Brutkästen der Lieder
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Brutkästen der Lieder
Brutkästen der Lieder Aktuelle Politsongs in der Schweiz Artikel Aernschd Born 2011 FOLKER 4/11 Ungekürzter Text / veröffentlichter Text in «Politsongs in der Schweiz» Wer in der Schweiz aktuelle politische Lieder sucht, braucht grosse Ohren. In den Charts und auf den Bühnen unseres Landes sind Politsongs Mangelware. Umso kostbarer sind die wenigen Protagonisten dieser bockigen Poesie in der deutschen Schweiz. Das Phänomen ist international. Man besucht ein Liedermacher-Festival und ertrinkt in einer Liebesliederflut. Ältere Herren und blutjunge Damen reduzieren das Leiden und Hoffen dieser Welt auf sich selbst und das Objekt der Begierde. So auch in der Schweiz. Unsere singende Zunft setzt sich überwiegend aus wohlerzogenen Eleven zusammen, die sich ihre seelische Nabelschau leisten. Es plagen sie keine weiteren Ängste. Unser Land ist schön. Die vielgerühmte viersprachige Schweiz ist ein babylonisches Dorf. Neben Französisch, Italienisch und Rätoromanisch missverstehen wir uns im Alltag in bernitalienischem Bauerndeutsch. Und in Kosovoalbanischer Zürcher-Mundart. Im kurdischem Baslerdialekt. Zusätzlich leistet sich jede Gemeinde ihre eigene Sprache. So kann ich meine Basler Mundartsongs nicht gemeinsam mit einem Sänger singen, der fünf Kilometer entfernt ausserhalb der Stadtgrenze aufgewachsen ist. Unsere Reime sind inkompatibel. Das behindert gemeinsames Singen über das eigene Tal hinaus. Trotzdem wird in der Schweiz viel gesungen. Wir singen unsere Volkslieder meist in einer fremden Mundart. Die Texte stammen naturgemäss aus anderen Regionen. Jeder Dialekt ist eine Minderheit. So singen wir viele Lieder in einer Sprache, die wir selten sprechen. Deutsch. «Hochdeutsch». Bei uns die Sprache amtlicher Verlautbarungen. Die Sprache des Militärs. Unsere erste Fremdsprache in Kindergarten und Schule. Wir singen gerne in der Schweiz. Traditionelles und neues. Ins Schweizer Liedgut sind in den letzten vier Jahrzehnten viele Chansons und Rocksongs heutiger Künstler eingeflossen – Liebeslieder – lustige Lieder – harmlose Lieder. Sie sind Volkslieder geworden, so wie die alten. Volkslieder, deren Texte einzig dazu da sind, um gemeinsam schöne Melodien abzusingen. Der Inhalt ist wurscht. Es geht um den Durscht. In den Hitparaden höre ich genau so selten Texte über Politik und Gesellschaft, wie auf kleinen Bühnen oder an politischen Anlässen. Ich entdecke kaum Lieder für oder gegen die all grossen und kleinen Anliegen, die uns bewegen und bewegen müssten. Brutkästen der Lieder Politland Schweiz Die Schweiz ist ein politisches Land. Wir stimmen mehrmals jährlich über Wesentliches und Unwichtiges ab. Wir können uns als Stimmbürger zu vielen Belangen äussern. Wir werfen unseren Entscheid in den Schlitz einer Urne oder eines Briefkastens. Der Wille der Mehrheit entscheidet. Wir sind Boss. Wir entscheiden. Werden Minarette gebaut? Tritt die Schweiz der EU bei? Sollen kriminelle Ausländer bei uns bleiben dürfen? Wird die City autofrei? Die Antwort lautet Nein. Ein gefundenes Fressen für Liedermacher. Könnte man meinen. Lieder gegen die Kälte Als Autor eigener Songs mit politischen Texten suche ich heute nach Liedern dieses Jahrtausend. Aktuelle Songs