Ist Blasphemie ein Menschenrecht?

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Ist Blasphemie ein Menschenrecht?
Ist Blasphemie ein Menschenrecht?
Zur Geschichte der Gotteslästerung im Christentum
Ev. Akademie Hofgeismar 18. November 2006
Vorbemerkung
Die folgenden Überlegungen stehen unter einer eigentümlichen Ambivalenz. Zum einen bin ich überzeugt, dass insbesondere der Protestantismus einen guten Teil dessen, was wir die moderne Ausdifferenzierung der kulturellen Bereiche nennen, mit initiiert oder zumindest doch: mit getragen hat. Die
Reformation ist untrennbar verbunden mit der Durchsetzung der bürgerlichen Freiheitsrechte, mit der
Freisetzung der Kultur von der kirchlichen wie religiösen Vormundschaft, allgemein: mit der europäischen Autonomiewerdung der Kultur. Was der Kunsthistoriker Werner Hofmann schon vor 20 Jahren
die „Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion“ 1 genannt hat, hat seine Plausibilität in sich. Es
handelt sich nicht um eine bewusste Strategie der Reformatoren, sondern um ihre Teilhabe am historischen Prozess der Entwicklung der Kultur. Es basiert auf allgemeinen Entwicklungen, die sich bereits
vorreformatorisch in der Renaissance abzeichnen und forciert diese Entwicklung noch und versieht es
mit einem apologetischen theologischen Modell.
Denn mit der Reformation, insbesondere mit dem reformierten Flügel der Reformation bildet sich ein
theologisches Modell, dass die Kultur respektive die Kunst als ein dem Menschen eigentümliches und
religiös rechtfertigungsunbedürftiges Spiel- und Handlungsfeld begreift. 2 In einem strikten Sinne ist
nach diesem Modell die Kunst etwas, das dem Menschen von Gott freigegeben ist, ein Handlungsfeld
jenseits religiöser Normen und Werte.
Der Literaturwissenschaftler Gerhart Schröder hat in Bezug auf die Genese der Ästhetik der frühen
Neuzeit gezeigt, dass genau an dieser Stelle des (philosophisch, theologisch bzw. gesellschaftlich)
nicht schon Determinierten der Raum für die Ästhetik überhaupt erst entsteht. Während etwa der Reformator Calvin für den Bereich der wissenschaftlichen wie der Alltags-Kommunikation eine einsehbare und logisch nachvollziehbare Sprache fordert, 3 wird alles, was sich dieser Logizität nicht fügt,
der Kunst zugewiesen. Insofern gilt: „Der Bereich des Ästhetischen und die poetische Sprache entstehen als Abraumhalde des Rationalismus ... Seit dem 16. Jahrhundert ist es Sache der Kunst und der
Literatur, Bereiche der Innerlichkeit zu artikulieren, die von der Vernunft verworfen werden, und KonEvangelische Akademie Hofgeismar
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flikte festzuhalten, die sie nicht wahrhaben möchte ... Kunst in der Form, die sich mit der Krise der
Renaissance herausbildet, bewahrt eine Reihe von Momenten auf, die dem neuen Denken und der neuen Organisationsform der Psyche (der höfischen, der bürgerlichen) entgegengesetzt sind: die Intensität des Gegenwärtigen, die sinnliche Konkretheit, die Vieldeutigkeit und die Offenheit der Beziehungen“. 4
Realistisch muss man aber zugleich sagen, dass – auch wenn das Christentum die Emanzipation der
Künste mitgetragen hat – faktisch im Alltagsvollzug auf der Ebene der kirchlichen Reaktion auf kulturelle Äußerungen, die christliche Kirche und die Gemeinden die Autonomie der Künste niemals richtig
akzeptiert haben. Das theoretische Modell der durch Jesus Christus bewirkten Freisetzung der Kultur
(wie es im 20. Jahrhundert noch einmal eindrücklich von Kurt Marti und Urs Lüthi formuliert wurde),
wurde praktisch durch das kirchliche und gemeindliche Handeln unterlaufen und konterkariert.
