Was heißt Gedichte schreiben im 17. Jahrhundert?

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Was heißt Gedichte schreiben im 17. Jahrhundert?
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Lyrik – Mittelalter bis Romantik • Beitrag 1
Andreas Gryphius
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Was heißt Gedichte schreiben im 17. Jahrhundert?
Der Dichter Andreas Gryphius
Prof. Dr. Hermann Korte, Siegen
© akg-images
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Sieht so ein berühmter Dichter aus? Das einzige überlieferte Porträt zeigt
Andreas Gryphius vor allem als Amtsperson und Würdenträger.
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ndreas Gryphius (1616–1664)
gehört heute zu den bekanntesten
Dichtern des 17. Jahrhunderts. Seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert wurden seine Gedichte oft als Erlebnislyrik gelesen. Die Gryphius-Rezeption
der letzten Jahrzehnte betont dagegen
die Rolle der Rhetorik, der Gelegenheitsdichtung und der gelehrten Darbietung
religiösen und weltlichen Wissens in seinen Gedichten: Das lyrische Ich erscheint
bei Gryphius eher als Repräsentant und
Sprecher einer Allgemeinheit denn als
private Ich-Figur. Entdecken Sie mit Ihren
Schülerinnen und Schülern einen Dichter,
den schon Zeitgenossen dafür rühmten,
dass er nicht nur ein professioneller Kenner der gängigen poetischen Regeln war,
sondern sie auch besonders originell und
treffsicher anzuwenden verstand!
Das Wichtigste auf einen Blick
Dauer:
6–10 Stunden + LEK
Kompetenzen:
– mit Gedichten methodisch reflektiert
umgehen
– Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Literatur im 17. Jahrhundert
erschließen
– Differenzen zu Themen und Rahmenbedingungen in der Gegenwart erkennen
– zeittypische poetische Bildfelder und
Metaphern kennen und entschlüsseln
– Lyrik auf ihren theologischen und gelehrten Hintergrund hin untersuchen
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Andreas Gryphius
Lyrik – Mittelalter bis Romantik • Beitrag 1
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Die Wahl des Themas
Einige wenige Gedichte von Andreas Gryphius gehören seit Jahrzehnten zum lyrischen Kanon.
Im Unterricht kommen sie vielfach zum Einsatz, um den Aufbau von Sonetten und die formale
Analyse von Metrum und Reim zu thematisieren. Gryphius’ Gedichte dienen als Grundlage für
biografisch orientierte Interpretationen und werden vor allem als Erlebnislyrik eines Augenzeugen des 30-jährigen Krieges gelesen.
Die vorliegende Reihe will auf Grundlage neuerer Erkenntnisse der Fachwissenschaft Alternativen zu diesen tradierten Zugängen aufzeigen und zu einem ergiebigeren, thematisch vielfältigeren und methodisch angemesseneren Umgang mit Gryphius-Gedichte anregen. Dabei wird
Gryphius’ Arbeitsprozess der Überarbeitung und das Streben nach Vervollkommnung seiner
Gedichte ebenso thematisiert wie die Bedeutung der Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert,
die Memoria-Funktion anlassbezogener Dichtung und die Bedeutung einer etablierten Bilderund Symbolsprache sowie eines religiösen Deutungshorizontes, den Gryphius bei seiner Leserschaft voraussetzen konnte.
Fachwissenschaftliche Orientierung
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Zugänge zur barocken Lyrik am Beispiel von Andreas Gryphius
Die aus der Kunstgeschichte stammende Epochenbezeichnung „Barock“ produziert bei der
Übertragung auf die Dichtung einige Missverständnisse: Die bildende Kunst des Barock ist oft
viel prächtiger, ausladender und pompöser als die zur selben Zeit entstandene Dichtung. Zudem
ist die barocke bildende Kunst ein europäisches Phänomen, während die deutschsprachige
Dichtung noch keinem europäischen Stil folgt. Daher wird heute vielfach – und auch im Folgenden – die neutralere Formel „Lyrik des 17. Jahrhunderts“ gewählt.
