eine
bessere Eingrenzbarkeit dessen wovon geredet wird, fest. Aber dies
erfolgt zugunsten einer völligen Entkontextualisierung, zugunsten
einer Psychologisierung sozialpolitisch verursachter Wunden. Bei
Keilson ist es umgekehrt. Es ist weniger eindeutig, weniger fassbar, es
macht unsere diagnostische Aufgabe um vieles schwieriger, aber es
gibt uns die Möglichkeit den spezifischen Kontext angemessen zu
würdigen und aufzugreifen. In diesem Sinne ist die Keilson'sche Theorie um vieles antiimperialer als die PTBS.
Mit den hier entwickelten Überlegungen möchte ich die Diskussion
um Traumatheorien nicht darauf reduzieren, welche nun besser oder
schlechter sind. Vielmehr geht es mir darum, aufzuzeigen, dass Traumatheorien notwendigerweise immer auch Diskurse sind, und notwendigerweise immer auch moralische Werturteile. Wenn wir also über
Traumatisierungen auch als klinisches Phänomen reden, dann nehmen
wir gleichzeitig an einer gesellschaftlichen Diskussion teil. Der Streit
um Traumatheorie, um PTSB hier und sequentielle Traumatisierung
dort ist letztendlich auch Teil dessen, was die Traumatheorie von
Anfang an war, nämlich Teil einer gesellschaftlichen Debatte darüber,
was wir für Recht und Unrecht halten und wie wir mit den Opfern von
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Verbrechen umgehen. In sehr vielen Gesellschaften werden die Opfer
meistens noch härter bestraft als die Täter. Massenhafte Vergewaltigungen, wie sie z.B. im Bosnienkrieg stattfanden, waren bewusste
Strategien, um die Vergewaltigungsopfer auszugrenzen. Trotzdem gilt
wohl heute international im Wesentlichen ein Diskurs, der versucht,
die Rechte von Opfern anzuerkennen und diesen Gültigkeit zu verschaffen. Moderne Traumatheorie nimmt an dieser Diskussion weiter
teil. Und wenn man betrachtet, wie zum Teil heute über Flüchtlinge
debattiert wird, dann stellt man fest, dass der politische Fortschritt, der
die Anerkennung der Holocaust-Opfer bedeutet hat, so überzeugend
doch nicht ist, weil auch bei Flüchtlingen die alte Debatte wieder auftaucht, ob es hier nicht um Simulanten ginge, die eigentlich gar nicht
traumatisiert seien.
Nichtsdestotrotz hat sich nun doch international ein großes HilfsBusiness installiert. Kein Kriegsgebiet der Welt, in dem nicht früher
oder später Zentren aufgebaut werden, um den traumatisierten Opfern
zu helfen. Wenn sie dann nach ein paar Jahren immer noch Symptome
haben und der Hilfe bedürfen, fängt die internationale Gemeinschaft
an zögerlich zu werden, werden Gelder gekürzt. Aber immerhin, man
bemüht sich heutzutage ein bisschen bewusster um die, deren Leid
eigentlich im Mittelpunkt jeder Hilfe stehen müsste. Allerdings ist
auch dies natürlich ein Markt. Es war wohl erstmals während des Bosnienkrieges, dass man richtig sehen konnte, wie das funktioniert. Noch
während geschossen wurde und Menschen starben, flogen die Helfer
aus aller Welt ein und machten ihre Workshops über Conflict-Resolution, Non-violent-communication, Trauma-Treatment etc. Es gibt auf
der Welt heutzutage mehrere tausend verschiedene Traumatherapien.
Manche sind esoterischer als andere. Man kann sich Kerzen in die
Ohren stecken, man kann EMDR (Eye Movement Desensitization and
Reprocessing) durchführen, man kann "debriefed" oder narrativ exponiert werden. Man kann sich auch auf die Kenntnisse lokaler Heiler
verlassen. Selbstverständlich gibt es viel Kritisches, aber sicher auch
einiges Positive über all diese Aktivitäten zu sagen. Grundsätzlich
jedenfalls kann man einerseits mit Summerfield (1997) befürchten,
dass der Trauma-Boom nur eine weitere internationale Verleugnungs70
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strategie darstellt, um Leid zu entkontextualisieren und nicht wirklich
zu bearbeiten. Oder man kann annehmen, dass dies zwar eine ständige
Gefahr ist, dass es aber auch die kontrapunktische Möglichkeit gibt,
sich besser mit dem Leid der Menschen in den verschiedensten Gegenden der Welt zu beschäftigen, dass dies aber notwendigerweise eine
Auseinandersetzung ist, ein umkämpftes Feld, in welchem Trauma und
Traumadiskurs ständig gleichzeitig stattfinden, verhandelt, entwickelt
und eventuell verändert werden.
Erfahrungen im Gaza
Der Gazastreifen umfasst eine Fläche von ca. 364 qm, etwa 14%
dieser Fläche sind für die Landwirtschaft nutzbar. Es leben dort etwa
1,5 Millionen Menschen, d.h. ca. 3960 Einwohner pro Quadratkilometer. 50% der Bevölkerung sind unter 15 Jahre alt. Ein relevanter Teil
der Bevölkerung besteht aus Flüchtlingen, und zwar seit 1948. Ab
1967 bauten die Israelis im Gazastreifen Siedlungen auf für ca. 7.000
Personen und besetzten damit 40% der Fläche des Gazastreifens. Im
September 2005 zogen sich die Israelis aus diesen Siedlungen zurück.
Von 1987 - 1993 gab es die sogenannte erste Intifada, die sich durch
eine Beteiligung vieler unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb der
palästinensischen Bevölkerung auszeichnete. 1993 kommt es zum
Oslo-Abkommen und in der Folgezeit zur Schaffung der palästinensischen Autonomiebehörde. Von 2000 - 2005 dauert die zweite Intifada,
die sich durch eine starke Militarisierung, d.h. Einengung auf militante politische Gruppen kennzeichnet. Bei den Wahlen in den palästinensischen Gebieten 2006 gewinnt die Hamas, was aber international
niemand bereit ist anzuerkennen. 2007 übernimmt die Hamas mit
einem Gewaltstreich die Kontrolle über den Gazastreifen. Im Sommer
2008 findet der letzte Libanonkrieg statt; Anfang 2009 greift Israel mit
einem vierwöchigen Krieg massiv im Gazastreifen ein.
Stellt man sich die Entwicklung im Gazastreifen, die hier nur grob
skizziert wurde, im Sinne der von mir in Anlehnung an Keilson definierten sechs traumatischen Sequenzen vor, so könnte man annehmen,
dass es dort eigentlich spätestens seit 1948 immer nur zwischen der
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dritten und vierten Sequenz (direkter Terror und Chronifizierung) hin
und her gegangen ist. Selbst wenn man bereit ist anzunehmen, dass
Oslo 1993 kurzfristig die Perspektive eines Übergangs ermöglichte, so
kann doch für die Folgezeit kein Zweifel daran bestehen, dass Krieg
herrschte, und dass dieser bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt andauert.
Im Gazastreifen gibt es verschiedene Zentren, die sich mit dem
psychischen Leid der Bevölkerung befassen. Das bekannteste Zentrum
dieser Art ist das Gaza-Community-Mental-Health-Program
(GCMHP), das 1990 durch den Psychiater Dr. Eyad El-Sarraj gegründet wurde mit Dependancen in Gaza-Stadt, in Deir el Balah und in
Khan Yunis. GCMHP bietet psychiatrische Versorgung, EEG, Physiotherapie, Psychotherapie für Erwachsene und Kinder an sowie Kinderheilkunde. Des Weiteren gibt es einen Schwerpunkt in CommunityArbeit, in der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften und in Forschung und Dokumentation. Ein Zweig von GCMHP ist das WomenEmpowerment-Program (WEP), das von Shadia El Sarraj, der Schwester von Dr. Sarraj gegründet wurde und schließlich vier Dependancen
hatte (heute sind es noch drei) in Gaza-Stadt, in Beach-Camp, in Deir
el Balah und Raffah. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Arbeit mit
Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind und im Rahmen dieses
Programms die Möglichkeit von Beratung und Therapie erhalten,
sowie eine gewisse Berufsausbildung. GCMHP und WEP haben
immer auch Advocacy-Arbeit gemacht, Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen und Katastrophenhilfe in den jeweils aktuellen
Konfliktsituationen.
Versucht man nun die psychosoziale Situation der Bevölkerung im
Gaza zusammenzufassen, so kann man Folgendes festhalten: Die überwiegende Mehrheit sind Flüchtlinge in der dritten Generation; die
ökonomische Situation ist geprägt durch Armut und Abhängigkeit, und
das, was Ökonomen "De-Development" (Sara Roy, 1995) genannt
haben. Was immer ökonomisch im Gazastreifen passiert, wird einseitig und total durch Israel bestimmt. Daran haben auch die Tunnel an
der Grenze nach Ägypten wenig geändert. Der wichtigste Arbeitgeber
im Gazastreifen ist UNRWA, die Behörde der Vereinten Nationen, die
sich um die Flüchtlinge kümmert, Schulen unterhält und bis zum heu72
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tigen Tage Essen verteilt. Der Gazastreifen war über 30 Jahre lang
besetzt und außerdem ergab sich durch die Siedlungen eine interne
Dreiteilung des Gebiets, d.h. der Kontakt von einem zum anderen Teil
war häufig unterbrochen. In der ersten Intifada gab es einerseits eine
breite Widerstandsbewegung, die für viele auch ermächtigende Erfahrungen bedeutete, aber es gab eben auch die israelische Antwort auf
diesen Widerstand, d.h. viele Gefangene und viele öffentliche Demütigungen von Männern. Durch das Abkommen von Oslo entstanden
vorübergehende Hoffnungen auf Öffnungen und auf eine neue demokratische und friedlichere Zeit, die aber schnell frustriert wurden, und
die dann bald auch zu verstärkten innerpalästinensischen Schwierig73
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keiten führten. Die zweite Intifada brachte dann - wie gesagt - eine
erhebliche Militarisierung des Konfliktes und einen Ausschluss der
Zivilbevölkerung von diesem Prozess. Es ergab sich also eine Art doppeltes Disempowerment. In all diesen Jahren ist es also richtig, von
einem chronischen, niedrigschwelligen Krieg zu sprechen. Es gab
Bomben, die Zerstörung von Häusern, Tote, Inhaftierte, das ständige
Eingesperrtsein und die Belagerung. Und schließlich gab es bei all
dem eine Großzahl von Kollaborateuren, auf die eine oder andere
Weise in diese Rolle gezwungen und geächtet von allen.
Betrachtet man nun etwas genauer die Situation unter den Palästinensern, dann sind deutlich die Existenz von Selbstmordattentätern
oder "Märtyrern" wie die Palästinenser sagen, und das politische Verbot, die Toten zu betrauern. In einer Befragung von Kindern nach
ihrem Berufswunsch gaben viele an, Märtyrer werden zu wollen, was
nichts damit zu tun hat, dass palästinensische Kinder gerne sterben,
aber sehr wohl etwas mit einer allgemeinen Hoffnungslosigkeit und
der Wahrnehmung, dass die Märtyrer zu öffentlichen Helden hochstilisiert werden. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist
schwierig und von Missachtung und Gewalt gekennzeichnet. Insbesondere in der zweiten Intifada und nach der verschärften Abriegelung
des Gazastreifens ist die Situation von Frauen immer schwieriger
geworden. Häufig sind sie Opfer von Gewalt, dürfen diese aber nicht
öffentlich anklagen. Ehrenmorde werden als Kavaliersdelikte angesehen. Seitdem die Hamas an der Macht ist, sind die Regeln für Frauen
immer strenger geworden. Im Juni 2010 wurde als letzte seltsame
Maßnahme einer Reihe ähnlicher Vorschriften das öffentliche Pfeiferauchen von Frauen verboten. Insgesamt hat sich bis zur Machtübernahme der Hamas immer mehr Gesetzlosigkeit ausgebreitet. Es gab
Familien- und Clankonflikte, und wenn die Israelis ein Haus nicht
zerstörten, dann konnte es durchaus sein, dass ein Nachbar das Haus
zerstörte. Auch die Kämpfe zwischen Fatah und Hamas waren extrem
schwierig. In vielen Familien gab es Mitglieder in beiden Organisationen und es gab entsprechend Opfer auf beiden Seiten zu beklagen. Seit
der Machtergreifung durch die Hamas ist die interne Sicherheitslage
im Gazastreifen besser geworden.
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Der Krieg Anfang 2009 hat noch einmal eine völlig neue Dimension
an Zerstörung bedeutet. Die Bombardierungen waren massiv; es
gab mehr Tote als je zuvor; es gab die Erfahrung zuzuschauen, wie
Verwundete verbluten, weil man sie nicht ins Krankenhaus bringen
durfte; es gab mit Kot beschmierte Wohnungen, in denen Drohungen
standen, wir kommen wieder, wir treiben euch ins Meer, und es gab
nach dem Rückzug der Israelis die Hamas, die im Angesicht massivster Zerstörungen das Ganze zum Sieg erklärte. Zusammenfassend ist
es wohl richtig anzunehmen, dass im Gazastreifen von institutionalisiertem Disempowerment ausgegangen werden muss: Die Bevölkerung lebt in chronischer Angst, ist Opfer sequentieller Traumatisierung, Recht- und Rechtlosigkeit existieren nebeneinander, chronische
Hoffnungslosigkeit scheint die bestmögliche Alternative zum totalen
Terror.
