Brutkästen der Lieder

Transcrição

Brutkästen der Lieder
Brutkästen der Lieder
Aktuelle Politsongs in der Schweiz
Artikel
Aernschd Born 2011
FOLKER 4/11
Ungekürzter Text / veröffentlichter Text in «Politsongs in der Schweiz»
Wer in der Schweiz aktuelle politische Lieder sucht, braucht grosse Ohren. In
den Charts und auf den Bühnen unseres Landes sind Politsongs Mangelware.
Umso kostbarer sind die wenigen Protagonisten dieser bockigen Poesie in der
deutschen Schweiz.
Das Phänomen ist international. Man besucht ein Liedermacher-Festival und ertrinkt in
einer Liebesliederflut. Ältere Herren und blutjunge Damen reduzieren das Leiden und
Hoffen dieser Welt auf sich selbst und das Objekt der Begierde. So auch in der
Schweiz. Unsere singende Zunft setzt sich überwiegend aus wohlerzogenen Eleven
zusammen, die sich ihre seelische Nabelschau leisten. Es plagen sie keine weiteren
Ängste. Unser Land ist schön.
Die vielgerühmte viersprachige Schweiz ist ein babylonisches Dorf. Neben Französisch, Italienisch und Rätoromanisch missverstehen wir uns im Alltag in bernitalienischem Bauerndeutsch. Und in Kosovoalbanischer Zürcher-Mundart. Im kurdischem
Baslerdialekt. Zusätzlich leistet sich jede Gemeinde ihre eigene Sprache. So kann ich
meine Basler Mundartsongs nicht gemeinsam mit einem Sänger singen, der fünf
Kilometer entfernt ausserhalb der Stadtgrenze aufgewachsen ist. Unsere Reime sind
inkompatibel. Das behindert gemeinsames Singen über das eigene Tal hinaus.
Trotzdem wird in der Schweiz viel gesungen. Wir singen unsere Volkslieder meist in
einer fremden Mundart. Die Texte stammen naturgemäss aus anderen Regionen.
Jeder Dialekt ist eine Minderheit. So singen wir viele Lieder in einer Sprache, die wir
selten sprechen. Deutsch. «Hochdeutsch». Bei uns die Sprache amtlicher Verlautbarungen. Die Sprache des Militärs. Unsere erste Fremdsprache in Kindergarten und
Schule.
Wir singen gerne in der Schweiz. Traditionelles und neues. Ins Schweizer Liedgut sind
in den letzten vier Jahrzehnten viele Chansons und Rocksongs heutiger Künstler eingeflossen – Liebeslieder – lustige Lieder – harmlose Lieder. Sie sind Volkslieder
geworden, so wie die alten. Volkslieder, deren Texte einzig dazu da sind, um gemeinsam schöne Melodien abzusingen. Der Inhalt ist wurscht. Es geht um den Durscht.
In den Hitparaden höre ich genau so selten Texte über Politik und Gesellschaft, wie
auf kleinen Bühnen oder an politischen Anlässen. Ich entdecke kaum Lieder für oder
gegen die all grossen und kleinen Anliegen, die uns bewegen und bewegen müssten.
Brutkästen der Lieder
Politland Schweiz
Die Schweiz ist ein politisches Land. Wir stimmen mehrmals jährlich über Wesentliches und Unwichtiges ab. Wir können uns als Stimmbürger zu vielen Belangen äussern. Wir werfen unseren Entscheid in den Schlitz einer Urne oder eines Briefkastens.
Der Wille der Mehrheit entscheidet. Wir sind Boss.
Wir entscheiden. Werden Minarette gebaut? Tritt die Schweiz der EU bei? Sollen
kriminelle Ausländer bei uns bleiben dürfen? Wird die City autofrei? Die Antwort lautet
Nein. Ein gefundenes Fressen für Liedermacher. Könnte man meinen.