Im Blick auf das uns interessierende Thema der „Blasphemie“ tritt die Kultur selbst erst seit der Aufklärung und seit der französischen Revolution verstärkt in den Fokus des kirchlichen Interesses, also
von dem Moment an, an dem klar wurde, dass die Religion die Kunst und Kultur nicht mehr steuern
und prägen kann. Was sehr viel früher einmal unter das Stichwort „Blasphemie“ fiel, die bewusste innerreligiöse Verletzung von Regeln gegenüber Gott, wurde im 18. und 19. Jahrhundert abgelöst von
der ironischen, satirischen oder despektierlichen Haltung zur Religion an sich oder ihren Vertretern.
Blasphemie war nicht mehr Gotteslästerung, sondern Religionskritik mit verschiedenen Stilmitteln.
Zu meinem Bedauern sind im Kontext meiner eigenen Religion im Zuge der sich durchsetzenden Aufklärung und der mit ihnen einhergehenden religiösen Toleranzvorstellungen die Blasphemievorwürfe
nicht Geschichte geworden, sondern blieben bis in die jüngste Gegenwart höchst aktuell.
Kulturtheologie muss daher innerkirchlich einsichtig machen, dass Kultur eine spezifisch menschliche
und religiös gesehen, freie Tätigkeit ist, ein (theologisch gesprochen: uns gewährter) Freiraum für Kreativität, für das Überbieten der Wirklichkeit. Die Grenzziehung zwischen einer selbstbezogenen und
einer gottgefälligen Kultur ist obsolet. Kultur ist - mit einem Wort Odo Marquards - „rechtfertigungsunbedürftig“.
Ich selbst halte es in dieser Frage mit den Worten der berühmten Enzyklopädie von Jaques Diderot, in
der es im Fachartikel zum Sakrileg heißt:
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„Da die Sakrilege gegen die Religion verstoßen, muß die Bestrafung der Schuldigen einzig & allein
aus dem Wesen der Sache selbst abgeleitet werden; sie muß in der Entziehung der Vorzüge bestehen,
welche die Religion verschafft, in der Vertreibung aus den Tempeln, dem zeitweiligen oder ständigen
Ausschluß aus der Gemeinschaft der Gläubigen, der Vermeidung des Umgangs mit ihnen, der Verabscheuung, der Verdammung, der Verfluchung. Aber wenn der Richter das heimliche Sakrileg erforschen will, so führt er die Untersuchung über eine Handlungsweise durch, die eigentlich gar keiner
Untersuchung bedarf; er hebt die Freiheit der Staatsbürger auf, indem er gegen sie den Fanatismus des
ängstlichen & des kühnen Gewissens ins Feld führt. Das Übel entsprang aus der falschen Auffassung,
daß man das göttliche Wesen rächen müsse; aber man muß dafür sorgen, daß das göttliche Wesen verehrt wird, & soll es niemals rächen.“
Im nächsten Schritt möchte ich Sie nun an einige wenige der Blasphemievorwürfe und Blasphemieprozesse der letzten 150 Jahre erinnern.
Chronik der Blasphemien
Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der viel längeren Liste, die ich im Magazin für Theologie und
Ästhetik publiziert habe und fortlaufend ergänze. 5
2006: Das Kreuz mit Madonna
Während ihres ersten Tourneeauftritts in Los Angeles sorgt Madonna für Aufregung. Die Sängerin
hängt während eines Liedes am Kreuz und trägt eine Dornenkrone. Am Anfang ertönt Kirchenmusik,
am Ende erklingen Glocken. Madonna steigt vom Kreuz und singt "Live to tell", eine ihrer Balladen
aus dem Jahr 1986. Sie nimmt die Dornenkrone ab und liegt am Schluss auf dem Boden. Der Präsident
der Katholischen Liga fordert, die Show-Einlage aus dem Programm zu nehmen. Anfang August fordert die römische Kurie ihre Exkommunikation und bezeichnete Madonna indirekt als Satanistin. Die
evangelische Bischöfin von Hannover fordert zum Boykott der Madonna-Konzerte auf.
2006: Popetown
Die Comic-Serie Popetown wird - nachdem sie schon in Großbritannien und Australien nicht ausgestrahlt wurde - auch in Deutschland als blasphemisch und kirchenfeindlich angegriffen. Es gibt Anzeigen und einstweilige Verfügungen, die aber die Ausstrahlung der Sendung nicht verhindern können.