Ich habe - wie am Anfang dieses Artikels bereits erwähnt - den
Gazastreifen seit 1995 in regelmäßigen Abständen besucht. Die
KollegInnen von GCMHP waren mir als hochqualifiziert bekannt, die
in einer schwierigen Lage versuchten kontextuell angemessene Angebote für die palästinensische Bevölkerung zu entwickeln. Dem Leiter
von GCMHP war es in all diesen Jahren geglückt von keiner Seite der
untereinander verfeindeten politischen Fraktionen vereinnahmt zu
werden. Im Gegenteil er genoss - und genießt bis zum heutigen Tage
- vielfältige Anerkennung. Seine Institution wird allgemein geschätzt,
obwohl sie inzwischen auch eine Größe erreicht hat (es arbeiten dort
über 100 Personen), die das Gesamtmanagement nicht unbedingt vereinfacht. Die grundsätzlich patriarchalen Strukturen der Gesellschaft
lassen sich natürlich auch dort wiederfinden. In den letzten Jahren hat
es auch von Seiten der Geldgeber Versuche gegeben, stärker auf die
Ausrichtung von GCMHP Einfluss zu nehmen. Im Vordergrund stand
dabei ein beliebtes Problem der internationalen Zusammenarbeit.
Grundsätzlich leistet man gerne Katastrophenhilfe, aber bietet ungerne
langfristige Dienste an. Man möchte helfen und lokale Strukturen entwickeln, aber eigentlich nicht Träger derselben sein. Im Gazastreifen
dauert die Katastrophe nun schon ziemlich lange, und für den ausländischen Besucher ist es manchmal etwas überraschend, wenn er sieht,
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dass ein "Flüchtlingslager" im Gazastreifen sehr viele Betonhäuser
bedeutet, die sich in nichts vom Rest der Stadt unterscheiden, außer
dass hier unwahrscheinlich viele Menschen auf sehr engem Raum
zusammenleben. GCMHP begann seine Arbeit mit einer deutlichen
"Service-Orientation", also einer Dienstleistung in Bezug auf die notleidende Bevölkerung. In diesem Zusammenhang war GCMHP kreativ
und interessant, verknüpfte Community-Arbeit, psychotherapeutische
Hilfe und politische Arbeit. Seit einigen Jahren nun gibt es aber Druck
von außen einen stärkeren Multiplikatoreneffekt zu erzielen. Anders
ausgedrückt: GCMHP soll weniger Dienstleistung anbieten und mehr
Ausbildungsaktivitäten durchführen, also zu einem "Wissenszentrum"
werden. So vernünftig dieser Gedanke in erster Instanz auch klingt, so
fragwürdig ist er bei näherem Hinsehen. Da nämlich die Notlage
andauert, sind gerade die Community-orientierten Dienstleistungen
der Institution besonders gefragt. Wenn sie nun anfängt, sich im
Wesentlichen umzuorientieren, und vor allem Aus- und Weiterbildung
zu machen, und diese Aus- und Weiterbildung dann plötzlich auch
noch typisch psychiatrisch-medizinisch orientiert wird, also die neuesten Traumatherapien versucht lokal zu importieren und anzuwenden,
dann ergibt sich tendenziell ein doppeltes Problem: Erstens beteiligt
man sich weniger an der psychosozialen Versorgung der Bevölkerung
und zweitens intensiviert man eine Fortbildung, die perspektivisch
entkontextualisierter wird. Natürlich sind dies nicht die einzigen Probleme. Es geht auch um Effizienz, es geht um die Frage, ob alle Mittel
adäquat verwendet werden, ob nicht manche Ausgaben wenig mit
einer bestimmten Arbeitsleistung und mehr mit einer Art Clan-Verantwortung für die Angestellten zu tun hat. Und natürlich haben auch die
externen Geldgeber unterschiedliche Ziele. Beispielsweise hat die
Schweizer Entwicklungshilfe eher neutrale Ansichten zum Thema der
Therapiemethoden, wohingegen die Hilfe aus Dänemark, die eng verknüpft ist mit dem dortigen internationalen Traumazentrum, eventuell
speziellere Ansätze und Ausrichtungen vertritt.
Nach dem Krieg 2009 galt nun meine persönliche Sorge, ganz
unmittelbar der Frage, ob die KollegInnen dort in dieser speziellen
Situation eventuell auch externer Hilfe bedurften. Ich ging davon aus,
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dass die Fachkräfte ebenso traumatisiert waren wie der Rest der Bevölkerung, und ich erfuhr gleichzeitig, dass GCMHP wieder einmal spezielle Katastrophenhilfe auf sich genommen hatte. In Absprache mit
GCMHP und mit freundlicher Unterstützung durch die humanitäre
Hilfe des Auswärtigen Amtes in Berlin kam es also zu einem kleinen
Projekt, welches einerseits die lokale Ausbildung von zusätzlichen
Hilfskräften finanzierte und andererseits ein begrenztes begleitendes
Supervisionsangebot durch ein vierköpfiges Team aus dem Ausland.
Unser Ansatz war dabei, im Abstand von etwa drei Monaten jeweils
eine knappe Woche in den Gazastreifen zu fahren und parallele Workshops für KollegInnen anzubieten, zum einen, um ein minimales Containment zu ermöglichen, zum anderen aber auch, um gemeinsam zu
überlegen, was jetzt die drängendsten Probleme waren und in welche
Richtung die KollegInnen dort die Arbeit weiter entwickeln wollen
würden.
Wir konnten das Programm zwar nicht genau so durchführen, wie
wir es ursprünglich geplant hatten, u.a. weil es nicht leicht war, die
Schwierigkeiten bei der Einreise zu überwinden, aber insgesamt hatten
wir doch Gelegenheit mit über 100 KollegInnen zu sprechen und
schließlich eine Art gemeinsame Diagnose der Situation zu erstellen.
Wir haben folgende Eindrücke festgehalten:
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Eindrücke über die allgemeine psychosoziale Befindlichkeit der Bevölkerung im Gazastreifen:
• Von der Ausnahmesituation zur Chronifizierung - von der sichtbaren
Betroffenheit zur Normalität der Hoffnungslosigkeit. Die eigentliche
Ausnahmesituation des Krieges ist jetzt vorbei, aber im Krieg hatte
man noch mehr das Gefühl, hier und da helfen zu können. Jetzt gibt
es keinen Krieg mehr und man sieht nur die Intensität der Zerstörung.
• Schlüsselsymptome: Angst, Depression;
• Schlüsselthemen: Trauer, Schuld, Gewalt, Machtlosigkeit, Wut und
Betroffenheit, Misstrauen, ökonomische Probleme;
• Schlüssel-Klienten: Kinder und Jugendliche (Verletzte, Verlust eines
Familienmitgliedes, Verlust des Zuhauses, sekundäre Traumatisierung); Frauen: (Verwundete, Verlust von Familienmitgliedern, Verlust des Zuhauses, Opfer genderspezifischer und sexueller Gewalt);
Männer: (Verwundete, Verlust von Familienmitgliedern, Verlust
des Zuhauses, Opfer der Israelis, Opfer innerpalästinensischer Konflikte);
Eindrücke von der psychosozialen Situation der Mental Health Professionals:
Symptome:
• "Multi tasking" - die Schwierigkeit überall zu sein und alles gleichzeitig zu tun; in Wirklichkeit aber nichts mehr zu Ende führen zu
können;
• die Schwierigkeit Hoffnung zu empfinden;
• die Verpflichtung zu helfen und die Schwierigkeit, häufig nicht helfen zu können; zwischen Allmacht und Schuld;
• die Schwierigkeit Grenzen zu setzen;
• Umgang mit Wut
Burn out:
• Primäre Traumatisierung;
• sekundäre Traumatisierung;
• emotionale Erschöpfung;
• wachsende Arbeitslast;
• Teamprobleme
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Eindrücke von der psychosozialen Situation anderer Berufstätiger
(Lehrer):
• Primäre Traumatisierung;
• wachsende Arbeitslast;
• Teamprobleme;
• die Schwierigkeit mit Problemen umgehen zu müssen, auf die man
beruflich nicht vorbereitet wurde;
• der Umgang mit Gewalt, Hass und Aggression;
• der Umgang mit Hoffnungs- und Hilflosigkeit;
• der Umgang mit Angst;
• der Umgang mit Verlust und Trauer;
• der Umgang mit Trauma.
Aus der hier stichpunktartig wiedergegebenen Diagnose wird deutlich, wie vielfach kompliziert die Situation der KollegInnen im
Gazastreifen nach dem Krieg war. Ganz entscheidend war bei vielen
der Wunsch und auch die Energie, in dieser Notlage etwas Helfendes
zu tun, und plötzlich festzustellen, dass man nichts tun kann, dass man
also wieder in die Chronifizierung abgleitet. Bei vielen war eine erhebliche Selbstbetroffenheit zu spüren, sie waren verzweifelt, hatten das
Gefühl, die Israelis könnten jederzeit wiederkommen, und es fiel ihnen
manchmal zu ihren PatientInnen einfach nichts mehr ein. Im Gespräch
setzte dann meistens ein Wiederanknüpfen, auch an die eigene vorangegangene Reflexionstätigkeit und -fähigkeit ein. Es stellte sich auch
heraus, dass z.B. der Umgang mit Bettnässen ein ganz anderer sein
muss, wenn es - wie im Gazastreifen - so massiv auftritt, dass praktisch
keine Familie davon verschont ist. Versucht man dann mit verhaltenstherapeutischen Einzeltherapiemethoden einzugreifen, verschlimmert
man die Problematik eventuell noch. Auch wurde sehr deutlich,
wie extrem schwierig der Umgang mit der eigenen Schwäche und der
Notwendigkeit zu trauern in diesem Zusammenhang ist. Offiziell ist
nach einem angeblichen Sieg Trauern sowieso nicht angesagt, aber
auch über diese Vorgabe hinaus ist es extrem schwierig, in einer Situation von Zerstörung und Demütigung sich das Recht auf Trauer einzu79
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räumen. Die Angst, dass die Verzweiflung ins Unendliche wächst ist
nachvollziehbar sehr groß.
Und noch ein weiteres spezielles Problem, auf das die palästinensischen KollegInnen hingewiesen haben sei hier erwähnt: Neuerdings
wird der Gazastreifen mit Tramal überschwemmt, einem Schmerzmittel, dass gerade unter Jugendlichen immer mehr Verbreitung findet und
inzwischen zu absoluten Schleuderpreisen im Gaza erworben werden
kann. Ursprünglich wurde es wohl vor allem von den in den Tunneln
arbeitenden Jugendlichen benutzt, weil man so in den engen sauerstoffarmen Tunneln länger durchhalten konnte, unempfindlicher gegen
Schmerzen wurde. Inzwischen ist Tramal wie gesagt zur Modedroge
geworden, mit all den furchtbaren Konsequenzen der Schmerzunempfindlichkeit, was auch die Aggressivität erhöht: Wenn auf einen eingeschlagen wird oder man selbst jemanden andern schlägt spürt man die
Schmerzen weniger.
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Wir haben mit den KollegInnen über die sich aus diesen Problemen
ableitenden Bedürfnisse gesprochen. Sehr deutlich wurde dabei, wie
wichtig es ist, zuverlässige lokale Supervisionsstrukturen aufzubauen,
nicht nur für psychologische Fachkräfte, sondern auch für Lehrer und
andere helfende Berufe. Dass es schwierig ist, solche Strukturen trotz
des allgemeinen, auch wechselseitigen Misstrauens überhaupt herzustellen, ist sehr verständlich. Aber dass ein minimaler permanenter
Reflexionsraum für Fachkräfte nötig ist, steht zwar außer Zweifel, ist
aber auch sehr schwierig, weil unter gewissen Umständen Reflexion
als Luxus erscheint und weil mitten in der Zerstörung Reflexion auch
ein "Noch Mehr" an Verzweiflung bedeuten kann. Reflexion ist aber
notwendig nicht nur um selbst handlungsfähig zu bleiben oder wieder
zu werden, sondern ganz zentral auch um immer wieder angemessene
lokale Antworten auf den spezifischen Traumatisierungsprozess zu
finden. Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt war es, zu unterstützen,
dass trotz aller Fortbildungsaktivitäten, GCMHP zu Recht auch
Dienstleistungen betreibt. Es ist eine entwicklungspolitische Illusion
zu erwarten, dass unter solchen Umständen Institutionen wie GCMHP
vor allem Lehre betreiben können. Sie müssen - wenn sie glaubwürdig
bleiben wollen - sich an einer, sowieso ungenügenden, Versorgung der
Bevölkerung weiter beteiligen.