über gesellschaftliche Zustände. Texte über Ungerechtigkeiten, Hoffnungen, Herrschaftsverhältnisse. Songs über unseren Globus, unser Land, unsere Strasse. Ich suche für diesmal keine Chansons, die im Kabarettprogramm von Kabarettisten dargeboten werden. Ich suche auch keine WeltschmerzPoesie über die ach so traurige Schlechtigkeit von Mensch und Welt. Ich suche auch nicht die gutgemeinten aber schlechtgemachten Versuche engagierter Gruppen. Nichts gegen handgestrickte Lieder! Sie motivieren. Mobilisieren. Entfalten ihre Bedeutung vor allem für die Gruppen selbst. Heute suche ich politische Songs von Künstlerinnen und Künstlern mit einem professionellen Qualitätsanspruch. Meiner Partnerin Barbara Preusler und ich starteten 2008 das Projekt „Lieder gegen die Kälte“. Anstoss war der «Lauf gegen die Kälte» des jungen deutschen Liedsängers Heinz Ratz. Neben Benefiz-Konzerten für ein Schweizer Strassenmagazin organisierten wir einen Song-Contest im Internet für den ganzen deutschen Sprachraum. Wir zielten dabei auf eine rege Beteiligung aus der Schweiz. Wir schrieben Liedschaffende direkt an. Als Vorstandsmitglieder der Schweizer LiederLobby kannten wir die entsprechenden Adressen. Relativ bald nach Beginn des Contests wurden Lieder aus Deutschland aufgeschaltet. Lieder über Obdachlose, Kindesmissbrauch, Armut. Ein Klimalied des Zürchers Markus Rüeger über Eisbären, die bei uns um Asyl bitten, blieb lange Zeit das einzige Schweizer Politprodukt. Dann kam von ihm ein Lied über die Enge in diesem Land. Dann lange nichts. Später besang die Bernerin Katharina Berger das harte Leben einer Prostituierten, und die Sängerin Danah äusserte sich im gleichen Dialekt, dass es an der Zeit sei, die eigene Stimme zu erheben. Alex Seiler aus dem Luzernischen bluest über das Elend eines Penners. Vereinzelt trafen sie nun ein, die aktuellen Lieder über den Zustand der Schweiz. Dazu kamen Dialekt-Liedchen über die schöne Kinderzeit, über eine Schlägerei, über Selbstverwirklichung, Integration, Klimakatastrophe, auch Nonsens und sehr sehr viel viel sehr Persönliches. Die politischen Texte thematisierten zwar unsere Zustände, aber sie blieben im Rahmen allgemeiner Zustimmung. Sie stellten sich kaum gegen Teile der Gesellschaft, 2 Brutkästen der Lieder attackierten keine Organisation oder Partei, nannten keine Namen – attackierten schon gar nicht das Publikum. Keine Provokationen. Keine Aufrufe. Keine Radikalität. Jedes Lied passte in eine gutbürgerliche Stube als Begleitung zu Kuchen und Tee. Laurin Buser Dann aber traf ein Text mich unmittelbar. Ich war mitgerissen und hingerissen. Laurin Buser, ein damals 16-jähriger Schüler aus der Poetry-Slam-Szene beschreibt in seinem gesprochenen Lied den Blick in die Zeitung. Nach einer langen Nacht bin ich morgens aufgewacht müde wie immer raus aus dem Zimmer der Morgenschimmer durchleuchtet das Haus ein wunderbares Gefühl nach dem kurzen Schlaf ich kurv in die Küche schlürfe den Kakao greife mit klebrigen Händen nach der Zeitung es ist Freitag schmutzig die Ränder das Foto spricht Bände das Foto einer Frau weinend sie blutet gebeugt ihre Trauer die erdigen Arme verdecken Gedärme lärmende Menschen im Hintergrund suchen nach Toten nach der Schwester nach dem Sohn jedes Gesicht erzählt seine Geschichte es ist das Bild