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2005: Girbaud/Niedermaier: Abendmahl
Als die Designerfirma Girbaud ein Werbefoto nach der Inszenierung von Leonardos Abendmahl veröffentlich, klagt die katholische Kirche Frankreichs gegen das Bild und lässt es verbieten. Der Rechtsvertreter der katholischen Kirche erklärt vor der Presse: „Wenn man die Fundamente einer Religion
trivialisiert und das Heilige angreift, dann ist das eine unerträgliche Gewaltausübung.“
2004: Adolf Holl - Nachträglich inkriminiert
Der Bundeskommunikationssenat der Republik Österreich gibt einer Rundfunkbeschwerde gegen den
Österreichischen Rundfunk wegen blasphemischer Äußerungen des Schriftstellers und Theologen Adolf Holl statt. Dieser hatte einen anonymen Brief mit sexuellen Anspielungen auf Maria zitiert.
2004: Martin Kippenberger: Fred Frog Rings The Bell
Nachdem Martin Kippenbergers Kunstwerk „Fred Frog rings the bell“ schon 1990 für Unmut gesorgt
hatte, wiederholt sich der Ärger, als Veit Loers mehr Mut zur Provokation fordert und auf Kippenbergers gekreuzigten Frosch verweist. Die katholische Kirche fühlt sich herausgefordert: Provokation
könne zwar sinnvoll sein, aber nicht durch Beleidigung christlicher Symbole.
2003: Johann Kresnik, Bremer Dom
Ein Theaterstück des Regisseurs Johann Kresnik löst in Bremen große Aufregung aus, da im Stück 60jährige Frauen nackt an Nähmaschinen sitzen. Hinttergrund der Proteste ist der Veranstaltungsort: der
‘Bremer Dom’. Kirchenmitglieder nennen solche Art von Theater ‘Gotteslästerung’.
2003: Gerhard Haderer: Jesus-Buch
Im Januar 2005 wird der Karikaturist Gerhard Haderer in Athen zu 6 Monaten Haft wegen Verunglimpfung einer Religionsgemeinschaft verurteilt. Das Urteil wird im April 2005 aufgehoben. Die Erzdiözese Wien organisiert einen Boykott des Verlages von Haderer und zeigt ihn vor Gericht an.
2001: The Harvest Assembly of God Church
Nach einer Bibellektüre beschließen Studierende des Harvest Assembly of God Church, alle Kulturgüter aus ihrem Besitz, die sie für gotteslästerlich halten, öffentlich zu zerstören. Während sie christliche
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Lieder singen, verbrennen sie Werke von REM, Bruce Springsteen, Harry-Potter-Romane, DisneyFilme usw.
2001: Corpus Christi – Theaterstück
Bei der Aufführung in Heilbronn protestieren Christen gegen das Stück, weil sie in ihm eine blasphemische Auseinandersetzung mit Jesus Christus sehen. Im Herbst 2001 stellt das Kölner Erzbistum
Strafanzeige.
1999: Mylène Farmer: Je te rends ton amour
Der Clip zu Je te rends ton amour von Mylène Farmer, in dem sie unbekleidet über eine Blutlache
schreitet und Christus den Brautring zurückgibt, wird katholischen Eltern vorgeführt, die ihn als Blasphemie empfinden. Er wird 7in Frankreich zensiert und darf öffentlich nicht ausgestrahlt werden.
1995: Titanic – Satiremagazin
Das Satiremagazin Titanic veröffentlich auf dem Cover des Heftes 10/1995 unter der Überschrift
“Spielt Jesus noch eine Rolle?” eine Fotomontage mit einem Kruzifix auf der Toilette. Es folgt eine
Strafanzeige durch die deutsche Bischofskonferenz wegen der Beschimpfung von religiösen Bekenntnissen.
1993: Otto Kern: Abendmahl
Der deutsche Modemacher Otto Kern wirbt 1993 mit einer freizügigen Abwandlung von da Vincis
"Letztem Abendmahl" für seine Jeanshosen. Er tritt damit eine Lawine los: Wütende Proteste, Morddrohungen, ein Gerichtsverfahren. Kurz vor dem Urteil zieht Kern die Kampagne zurück. Dabei habe
er nur versucht, biblische Themen zeitgemäß zu übersetzen, erklärt der Modemacher.