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Wichtig für ein angemessenes Verständnis ist es, sich die historischen Prämissen für die Produktion und Rezeption von Literatur im 17. Jahrhundert zu vergegenwärtigen. Der Begriff „Barocklyrik“ ist eine Zuschreibung des 19. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert gab es die heute übliche
Dreiteilung literarischer Gattungen (Lyrik, Dramatik, Epik) jedoch noch nicht. Lyrische Texte wie
Sonett, Kirchenlied, Ode, Spruchdichtung, Epigramm usw. wurden von Zeitgenossen noch nicht
als eine einheitliche Gattung aufgefasst.
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Ein großer Teil der Gedichte entstand im 17. Jahrhundert zu bestimmten Anlässen, war also
Gelegenheitslyrik, die zu Hochzeiten, Todesfällen, Begräbnissen, Kindstaufen, festlichen Ereignissen, aber auch zu besonderen Unglücks- und Katastrophenfällen geschrieben wurde, nicht
selten vom Dichter selbst vorgetragen. Das gilt auch für Gryphius, dessen Lyrik einen hohen
Anteil an Gelegenheitsgedichten aufweist, einschließlich solcher Texte, die zum kirchlichen Jahreskreis, zu besonderen Sonn- und Feiertagen (Weihnachten, Karfreitag, Ostern etc.), verfasst
wurden. Es versteht sich, dass auch Gryphius auf seine anlassbezogenen Gedichte die gleiche
Sorgfalt verwandte wie für seine übrigen Dichtungen.
Gryphius veröffentlichte seine Lyrik nicht – wie heute üblich – in regelmäßigen Abständen als
Gedichtbücher mit einem originellen Titel, sondern er legte von Zeit zu Zeit Sammlungen vor, die
er nach Gedichtgattungen ordnete (z. B. „Lissaer Sonette“, 1637; „Sonette. I. Buch“, 1643;
„2. Buch Sonette“, 1646; „Oden“, 1643; „Epigramme“, 1643). Eine Anzahl von Gedichten
hatte er bereits vorher in Einzeldrucken erscheinen lassen; hinzu kamen unautorisierte Drucke,
die ein Verleger ohne Rücksprache mit dem Dichter produzierte (sog. Nachdrucke). Ein Urheberrecht im modernen Sinne gab es damals noch nicht.
Wie die Produktion so unterschied sich auch die Rezeption von Gedichten zum Teil grundlegend
von heutigen Gewohnheiten. Auditive Zugänge spielten eine wichtige Rolle: Gelegenheitsgedichte, viele davon gegen Bezahlung in Auftrag gegeben, wurden zu den Anlässen vorgetragen, zu denen sie geschrieben wurden (zum Beispiel: „Auf das Absterben eines Fürstlichen Kin-
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Materialübersicht
Modul 1
Leben, Zeit und poetische Produktion
M 1
(Tx)
Andreas Gryphius – Chronik zu Leben und Werk
M 2
(Tx)
Trauerklage – ein Gedicht von Andreas Gryphius
M 3 (Tx)
Trauerklage – eine spätere, überarbeitete Fassung
M 4
Wirgel und Sonett – zwei Fachbegriffe der Barocklyrik
(Tx)
Modul 2
Gryphius als Gelegenheitslyriker
M 5
(Ab)
Andreas Gryphius – ein Verfasser von Gelegenheitsgedichten
M 6
(Tx)
„Auf das grausame Ungewitter“ – ein Gelegenheitsgedicht?
M 7
(Tx)
Kritik der Gelegenheitsdichtung – ein Text von Martin Opitz
M 8
(Ab)
Gedicht auf eine Hochzeit – ein Gelegenheitsgedicht
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Modul 3
Poetische Konstruktion: Vergleiche und Metaphern
M 9
„Vanitas“ – eine Ode von Andreas Gryphius
(Ab)
M 10 (Bd)
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Vanitas-Symbole – ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert
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Modul 4
Der gelehrte Dichter und die Gelehrsamkeit der Lyrik
M 11 (Bd)
Andreas Gryphius – ein Porträt des Dichters
M 12 (Tx)
„An die Sternen“ – religiöses oder astronomisches Gedicht?
M 13 (Tx)
„Lob des Kopernikus“ – ein Widerspruch zu „An die Sternen“?