des Krieges das Bild der Lüge ein Bild der Fotokunst ein Bild blutrot das Bild des Todes Qualm am Himmel Trümmer werden von Tracks zerlegt war früher ein Familienhaus man sieht die Möbelstücke schwarz wie die Pest das kleine Kind am rechten Bildrand hält die Puppe in der Hand neben ihr der Vater in Tränen grausig das Bein ganz allein in den Trümmern der Besitzer ist bestimmt schon verreckt es ist das Bild des Krieges das Bild der Lüge ein Bild der Fotokunst ein Bild blutrot das Bild des Todes ich lege die Zeitung beiseite und beende das Thema geh zurück in den Alltag und vergess, was ich gesehen habe * Laurin Buser performt seine Texte singend und sprechend. Er ist inzwischen einer der bekanntesten Slampoeten im deutschen Sprachraum. Dodo Jud Für unsere Benefizkonzerte fanden wir Künstler mit treffenden Aussagen zur Aktualität. Wir entdeckten Dodo Jud. Seine Reggae-Grooves. Seine ungebändigte Lust, uns anzusingen. Sein Lied «Hunger». Wieso denkst du ist die halbe Welt aggressiv Meinst du wirklich, ihnen sei alles egal Wieso denkst du, dass ein Mensch zu den Waffen greift Ein fetter Bauch hat fette Finger, sie finden den Anzug nicht Alle drei Sekunden stirbt ein Mensch 3 Brutkästen der Lieder Weil er Hunger hat – weil du keinen Hunger kennst Interessiert es dich nicht – du willst den Scheiss nicht hören Lieber die Brittney Spears oder sonst eine Tussi Lieber ein paar Bier und einen fetten Döner Ein paar Käfig-Eier und einen Song von Göle (Berner Rockstar) Mahlzeit im schönen Schweizerland Mahlzeit Mahlzeit Mahlzeit * Der heute 33-jährige Dodo schafft es trotz seiner kritischen Texte, eine aufgekratzte, aufgestellte Stimmung zu verbreiten. Seine Auftritten sprühen vor Energie. Er tanzt pausenlos zu seinen Rhythmen. Zur gleichen Szene zählt der drei Jahre jüngere Comiczeichner und Reggae-Künstler Phenomdem, ein äusserst erfolgreicher Musiker. Wann lernen wir Wenn der Himmel schwarz wird und wenn die Erde brennt Ich hoffe früher erkennen wir und lernen wir zu schätzen Dass wir die Mutter Erde haben Dass wir nicht alleine auf dieser Erde sind Sie zünden die Bombe im Pazifischen Meer Um sie für ihre Armee zu testen Sie verpesten die Luft und ich sage dir Irgendwann gibt es schwarzen Schnee Sie haben keinen Respekt vor dem Kreislauf der Natur Sie brauchen sie auf, warte nur In 50 Jahren gibt es keine Erde mehr Vielen ist’s egal, es betrifft sie eh nicht * Endo Anaconda Seit langem schon berühmt und «berüchtigt» ist der Bern-Österreichische Textsänger Endo Anaconda. Er mischt seit Jahren die Schweizer Szene auf. Seine eher stillen Betrachtungen helvetischer Gnadenlosigkeiten schreit er verzweifelt über den Bühnenrand. Endo ist kein Politsänger, aber er bricht mit seiner Gruppe «Stiller Haas» mit den hochanständigen Bühnenauftritten seiner Sangeskollegen. Und mit der guteidgenössischen Spiessigkeit. Weihnacht Die Mannen sind bei der Weihnachtsfeier Das Licht hängt in den Bäumen Das Christkind muss aus Schokolade sein Aus Gold sind unsere Träume St. Nikolaus liegt rot und schwer Unter der Strassenbahn Ganz Bethlehem (Berner Vorort) total besoffen Das Münster macht Bim Bam 4 Brutkästen der Lieder Im Mitgefühl wiegt der Landstrich sich Das Kabelbäumchen lacht Wer hat gestern die Abfahrt gemacht Der Schnee ist weiss, es ist kein Schnee Der