1989: Madonna: Like a prayer
Der italo-amerikanische Popstar Madonna veröffentlicht 1989 den Videoclip zu Like a prayer und erregt den Zorn amerikanischer Christen und des Vatikans. Sie erhält auf Betreiben der Kurie ein Einreiseverbot nach Italien. Über Jahre wird der Clip nicht in öffentlich-rechtlichen Sendern ausgestrahlt.
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1989: Andres Serrano: Piss Christ
Mit der Fotografie eines in Urin getauchten Kruzifixes gelingt dem New Yorker Künstler Andres Serrano 1989 der Sprung aus der Anonymität Manhattans in eine Anhörung des Senats. “Blasphemie”
meint der republikanische Senator Jesse Helms und beschimpft Serrano als Trottel.
1988: Martin Scorsese: Die letzte Versuchung Christi
In zahlreichen Städten protestieren Christen gegen die Darstellung Chrisri in diesem Film und gegen
die öffentliche Aufführung des Filmes und hindern Besucher am Betreten der Kinos.
1982: Herbert Achternbusch: Das Gespenst
Der Film wird noch vor der österreichischen Erstaufführung wegen „versuchter Herabwürdigung religiöser Lehren“ beschlagnahmt und verboten. In der Anklageschrift wird die Verspottung „der Person
Jesus Christus“ geltend gemacht. Der Richter beruft sich auf den “religiös normal empfindenden
Durchschnittsbürger”. Der Film darf bis heute nicht in Österreich gezeigt werden.
1982: Das Abendmahl in der zeitgenössischen Kunst
Als das Institut für Kirchenbau zur documenta eine Ausstellung moderner Kunst organisiert, regt sich
schon früh in Kreisen „engagierter“ Christen energischer Widerstand, die der Ausstellung Blasphemie
vorwerfen. In einer nächtlichen Aktion werden alle Kasseler Kirchen mit der Zahl 666 beschmiert.
1979: Monty Python - Das Leben des Brian
Der Film wird nicht nur in Norwegen wegen “Blasphemie” aus den Kinos ausgesperrt, auch in Irland
darf er acht Jahre lang nicht gezeigt werden. In Italien kommt der Film erst 1990 in die Kinos.
1962: Ingmar Bergmann: Das Schweigen
In der Zeitschrift “Christ und Welt” heißt es: “Wir reißen … mit satanischer Pedanterie sogenannte
Tabus nieder, nicht ahnend, dass einige von ihnen das Letzte sind, was der Mensch noch hat, um
Mensch unter Menschen zu sein (...) Es handelt sich in der Tat um Mord. Wer dem Menschen das eben
fortnimmt, woraus er allenfalls noch lebt, mordet ihn.”
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1954/1955: Nikos Kazantzakis
In Griechenland wird im Jahr 1955 der Autor Nikos Kazantzakis für seinen Roman "Die letzte Versuchung Christi" exkommuniziert und darf nicht in geweihter Erde begraben werden. Der Papst setzt bereits 1954 "Die letzte Versuchung Christi" auf den Index der verbotenen Bücher.
1931-1928: George Grosz: Maul halten und weiterdienen
Ein Prozess gilt drei Graphiken von George Grosz. Eine davon zeigt Christus am Kreuz mit Gasmaske
und Soldatenstiefeln, der Bildtext lautet “Maul halten und weiter dienen”. Grosz braucht fünf Instanzen, um einen Freispruch zu bekommen. Die Berufung durch die Staatsanwaltschaft führt zur Anordnung des Reichsgerichts, die Druckstöcke seien unbrauchbar zu machen.
1926: Max Ernst: Die Jungfrau züchtigt das Christuskind vor Zeugen
Als Max Ernst das Bild in einer Ausstellung zeigt, wird die Ausstellung geschlossen. Max Ernst selbst
erzählt später, der Kölner Erzbischof habe ihn wegen dieses Bildes öffentlich exkommuniziert.
1901: Tolstoi
Der russische Schriftsteller Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828 - 1910) wird 1901 wegen seines
Romans "Auferstehung" von der Heiligen Synode der russisch-orthodoxen Kirche exkommuniziert.
1895: Oskar Panizza: Das Liebeskonzil
Der Schriftsteller Oskar Panizza wird für sein Drama “Das Liebeskonzil” wegen Gotteslästerung angeklagt und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Die Verfilmung des Stückes durch Werner Schroeter
1982 wird in Tirol verboten, was der Europäische Menschengerichtshof 1994 bestätigt.