Lieder gegen die Kälte
Als Autor eigener Songs mit politischen Texten suche ich heute nach Liedern dieses
Jahrtausend. Aktuelle Songs über gesellschaftliche Zustände. Texte über Ungerechtigkeiten, Hoffnungen, Herrschaftsverhältnisse. Songs über unseren Globus, unser
Land, unsere Strasse. Ich suche für diesmal keine Chansons, die im Kabarettprogramm von Kabarettisten dargeboten werden. Ich suche auch keine WeltschmerzPoesie über die ach so traurige Schlechtigkeit von Mensch und Welt. Ich suche auch
nicht die gutgemeinten aber schlechtgemachten Versuche engagierter Gruppen.
Nichts gegen handgestrickte Lieder! Sie motivieren. Mobilisieren. Entfalten ihre Bedeutung vor allem für die Gruppen selbst. Heute suche ich politische Songs von Künstlerinnen und Künstlern mit einem professionellen Qualitätsanspruch.
Meiner Partnerin Barbara Preusler und ich starteten 2008 das Projekt „Lieder gegen
die Kälte“. Anstoss war der «Lauf gegen die Kälte» des jungen deutschen Liedsängers
Heinz Ratz. Neben Benefiz-Konzerten für ein Schweizer Strassenmagazin organisierten wir einen Song-Contest im Internet für den ganzen deutschen Sprachraum. Wir
zielten dabei auf eine rege Beteiligung aus der Schweiz. Wir schrieben Liedschaffende
direkt an. Als Vorstandsmitglieder der Schweizer LiederLobby kannten wir die entsprechenden Adressen.
Relativ bald nach Beginn des Contests wurden Lieder aus Deutschland aufgeschaltet.
Lieder über Obdachlose, Kindesmissbrauch, Armut. Ein Klimalied des Zürchers Markus Rüeger über Eisbären, die bei uns um Asyl bitten, blieb lange Zeit das einzige
Schweizer Politprodukt. Dann kam von ihm ein Lied über die Enge in diesem Land.
Dann lange nichts. Später besang die Bernerin Katharina Berger das harte Leben
einer Prostituierten, und die Sängerin Danah äusserte sich im gleichen Dialekt, dass
es an der Zeit sei, die eigene Stimme zu erheben. Alex Seiler aus dem Luzernischen
bluest über das Elend eines Penners. Vereinzelt trafen sie nun ein, die aktuellen Lieder
über den Zustand der Schweiz.
Dazu kamen Dialekt-Liedchen über die schöne Kinderzeit, über eine Schlägerei, über
Selbstverwirklichung, Integration, Klimakatastrophe, auch Nonsens und sehr sehr viel
viel sehr Persönliches.
Die politischen Texte thematisierten zwar unsere Zustände, aber sie blieben im Rahmen allgemeiner Zustimmung. Sie stellten sich kaum gegen Teile der Gesellschaft,
2
Brutkästen der Lieder
attackierten keine Organisation oder Partei, nannten keine Namen – attackierten schon
gar nicht das Publikum. Keine Provokationen. Keine Aufrufe. Keine Radikalität. Jedes
Lied passte in eine gutbürgerliche Stube als Begleitung zu Kuchen und Tee.
Laurin Buser
Dann aber traf ein Text mich unmittelbar. Ich war mitgerissen und hingerissen. Laurin
Buser, ein damals 16-jähriger Schüler aus der Poetry-Slam-Szene beschreibt in seinem gesprochenen Lied den Blick in die Zeitung.
Nach einer langen Nacht bin ich morgens aufgewacht
müde wie immer raus aus dem Zimmer der Morgenschimmer
durchleuchtet das Haus ein wunderbares Gefühl nach dem kurzen Schlaf
ich kurv in die Küche schlürfe den Kakao greife mit klebrigen Händen
nach der Zeitung es ist Freitag
schmutzig die Ränder das Foto spricht Bände das Foto einer Frau
weinend sie blutet gebeugt ihre Trauer
die erdigen Arme verdecken Gedärme lärmende Menschen im Hintergrund
suchen nach Toten nach der Schwester nach dem Sohn
jedes Gesicht erzählt seine Geschichte
es ist das Bild des Krieges das Bild der Lüge ein Bild der Fotokunst ein Bild blutrot
das Bild des Todes
Qualm am Himmel Trümmer werden von Tracks zerlegt
war früher ein Familienhaus man sieht die Möbelstücke schwarz wie die Pest
das kleine Kind am rechten Bildrand hält die Puppe in der Hand
neben ihr der Vater in Tränen
grausig das Bein ganz allein in den Trümmern der Besitzer ist bestimmt schon verreckt
es ist das Bild des Krieges das Bild der Lüge ein Bild der Fotokunst ein Bild blutrot
das Bild des Todes
ich lege die Zeitung beiseite und beende das Thema
geh zurück in den Alltag und vergess, was ich gesehen habe *
Laurin Buser performt seine Texte singend und sprechend. Er ist inzwischen einer der
bekanntesten Slampoeten im deutschen Sprachraum.