Nebel lastet schwer Das Filet gibt es zum Weihnachtspreis In der Luft übt das Militär Der Schnee ist weiss, es ist kein Schnee Die Ampeln stehn auf rot Eine weisse Katze sucht Mäuse im Schnee Der Schnee macht alle tot Unter dem Weihnachtsbaum bei der BKW (Bernische Kraftwerke – AKW-Betreiber) Liegen zwei im gelben Schnee Fragst du mich, wer ist das wer? Es ist Barbie, sie bumst den Teddybär * An unseren Benefizkonzerten entfalten die Lieder ihre politischer Relevanz. Sie kommen aber nicht von gitarrezupfenden Sangeskollegen, sondern zu allererst von Textperformern und Rap-Artisten. Pyro, Greis Der junge Basler Rapper Pyro singt in «Kaffi und Ziggi» (Kaffee und Zeitung): Ein alter Mann hockt in der Kneipe pafft seine Zigarette schlürft seinen Kaffee bis zum Satz und liest vom Match in der Zeitung erzählt von der Vergangenheit vom 2. Weltkrieg als man seine Familie gefangen nahm vom Schuften im Bergwerk Essensmarken von seiner ersten Liebe seinem Auto Ausflüge Freiheit ist nicht selbstverständlich nun er ist zufrieden es hätte schlimmer kommen können die Stirnrunzeln verraten mehr als er will Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi hat sich hierhin versetzt nahm eine Junkie mit ins Bett jetzt ist sie krank und depro anfangs schlank und hübsch heute an der Spritze ich sehe sie mit der Zigarette schreien wieso habe gerade ich Aids sie fällt zu Boden keiner beachtet sie sie will nur noch weg doch das ist nicht einfach in diesem Land sie ist bereit für den Tod am nächsten Tag liest du es in der Zeitung auf dem Klo ihr Leben ist beendet mit dreissig Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi Die Rap-Szene der Schweiz hat den Polit-Lead im Polit-Lied übernommen. Der sensible Berner Rapper Greis weissagt. das ist noch nichts es wird krasser werden – es sind die Bürgerrechte auf der Strasse erkämpft worden – es hat nicht genug Platz in den Kastenwagen – es ist jetzt eine Massenbewegung bringt die Wasserwerfer – die Güter sind ungleich verteilt – Neoliberale nordischer Länder vollenden schon wieder einen Plan – deregulieren die Märkte – das sei fair und gut für die Konkurrenz – doch die Herren schauen auf die Bilanz – reden von Zahlen und Fakten ob New York oder Moskau – 95% der Märkte sind dominiert von ihren Grosskonzernen – es gibt keinen Wettbewerb es geht nur darum, dass sie fetter 5 Brutkästen der Lieder werden – ging’s um die WTO, würden sie den Planeten sterben lassen – sie wollen sogar mit Gesundheit und Wasserversorgung 100% an der Masse verdienen – es geht um Privatisierung mit 2000 Milliarden Umsatz im Jahr – musst nicht lange studieren – heute sind CS Novartis ABB im Unirat – Unirat bestimmt die Studiengänge der Uni Zürich – gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt – damit meinen Sie die Hilfe beim Aufrichten der Pyramide… * Manuel Stahlberger Im Hipp Hopp trifft sich der Aufstand. Der Widerstand. Die Revolution. Im Lied trifft sich die Skurrilität des Alltags. Zum Beispiel beim stoischen Liedsänger Manuel Stahlberger aus der Ostschweiz – ebenfalls erfolgreicher Cartoonist. Seine Texte bestechen durch skurrile wirkende, aber präzise Collagen des Alltags. Wo andere anklagen, beschreibt er scheinbar unbeteiligt Menschen der Umgebung, was im Publikum betroffene Heiterkeit hinterlässt. Er hat