Wenn man sich unter solchen Umständen grundlegende Perspektiven der psychosozialen Arbeit überlegt, dann geht es eben nicht
darum, die ganze Welt zu verändern, aber vielleicht doch ein paar
minimale Potentiale zu entwickeln. Vielleicht geht es im Gazastreifen
darum, kleine Räume der Sicherheit zu schaffen, die ein Stück Reflexion, Trauer, Symbolisierung, Angstmanagement ermöglichen. Vielleicht geht es um den Kampf gegen Vereinzelung und Misstrauen, um
Lebensplanung im Chaos, um die Verringerung von Selbstzerstörung,
um psychosoziales Empowerment so weit wie möglich, inklusive der
praktischen Bearbeitung der ökonomischen Überlebensstrategien. Es
geht sicherlich auch um den Kampf für die Verringerung der Gewalt
gegen Frauen, um den Schutz von Gewaltopfern, um die Bezeugung
von Menschenrechtsverletzungen und um die Stärkung dessen, was es
an Zivilgesellschaft noch gibt. Last not least geht es wohl um die Ver81
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teidigung von Menschlichkeit in der Unmenschlichkeit. Und dazu
gehört notwendigerweise die Unterstützung von Trauerprozessen.
Aus den Schlussfolgerungen, die wir gemeinsam mit den KollegInnen im Gazastreifen erarbeitet haben, haben wir dann ein neues Projekt
entwickelt, das - während ich diese Zeilen schreibe - seine Arbeit
aufnimmt, wiederum finanziert durch die humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland. Wir versuchen jetzt
gemeinsam, auch mit KollegInnen in der Westbank, nachhaltige
Supervisions- und Coachingstrukturen aufzubauen und gleichzeitig
niedrigschwellige psychosoziale Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Sportaktivitäten zu ermöglichen. Dabei wird es
zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen pädagogischen und psychologischen Fachkräften kommen, Konfliktverhalten und -umgang
mit Aggression wird in der Arbeit mit den Kindern im Mittelpunkt
stehen. In 4 Schulen in sozialen Brennpunkten werden insgesamt etwa
800 Jungen und Mädchen kontinuierlich und intensiv betreut und zwar
im Rahmen von Fußballmannschaften. Die die Mannschaften betreuenden TrainerInnen, werden wiederum durch psychologische Fachkräfte begleitet. Gleichzeitig findet ein Supervisionstraining statt, das
lokale und internationale Experten gemeinsam durchführen und in
dem sowohl in der Westbank als auch im Gazastreifen jeweils 16 Personen ausgebildet werden, die während des gesamten Trainings wiederum ihrerseits jeweils eine Institution betreuen. So hofft das Projekt
nicht nur 32 Personen auszubilden, ebenso wie ein tragfähiges lokales
Curriculum für diese Ausbildung, sondern gleichzeitig ein stabiles
Kooperationsnetzwerk zwischen jeweils 16 Institutionen zu erarbeiten.
Ist dieses Projekt nun besser als viele andere? Ich glaube nicht,
obwohl ich froh bin, dass wir hier etwas entwickeln, dass wir trotz
allen Differenzen, allen postkolonialen Macht- und Interessensproblemen gemeinsam begründet haben. Allerdings ist es auch nicht der
Zweck meiner Überlegungen hier, eine abschließende Wertung solcher
Zusammenarbeit vorzunehmen. Vielmehr möchte ich aufzeigen, wie
schwierig und kleinteilig diese Arbeit ist, und wie notwendig es gerade
hierbei ist, sorgfältig mit einem kritischen Traumabegriff und im
Bewusstsein eines immer politischen Traumadiskurses zu arbeiten.
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Wie lächerlich ist es z.B., wenn man sich die oben geschilderten Verhältnisse im Gazastreifen vorstellt, mit dem PTBS-Diagnose-Schema
zu arbeiten, schlimmer noch, es ist entfremdend und zerstörerisch.
Eine Traumabegrifflichkeit für den Gazastreifen muss prozessorientiert und kontextgebunden sein. Alles andere ist notwendigerweise
falsch. Selbstverständlich spielen postkoloniale Realitäten immer eine
Rolle. Wir sind keine unbeteiligten Zuschauer, und wir mögen uns
zwar hilflos fühlen, wenn wir dort arbeiten, aber aus der Sicht derjenigen, die dort leben, haben wir eine Macht, haben unsere Staaten eine
Macht, die sie nicht nutzen, um den Frieden dort herbeizuführen. An
dieser Verantwortung können wir nicht vorbei arbeiten, auch wenn wir
uns hierzu individuell genauso machtlos fühlen, wie unsere Partner vor
Ort. Ich bin der Ansicht, dass es sinnvoll ist, sich mit traumatisierten
Menschen weltweit zu beschäftigen. Ich glaube auch, dass es in keinem Konfliktkontext genügend lokale Ressourcen gibt, um eine solche
Arbeit eigenständig aufbauen und durchführen zu können. Es kommt
also auf die internationale Hilfe an. Diese aber muss sehr viel selbstkritischer die eigene Begriffswelt hinterfragen und muss helfen echte
kontextorientierte psychosoziale Arbeit zu entwickeln anstatt imperialen Ansätzen der Traumaarbeit Vorschub zu leisten. Eine nützliche
Traumatheorie muss das Empire in Frage stellen.
Im Gazastreifen gibt es einerseits eine lokal gut verankerte und
strukturierte Traumaarbeit, vieljährige Erfahrungen und hoch qualifizierte Fachkräfte. Andererseits könnte diese Arbeit ohne externe Hilfe
nicht geleistet werden und ist sie auch selbst immer wieder erheblichen
Schwankungen unterworfen und zwar als Folge der stattfindenden
Zerstörungsprozesse sowie der internationalen Einflussnahmen, die
auch mittels Wissenschaft und Wissenschaftsimporten sich umsetzen.
Der moderne Traumadiskurs stellt in mancher Hinsicht einen Rückschritt gegenüber den Errungenschaften und Entwicklungen in Folge
des Holocaust dar. Er ist technizistisch und geriert sich als apolitisch,
oder, was eben so schlimm ist, er wird zwar für eine politische Argumentation genutzt, aber die spezifischen Behandlungsmethoden werden abgespalten von der Wahrnehmung der sozialpolitischen Dimensionen und ohne sie selbst aus dieser Perspektive kritisch zu werten,
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eingesetzt. Wissenschaft ist immer auch Wissenschaftsdiskurs. Traumaarbeit ist immer auch politischer Konflikt und zwar nicht nur um
beispielsweise Opfer von Menschenrechtsverletzungen als solche zu
definieren, sondern auch durch die Art und Weise wie bestimmte
Behandlungsmethoden die Traumatisierten eher er- oder entmächtigen, die Anerkennung individuellen Leids und die Verknüpfung zwischen diesem und den gesellschaftlichen Prozessen eher ermöglichen
oder eher verhindern, postkoloniale Beziehungsrealitäten eher anerkennen oder eher verleugnen. Der vorliegende Aufsatz kann auf viele
der hier aufgeworfenen Fragen keine abschließenden Antworten
geben, aber er versucht Ansatzpunkte dafür zu liefern, auf welche Art
und Weise traumatische Prozesse und die unumgänglich mit ihnen
verknüpften moralischen Diskurse vielfältig reflektiert werden müssen, um eine halbwegs sinnvolle Praxis zu ermöglichen.
Literatur
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Balint, M. (1970): Therapeutische Aspekte der Regression. Stuttgart: Klett
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Fassin, D., Rechtmann, R. (2007): L'Empire du Traumatisme. Paris: Flammarion
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Fußnote:
1 Ich unterscheide wie folgt: 1. Vor Beginn des traumatischen Prozesses (dieses Zuvor muss bestimmt werden, gerade weil es in den meisten Fällen selbst
bereits ein Danach ist). 2. Beginn der Verfolgung (dies deckt sich mit Keilsons
erster Sequenz und beschreibt eine Phase, in welcher man rückblickend bereits
den beginnenden Terror erkennen kann, aber in welcher es noch den Anschein
hat, also ob die Dinge nicht ganz so existentiell bedrohlich wären). 3. Akute
Verfolgung: der direkte Terror (diese Phase umfasst die Erfahrung schwerster
existentieller Bedrohungen). 4. Akute Verfolgung: Chronifizierung (Krieg
findet nicht als aktiver Dauer-Terror statt, sondern man kann immer zwischen
Momenten des akuten Terrors und solchen unterscheiden, wo eigentlich nichts
passiert, wo man wartet. Der Krieg oder die Diktatur gehen zwar weiter, insofern geht auch die akute Verfolgung weiter, aber sie ist in eine Etappe der
Chronifizierung oder der scheinbaren Beruhigung eingetreten. Die 3. Und 4.
Phase alternieren konstant). 5. Zeit des Übergangs (Nicht jedes Kriegsende ist
eindeutig; manchmal dauert der Übergang viele Jahre. Manchmal gibt es Friedensverhandlungen und eine Zeitlang scheinen sich die Verhältnisse zu verbessern, und dann gibt es doch wieder Krieg. Auch Diktaturen hören nicht von
einem Tag auf den anderen auf; es gibt also immer eine Übergangszeit mit
ihren speziellen Eigengesetzlichkeiten. 6. Nach der Verfolgung (Diese Phase
ist identisch mit Keilsons dritter Sequenz).
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Elisabeth Rohr, Professorin für
Interkulturelle Erziehung am
Institut für Schulpädagogik.
Phillips-Universität Marburg.
Zuletzt: gemeinsam mit Ulrike
Wagner-Rau und Mechthild Jansen (Hg.): Die halbierte Emanzipation? Fundamentalismus und
Geschlecht. Königstein/Ts., 2007.
[email protected]
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DIE KURDISCHE SCHÜLERIN
EINE FALLINTERPRETATION
ELISABETH ROHR
In den erziehungswissenschaftlichen Diskursen zum Thema Migration und Schule ist seit einigen Jahren ein weitreichender Paradigmenwechsel eingeleitet worden. Teilweise auch im Bündnis mit systemischen Theorieorientierungen werden zunehmend subjekt- und konfliktzentrierte Theorien nicht nur als antiquierte, sondern darüber hinaus auch als defizitorientierte Theorieansätze verworfen.1 Kritik und
Ablehnung richten sich nicht nur, aber vorrangig an die Psychoanalyse, der man vorhält, zu wenig potential- und ressourcenorientiert zu
denken und zu arbeiten. Unabhängig davon wie dieser Paradigmenwechsel zu werten ist, fällt allerdings auf, dass die systemisch orientierten Ansätze, zumindest was den Themenbereich Migration und
Schule angeht, den Anspruch nach vermehrter Erkenntnisgewinnung
bisher noch nicht haben einlösen können. So ist es bislang weder
gelungen zu einer tragfähigen Diagnose der in allen PISA-Studien sich
manifestierenden negativen Leistungsbilanz von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, noch zu einer Diagnose der hohen
Koinzidenz von sozialer Herkunft und schulischem Versagen zu gelangen.
Konsens scheint allerdings zu sein, dass die strukturellen Homogenisierungszwänge in den Schulen die Hauptschuld an dieser Leistungsmisere von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund tragen (Gomolla, Radtke 2002). Doch selbst in renommierten Studien
wie der von Gogolin u.a.(2003), werden nur einige zaghafte Vermutungen2 als Erklärung für die Lernschwierigkeiten von Migrantenkindern
und –jugendlichen angeboten und ansonsten Ratlosigkeit eingestanden. Solange aber nur nach manifesten und nicht auch nach unbewussten Faktoren geforscht wird, kann es nicht gelingen, misslingende
Lernprozesse in ihrer Komplexität zu verstehen und entsprechend
korrigierende Handlungsoptionen zu entwickeln. Was fehlt ist ein
Ansatz, der in der Lage ist, nicht nur das Unbewusste in der schuli87
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schen Institution, sondern auch das Unbewusste in den sozialen und
kollektiven Interaktions- und Kommunikationsstrukturen der schulischen Beziehungen aufzudecken und zu verstehen.
Von daher scheint es geboten, nicht nur die Vielschichtigkeit von
migrationsgeprägten schulischen Kontexten in den Blick zu nehmen,
sondern auch die zur Verfügung stehenden theoretischen und methodischen Potentiale der Psychoanalyse, der Ethnopsychoanalyse (Erdheim 1982) und der Gruppenanalyse (Foulkes 1974) für eine Analyse
der schulischen Komplexität zu nutzen. Denn die Schwierigkeiten von
Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schule
lassen sich nicht alleine auf strukturelle Homogenisierungszwänge im
schulischen Alltag und auf den scheiternden produktiven Umgang mit
Heterogenität reduzieren. Gefragt ist hier der Einbezug des Unbewussten und zwar in einer multiperspektivischen Dimension: Es geht um
die Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, um die Beziehung
zwischen Lehrern und Schulklasse, um die Beziehung zwischen Klasse und Schule und schließlich um die Beziehung zwischen Lehrerschaft und Schule.