Dodo Jud
Für unsere Benefizkonzerte fanden wir Künstler mit treffenden Aussagen zur Aktualität.
Wir entdeckten Dodo Jud. Seine Reggae-Grooves. Seine ungebändigte Lust, uns anzusingen. Sein Lied «Hunger».
Wieso denkst du ist die halbe Welt aggressiv
Meinst du wirklich, ihnen sei alles egal
Wieso denkst du, dass ein Mensch zu den Waffen greift
Ein fetter Bauch hat fette Finger, sie finden den Anzug nicht
Alle drei Sekunden stirbt ein Mensch
3
Brutkästen der Lieder
Weil er Hunger hat – weil du keinen Hunger kennst
Interessiert es dich nicht – du willst den Scheiss nicht hören
Lieber die Brittney Spears oder sonst eine Tussi
Lieber ein paar Bier und einen fetten Döner
Ein paar Käfig-Eier und einen Song von Göle (Berner Rockstar)
Mahlzeit im schönen Schweizerland
Mahlzeit Mahlzeit Mahlzeit *
Der heute 33-jährige Dodo schafft es trotz seiner kritischen Texte, eine aufgekratzte,
aufgestellte Stimmung zu verbreiten. Seine Auftritten sprühen vor Energie. Er tanzt
pausenlos zu seinen Rhythmen. Zur gleichen Szene zählt der drei Jahre jüngere
Comiczeichner und Reggae-Künstler Phenomdem, ein äusserst erfolgreicher Musiker.
Wann lernen wir
Wenn der Himmel schwarz wird und wenn die Erde brennt
Ich hoffe früher erkennen wir und lernen wir zu schätzen
Dass wir die Mutter Erde haben
Dass wir nicht alleine auf dieser Erde sind
Sie zünden die Bombe im Pazifischen Meer
Um sie für ihre Armee zu testen
Sie verpesten die Luft und ich sage dir
Irgendwann gibt es schwarzen Schnee
Sie haben keinen Respekt vor dem Kreislauf der Natur
Sie brauchen sie auf, warte nur
In 50 Jahren gibt es keine Erde mehr
Vielen ist’s egal, es betrifft sie eh nicht *
Endo Anaconda
Seit langem schon berühmt und «berüchtigt» ist der Bern-Österreichische Textsänger
Endo Anaconda. Er mischt seit Jahren die Schweizer Szene auf. Seine eher stillen
Betrachtungen helvetischer Gnadenlosigkeiten schreit er verzweifelt über den Bühnenrand. Endo ist kein Politsänger, aber er bricht mit seiner Gruppe «Stiller Haas» mit den
hochanständigen Bühnenauftritten seiner Sangeskollegen. Und mit der guteidgenössischen Spiessigkeit.
Weihnacht
Die Mannen sind bei der Weihnachtsfeier
Das Licht hängt in den Bäumen
Das Christkind muss aus Schokolade sein
Aus Gold sind unsere Träume
St. Nikolaus liegt rot und schwer
Unter der Strassenbahn
Ganz Bethlehem (Berner Vorort) total besoffen
Das Münster macht Bim Bam
4
Brutkästen der Lieder
Im Mitgefühl wiegt der Landstrich sich
Das Kabelbäumchen lacht
Wer hat gestern die Abfahrt gemacht
Der Schnee ist weiss, es ist kein Schnee
Der Nebel lastet schwer
Das Filet gibt es zum Weihnachtspreis
In der Luft übt das Militär
Der Schnee ist weiss, es ist kein Schnee
Die Ampeln stehn auf rot
Eine weisse Katze sucht Mäuse im Schnee
Der Schnee macht alle tot
Unter dem Weihnachtsbaum bei der BKW (Bernische Kraftwerke – AKW-Betreiber)
Liegen zwei im gelben Schnee
Fragst du mich, wer ist das wer?