einen Schnauz, eine Jacke, ein Filet auf dem Grill und eine Fahne Eine Mütze, drauf steht «Hag Modelleisenbahnen» Die hat er mal gewonnen jetzt dreht er das Filet auf dem Rost und bläst in die Kohle Stellt das Bier kühl es kommen noch drei andere Schnäuze dann sind sie zu viert Heut wird der Nachbar gegrillt Er hat im Keller ein Modell mit Tunnels Und Bergen und Felsen aus Spachtelmasse und Signal Und das Rollmaterial ist alt Dem Nachbarn gefällt besonders die Lokomotive mit dem Wappen von Airolo Sie haben ihn kommen lassen auf Halb und locken ihn rein Mit den Lokomotiven und den Schienen und den Felsen Und machen auch sonst viel zusammen Zum Beispiel wird heut der Nachbar gegrillt Nie mehr liegt eine Quitte auf der falschen Seite des Gartenzauns Nie mehr der Hund nie mehr das Gekläffe, kein Grund mehr sich zu treffen Nie mehr nett sein und sich bemühen Nie mehr «Grüezi» und schöne Festtage Nie mehr Waschtag nie mehr Stewi Ewig reden über die Hecken und heucheln danke ihnen auch Nie mehr die Fahne des Kanton Thurgau Nie mehr weil Heut wird der Nachbar gegrillt * Es gibt sie also, die Lieder über unsere Zustände im Land. Lieder, die kratzen am Lack des Schweizer Familienwagens. Lieder, die mit dem Vorschlaghammer die Windschutzscheibe einschlagen. Lieder, die die Motorhaube öffnen, um die Bezinzufuhr zu durchschneiden. 6 Brutkästen der Lieder Was mir allerdings bei der Suche nach politischen Liedern auffällt. Es sind keine Lieder mehr im herkömmlichen Sinn. Es sind Songs aus der Rapszene – wobei Rapper diese auch als «Lieder» bezeichnen. Es sind Songs von Reggaebands. Es sind Songs singender Slampoeten. Es fehlen die gitarrespielenden Interpreten eigener Texte, abgesehen von löblichen Ausnahmen, zum Beispiel vom oben erwähnten Markus Rüeger. Was mir auf der Suche nach politischen Liedern ebenfalls auffällt. Sie sind nicht politisch. Sie sind vielleicht gesellschaftspolitisch. Sie sind radikalmoralisch und alltagsskurril. Aber sie nehmen keinen Einfluss auf laufende politische Diskussionen. Mit ganz wenigen Ausnahmen. Reithalle Bern. Beispiel Müslüm In Bern steht seit dem vorletzten Jahrhundert beim Bahnhof die Reithalle. 1980 wurde sie von Jugendlichen besetzt. Sie errichteten darin ein Autonomes Zentrum. Seit 2004 besitzt die Reitschule einen offiziellen Mietvertrag mit der Stadt Bern. Mehrmals stimmten die Berner ab über die Zukunft des Zentrums in der Stadt, zuletzt am 26. September 2010. Die Rechtsaussen-Partei SVP, grösste Partei der Schweiz, verlangte in der Person des stadtbekannten Erich Hess einmal mehr die Schliessung dieses langjährigen, erfolgreichen Experimentes. Dagegen wendetet sich nicht nur Grüne, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, auch Kulturschaffende wurden aktiv für «ihr» Zentrum. Der kostümierte Songperformer Müslüm nimmt in einem irrwitzigen Text all die Vorurteile des Erich Hess auf die Schippe und verbreitet sie per Youtube. Der Song wird zum Hit. Hundertausende Zugriffe. Youtube.com. Erich, warum bisch Du nid Ehrlich: zwei, drei, vier, hopp Warum bist denn du so, Erich warum bist du so Hast du keine Herzeli, hast du keine Liebe bekommen Du bist immer depressiv, immer sind die andere schuld Auch wenn alles gut ist, du findest immer eine Grund Drumm bleib mal ruhisch, pssst Erich... Erich