M 14 (Ab)
Gelehrsamkeit und Wissen – die Gedichte im Rückblick
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Lernerfolgskontrolle
LEK
(Tx)
Gedichtanalyse – ein Sonett von Andreas Gryphius
Abkürzungen: Ab = Arbeitsblatt; Bd = Bild, Foto; Tx = Text
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Andreas Gryphius – Chronik zu Leben und Werk
Das Leben und das Werk Andreas Gryphius‘ (1616–1664) sind stark durch den 30-jährigen Krieg geprägt, der von 1618–1648 dauerte. Wichtige Daten zu seinem Leben und
Werk bietet die folgende Chronik. Welche Phasen lassen sich darin ausmachen?
1616
Andreas Gryphius, am 2. Oktober geboren in Glogau (Schlesien), das zum
Königreich Böhmen gehört und seit dem 16. Jahrhundert protestantisch
geprägt ist; Andreas Gryphius hieß eigentlich Andreas Greif, latinisierte aber
wie viele andere seinen Namen schon in der Studentenzeit.
1618
Beginn des 30-jährigen Krieges; das mehrheitlich protestantische Böhmen will
sich vom Kaiser trennen, der die böhmische Königskrone trägt, und wählt einen
protestantischen Gegenkönig (Friedrich V. von der Pfalz).
1620
Schlacht am Weißen Berg bei Prag; die Kaiserlichen siegen, Friedrich V. muss
fliehen; Kaiser Ferdinand II. setzt gewaltsam seinen Herrschaftsanspruch in
Böhmen durch und leitet die Gegenreformation ein.
1621
5. Januar: Tod des Vaters, der für die protestantische Geistlichkeit arbeitete; am
selben Tag ist Friedrich V. in Glogau und fordert das protestantische Kirchensilber, um seine Flucht aus Böhmen zu finanzieren; politische und konfessionelle
Wirren in Glogau; später schreibt Gryphius über den Tod des Vaters die Verse
„Fiel durch Gift / das ihm ein falscher Freund gegeben“; Gryphius‘ Einschulung auf das evangelische Gymnasium.
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1622
Gryphius‘ Mutter heiratet Michael Eder, Lehrer am evangelischen Gymnasium
Glogau.
1625
Aufruhr in Glogau, als Jesuiten von den Protestanten eine Pfarrkirche zurückfordern.
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1628
21. März: Tod der Mutter; zwangsweise Rekatholisierung Glogaus: Wer nicht
katholisch werden will, muss Glogau verlassen; Gryphius‘ Stiefvater übersiedelt sofort ins kleine Grenzdorf Driebitz; Gryphius bleibt zunächst allein zurück
und folgt seinem Stiefvater einige Monate später.
1632
Der Stiefvater wird Pfarrer in Fraustadt (Schlesien), Andreas besucht dort das
Gymnasium; hält Schulreden, tritt als Schauspieler im Schultheater auf, verfasst
erste Dichtungen.
1634
Gryphius geht nach Danzig und besucht die höhere Schule; in der Stadt leben
auch bedeutende Dichter der Zeit wie von Hofmannswaldau und Lohenstein;
Gryphius verfasst eigene Dichtungen (u. a. Sonette und Verserzählungen).
1637
Erster Band mit Sonetten erscheint („Lissaer Sonettbuch“); Belohnung mit dem
Titel „Poeta laureatus“ (lobenswerter Dichter).
1638
Seereise von Danzig nach Amsterdam, um an der calvinistischen Universität
Leiden (Niederlande) zu studieren (Philosophie); Leiden war eine der berühmtesten Hochschulen in Europa und das Zentrum vieler aus Deutschland geflüchteter Protestanten; Gryphius beschäftigt sich darüber hinaus mit Astronomie,
Medizin, Theologie, Staatswissenschaft. Altertumswissenschaft, europäischer
Literatur u. a. m.
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Trauerklage – ein Gedicht von Andreas Gryphius
Das folgende Gedicht ist 1636 entstanden und wurde 1637 veröffentlicht. Welche Assoziationen löst der Titel bei Ihnen aus?
Andreas Gryphius
Trauerklage des verwüsteten Deutschlands (1636, veröffentlicht 1637)
Wir sind doch nunmehr ganz / ja mehr als ganz vertorben.