Es ist Barbie, sie bumst den Teddybär *
An unseren Benefizkonzerten entfalten die Lieder ihre politischer Relevanz. Sie kommen aber nicht von gitarrezupfenden Sangeskollegen, sondern zu allererst von Textperformern und Rap-Artisten.
Pyro, Greis
Der junge Basler Rapper Pyro singt in «Kaffi und Ziggi» (Kaffee und Zeitung):
Ein alter Mann hockt in der Kneipe pafft seine Zigarette schlürft seinen Kaffee bis zum
Satz und liest vom Match in der Zeitung erzählt von der Vergangenheit vom 2. Weltkrieg
als man seine Familie gefangen nahm vom Schuften im Bergwerk Essensmarken von
seiner ersten Liebe seinem Auto Ausflüge Freiheit ist nicht selbstverständlich nun er ist
zufrieden es hätte schlimmer kommen können die Stirnrunzeln verraten mehr als er will
Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi hat sich hierhin versetzt nahm eine Junkie mit ins Bett jetzt ist sie krank und depro anfangs schlank und hübsch heute an der
Spritze ich sehe sie mit der Zigarette schreien wieso habe gerade ich Aids sie fällt zu
Boden keiner beachtet sie sie will nur noch weg doch das ist nicht einfach in diesem
Land sie ist bereit für den Tod am nächsten Tag liest du es in der Zeitung auf dem Klo
ihr Leben ist beendet mit dreissig Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi Kaffi und Ziggi
Die Rap-Szene der Schweiz hat den Polit-Lead im Polit-Lied übernommen. Der sensible Berner Rapper Greis weissagt.
das ist noch nichts es wird krasser werden – es sind die Bürgerrechte auf der Strasse
erkämpft worden – es hat nicht genug Platz in den Kastenwagen – es ist jetzt eine Massenbewegung bringt die Wasserwerfer – die Güter sind ungleich verteilt – Neoliberale
nordischer Länder vollenden schon wieder einen Plan – deregulieren die Märkte – das
sei fair und gut für die Konkurrenz – doch die Herren schauen auf die Bilanz – reden
von Zahlen und Fakten ob New York oder Moskau – 95% der Märkte sind dominiert von
ihren Grosskonzernen – es gibt keinen Wettbewerb es geht nur darum, dass sie fetter
5
Brutkästen der Lieder
werden – ging’s um die WTO, würden sie den Planeten sterben lassen – sie wollen
sogar mit Gesundheit und Wasserversorgung 100% an der Masse verdienen – es geht
um Privatisierung mit 2000 Milliarden Umsatz im Jahr – musst nicht lange studieren –
heute sind CS Novartis ABB im Unirat – Unirat bestimmt die Studiengänge der Uni Zürich – gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt – damit meinen Sie die Hilfe beim Aufrichten
der Pyramide… *
Manuel Stahlberger
Im Hipp Hopp trifft sich der Aufstand. Der Widerstand. Die Revolution.
Im Lied trifft sich die Skurrilität des Alltags. Zum Beispiel beim stoischen Liedsänger
Manuel Stahlberger aus der Ostschweiz – ebenfalls erfolgreicher Cartoonist. Seine
Texte bestechen durch skurrile wirkende, aber präzise Collagen des Alltags. Wo andere anklagen, beschreibt er scheinbar unbeteiligt Menschen der Umgebung, was im
Publikum betroffene Heiterkeit hinterlässt.