Nun hat es seit Freud eine ganze Reihe von erkenntnisreichen Studien über die vielfältigen Übertragungsbeziehungen im schulischen
Kontext gegeben, wobei der Fokus hier überwiegend auf die Analyse
der Lehrer-Schüler-Beziehung ausgerichtet war. Nicht nur Freud hat
sich in einer seiner frühen Schriften (1914) mit der „Psychologie des
Gymnasiasten“ beschäftigt und hier vor allem die Übertragungsdimensionen hervorgehoben, sondern dies hat später auch Fürstenau in seinen Überlegungen über die „Psychoanalyse der Schule als Institution“
(1964) aufgegriffen und schließlich Wellendorf in seiner Studie über
„Schulische Sozialisation und Identität“ (1974) weiterentwickelt.
Besonders bei Fürstenau wird die Komplexität der Übertragungsdimensionen zwischen Lehrer und Schüler und deren Auswirkungen auf
das Lernverhalten auf eine zum Teil faszinierende Art analysiert. Fürstenau kann dabei ebenso wie Wellendorf überzeugend verständlich
machen, warum es z.B. zu Disziplinlosigkeit kommt, warum Lehrer
mit einem hohen Maß an Rigidität versuchen Zucht und Ordnung in
die Klasse zu bringen und warum einige Schüler keine Chancen haben,
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jemals mit ihren Leistungen zu reüssieren. Beide stimmen mit Freud
und übrigens auch mit Adorno (1965) darin überein, dass die Schule
als Institution mit einem kognitiven Leistungsauftrag nur durch
zwanghafte Unterdrückung von libidinösen und aggressiven Triebstrebungen glaubt ihr Ziel, sprich Wissensvermittlung und kognitive
Leistung, erreichen zu können. Dort aber wo die Abwehr und Unterdrückung dieser Triebwünsche nicht gelingt, kommt es zu regressiven
Prozessen und damit zu schulischen Schwierigkeiten bis hin zu Lernstörungen, die jedoch, und darauf hat insbesondere Erdheim (1983)
verwiesen, in der Sekundarstufe II, also in der Adoleszenzphase der
Jugendlichen, andere Ausprägungen haben als in der Grundschule,
also der Latenzphase der Kinder. In der Sekundarstufe II sind sowohl
libidinös wie aggressiv motivierte Abwehrvorgänge und die damit
verbundenen regressiven Prozesse zwangsläufig sexueller Natur, weil
durch die Regression die ungelösten Konflikte der Adoleszenz reaktiviert werden.
Erdheim (1983) betont hierbei, dass die Schule nicht nur Wiederholungen der verinnerlichten Erfahrungen aus dem Elternhaus in der
Beziehung zu den Lehrern reproduziert, sondern sich auch als ein Ort
anbietet, diese verinnerlichten Erfahrungen im Sinne einer „zweiten
Chance“ zu korrigieren. Allerdings gesteht auch er ein, dass die Schule, so wie sie heute in aller Regel organisiert ist, dazu neigt, die elterlichen Übertragungsmuster zu fixieren und damit Schüler wie auch
Lehrer in eine Regression zu versetzen, die die frühkindlichen, bzw.
adoleszenten Konflikte auf beiden Seiten reaktiviert.
Nun haben aber sowohl Wellendorf (1974) wie auch Bosse (1985)
in ihren jeweiligen Studien hervorgehoben, dass es nicht reicht, lediglich die vorherrschenden Übertragungsbeziehungen zwischen Lehrern
und Schülern zu analysieren, sondern darüber hinaus gilt es die schulischen Interaktions- und Kommunikationsprozesse als Ausdruck von
„szenischen Arrangements“ (Wellendorf) und schließlich auch als
Spiegelungen einer institutionell unbewussten Matrix3 aufzugreifen
und zu verstehen.
An Hand eines, zugegeben, drastischen Fallbeispiels eines schulischen Umgangs mit Migration, möchte ich verdeutlichen, welche
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Vielfalt an institutionell unbewussten Dimensionen und individuellen
wie institutionellen Übertragungen zu berücksichtigen sind, wenn es
darum geht, zu einem Verstehen von libidinös wie aggressiv aufgeladenen sexualisierten Szenen in der Schule zu gelangen und dass erst
ein (ethno)-psychoanalytisches Verstehen es ermöglicht, pädagogisch
sinnvolle Handlungsoptionen zu entwickeln. Konkretes Anliegen ist es
zu zeigen, dass die Komplexität der Situation ohne die Zuhilfenahme
tiefenhermeneutischer Methoden wie des szenischen Verstehens und
eines gruppenanalytischen Verständnisses der Institution unverstanden
bleiben würde und ein Zugang zu den verborgenen Dimensionen dieses Falles nicht geleistet werden könnte.
Der Fall
In der Zeitschrift „Forum Politische Bildung“ vom Januar 1990
erschien ein Artikel, der über gravierende fremdenfeindliche Vorfälle
in einer 9. Hauptschulklasse einer Stadtrandgemeinde Osthessens
berichtete. Bemerkenswert an dem Fall ist, dass überhaupt darüber
berichtet wurde und dass ein betroffener Lehrer dieser Schule, KlausUlrich Meier-Schreiber, darüber schrieb und reflektierte, warum es
ihm, trotz aller pädagogischen Bemühungen, nicht gelungen war, diese
fremdenfeindlichen Tendenzen zu überwinden. Für eine Sekundäranalyse eignet sich dieser Fall nicht nur wegen seiner inhaltlichen Dramatik, sondern auch weil entsprechende Fallbeschreibungen in der Literatur relativ rar sind und der Vorfall bis heute nichts an Aktualität
eingebüßt hat.4
Wichtig zu erwähnen seien vorab zwei Punkte, die für das Verstehen der Dynamik des Fallgeschehens von großer Bedeutung sind: zum
einen vertrat der Autor des Artikels den erkrankten Klassenlehrer in
einer 9. Hauptschulklasse und zum anderen standen einige Schüler
dieser Abschlussklasse im Verdacht, einige Jahre zuvor, Gräber auf
dem jüdischen Friedhof geschändet zu haben. Dieser Verdacht konnte
jedoch nie erhärtet werden.
Nun zu den Vorfällen: Anfang des Jahres 1989 war eine kurdische
Schülerin in die 9. Abschlussklasse einer Hauptschule gekommen. Sie
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sah älter aus als in den Akten angegeben und ihr stand bereits der vierte Schulwechsel bevor. Sie wurde von Seiten des Direktors in die
Klasse des erkrankten Lehrers und damit in jene Klasse gesetzt, die im
Verdacht stand den jüdischen Friedhof geschändet zu haben.
Ihre Situation dort gestaltete sich von Anfang an äußerst schwierig.
Niemand wollte neben oder auch nur in ihrer Nähe sitzen. Alle pädagogischen Versuche des Lehrers sie zu integrieren, schlugen fehl. Argumente, Appelle und inhaltliche Diskussionen waren nutzlos. Die Haltung der Schüler änderte sich in keiner Weise, im Gegenteil, sie verhärtete sich noch.
Eines Tages eskalierte die Situation: Auf der Fensterbank neben der
Klassenzimmertür lag „ein großer grüner Gummihandschuh. Auf diesem Handschuh war mit Filzstift geschrieben: ‚Nur für Deutsche’ und
‚Bazillenschutz’. Die Beobachtung ergab, dass die deutschen Schüler,
die den Klassenraum verließen, zunächst den Handschuh anzogen,
dann die Türklinke anfassten und die Tür öffneten. Anschließend
wurde der Handschuh wieder an die entsprechende Stelle gelegt“
(Meier-Schreiber 1990, S. 4).
Auf Nachfrage stellten die Schüler die Sache zunächst als ‚harmlosen Spaß’ dar. Der beleidigende Charakter dieser Aktion und die damit
verbundene Botschaft, dass nämlich die kurdische Mitschülerin
Krankheitserreger mitgebracht haben könnte, war ihnen zwar klar,
aber nicht problematisch.
„Ach, wissen Se, der W.’, (ebenfalls ein Mitschüler) ‚hat auch
AIDS, da müssen wir uns ja auch schützen“ (ebd.).
Eine zweite Episode hatte ähnlich erschreckende Qualität. Vor
Unterrichtsbeginn saßen alle deutschen Schüler eng zusammengekauert auf dem Fußboden vor dem Klassenzimmer. Auf die Frage des
Lehrers, was denn das schon wieder zu bedeuten habe, wurde geantwortet: „Gehen Sie da nicht rein, die B. wirft mit Mülleimern, wir
haben alle Angst“ (ebd.).
Der Blick in den Klassenraum bot dann ein sehr eigentümliches
Bild: Die Klasse war ganz leer. Vergleichsweise klein und verschüchtert saß B. auf ihrem Platz. Um sie herum lagen große Mengen Müll
und ein umgekippter Papierkorb. Auf die Aufforderung hin kamen die
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Schüler wieder in den Klassenraum und teilten auf Befragen mit, dass
B. mit dem Mülleimer nach einem anderen Schüler geworfen habe.
Genaueres Nachfragen ergab dann einen anderen Verlauf der Angelegenheit. „Die Schüler hatten – wohl nicht zum ersten Mal – den großen
Mülleimer in der Pause auf den Tisch ihrer Mitschülerin gestellt. B.
war daraufhin so in Wut geraten, dass sie den Eimer vom Tisch in
Richtung auf den vermuteten Anstifter dieser Aktion gestoßen hatte…
In der Folge stand fast jede Stunde auf dem Tisch von B. der Mülleimer, zeitweilig auch über ihren Stuhl entleert. Von diesem Zeitpunkt
an kam B. nur noch sehr unregelmäßig zur Schule. Das hinderte die
Schüler aber in keiner Weise daran, mit ihrer Aktion fortzufahren: es
stand jetzt eben auf dem leeren Platz der Mülleimer“ (ebd.).
Anknüpfungspunkt für die folgende Interpretation sind die zuvor
beschriebenen Szenen: Dies möchte ich in einem ersten Schritt mit
Hilfe des von Lorenzer (1971) entwickelten szenischen Verstehens
interpretieren und diese Erkenntnisse dann in einem zweiten Schritt
mit einer (ethno-) psychoanalytischen und zugleich institutionsbezogenen gruppenanalytischen Interpretation des schulischen Umgangs
mit Fremdheit verbinden.
Szene: Der Gummihandschuh
In der ersten Szene bringt das demonstrative Überstreifen des Gummihandschuhs auf dem steht ‚nur für Deutsche’ und ‚Bazillenschutz’
eine Phantasie zum Ausdruck, die in der Vorstellung gipfelt, die kurdische Mitschülerin trage eine ansteckende, ja todbringende Erkrankung,
nämlich AIDS in sich und es bestände die Gefahr sich zu infizieren.
Diese Phantasie ist den Schülern durchaus bewusst und wird nicht
verleugnet. Verleugnet wird allerdings die sexuelle Anspielung des
übergestreiften Gummihandschuhs und dass diese Vorstellung sowohl
eine erotische wie eine aggressive, eine bemächtigende wie auch eine
gewalttätige Phantasie verbirgt.
In dieser Szene geht es mithin um die Ambivalenz von Anziehung
und Abwehr. Dabei scheinen die Berührungswünsche der Schüler so
Anstoß erregend und so ängstigend, dass sie mit Krankheit und Tod in
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Verbindung gebracht werden und nur als aggressive und gewalttätige
Bemächtigungsphantasien zum Ausdruck kommen. Das im gleichen
Zuge verbalisierte Schutzbedürfnis der Schüler wäre dann als Reaktion
auf diese in der Begegnung mit der fremden, kurdischen Schülerin
ausgelösten Phantasien zu begreifen, die sowohl von Angst und
Schrecken, aber auch von Lust und Faszination geprägt sind.
In dieser Szene wird mithin ein Bild von der Migrantin als sexualisiertem Objekt entworfen, wobei sie in der Projektion gleichsam zur
Hure wird, die verführt, die aber auch gefährlich ist und vor der es sich
deshalb zu schützen gilt.5
Szene: Die Schüler kauern vor der Tür
In der zweiten Szene tauchen die Schüler in embryonaler Haltung
auf. Sie sitzen, von Angst, Hilflosigkeit und Ohnmacht überwältigt wie
gelähmt, eng zusammengekauert auf dem Flur vor dem Klassenzimmer. Sie scheinen wie ausgesetzte Kinder, auf der Flucht vor einem
unerklärlichen Unheil. Selbst den Lehrer meinen sie vor diesem
Unheil, das aus dem Klassenzimmer droht, warnen und bewahren zu
müssen.
Es ist die Wut und die Attacke der kurdischen Schülerin, die die
Schüler vertrieben hat und die aus aggressiven Jugendlichen veräng93
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stigte Kinder machte, die sich verfolgt und bedroht fühlten und sogar
meinten, den Lehrer vor dem Zorn dieser Frau warnen zu müssen.