Der frechen Völker Schar / die rasende Posaun /
Das vom Blut feiste Schwert / die donnernde Carthaun /
Hat alles dies hinweg / was mancher saur erworben /
5 Die alte Redlichkeit und Tugend ist gestorben;
Die Kirchen sind vorheert / die Starken umgehaun /
Die Jungfraun sind geschändt; und wo wir hin nur schaun /
Ist Feuer / Pest / Mord und Tod / hier zwischen Schanz und Korben
Dort zwischen Maur und Stadt / rinnt allzeit frisches Blut
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Dreimal sind schon sechs Jahr als unsrer Ströme Flut
Von so viel Leichen schwer / sich langsam fortgedrungen.
Ich schweige noch von dem / was stärker als der Tod /
(Du Straßburg weißt es wohl) der grimmen Hungersnot /
Und dass der Seelen Schatz gar vielen abgezwungen.
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Aus: Andreas Gryphius: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki. Band 1: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1963. S. 19. – Die Rechtschreibung wurde zur besseren Lesbarkeit den heutigen Regeln angepasst, die Zeichensetzung und der Lautstand wurden beibehalten.
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Erläuterungen:
vertorben (Z. 1) = verdorben; feistes Schwert (Z. 3) = hier: das von Blut verdickte Schwert; Carthaun (Z. 3) = Kartaune
(schweres Geschütz); vorheert (Z. 6) = verwüstet; Schanz und Korben (Z. 8) = Schanzen und Körbe gehören zum Verteidigungsring einer Stadt; Dreimal sind schon sechs Jahr (Z. 10) = 18 Jahre seit Kriegsbeginn (1618–1636); grimmen
(Z. 12) = grimmigen; Du Straßburg weißt es wohl (Z. 13) = Die deutsche Reichsstadt Straßburg war zu dieser Zeit eine
vom Krieg besonders heimgesuchte Stadt: mit vielen Armen, Hungernden, Flüchtlingen und einer großen Anzahl Bettler;
Der Seelen Schatz abgezwungen (Z. 14) = ihr Seelenheil verloren
Aufgaben
1. Notieren Sie alle Auffälligkeiten in der äußeren Gestaltung des
Gedichts. Berücksichtigen Sie dabei auch die Zeichensetzung.
2. Untersuchen Sie, inwiefern der äußere Aufbau Hinweise darauf gibt,
in wie viele Teile sich das Gedicht gliedern lässt.
3. Erläutern Sie das Thema des Gedichts und stellen Sie einen Bezug zu
Andreas Gryphius‘ Lebenschronik her.
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Gedicht auf eine Hochzeit – ein Gelegenheitsgedicht
Der Brauch, zu einer Hochzeit Dichtung vorzutragen, die eigens für den Tag geschrieben
wurde, stammt aus dem Mittelalter. Was zunächst dem Adel und dem Hof vorbehalten war,
der über eigene Hofdichter verfügte, wurde im 16. und 17. Jahrhundert auch in den Städten und im Bürgertum beliebt. Neben den Dichtern, die entsprechende Texte produzierten,
traten auch Musiker und Spielleute auf, die speziell für die Hochzeit eingeladen wurden –
gegen entsprechende Gage, versteht sich. Die meisten Dichter des 17. Jahrhunderts haben
auch solche Hochzeits- und Festtagsgedichte geschrieben.
Andreas Gryphius
Gedicht auf die Hochzeit von Samuel Schaf
und Anna Regina Jonston (23. Januar 1643)
Indem der Römer Volk der Eintracht Tempel weihet
Verknüpft die Eintracht beid’ Euch durch ein heiligs Band /
O Hochgewünschter Tag! O Segens voller Stand!
Was lieb und Tugend sucht und Eintracht gibt / gedeihet.
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Aus: Andreas Gryphius: Vermischte Gedichte. Hg. von Marian Szyrocki. Band 3: Gesamtausgabe der deutschsprachigen
Werke. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1964. S. 197. – Die Rechtschreibung wurde zur besseren Lesbarkeit den heutigen
Regeln angepasst, die Zeichensetzung und der Lautstand wurden beibehalten.
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Erläuterung:
der Eintracht Tempel (Z. 1) = Der römische Tempel der Eintracht (Concordia) auf dem Forum Romanum sollte an das Bündnis der Patrizier mit den Plebejern Roms erinnern.
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Aufgaben
1. Erläutern Sie anhand des Beispiels Anlass und Funktion eines Gelegenheitsgedichts.
2. Welche Bedeutung hat die Anspielung auf den römischen Tempel der Eintracht in diesem
Gedicht?
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