Er hat einen Schnauz, eine Jacke, ein Filet auf dem Grill und eine Fahne
Eine Mütze, drauf steht «Hag Modelleisenbahnen»
Die hat er mal gewonnen jetzt dreht er das Filet auf dem Rost und bläst in die Kohle
Stellt das Bier kühl es kommen noch drei andere Schnäuze dann sind sie zu viert
Heut wird der Nachbar gegrillt
Er hat im Keller ein Modell mit Tunnels
Und Bergen und Felsen aus Spachtelmasse und Signal
Und das Rollmaterial ist alt
Dem Nachbarn gefällt besonders die Lokomotive mit dem Wappen von Airolo
Sie haben ihn kommen lassen auf Halb und locken ihn rein
Mit den Lokomotiven und den Schienen und den Felsen
Und machen auch sonst viel zusammen
Zum Beispiel wird heut der Nachbar gegrillt
Nie mehr liegt eine Quitte auf der falschen Seite des Gartenzauns
Nie mehr der Hund nie mehr das Gekläffe, kein Grund mehr sich zu treffen
Nie mehr nett sein und sich bemühen
Nie mehr «Grüezi» und schöne Festtage
Nie mehr Waschtag nie mehr Stewi
Ewig reden über die Hecken und heucheln danke ihnen auch
Nie mehr die Fahne des Kanton Thurgau
Nie mehr weil
Heut wird der Nachbar gegrillt *
Es gibt sie also, die Lieder über unsere Zustände im Land. Lieder, die kratzen am Lack
des Schweizer Familienwagens. Lieder, die mit dem Vorschlaghammer die Windschutzscheibe einschlagen. Lieder, die die Motorhaube öffnen, um die Bezinzufuhr zu
durchschneiden.
6
Brutkästen der Lieder
Was mir allerdings bei der Suche nach politischen Liedern auffällt. Es sind keine Lieder mehr im herkömmlichen Sinn. Es sind Songs aus der Rapszene – wobei Rapper
diese auch als «Lieder» bezeichnen. Es sind Songs von Reggaebands. Es sind Songs
singender Slampoeten. Es fehlen die gitarrespielenden Interpreten eigener Texte,
abgesehen von löblichen Ausnahmen, zum Beispiel vom oben erwähnten Markus Rüeger.
Was mir auf der Suche nach politischen Liedern ebenfalls auffällt. Sie sind nicht politisch. Sie sind vielleicht gesellschaftspolitisch. Sie sind radikalmoralisch und alltagsskurril. Aber sie nehmen keinen Einfluss auf laufende politische Diskussionen. Mit
ganz wenigen Ausnahmen.
Reithalle Bern. Beispiel Müslüm
In Bern steht seit dem vorletzten Jahrhundert beim Bahnhof die Reithalle. 1980 wurde
sie von Jugendlichen besetzt. Sie errichteten darin ein Autonomes Zentrum. Seit 2004
besitzt die Reitschule einen offiziellen Mietvertrag mit der Stadt Bern. Mehrmals stimmten die Berner ab über die Zukunft des Zentrums in der Stadt, zuletzt am 26. September 2010.
Die Rechtsaussen-Partei SVP, grösste Partei der Schweiz, verlangte in der Person des
stadtbekannten Erich Hess einmal mehr die Schliessung dieses langjährigen, erfolgreichen Experimentes. Dagegen wendetet sich nicht nur Grüne, Sozialdemokraten und
Gewerkschafter, auch Kulturschaffende wurden aktiv für «ihr» Zentrum. Der kostümierte Songperformer Müslüm nimmt in einem irrwitzigen Text all die Vorurteile des Erich
Hess auf die Schippe und verbreitet sie per Youtube. Der Song wird zum Hit. Hundertausende Zugriffe. Youtube.com. Erich, warum bisch Du nid Ehrlich:
zwei, drei, vier, hopp
Warum bist denn du so, Erich warum bist du so
Hast du keine Herzeli, hast du keine Liebe bekommen
Du bist immer depressiv, immer sind die andere schuld
Auch wenn alles gut ist, du findest immer eine Grund
Drumm bleib mal ruhisch, pssst Erich...