In dieser von tiefer Regression geprägten Szene erscheinen die
Schüler als die eigentlichen Opfer, während die kurdische Mitschülerin zur übermächtigen Angreiferin stilisiert wird, deren Attacken sie
aus ihrem Klassenraum in die Obdachlosigkeit und Unwirtlichkeit des
Flures getrieben haben. Es vermittelt sich der Eindruck, die Schüler
seien nicht nur schutzbedürftig, sondern auch unschuldig und drinnen,
in ihrem Klassenzimmer, hause eine völlig außer Kontrolle geratene
Furie, angetreten sie zu vernichten.
In der Phantasie der Schüler ist die kurdische Schülerin mithin zu
einer grotesk überzeichneten, mächtigen und rachsüchtigen Gestalt
geworden, während sie in ihrem eigenen Erleben immer mehr
schrumpfen, immer hilfloser werden und sich schließlich wie kleine
Kinder fühlen. D.h. die Schüler haben ihre eigenen sadistischen Impulse auf die kurdische Schülerin projiziert und fühlen sich nun als Opfer
ihrer entfesselten Triebe, über die sie keine Kontrolle mehr haben.
In dieser Szene wird mithin das Täter-Opfer-Verhältnis auf den
Kopf gestellt. Dabei ist für die Schüler beunruhigend und bedrohlich,
dass das Opfer ihrer Gewaltphantasien plötzlich die Verhältnisse
umdreht und selbst zur Angreiferin wird und sie nun befürchten, jenes
Schicksal zu erleiden, dass sie in ihrer Phantasie für ihr Opfer vorgesehen hatten. Projektive Identifikation lässt die kurdische Schülerin
zur Täterin werden, wobei die Schüler, von ihren destruktiven und
sadistischen Impulsen entlastet, in die Rolle regressiver Infantilität
flüchten.
Szene: Der Müll
In der dritten Szene sitzt die kurdische Mitschülerin mitten im Müll,
so als sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass sie nichts
weiter als Abfall, Schmutz und Dreck sei. Dass sich die Schülerin hier
zum ersten Mal zur Wehr setzt, verdeutlicht, dass Grenzen überschritten wurden und dass dieser Angriff außerordentlich kränkend und
verletzend war.
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Es ist ein Bild der Verrohung, der Verwahrlosung und der Demütigung, das sich hier ausbreitet und unwillkürlich erinnert an die nationalsozialistischen Strategien der Aussonderung und Vernichtung.
In dieser Szene geht es mithin um Demütigung und Entwürdigung.
Dabei wird die kurdische Mitschülerin zu einer abschreckenden
Gestalt, ja zum Abfallprodukt degradiert, das ebenso wie der sie umgebende Müll zu entsorgen ist. Zugleich aber wird sie zum Sinnbild einer
eruptiven Weiblichkeit, die Entsetzen wie auch Angst hervorruft und
die in die Flucht treibt, weil ansonsten Vernichtung droht. Auch hier
manifestieren sich Facetten der projizierten sadistischen Impulse auf
die kurdische Schülerin, die in ihrer aggressiv aufgeladenen, jedoch
von Verzweiflung getragenen Machtdemonstration, paranoide Ängste,
gar Todesängste vor dem Verschlungenwerden heraufbeschwört. Hier
hat sich die Lust vollkommen in Furcht aufgelöst und übrig bleibt
nur noch Schmutz, Dreck und Müll und mittendrin, ein Häuflein
Elend, die kurdische Schülerin.
In diesen drei Szenen entfaltet sich also ein Drama, das gekennzeichnet ist von höchst verwirrenden und tabuisierten Emotionen, die
von sexuellen Wünschen wie auch von Gewaltphantasien zeugen. Es
lassen sich dabei drei verschiedene Bilder, die auf die fremde kurdische Schülerin projiziert werden und damit drei verschiedene Reaktionsweisen auf das Fremde erkennen.
Die kurdische Schülerin erscheint in diesen Szenen: als eine sexuell
erregende Frau, die Bemächtigungs- und Verführungsphantasien und
damit sowohl aggressive wie libidinöse Impulse, aber auch VersagensInfantilisierungs- bis hin zu Kastrationsängsten heraufbeschwört, als
eine von mächtigen Trieben besessene weibliche Gestalt, die depotenzierend und rachsüchtig zurück in die Hilflosigkeit der Kindheit, vielleicht sogar zurück in den Mutterschoß treibt, als unberührbare, Ekel
und Widerwillen hervorrufende Frau, von der es sich abzugrenzen und
die es zu verstoßen gilt, ansonsten droht eine Kontamination mit
schmutzigen und anstößigen Phantasien, deren Macht nur mit Hilfe
von Gewalt und Demütigung zu bannen ist. Entsprechend lässt sich in
diesen Inszenierungen die Widerspiegelung von vier Reaktionsweisen
auf das Fremde erkennen: Verführung, Bemächtigung, Regression und
schließlich Demütigung.
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Diese Reaktionsweisen sind dramatisierte Antworten auf die von
der Fremden ausgehenden Faszination, Angst und Bedrohung und
damit auch eine Reaktion auf die in jeder Begegnung mit Fremden
heraufbeschworene Konfliktivität und Ambiguität (vgl. Erdheim 1982,
Waldenfels 1997, Rohr 2003), die hier jedoch eine radikalisierte und
dramatisierte Wendung erfahren.
Betrachten wir nun die drei Szenen in ihrer Gesamtheit, so fällt ein
wiederkehrendes Bild auf, das sich wie ein roter Faden durch alle drei
Szenen hindurch zieht und das sich, trotz aller bereits angebotenen
Deutungen, einem Verstehen noch verweigert. In allen Szenen geht es
darum, dass die Schüler, obwohl sie als Täter agieren, sich als Opfer
fühlen und aus dieser Rolle auch ihre Legitimation der Angriffe auf die
kurdische Schülerin beziehen. Dieses Empfinden Opfer zu sein wird
auch gegenüber dem Lehrer ausdrücklich verteidigt, der schreibt, dass
die Schüler sich in einem „gerechten Abwehrkampf“ fühlten, „bei dem
es fast um Leben oder Tod zu gehen schien“ (Meier-Schreiber, S. 5).
Zugleich fällt auf, dass die Schüler immer wieder ihre Schutzbedürftigkeit artikulieren, dies aber bei dem Lehrer ungehört verhallt. Wieso
aber fühlen sich die Schüler grundsätzlich als Opfer und warum lässt
sich diese Wahrnehmung weder reflektieren noch transformieren und
wie lässt sich ihre immer wieder hervorgehobene und selbst deklarierte Schutzbedürftigkeit verstehen?
Damit komme ich zum zweiten Schritt meiner Interpretation, der
psychoanalytischen und gleichzeitig gruppenanalytischen Betrachtung, wobei hier das gesellschaftliche, vor allem das institutionelle
Umfeld und schließlich die unterschiedlichen Ebenen der institutionellen Beziehungsverhältnisse und damit die multiplen Übertragungsprozesse in die Interpretation mit einzubeziehen sind.
Die gesellschaftliche Ebene
Am Anfang des Artikels wird erwähnt, dass Schüler dieser Klasse
im Verdacht standen, einen jüdischen Friedhof geschändet zu haben.
Der nie ausgeräumte Verdacht dürfte sich in einem tiefen und in der
Schule von allen geteilten Misstrauen gegenüber dieser Klasse nieder96
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geschlagen haben. Waren sie deshalb so etwas wie die Parias der
Schule, die mit ihren vermuteten Taten auch die Schule in Misskredit
gebracht hatten und deshalb wenig geliebt und wenig geachtet? Warum
aber wurde dieser Verdacht nie aufgeklärt? Lebten die Schüler eventuell in einem politischen Umfeld, in dem solche Schandtaten nicht nur
geduldet, sondern stillschweigend vielleicht sogar gut geheißen wurden und von daher kein gesteigertes Interesse daran bestand, jüdische
Friedhofschändungen aufzuklären? Galten die Schüler deshalb zwar
als Akteure, aber nicht zwangsläufig auch als geistige Urheber der Tat?
Sie alleine wurden jedoch der Tat verdächtigt. Das exkulpierte sie
nicht, machte aber das Gefühl verständlich, warum sie sich als Opfer
fühlten und warum auch die Schule offensichtlich nicht wagte, die
Sache aufzuklären: Es wäre vielleicht wie ein Stich in das berühmte
Wespennest gewesen. Diese Stillhaltetaktik brachte zwar keine Aufklärung, sorgte aber dafür, dass der Verdacht in der Schwebe gehalten
wurde.
Die institutionelle Ebene
Aus einer fast überlesenen Bemerkung am Rande des Artikels geht
hervor, dass die kurdische Schülerin schließlich in die Parallelklasse
versetzt wurde und hier keinen weiteren fremdenfeindlichen Angriffen
mehr ausgesetzt war. Dies mag auf die pädagogische Kunst des Klassenlehrers zurückzuführen sein, führt dann allerdings zu der Frage,
warum sie zunächst von Seiten der Schulleitung in eine Klasse gesetzt
wurde, die bereits die Erkrankung ihres Klassenlehrers und die Konfrontation mit dem Vertretungslehrer zu verkraften hatte und die
zusätzlich im Verdacht antisemitischer Tendenzen stand? Eine solche
Entscheidung ist weder rational, noch aus schulinterner Sicht nachvollziehbar. Es sei denn, die kurdische Schülerin wurde prinzipiell und
von Anfang an als institutioneller Störfaktor betrachtet und entsprechend behandelt:
Sie hatte öfter die Schule gewechselt. Machte sie das verdächtig? Es
bleibt jedenfalls unklar, warum sie die Schule wechselte und ob Gründe für den häufigen Schulwechsel bekannt, bzw. von Seiten der neuen
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Schule in einem Gespräch mit der Schülerin erforscht worden waren.
Sie sah älter aus als in den Akten vermerkt. Schürte dies Misstrauen
und wurde dies als bewusste Irreführung verstanden? Auch ihr Wunsch
in eine Abschlussklasse eingeschult zu werden, war ungewöhnlich.
Alles Fakten, die bei der Schulleitung auf wenig Begeisterung
gestoßen sein dürften. Sie war nicht wirklich willkommen und ihr
haftete der Makel an, quasi mit Lügen in die Schule zu drängen. Da es
aber keine Möglichkeit gab, sie abzuweisen, setzte man sie wie zur
Strafe, so scheint es, in eine Klasse, in der sie nur scheitern konnte. All
dies geschah vermutlich weder bewusst, noch aus böser Absicht. Aber
sie störte die schulischen Systemabläufe und institutionellen Regeln.
So kam es zu einer unheilvollen Verkettung und Allianz von Zufällen,
die sich in ihrer Potenzierung zum Drama für die kurdische Schülerin
auswuchsen: Dazu trugen bei ein Schulsystem, das Migranten, beson98
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ders Seiteneinsteiger, als Störenfriede betrachtet und tendenziell eher
bestraft als fördert; Defizite auf Seiten eines institutionellen Umfeldes
im Umgang mit Krisen und Konflikten in Kombination mit einem
Mangel an interkulturellen Kompetenzen, sowie latent fremdenfeindliche Tendenzen auf Seiten von Schülern, die bislang keinen Umgang
mit kulturell Fremden erproben und erleben konnten.6 In diesem Falle
könnten die Schüler die Einschulung der kurdischen Schülerin in ihre
Klasse als Zeichen eines unbewussten, institutionellen Bündnisses mit
ihren latent fremdenfeindlichen Tendenzen verstanden haben, was sie
ermutigte, entsprechend zu agieren. Auf diesem Hintergrund wäre es
verständlich, wenn sich die Schüler dieser Klasse von der Schulleitung
missbraucht und zugleich bestraft gefühlt hätten, da an sie ein Konflikt
delegiert wurde, den die Schulleitung nicht hatte lösen können oder
wollen. Wurde mithin ihr Gefühl Opfer und gleichzeitig schutzbedürftig zu sein, durch dieses Unvermögen der Schulleitung und deren
heimlicher Allianz mit ihren fremdenfeindlichen Tendenzen, die sie
jedoch an den Schülern bekämpften, noch verstärkt?
Die Lehrer – Schüler – Beziehung
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt des psychoanalytischen und
gruppenanalytischen Verstehens ist das Verhältnis Lehrer und Klasse.
Als erstes fällt dabei ins Auge, dass der vertraute Klassenlehrer
erkrankt war und zwar ausgerechnet im schulischen Abschlussjahr der
Schüler. Statt seiner waren sie mit einem ihnen „fremden Lehrer“,
einem Vertretungslehrer konfrontiert. Fast zeitgleich kam es zur Aufnahme der kurdischen Schülerin in die Klasse. Könnte es also sein,
dass diese Situation in den Schülern das Gefühl auslöste, von dem
eigenen Klassenlehrer in einer besonders prekären Situation, nämlich
im Prozess des Abschiednehmens von der Schule und dann zusätzlich
noch im Prozess der Begegnung mit einer „Fremden“, der kurdischen
Schülerin, im Stich gelassen worden zu sein? Dies hat offensichtlich
enorme Verlassenheitsängste ausgelöst, die dann im Verlaufe der Zeit
und aufgrund mangelnder und falscher pädagogischer Interventionen
immer mehr außer Kontrolle gerieten.