Hess, Hess, Hess soviel Stress, Stress, Stress Erich warum bist du nicht ehrlich Wir sind doch nid gefehrlich Warum bist du immer aggressiv Komm Baby, komm Baby, Baby komm Beweg deine schöne Popöchen schon Wir sind keine Drögeler, Erich warum sagst du das Wir sind für die Liebe und gegen den Fremdenhass Wenn ich mal gross bin will ich den Schweizer Pass 7 Brutkästen der Lieder Ich habe eine Traum meine Brüder, eine Traum Ich bin aggressiv, i habe Chomplexe, Adrenalin Ich habe eine Traum Dass man bekommt eine Ermässigung mit Kredit-Charte in der Rotlichtmiliöö Ich habe eine Traum Dass mir alle zusammen nackt auf eine Haufe liegen und miteinander Liebe machen Meine Brüder, man kann vielleicht eine Drögeler töten Aber man kann nicht alle Drögeler töten Komm Baby, komm Baby, Baby komm Beweg deine schöne Popöchen schon Erich meine Chollege komm und hol dir den Schlüssel... Die Abstimmung wird mit über 68% für die Reithalle gewonnen. Auch in weitere Abstimmungen mischt sich Müslüm mit witzigen Songs ein, das Fernsehen filmt seine Auftritte. Spass und Politik. Ein klassischer Singer-Songwriter ist es nicht. No problem. Demokratie killt Lieder Wo entsteht das politische Lied? Draussen auf der Strasse, wenn sich die Massen erheben? Drinnen im Werkhof, wenn die Belegschaft streikt? Auf einem besetzten Gelände, wenn ein AKW verhindert wird? Ja. In der Schweiz erheben sich die Berge, aber keine Massen. Nicht weil wir träge wären. Wenn aber der Schweizer (und seit 40 Jahren auch die Schweizerin) nicht einverstanden ist mit der Regierung oder mit dem Parlament, sammeln sie und er friedlich Unterschriften, um die Verfassung oder ein Gesetz zu ändern. Wir brauchen den berühmten Druck von der Strasse nicht. Wir brauchen die Mehrheit. Die Mehrheit mag keine Radikalen. Sie mag keine Militanten. Die Mehrheit mag sich selbst. Wer nicht mehrheitsfähig ist, wird an der Urne abgestraft. Wir schreiben das Jahr 2011. Werkhöfe weichen Grossraumbüros. Gestreikt wird bei uns höchstens noch auf der Baustelle. 50 Sprachen und ein Lied? Wir singen Lady Gaga und ESC und DSDS. Vor vierzig Jahren gab es allenfalls noch streikende Studenten, die verstanden deutsch. Wer heute vor streikenden Industriewäscherinnen singt, vergisst die verständnislosen Gesichter nicht. Die Schweiz kennt keine Arbeitskämpfe. Gewerkschaften und Arbeitgeber haben sich hierzulande bereits 1937 per Abkommen verpflichtet, den Arbeitsfrieden zu wahren und alle Streitigkeiten wenn immer möglich am grünen Tisch zu regeln. Am grünen Tisch sitzen Funktionäre. Die Belegschaft wartet im Vorzimmer. Am grünen Tisch entstehen keine Lieder. Im Vorzimmer auch nicht. Die Arbeitnehmer lassen die Funktionäre für sich kämpfen. Das ist bequem. Das macht bequem. Wer auf der Strasse kämpft, kommt aus anderen Kulturen. 8 Brutkästen der Lieder Die Schweiz spart sich die Strasse. Es hat die Urne. Bevor ein Bahnhof unter den Boden kommt, kommt er vors «Volk». Dann kommt der Bahnhof entweder unter den Boden oder er wird begraben. Damit das Volk nicht Bahnhof versteht, wird die Diskussion wird öffentlich und kontrovers über lange Monate und Jahre geführt. Ein Lied zur Sache ist dann höchstens ein weiterer Diskussionsbeitrag. Mehr nicht. Manchmal wird dann trotzdem ein Haus besetzt. Oder eine Durchfahrtsstrasse