Erich Hess, Hess, Hess
soviel Stress, Stress, Stress
Erich warum bist du nicht ehrlich
Wir sind doch nid gefehrlich
Warum bist du immer aggressiv
Komm Baby, komm Baby, Baby komm
Beweg deine schöne Popöchen schon
Wir sind keine Drögeler, Erich warum sagst du das
Wir sind für die Liebe und gegen den Fremdenhass
Wenn ich mal gross bin will ich den Schweizer Pass
7
Brutkästen der Lieder
Ich habe eine Traum meine Brüder, eine Traum
Ich bin aggressiv, i habe Chomplexe, Adrenalin
Ich habe eine Traum
Dass man bekommt eine Ermässigung mit Kredit-Charte in der Rotlichtmiliöö
Ich habe eine Traum
Dass mir alle zusammen nackt auf eine Haufe liegen und miteinander Liebe machen
Meine Brüder, man kann vielleicht eine Drögeler töten
Aber man kann nicht alle Drögeler töten
Komm Baby, komm Baby, Baby komm
Beweg deine schöne Popöchen schon
Erich meine Chollege
komm und hol dir den Schlüssel...
Die Abstimmung wird mit über 68% für die Reithalle gewonnen. Auch in weitere
Abstimmungen mischt sich Müslüm mit witzigen Songs ein, das Fernsehen filmt seine
Auftritte. Spass und Politik. Ein klassischer Singer-Songwriter ist es nicht. No problem.
Demokratie killt Lieder
Wo entsteht das politische Lied? Draussen auf der Strasse, wenn sich die Massen
erheben? Drinnen im Werkhof, wenn die Belegschaft streikt? Auf einem besetzten Gelände, wenn ein AKW verhindert wird? Ja.
In der Schweiz erheben sich die Berge, aber keine Massen. Nicht weil wir träge wären.
Wenn aber der Schweizer (und seit 40 Jahren auch die Schweizerin) nicht einverstanden ist mit der Regierung oder mit dem Parlament, sammeln sie und er friedlich Unterschriften, um die Verfassung oder ein Gesetz zu ändern. Wir brauchen den berühmten
Druck von der Strasse nicht. Wir brauchen die Mehrheit. Die Mehrheit mag keine Radikalen. Sie mag keine Militanten. Die Mehrheit mag sich selbst. Wer nicht mehrheitsfähig ist, wird an der Urne abgestraft.
Wir schreiben das Jahr 2011. Werkhöfe weichen Grossraumbüros. Gestreikt wird bei
uns höchstens noch auf der Baustelle. 50 Sprachen und ein Lied? Wir singen Lady
Gaga und ESC und DSDS. Vor vierzig Jahren gab es allenfalls noch streikende Studenten, die verstanden deutsch. Wer heute vor streikenden Industriewäscherinnen
singt, vergisst die verständnislosen Gesichter nicht.
Die Schweiz kennt keine Arbeitskämpfe. Gewerkschaften und Arbeitgeber haben sich
hierzulande bereits 1937 per Abkommen verpflichtet, den Arbeitsfrieden zu wahren
und alle Streitigkeiten wenn immer möglich am grünen Tisch zu regeln. Am grünen
Tisch sitzen Funktionäre. Die Belegschaft wartet im Vorzimmer. Am grünen Tisch entstehen keine Lieder. Im Vorzimmer auch nicht. Die Arbeitnehmer lassen die Funktionäre für sich kämpfen. Das ist bequem. Das macht bequem. Wer auf der Strasse kämpft,
kommt aus anderen Kulturen.
8
Brutkästen der Lieder
Die Schweiz spart sich die Strasse. Es hat die Urne. Bevor ein Bahnhof unter den
Boden kommt, kommt er vors «Volk». Dann kommt der Bahnhof entweder unter den
Boden oder er wird begraben. Damit das Volk nicht Bahnhof versteht, wird die Diskussion wird öffentlich und kontrovers über lange Monate und Jahre geführt. Ein Lied zur
Sache ist dann höchstens ein weiterer Diskussionsbeitrag. Mehr nicht.