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Erschwerend kam dann noch hinzu, dass nicht nur die vertraute,
Halt bietende und Grenzen setzende männliche und väterliche Autoritätsfigur verschwunden war, sondern der Vertretungslehrer sich verstärkt der kurdischen Schülerin zuwandte, um ihr zu helfen, sich zu
integrieren. In dem Maße aber wie sie in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte, fühlten sich die Schüler immer weiter an den Rand
gedrängt, nicht mehr gesehen und mit ihren Beziehungswünschen und
Bedürfnissen nicht wahrgenommen. Damit verfestigte sich auf fatale
Weise der Eindruck eines Bündnisses zwischen dem Vertretungslehrer
und der kurdischen Schülerin, den beiden Fremden, einem (ödipalen)
Bündnis, von dem sich die Schüler zwangsläufig ausgeschlossen
fühlen mussten.
Doch weniger mit dem Vertretungslehrer als vielmehr mit der kurdischen Mitschülerin wurde eine Auseinandersetzung initiiert, weil sie
als kulturell Fremde dem Vertretungslehrer bald näher zu stehen schien
als die übrigen Schüler. Dies nährte ihre Phantasie, die kurdische
Schülerin habe den Lehrer verführt und dieser habe sich auch von ihr
verführen lassen. Ihr wurde mithin die Schuld angelastet, der Klasse
auch noch den Vertretungslehrer genommen zu haben und er als Vertretungslehrer verstärkte dieses Gefühl noch, indem er zwar den Beziehungswunsch und die Schutzbedürftigkeit der kurdischen Schülerin,
nicht aber auch die Beziehungswünsche und die Schutzbedürftigkeit
der übrigen Schüler wahrnahm. Während er sich also hinter seinem gut
gemeinten Vorhaben, die kurdische Schülerin zu integrieren, verschanzte, entzog er sich der emotionalen Beziehung zur Klasse und
führte stattdessen mit den Schülern fachliche und politische Diskussionen, um sie zur Reflektion ihrer teilweise manifesten ausländerfeindlichen Positionen zu zwingen. Er opferte damit ungewollt unbewusst die
kurdische Schülerin, statt sich selbst einer auch emotional geprägten
und auf die Arbeitsbeziehung bezogenen Konfrontation mit der Klasse
auszusetzen. So entstand ein pädagogisch beziehungsloser, aber hoch
sexualisierter Raum, in dem der Vertretungslehrer und die kurdische
Schülerin als phantasiertes Paar in Erscheinung traten und die Klasse
sich zwangsläufig ausgeschlossen, infantilisiert und von Kastration
bedroht fühlen musste. Deshalb fühlten sich die Schüler schließlich als
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Opfer der sozusagen am falschen Objekt exerzierten Integrationsbemühungen. Sie begannen einen aus Verzweiflung, aber auch aus Rache
geborenen Abwehrkampf.
Zugrunde lag dieser Entwicklung eine Tendenz, nach der die
Schüler ihre sexuellen Wünsche nicht mehr nur auf die kurdische
Schülerin, sondern mittlerweile vor allem auf das Paar und damit
zugleich auf den Vertretungslehrer projizierten, mit dem heimlichen
Wunsch, diesen dazu zu zwingen, dem Verführungszauber der kurdischen Schülerin zu widerstehen, um so ihre Phantasien von Demütigung und Schändung zu teilen und auf diese Weise ihre Kastrationsängste zu mildern oder gar aufzulösen. Seine pädagogisch begründeten
Bemühungen um die kurdische Schülerin verstärkten mithin die
Kastrationsängste der Schüler, die wie im Abwehrkampf und als ginge
es um Leben und Tod – wie der Lehrer selbst formulierte – wild um
sich zu schlagen begannen. Die Schläge trafen aber nicht den als fragil
erlebten Lehrer/Vater, sondern die kurdische Schülerin, die phantasierte Mutter und Megäre.
Fatal war also, dass der Vertretungslehrer sich nicht als väterliche
und grenzensetzende Autoritätsfigur einer Institution erwies, der in der
Lage war, die adoleszenten, libidinös und aggressiv getönten sexuellen
Phantasien und Wünsche der Schüler und die ihnen inhärente, destruktive Dynamik zu erkennen und einzudämmen und deshalb auch keinen
Schutz bot, angesichts der als erregend erlebten Weiblichkeit der kurdischen Mitschülerin, was dann zur sexuellen Verführung, wie zur
aggressiven Abgrenzung einlud. Während sich also die Beziehungslosigkeit zwischen Lehrer und Klasse in der Auseinandersetzung mit der
kurdischen Schülerin reinszenierte, schlüpften die Schüler aus der
Rolle der Opfer in die der Täter und machten die kurdische Schülerin
zum Opfer ihrer Enttäuschung, ihrer Wut, ihrer Aggression und Frustration und meinten damit den Vertretungslehrer, vermutlich auch den
erkrankten Klassenlehrer. Hier büßte mithin das Fremde für die
Schwäche des Eigenen, wie es Waldenfels (1997, S. 133) formulierte.
Auch in dieser Hinsicht wird mithin verständlich, warum sich die
Schüler als Opfer fühlten: weil sie sich vom Klassenlehrer und
zugleich vom Vertretungslehrer in dieser entscheidenden Schulphase,
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wo es um das Abschiednehmen ging, im Stich gelassen fühlten und der
Vertretungslehrer sich in ihrer Phantasie mit der kurdischen Schülerin,
statt mit ihnen und der institutionell vorgegebenen Rolle, verbündet
hatte. Die auf beide projizierte Phantasie eines Paares hat bei den
Schülern, die sich sowieso schon verlassen fühlten, das Gefühl ausgeschlossen und verlassen zu sein, noch verschärft und dramatisiert und
in der Folge massive Kastrationsängste heraufbeschworen. Dadurch
eskalierte auch die vernichtende und ödipal gefärbte Aggression
gegenüber der kurdischen Schülerin, weil eine Halt gebende und Grenzen setzende, männliche Autoritätsperson fehlte. Damit wird die adoleszente Entwicklungsaufgabe, die durch den bevorstehenden Abschied
von der Institution Schule einen vorläufigen Höhepunkt erfährt,
umgangen, die libidinösen Strebungen können nicht von den Autoritäten/Eltern abgezogen und auf andere Beziehungspartner übertragen
werden. Das was begehrt wird, wird beseitigt. Damit wird eine Regression in kindliche Ohnmacht und Passivität vorangetrieben. Und der
Lehrer/Vater? Ihn verleibt sich die Klasse als schwachen Vater, als
Mittäter und –opfer ein und erzwingt auf diese Weise seine Solidarität
und zwar mit dem Ergebnis, dass die kurdische Schülerin in die Parallelklasse versetzt wird, wo der Vertretungslehrer zuhause, d.h. Klassenlehrer ist. Ein vordergründiger Triumph, der aber nur kurzfristig
über das Scheitern der eigentlichen Aufgabe hinweg zu täuschen vermag.
Schüler und Adoleszenz
Die in der szenischen Interpretation zum Ausdruck gelangten
regressiven und sexualisierten Bilder und Reaktionsweisen auf die
fremde Schülerin, sind jedoch auch zu begreifen als eine Widerspiegelung der inneren Welt der mitten in der Adoleszenz befindlichen
Jugendlichen, wobei diese Bilder von extremer Zerrissenheit künden:
von einem Schwanken zwischen Größen- und Kleinheitsphantasien,
von Erfahrungen von Ohnmacht und Kränkung. Die dazu gehörenden
inneren Vorstellungen, Impulse, Wünsche und Ängste haben in den
zuvor herausgearbeiteten Bildern und Metaphern über das Fremde
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deutlich Gestalt angenommen. Hier wird nun darüber hinaus deutlich,
dass immer wieder die eigene Aggressivität, die bis hin zu Vergewaltigungsphantasien und Demütigungsakten reicht, verleugnet und in ihr
Gegenteil verkehrt wird. So entsteht ein Opferdiskurs, der undurchdringlich, intransigent und unreflektierbar scheint. Hier lassen sich
innerpsychische Szenarien erkennen, die uns von fremdenfeindlichen
Gewalttätern vertraut sind (vgl. Streeck-Fischer 1992, Bohleber 1992).
Und gerade dieses Schwanken zwischen Größen- und Potenzphantasien einerseits und Erfahrungen von Ohnmacht und Impotenz andererseits bei einem gleichzeitigen Mangel an verlässlichen männlichen
Identifikationsfiguren, scheint eine immer wiederkehrende Konstante
in der psychischen Disposition fremdenfeindlicher Gewalttäter.
Dieser virulente, adoleszente Identitätskonflikt hat sich auch in der
Begegnung mit der kurdischen Schülerin dramatisch in Szene gesetzt
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und sich verdichtet zum Gefühl, am Abgrund zu stehen und zwar alleine am Abgrund zu stehen: Denn der potentiell Halt versprechende
Vertretungslehrer entzieht sich der emotionalen Auseinandersetzung
mit der Klasse, attackiert sie stattdessen mit politischen Diskursen,
statt sich in seiner Rolle als Lehrer und als institutionell legitimierte
Autoritätsfigur anzubieten, die imstande ist, den durchbrechenden
adoleszenten Verführungs- und Bemächtigungsphantasien Grenzen zu
setzen, indem er schützt vor der erregenden Weiblichkeit der kurdischen Schülerin. So kommt es zu den destruktiv geprägten, malignen
regressiven Tendenzen, zu einer Verstärkung von Kastrationsängsten,
die zurücktreiben in das Reich der frühen Kindheit und die mühsam
erworbenen adoleszenten Loslösungs- und Autonomieprozesse wieder
rückgängig machen. Dabei steht die Klasse vor dem Dilemma,
Abschied zu nehmen von der Schule – ebenfalls eine zentrale Aufgabe
der Adoleszenz – aber unglücklicherweise hat sich der Klassenlehrer
zuvor schon verabschiedet, so dass die schulischen Trennungserfahrungen extrem erschwert sind (ähnlich jener Situation, in denen Eltern
sich in der Adoleszenz der Kinder scheiden lassen). Der aus der Trennungserfahrung resultierende Autonomiegewinn kann auf diese Weise
nicht realisiert werden. Und so setzen die Schüler alles daran, die
kurdische Schülerin zu vertreiben, nicht zuletzt auch aus Rache und
Enttäuschung an ihrem Klassenlehrer, der sie im Stich ließ und ihnen
damit die eigene Loslösung versagte und eine Chance zur Autonomieentwicklung stahl. Den Klassenlehrer haben sie gebraucht und stattdessen wird ihnen wie zum Hohn von der Schulleitung eine fremde,
kurdische Schülerin in den Raum gesetzt. Aus Wut und Verzweiflung
wird sie „vernichtet“, letztendlich auch um die schmerzhaften Verlassenheitsängste, die die bevorstehende Statuspassage „Eintritt ins
Berufsleben“ ihnen noch zumutet und die sie nun alleine zu bewältigen
haben, zu verdrängen. In diesem regressiv geprägten Verhalten äußert
sich mithin eine ungenügend ausgeprägte Ich-Automonie wie auch
destruktive Über – Ich Anteile, die mit dafür verantwortlich sind, die
Kurdin mit narzisstischer Libido zu besetzen, um sie dann dafür zu
bestrafen und zu „vernichten“.
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Fazit
Das Auftauchen der kurdischen Schülerin legt verborgene
Schwächen und unbewusste Einstellungen des schulischen Systems
offen: Ihr Auftauchen wird als Störung erlebt, damit thematisiert sie
die institutionelle Heterogenitätsphobie, Zwanghaftigkeit und Triebfeindlichkeit ritualisierter schulischer Abläufe, die keinerlei Abweichung und Flexibilität dulden. Außerdem verweist ihre Anwesenheit in
der Klasse des erkrankten Lehrers auf ein ressourcenarmes System,
das auf Grund von finanziell künstlich knapp gehaltenen Bildungsausgaben keinerlei personell verträgliche und „kundenfreundliche“ Auffangstrukturen entwickeln konnte. Darüber hinaus verweist die Anwesenheit der kurdischen Schülerin in dieser Klasse unmittelbar auf die
eklatante Abwesenheit des Klassenlehrers, was jedoch von der Schule
in seiner affektiven Bedeutung völlig verleugnet, von den Schülern
hingegen, unbewusst als Drama erlebt wird. Die Eingliederung der
kurdischen Schülerin in eben jene Klasse, die im Verdacht steht, den
jüdischen Friedhof geschändet zu haben, lässt darüber hinaus eine
institutionell unbewusste Matrix sichtbar werden, die fremdenfeindliche Tendenzen in der Schülerschaft unbewusst stützt und die zugleich
die Hilflosigkeit der involvierten, aber institutionell allein gelassenen
Lehrer im Umgang mit fremdenfeindlichen Diskursen offen legt. Politisch ambitionierte Diskussionen im Unterricht sind dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie wie hier geschehen – jenseits aller bewussten
Intentionen – als Waffen gegen fremdenfeindliche Tendenzen und als
Waffen gegen die als überwältigend erlebten und von der kurdischen
Schülerin ausgelösten Verführungs- und Bemächtigungsphantasien
und damit gegen die aufbrechenden libidinösen und aggressiven
Triebstrebungen der Schüler eingesetzt werden. Statt Integration wird
eine institutionelle Ausstoßung und Abtreibung in Szene gesetzt und
fatalerweise an die aufgrund ihrer vermuteten antisemitischen Tendenzen prädisponierte Klasse delegiert. Am destruktiv entgleisten Verhältnis zur kurdischen Schülerin kommt schließlich die schulisch ebenfalls
verleugnete Virulenz des adoleszenten Triebgeschehens - zwischen
Begehren und Abwehr, zwischen Dämonisierung und Sexualisierung
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zu schwanken – zum Ausdruck und wird aufgrund des abwesenden
Klassenlehrers auf höchst aggressive Weise an der kurdischen Schülerin ausagiert.