1864: Wilhelm Busch
1864 fertigt Busch das Werk „Der Heilige Antonius von Padua“ an, das wegen eines Verbotes erst 6
Jahre später erscheint.
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Zwischenkommentar
Wir merken an den gerade aufgezählten Beispielen, dass die Verfolgung von Kultur und bestimmter
menschlicher Äußerungen unter dem Aspekt der Gotteslästerung keineswegs nur eine alte, längst überholte Geschichte im Christentum darstellt, sondern aktuell geblieben ist bis auf den heutigen Tag.
Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht Kultur oder Kunstwerke unter dem Vorwurf der Blasphemie
angegriffen werden. Es geht dabei gar nicht darum, ob es nicht auch berechtigte Kritik an bestimmten
kulturellen Werken gibt, sondern darum, dass die hier aufgezählten Kritiker dies für justitiabel halten.
Ich komme nun zur Geschichte der „Blasphemie“ im Christentum.
Am Anfang …
... des Christentums steht ein Blasphemieprozess – zumindest dann, wenn man der religiösen Überlieferung der Evangelien und damit der Selbstdarstellung des Christentums folgt. Es ist für den weiteren
Fortgang der Darstellung nicht unwichtig, auf diesen grundlegenden Tatbestand hinzuweisen. Zwar ist
es inzwischen klar, dass dieser Blasphemieprozess aus einer Vielzahl von Gründen gar nicht so stattgefunden haben kann 6 , aber er stellt einen wichtigen Punkt in der Verkündigung der Evangelien Markus und Matthäus dar. Folgt man der Schilderung bei Markus, dann wird deutlich, dass schon dieser
Autor die Geschichte des Blasphemieprozesses so darstellt, dass die Entscheidung über Blasphemie
oder nicht eine willkürliche, politische Entscheidung ist, die nicht in der Sache (einer Gotteslästerung),
sondern im Ziel (der Verurteilung) begründet ist. Markus zeigt, dass dem Christentum von Anfang an
klar ist, dass die Beschuldigung der Blasphemie von den Beschuldigern willkürlich konstruiert werden
kann. Eine todeswürdige Blasphemie wäre nach jüdischem Recht nur das Aussprechen des Namens
Gottes gewesen. Das aber konnte Jesus nicht vorgeworfen werden und spielt im Prozess auch keine
Rolle. Für die Jesus vorgeworfene Straftat der angemaßten Gottessohnschaft kam nur die Auspeitschung in Frage, für die mindestens zwei glaubwürdige Zeugen notwendig sind. Eine Selbstbezichtigung des Angeklagten – wie im vorliegenden Fall – hilft zur Urteilsfindung gerade nicht. Blasphemie
– so wird gerade in der Darstellungen der Evangelien deutlich – ist immer ein politischer Vorwurf.
Ähnliches gilt übrigens auch für die Steinigung des Stephanus (Apg 7), die ebenfalls die Willkürlichkeit des Blasphemievorwurfs thematisiert. Das Christentum sah sich also – lange bevor es selbst aktiv
von diesem Vorwurf Gebrauch machte – der Unterstellung der Gotteslästerung ausgesetzt. Im römischen Reich wurde aber vermutlich aufgrund der allgemeinen religiösen Toleranz weniger der Vorwurf der Blasphemie erhobenen als der des mangelnden Gehorsams gegenüber den Staat.
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Kirchenväter
Unter Kaiser Decius (249-251) begann die allgemeine Verfolgung des Christentums im Römischen
Reich. Diese richtete sich auch gegen die Christen und wurde systematisch durchgeführt. Kurz nachdem Decius den Thron bestiegen hatte, erließ er ein allgemeines Opfergebot: "Wer die Götter Roms
nicht verehrt und dem allmächtigen Kaiser das Opfer verweigert, ist des Religionsfrevels [sacrilegium] und des Majestätsverbrechens [crimen laesae maiestatis] schuldig." Jeder Bürger musste sich mit
einem Papier (libelli) bescheinigen lassen, dass er den Göttern geopfert habe. Andernfalls wurden
schwere Strafen bis hin zur Todesstrafe angedroht. Anfangs hatte Decius vermutlich gar nicht speziell
die Christen im Auge. Erst als diese durch ihre Opferverweigerung auffielen, gerieten sie ins Zentrum
der staatlichen Aufmerksamkeit und der Verfolgung.