Manchmal wird dann trotzdem ein Haus besetzt. Oder eine Durchfahrtsstrasse gesperrt. Oder ein Gelände in Beschlag genommen. Einzelfälle. Immerhin. Kritik muss
jedoch eine kritische Masse übersteigen, damit kritische Lieder entstehen. Lieder wollen nicht nur gesungen, sie wollen auch gehört werden. Lieder wollen wirken. Ohne
Publikum kein Lied.
In der kleinen Schweiz sind die Szenen klein. Szenen sind die Brutkästen der Lieder.
Der Songpoet egal aus welcher «Szene» weiss, wovon er singt – ebenso weiss es sein
Szenenpublikum. Hier wachsen die Songs, die zur Sache gehen. Grosse Szenen nennen wir Bewegung. Die Schweiz ist arm an Bewegungen.
Bewegungen
Es gab in den 70er Jahren die Anti-Atombewegung mit der erfolgreichen Besetzung
gegen das AKW in Kaiseraugst bei Basel. Es transportierte meine Lieder von damals
ins Bewusstsein einer bewegten Generation. Es gab ab 1980 die Jugendbewegung für
Autonome Jugendzentren. Dort wurde getanzt, nicht gesungen. Danach blieben die
grossen übergreifenden Bewegungen aus. Kleine regionale Unruhen gab es allemal –
da und dort produzierten sie Lieder mit politischen Aussagen. Diese Politsongs wurden ausserhalb von Szenen und Bewegungen jedoch kaum wahrgenommen.
Mit einer Ausnahme. Youtube. Hier kann der einsame Ansinger gegen die herrschenden Zustände sein einsames Publikum finden.
Jedoch verbinden heute mehr und mehr die Facebook- und Youtube-Freunde ihr
«Gefällt mir» mit Aktionen, die auch mir gefallen. In der Schweiz rüsten sich die AKWGegner für die Abstimmung 2014 über zwei neugeplante Atomkraftwerke. Die Dachorganisation «Nein zu neuen AKW» jedoch lässt in ihrem politischen Fahrplan die
Kultur, insbesondere die singenden Künstler, links liegen. Songs zum Thema sind
nicht gefragt. Lieder als politisches Werkzeug haben hier keine Tradition. Im Vorstand
hatte mein Insistieren in diesem Punkt keine Chance. Wurde belächelt. An Sitzungen
haben Lieder einen schweren Stand.
Menschen wollen bewegt sein, um sich zu bewegen - und dies erst bewegt uns Liedpoeten dazu, mit unseren Texten Menschen zu bewegen. Wir stehen jetzt, zu unserem
Entsetzen, wieder an der Schwelle bewegter Zeiten. Japan. Die unvorstellbare Apokalypse wird auch in der Schweiz die Menschen wieder zusammenbringen. Ich erwarte
wieder Lieder, die sich nicht nur mit dem Innenleben verwöhnter Bildungsschichten
beschäftigen. Es werden Lieder sein von jungen Frauen und Männern, die ihr Handwerk beherrschen und unsere Herzen treffen mit ihrer Stimme, weil sich unsere Ohren
wieder geöffnet haben.
9
Brutkästen der Lieder
Dialektlieder sind begrenzt, speziell in unserem eingegrenzten Land. Die Themen aber
sind global. Atomspaltung eint das Volk. Liedpoeten und Publikum kommen nicht
mehr aneinander vorbei. Auch in der Schweiz.
Im Mai 2010 trafen sich tausende Menschen beim AKW Gösgen im Schweizer Mittelland. Für diesen «Menschenstrom gegen Atom» sangen Markus Rüeger und ich zum
Thema. Hier die letzte Strophe eines meiner aktuellen Songs.
Und der Todesengel brütet
Auf dem Ofen neben der Hölle
Auf dem Feuer, das ewig wütet
Und verklebt unseren Mund mit süssen Karamells
Und er spielt die letzte Karte
Breitet über uns aus sein Leichengewand
Wirft den Krebs in den Kindergarten
Still und leis im Schweizerland
Aernschd Born
* Textauszüge in freier Übersetzung aus dem Dialekt – dadurch verschwinden Reim
und Rhythmus
www.borninbasel.ch
10

Documentos relacionados