Nicht der Konflikt an sich, aber die Eskalation des Konfliktes wäre
vermutlich vermeidbar gewesen: Dazu hätte es
1. einer veränderten Wahrnehmung bedurft: denn weder die Schüler, noch der Vertretungslehrer und schon gar nicht die kurdische
Schülerin wurden schulintern in ihrer Bedürftigkeit, in ihrer Überforderung und in ihrer Fragilität wahrgenommen. In dieser besonderen
Situation wäre die Kompetenz der Schulleitung in ihrer Verpflichtung
zur Fürsorglichkeit gegenüber Angestellten wie Anempfohlenen gefordert und gefragt gewesen. Schon bei den ersten Anzeichen des Konfliktes hätte
2. ein institutionell organisiertes Krisenmanagement (z.B. Klassenkonferenz unter Einbezug der Eltern mit externer Moderation) einsetzen müssen, um die überbordenden Affekte in Grenzen zu halten und
containment anzubieten, weiteres Agieren zu sanktionieren und Möglichkeiten und Instrumente der Bearbeitung und Konfliktbewältigung
zur Verfügung zu stellen.
3. wäre es von entscheidender Bedeutung gewesen, statt in dieser
Situation im Unterricht über Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zu debattieren, über die Bedeutung der Abwesenheit und
Erkrankung des Klassenlehrers und die bevorstehende Trennung von
der Schule und die anstehende und offensichtlich hoch angstbesetzte
Statuspassage zu reflektieren. Dafür braucht es jedoch emotional
geschützte Räume und institutionell verankerte Rituale – außerhalb
des unmittelbaren Unterrichts, jedoch im Kontext des institutionellen
Umfelds Schule und mit Unterstützung spezifisch geschulter Experten.
4. Schule muss generell störungsfreundlicher werden und Diversitätstoleranz einüben und als essentielle Lernerfahrung in das institutionelle Selbstverständnis integrieren. D.h. Schule in einer globalisierten
Welt muss nicht nur lernen mit Diversität angstfreier und damit souveräner umzugehen, sondern auch die damit verbundenen Ambivalenzen,
Ambiguitäten und unauflösbaren Widersprüche zu ertragen und dafür
containment anzubieten.
106
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Bibliographie:
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Said, E. (1978): Orientalismus. Frankfurt/M. (Fischer) 1979.
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Streeck-Fischer, A. (1992): Adoleszenz und Rechtsradikalismus. In. Psyche 8,
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Wellendorf, F (1973): Schulische Sozialisation und Identität. Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. Weinheim, Basel (Beltz).
Anmerkungen:
1
So entstehen Studien zur Situation von z.B. weiblichen Jugendlichen mit
Migrationshintergrund (z.B. Boos-Nünning-Karakosoglu), die keinerlei Ambivalenz, geschweige denn Konfliktivität in der Identitätsentwicklung der jungen Frauen mehr erkennen können, bzw. psychoanalytische Verstehensmodi,
etwa der Hinweis auf regressive Aspekte in der Mutter-Tochter-Beziehung
reflexartig als defizitorientiert abqualifizieren (Apitzsch 2003).
2
Dazu zählen der unsichere Aufenthaltsstatus, die Pflege der Herkunftssprache
in den Familien, das bildungsferne Milieu der Eltern
3
im Sinne einer spezifisch strukturierten Dynamik
4
Rechtsradikale Vorfälle im Schwalm-Eder-Kreis, bei denen ein Mädchen und
sein Bruder in einem Zelt schwer verletzt wurden, zeigen mit welcher Selbstverständlichkeit sich diese Gruppierungen in der Öffentlichkeit zeigen und wie
wenig ernst die Gefahr genommen wird, die von ihnen ausgeht (vgl. http://
www.netz-gegen-nazis.de/artikel/neonazis-ueberfallen-zeltlager, letzter
Zugriff 15.9.2008).
5
Ein Topos, der sich in den Berichten der europäischen Eroberer und Entdekker ebenso wiederfindet, wie in der wissenschaftlichen, ethnographischen
Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und sich heute im westlichen Bild des
Orients bewahrt hat (vgl. Forster 1979, Malinowski 1986, Said 1986, AkasheBöhme 1994).
6
Entgegen landläufiger Meinung zeigen Untersuchungen sehr deutlich, dass
häufiger und alltäglicher Kontakt mit Migrantenjugendlichen in der Schule
fremdenfeindliche Tendenzen mildert (vgl. http://www.innovations-report.de/
html/berichte/gesellschaftswissenschaften/bericht-1585.html, letzter Zugriff
5.8.08)
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JOURNAL
für Psychoanalyse 51
Psychoanalytische
Sozialarbeit
In Abgrenzung und Ergänzung zur klassischen
Psychoanalyse kommt die Spannbreite
unterschiedlicher Behandlungssettings zur
Sprache, wie etwa die sozialpädagogische
Familienbegleitung, die Betreuung von
Flüchtlingen in prekären psychosozialen
Situationen oder die Behandlung
von Jugendlichen mit schwersten
Persönlichkeitsstörungen, die aus
jeglichem Rahmen sozialpsychiatrischer
Institutionen herausgefallen sind. Im Zentrum
der verschiedenen Beiträge steht die
Auseinandersetzung, wie in unterschiedlichsten
Settings Räume des Denkens, Handelns und
Behandelns eröffnet werden können, die ohne
die Anwendung psychoanalytischer Konzepte
unzugänglich bleiben würden.
2010, 232 S., 15.5 x 22.5 cm, ISBN 978-3-03777-094-8
Einzelheft SFr. 29.– / € 18.90
Abonnement: Fr. 75.—/€ 48.60
für 3 aufeinander folgende Hefte
Beiträge zum Schwerpunktthema
«Vielleicht wird einmal ein amerikanischer Millionär …»: Zur Geschichte der psychoanalytischen
Sozialarbeit | Achim Perner (Berlin)
Verein für psychoanalytische Sozialarbeit Zürich, vpsz | Esther Leuthard (Zürich)
Angst – Wissen und Nicht-Wissen. Settingkonstruktionen in der Psychoanalytischen
Sozialarbeit | Martin Feuling (Tübingen)
Bemerkungen über den Unterschied von psychoanalytischer Sozialarbeit und Psychoanalyse |
Achim Perner (Berlin)
Jahre mit Werner | Joachim Staigle (Tübingen)
Geldverwaltung gibt zu Reden | Heini Bader (Zürich)
Niemand hat mich gern: Die Geschichte einer Familienbegleitung | Esther Leuthard (Zürich)
Von Pflastern und Pflanzen. Die ethnopsychoanalytische Betreuung von Asylsuchenden im
Ethnologisch-Psychologischen Zentrum (EPZ) Zürich | Antje Krueger (Bremen)
Damit Freiheit nisten kann: Psychoanalytische Sozialarbeit im Verein EXIT-sozial | Elisabeth
Rosenmayr (Linz)
Empfangen, zuhören, hören. Das kleine Kind in der Maison Verte | Marie-Hélène Malandrin (Paris)
Psychoanalytischen Sozialarbeit. Interview mit Martin Feuling, Heidi Schär Sall, Ursula
Leuthard. Fragen: Markus Weilenmann und Gregor Busslinger)
www.seismoverlag.ch
[email protected]
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„CARUSOS ERBIN?“
EIN KLÄRUNGSVERSUCH
DOROTHEA STEINLECHNER-OBERLÄUTER
Im März 2009, als sich das Nachrichtenmagazin „profil“ mit der
mutmaßlichen Verstrickung von Igor Caruso in NS-Verbrechen befasst
hatte, traf ich im Wartezimmer meines Zahnarztes zufällig auf einen
jener Assistenten, bei dem ich in den ersten Semestern meines Studiums einige Vorlesungen besucht hatte.
Ich habe zwischen 1977 und 1983 am Salzburger Psychologischen
Institut studiert, also während jener Jahre, die heute auch als „Ära
Caruso“ bezeichnet werden. Caruso hatte einen von drei Lehrkanzeln
inne, die anderen waren von Revers und Roth besetzt, Schindler hatte
eine a.o.Professur inne. Insbesondere zwischen Roth und Caruso
bestanden große wissenschaftliche Differenzen. Caruso stand für eine
gesellschaftskritische, die sozialen Aspekte berücksichtigende psychoanalytische Wissenschaftstradition, Roth für eine positivistische, am
naturwissenschaftlichen Modell orientierte Psychologie. Die Situation
am Institut habe ich von Anfang an sehr polarisiert erlebt. Die jeweiligen Professoren hatten ihre Kreise von AssistentInnen und StudentInnen um sich. Der Mann im Wartezimmer war „damals“ dem NichtCaruso-Lager zugeordnet gewesen.
Ich gab mich als eine ehemalige Studentin zu erkennen. Der Mann
freute sich sehr, dass ich ihn erkannt und angesprochen hatte. Nach
einer kurzen Nachfrage, was ich beruflich denn so mache, begann er
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dann jedoch ungefragt im Tonfall des höchsten Abscheus und des
höchsten Triumphs über Caruso herzuziehen: nun sei es offenbar:
Caruso habe kleine Kinder getötet oder dazu beigetragen; so jemand
habe an der Universität unterrichtet… Es schien nun eindeutig bewiesen zu sein, dass Caruso ein menschenverachtender Verbrecher gewesen sei, und in der Folge schienen alle, die sich damals für Psychoanalyse interessiert hatten, im Nachhinein ins Unrecht gesetzt – und zwar
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sowohl menschlich als auch fachlich. Offenbar hatte er mich dadurch,
dass ich ihn angesprochen hatte, automatisch dem Nicht-Caruso-Lager
zugeordnet und war davon ausgegangen, dass ich diesen genauso verabscheute, wie er das offensichtlich tat. Nun reagierte ich aber mit
Einwänden und mit der Nachfrage, ob denn diese Mittäterschaft wirklich so eindeutig bewiesen sei. Da wandelte sich die Stimmung. Meine
Einwände wurden vom Tisch gewischt, und schnell wurde klar, dass
ich allein durch dieses Nachfragen selbst in den Dunstkreis der NSSympathisanten gekommen war und ganz selbstverständlich der
Caruso-Gruppe zugeordnet wurde. Wenn ich heute daran denke,
kommt mir der Begriff Sippenhaftung in den Sinn. Damals war ich
erstaunt und verblüfft, wie schnell und selbstverständlich diese Zuordnung erfolgt ist, aus der es aufgrund der emotionalen Polarisierung
kein Entkommen zu geben schien. Wie ich wirklich zu Caruso stand
oder stehe schien dabei keine Rolle zu spielen.
Diese Episode ist mir wieder eingefallen, als ich im letzten Werkblatt eine andere Zuordnung erlebte. Während ich in der Szene beim
Zahnarzt aufgrund meiner (von meinem Gesprächspartner phantasierten Nähe) zu Caruso sehr schnell in eine abgewertete, geradezu verabscheuungswürdige Position gerückt wurde, fand ich mich in Karl Fallends Artikel „Carusos Erben“ plötzlich in einem positiv konnotierten
Zusammenhang wieder:
„Es ist wohl auch eine Erbschaft von Carusos Wirken, dass Salzburg ein Zentrum der Psychoanalyse-Geschichtsschreibung wurde.
Ausgehend von den federführenden Arbeiten von Wolfgang Huber und
Johannes Reichmayr folgte eine einzigartige Reihe von Dissertationen
und Publikationen zur Geschichte der Psychoanalyse, ihrer Institutionalisierung, Verfolgung oder Vertreibung oder biographische Arbeiten
über Alfred Adler, August Aichhorn, Michael Balint, Siegfried Bernfeld, Rudolf Ekstein, Otto Fenichel, Wilhelm Reich – um einige zu
nennen.“(Fallend 2010)
Ich gehe davon aus, dass mit der Arbeit über Rudolf Ekstein meine
1983 eingereichte und 1985 als Buch erschienene biographische Arbeit
„Rudolf Ekstein – Leben und Werk. Kontinuität und Wandel in der
Lebensgeschichte eines Psychoanalytikers“ gemeint ist. Ich finde mein
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Buch nun der Erbschaft von Caruso oder Carusos Wirken subsumiert
– und bin wieder irritiert. Ich habe zwar zwischen 1977 und 1983 am
Psychologischen Institut in Salzburg studiert. Mit der Entstehung meiner Dissertation hatte Caruso aber überhaupt nichts zu tun. Wieder
finde ich mich Caruso näher gerückt, als es meinem subjektiven Empfinden entspricht.