gesperrt. Oder ein Gelände in Beschlag genommen. Einzelfälle. Immerhin. Kritik muss jedoch eine kritische Masse übersteigen, damit kritische Lieder entstehen. Lieder wollen nicht nur gesungen, sie wollen auch gehört werden. Lieder wollen wirken. Ohne Publikum kein Lied. In der kleinen Schweiz sind die Szenen klein. Szenen sind die Brutkästen der Lieder. Der Songpoet egal aus welcher «Szene» weiss, wovon er singt – ebenso weiss es sein Szenenpublikum. Hier wachsen die Songs, die zur Sache gehen. Grosse Szenen nennen wir Bewegung. Die Schweiz ist arm an Bewegungen. Bewegungen Es gab in den 70er Jahren die Anti-Atombewegung mit der erfolgreichen Besetzung gegen das AKW in Kaiseraugst bei Basel. Es transportierte meine Lieder von damals ins Bewusstsein einer bewegten Generation. Es gab ab 1980 die Jugendbewegung für Autonome Jugendzentren. Dort wurde getanzt, nicht gesungen. Danach blieben die grossen übergreifenden Bewegungen aus. Kleine regionale Unruhen gab es allemal – da und dort produzierten sie Lieder mit politischen Aussagen. Diese Politsongs wurden ausserhalb von Szenen und Bewegungen jedoch kaum wahrgenommen. Mit einer Ausnahme. Youtube. Hier kann der einsame Ansinger gegen die herrschenden Zustände sein einsames Publikum finden. Jedoch verbinden heute mehr und mehr die Facebook- und Youtube-Freunde ihr «Gefällt mir» mit Aktionen, die auch mir gefallen. In der Schweiz rüsten sich die AKWGegner für die Abstimmung 2014 über zwei neugeplante Atomkraftwerke. Die Dachorganisation «Nein zu neuen AKW» jedoch lässt in ihrem politischen Fahrplan die Kultur, insbesondere die singenden Künstler, links liegen. Songs zum Thema sind nicht gefragt. Lieder als politisches Werkzeug haben hier keine Tradition. Im Vorstand hatte mein Insistieren in diesem Punkt keine Chance. Wurde belächelt. An Sitzungen haben Lieder einen schweren Stand. Menschen wollen bewegt sein, um sich zu bewegen - und dies erst bewegt uns Liedpoeten dazu, mit unseren Texten Menschen zu bewegen. Wir stehen jetzt, zu unserem Entsetzen, wieder an der Schwelle bewegter Zeiten. Japan. Die unvorstellbare Apokalypse wird auch in der Schweiz die Menschen wieder zusammenbringen. Ich erwarte wieder Lieder, die sich nicht nur mit dem Innenleben verwöhnter Bildungsschichten beschäftigen. Es werden Lieder sein von jungen Frauen und Männern, die ihr Handwerk beherrschen und unsere Herzen treffen mit ihrer Stimme, weil sich unsere Ohren wieder geöffnet haben. 9 Brutkästen der Lieder Dialektlieder sind begrenzt, speziell in unserem eingegrenzten Land. Die Themen aber sind global. Atomspaltung eint das Volk. Liedpoeten und Publikum kommen nicht mehr aneinander vorbei. Auch in der Schweiz. Im Mai 2010 trafen sich tausende Menschen beim AKW Gösgen im Schweizer Mittelland. Für diesen «Menschenstrom gegen Atom» sangen Markus Rüeger und ich zum Thema. Hier die letzte Strophe eines meiner aktuellen Songs. Und der Todesengel brütet Auf dem Ofen neben der Hölle Auf dem Feuer, das ewig wütet Und verklebt unseren Mund mit süssen Karamells Und er spielt die letzte Karte Breitet über uns aus sein Leichengewand Wirft den Krebs in den Kindergarten Still und leis im Schweizerland Aernschd Born * Textauszüge in freier Übersetzung aus dem Dialekt – dadurch verschwinden Reim und Rhythmus www.borninbasel.ch 10