Umgekehrt hat es aber auch Situationen gegeben, in denen ich mich
sehr gerne auf das Wir-Gefühl der Caruso-StudentInnen eingelassen
und in euphorischer Weise genossen habe. Beispiel dafür ist die Uraufführung der von Michael Kolnberger verfassten Filmbiographie „I.A.
Caruso“ (April 2009 in Salzburg). Die Uraufführung wurde zu einem
riesigen „Klassentreffen“ von Studenten, Studentinnen, damaligen
Assistenten, Assistentinnen und Professoren. Manche von ihnen hatte
ich Jahre oder Jahrzehnte nicht gesehen. Ein Wir-Gefühl stellt sich
sofort ein, verstärkte sich während des Films, als „unser“ alter Hörsaal
311 gezeigt wurde und über die alten Zeiten gesprochen wurde und
hielt auch dem anschließenden Feiern bis weit in die Nacht stand. Ja,
„wir“ hatten eine große Zeit erlebt mit bedeutenden Lehrern, ja, „wir“
waren widerständig und reflexiv und mutig gewesen, ja, in Folge
haben „wir“ selber bemerkenswerte wissenschaftliche Werke publiziert. Auch hier war es zunächst gar nicht wichtig – weder mir noch
den anderen –, in welchem Verhältnis ich persönlich wirklich zu Caruso gestanden bin, was ich von ihm gelernt und übernommen habe und
was er – als Person oder als Symbol – für meine wissenschaftliche und
berufliche Entwicklung bedeutet hat. Erst sehr spät, in kleinem Kreis,
ergaben sich in dem in oder anderen Zwiegespräch die ersten Differenzierungen, wenn man begann zu fragen, zu erzählen, oder zu hören,
wie sich denn die Details dieser grandiosen Epoche für einzelne wirklich angefühlt hatten.
Und noch eine letzte Episode möchte ich berichten. Diese hat sich
erst jüngst während der aktuellen Arbeit an vorliegendem Text zugetragen: Als ich in einem Pausengespräch während einer Fortbildung
erzählte, an einem Artikel über Caruso und die Zeit meines Studiums
zu arbeiten, wurde ich von den jüngeren PsychologInnen spontan sehr
bewundert und beneidet, dass ich das Glück gehabt hatte, eine so tolle
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und interessante Zeit miterlebt zu haben. Wieder war ich irritiert, weil
keine/r es wichtig fand, zu fragen, wie das denn damals für mich gewesen sei, mit Caruso. Allein durch die Erwähnung des Namens schien
alles gesagt zu sein – diesmal in positiv-idealisierender Richtung.
Innerhalb kurzer Zeit hatte ich als ehemalige Studentin eine Reihe
von sowohl abwertenden und als auch idealisierenden Zuschreibungen
erlebt. Zusätzlich haben mich einige Aussagen im schon erwähnten
Beitrag „Carusos Erben“ von Karl Fallend in besonderer Weise angeregt und herausgefordert, mir selber die Frage zu stellen, inwieweit ich
mich eigentlich selbst als „Carusos Erbin“ sehe, bzw. zu differenzieren, an welcher Stelle ich diese Bezeichnung für mich gelten lassen
möchte und an welcher nicht.
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Obwohl ich Caruso selbst nur zwei Mal gesehen habe, prägte er die
Jahre meines Studiums entscheidend mit: als von älteren Kollegen, die
bei ihm noch Vorlesungen gehört hatten, hochverehrter Professor; als
Eminenz im Hintergrund, der eine fortschrittliche, gesellschaftskritische psychoanalytische Wissenschaftsauffassung repräsentierte, mit
der ich mich bald identifizierte; als Symbol für jene Gruppe von Studierenden, die den legendären Kampf um eine adäquate Nachbesetzung von Carusos Lehrstuhl nach dessen Emeritierung in kreativer und
mutiger Weise aufnahmen, und mit deren Zielsetzung ich mich solidarisierte.
Auf der Basis der Akzeptanz dieses Einflusses ergibt sich für mich
dennoch die Notwendigkeit von Differenzierung und auch Abgrenzung:
Bezüglich meiner Arbeit über Ekstein ist mir eine Abgrenzung von
der Zuordnung „Carusos Erbe“ besonders wichtig: Es war nicht Caruso, sondern der a.o.Prof. Sepp Schindler, der mit mir gemeinsam die
historisch-biographische Fragestellung entwickelte, die Dissertation
begleitete und begutachtete und der die nachfolgende Publikation als
einen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Psychoanalyse würdigte
und unterstützte. Zweitbegutachter war Eduard Grünewald. Eine
direkte Erbschaft ist also nicht gegeben.
Eine Erbschaft Carusos könnte demnach in meinem Fall höchstens
eine indirekte sein und wäre davon abzuleiten, dass Caruso durch seine
personellen Entscheidungen das psychologische Angebot am Institut
jener Jahre entscheidend mit gestaltet hat. Wie dargestellt habe ich von
der durch Caruso initiierten und geförderten freigeistigen Atmosphäre
sehr profitiert. Diese Wirksamkeit gilt es –mit einem gewissen Stolz
derjenigen, die dabei war – zu würdigen.
Trotzdem finde ich es schade, die genuinen Beiträge und Forschungsansätze seiner Assistenten einer pauschalierten „Erbschaft“ zu
subsumieren, statt diese selbst differenziert darzustellen und kritisch
zu würdigen. So könnte in Vergessenheit geraten, dass es außer Caruso
eine Anzahl von Lehrenden gegeben hat, die vielleicht weniger charismatisch und spektakulär, aber inhaltlich konsequent und fundiert ebenfalls Psychoanalyse lehrten und die die gesellschaftliche Bedingtheit
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psychischer Phänomene einerseits und der psychischen Verankerung
gesellschaftlich-politischer Zustände andererseits sehr wohl im Blick
hatten. Für mich waren dies beispielsweise – und bei der Aufzählung
handelt es sich um eine subjektiv begründete Auswahl – Ewald Englert, Johannes Reichmayr, Axel Krefting und eben Sepp Schindler.
Diesen Lehrenden fühle ich mich in Wertschätzung bis heute verbunden. Sie haben mein Denken und meine Forschungsambitionen bis
heute in entscheidender Weise beeinflusst:
Bei Ewald Englert las ich Marcuse, Adorno, Fromm, Jacoby. Durch
ihn habe ich begriffen, dass der „Charakter“, dessen Systematisierung,
Kategorisierung und Pathologisierung im Rahmen der allgemeinen
Psychologie- und Psychopathologievorlesungen betrieben worden
war, nicht vom Himmel fällt, sondern durch gesellschaftliche Strukturen mit gestaltet und geschliffen wird. Englert brachte mir nahe, dass
Persönlichkeitsmerkmale durch bestimmte historische Konstellationen
begünstigt oder verworfen werden. Ich erfuhr, was „repressive Entsublimierung“ ist und die Aufmerksamkeit für dieses Phänomen ist mir bis
heute hilfreich, wenn es darum geht, Funktionalität oder Subversivität
scheinbar fortschrittlicher Prozesse zu verstehen.
Bei Krefting und Reichmayr studierte ich die tiefenhermeneutische
Methode in Theorie und Praxis. Wir analysierten die damals brandneu
in die Kinos gekommenen Disney-Produktion „E.T.“ und ich begriff,
dass Psychoanalyse nicht nur die Therapiesituation meint, sondern
dass in ihrem methodischen Kern eine lebendige Auseinandersetzung
mit der Buntheit kultureller Äußerungsformen mit angelegt ist. Durch
die Lektüre von Devereux und Lorenzer eröffnete sich mir ein methodischer Zugang auf individuelle und gesellschaftliche Phänomene, der
mir bis heute in Beruf und Alltag unverzichtbar geblieben ist. Weiters
habe ich die Dozenten Krefting und Reichmayr stets als respektvolle
und zum eigenen Denken ermutigende Lehrer erlebt.
Sepp Schindler machte mir in seinen Vorlesungen und Seminaren
zur Entwicklungspsychologie und Sozialisationstheorie die sozio-kulturelle Bedingtheit jeder psychischen Entwicklung deutlich, vermittelte mir ein profundes Wissen über die Entwicklungspsychologie der
verschiedenen Lebensphasen und ermöglichte mir an Hand des psy116
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choanalytischen Modells den Einstieg in ein differenziertes Verständnis für die Dialektik von Natur-Kultur, von Individuum und Gesellschaft und von Körper und Psyche. Sepp Schindler begleitete auch
meine Dissertation. Er bemühte sich auch Jahre und Jahrzehnte, nachdem seine Dissertanten und Dissertantinnen in verschiedenen Berufsfeldern untergekommen waren, den Kontakt zu ihnen zu halten und die
Vernetzung zwischen seinen ehemaligen Schülern und Schülerinnen
zu fördern.
Bei Eduard Grünewald fand sich für manch psychoanalytisch
interessierte/n Studierende/n eine Nische, mit einem psychoanalytischen Thema auch nach der Emeritierung Carusos unterzukommen.
Und nun, Caruso: Während der Arbeit zu vorliegendem Artikel hab
ich meine alten Kolloquienzeugnisse hervorgeholt. Zu meiner Überraschung besitze ich tatsächlich einen „Schein“ mit der Unterschrift Igor
Carusos, wo er mir ein „Sehr gut“ für die Lehrveranstaltung „Einführung in die Tiefenpsychologie“ zuerkannte. Ich habe Caruso nie als
Vortragenden in einer Lehrveranstaltung erlebt, geschweige denn ein
Kolloquium bei ihm abgelegt. Es waren die Assistenten Landolt, Reiter und Englert, die die Vorlesung abhielten, aber so wie ihre Unterschriften auf den Zeugnissen nicht aufscheinen, drohen ihre Namen in
der Geschichtsschreibung hinter dem Mythos Caruso zu verschwinden.
In vielen Diskussionen ist mir das Argument begegnet, dass eigentlich alles, was am Institut rund um Psychoanalyse passiert ist, Carusos
Wirken und seiner Erbschaft zuzuschreiben sei – allein aus dem
Grund, weil er derjenige war, der die verschiedenen Lehrenden ans
Institut berufen und dort gefördert hat. Dass Carusos Wirken eine
bestimmte Atmosphäre hervorgerufen hat – wie immer man zu dieser
auch stehen möchte –, ist unberufen. Seine Assistenten aber im Bausch
und Bogen dieser Erbschaft zuzurechnen reduziert – wie ich ausgeführt habe – interessante persönliche und intellektuelle Unterschiedlichkeiten auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner und leistet damit
der ohnehin schon bestehenden Überhöhung und Mythisierung von
Caruso weiteren Vorschub.
Eine kleine Polemik möchte ich mir an dieser Stelle nicht verknei117
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fen: Wie weit soll man in dieser Erbfolge eigentlich zurückgehen?
Wenn die, die bei Caruso und seinen Assistenten studiert haben, der
Erbschaft Carusos zuzurechnen sind, Caruso seinerseits aber von
Revers berufen wurde – müssen sich nun alle mit der Tatsache auseinandersetzen, auch die Erben von Revers zu sein?
Dass die Gleichsetzung von Caruso mit „dem Institut“ immer noch
wirksam ist, zeigt auch der Irrtum, der Fallend in seinem Beitrag unterlaufen ist, wenn er schreibt, „dass die Institutsgruppe Psychologie nach
der Emeritierung Carusos 1979 und seinem Tod 1981 für den Fortbestand des Instituts kämpfte.“ (Fallend 2010:102). Nun war es doch so,
dass durch die Emeritierung Carusos der Fortbestand des Instituts
selbst nie zur Disposition gestanden ist. Der studentische Kampf bezog
sich vielmehr auf die Nachbesetzung der freigewordenen Professur.
Carusos Erbin? Der Klärungsprozess ist kein einfacher und noch
nicht beendet. Wenn ich nun meine subjektive Sichtweise und meine
bisherigen Überlegungen dazu in die öffentliche Debatte einbringe, so
in der Überzeugung, dass es der Perspektiven verschiedener Zeitzeugen bedarf, um aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Vielfalt der
Vermittlung von Psychoanalyse am damaligen Instituts aufzeigen,
eines Instituts, das nicht nur das Carusos war. Dass dieser Erinnerungsprozess, in dem individuelle und kollektive Geschichte neu angeeignet
und bewertet werden kann, ohne Idealisierung oder Abwertung der
Person Carusos, des jeweils „anderen“ oder auch der eigenen Position
vor sich geht, halte ich für die größte Herausforderung in diesem
Unterfangen.
Literatur:
Fallend, K: „Carusos Erben“. Reflexionen in einer erhitzten Auseinandersetzung. In: Werkblatt Nr. 64, 1/2010:100-128
Oberläuter, Dorothea: Rudolf Ekstein – Leben und Werk. Kontinuität und
Wandel in der Lebensgeschichte eines Psychoanalytikers. Wien, 1985.
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