313 erlaubten Konstantin und Licinius im Mailänder Toleranzedikt jedem römischen Bürger die freie
Wahl seiner Religion. Die berühmte Passage lautete: Wir geben den Christen und anderen die politische Ermächtigung, derjenigen Religion zu folgen, die sie wollen. Der Kaiserkult als Zwang wurde
abgeschafft. Das Christentum wurde gleichberechtigt zu den römischen Staatskulten und aus der Blasphemie wurde eine anerkannte religiöse Praxis. In der Folgezeit wurden viele höhere Staatsämter mit
Christen besetzt. In dem Moment, in dem das Christentum selbst staatstragend und politisch einflussreich wird, wechselt es umstandslos von der Seite der Verfolgten auf die Seite der Verfolger. So
schreibt Johannes Chrysostomos (349-407) im Blick auf Juden und Heiden: "Solltet Ihr einigen dieser
unverschämten Gotteslästerer, die Gottes Namen beleidigen, irgendwo auf der Straße oder auf einem
öffentlichen Platz begegnen, so nähert Euch ihnen, macht ihnen die heftigsten Vorwürfe, schreckt nicht
davor zurück, sie zu schlagen, wenn es nötig ist. Ja, züchtigt sie in aller Öffentlichkeit, bestraft diese
frevlerische Zunge."
Geschichte der Blasphemie in der Neuzeit
Alain Cabantous, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Sorbonne, hat eine Kulturgeschichte des
Phänomens des Blasphemie in der westlichen Welt ab dem 16. Jahrhundert vorgelegt, der ich weitgehend folge. 7 In 6 Kapiteln entfaltet Cabantous vor dem Auge des Lesers eine Geschichte der Gotteslästerung, des religiösen Schimpfwortes und des Kampfes gegen den Andersdenkenden und Andersgläubigen, dem Blasphemie unterstellt und vorgeworfen wird.
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Einleitend weist Cabantous darauf hin, wie schwierig allein schon die Gegenstandsbeschreibung
"Blasphemie" ist, wie unscharf selbst die Machtinstitutionen, die jeweils über Blasphemie zu urteilen
haben, dieses Phänomen bezeichnen: "Auf die Frage: 'Was ist Blasphemie im Europa der Neuzeit?'
fallen die Antworten je nach Berufstand desjenigen, der ein Urteil abgibt, unterschiedlich aus: Kleriker oder Laie, Theologe oder Richter, Jurist oder Pfarrer. Sie unterscheiden sich auch je nach Zeitpunkt; jedenfalls leisten sie immer einer unbestreitbaren Vieldeutigkeit des Begriffs Vorschub ... In
Wahrheit stellt diese unscharfe Betrachtungsweise die Voraussetzung dafür dar, je nach Belieben und
Umständen die Blasphemie mit der Verwünschung, der Beleidigung, dem Fluch, der Ketzerei, der
Sünde usw. gleichzusetzen". [S. 7] Offenkundig scheint Blasphemie nicht zuletzt "eine Angelegenheit
der Rhetorik" zu sein.
Blasphemie erscheint dabei zunächst als "ein mittels Sprache vom Menschen bewusst herbeigeführter
Bruch mit dem Göttlichen." [S. 11] Gleichzeitig ist der Blasphemievorwurf ein geeignetes Instrument
zur Abgrenzung und Denunziation des Andersgäubigen: So "sind besagte Sünder in erster Linie immer
Angehörige der jeweils anderen Konfession. Den Anhängern des Papstes, Luthers oder Calvins ist
gemeinsam, dass sie die anderen als Ketzer und potentielle Gotteslästerer bezeichnen … Jede Geste
und jedes Wort desjenigen, der einer anderen Konfession angehört, sind zwangsläufig blasphemisch
und werden gebrandmarkt, verfolgt und bestraft, wobei sich nicht selten die symbolische Gewalt mit
verbrecherischer Grausamkeit paart. In ihrer Empörung über die fortwährende Berufung auf die Bibel
stopften die Katholiken von Valognes den Reformierten, nachdem sie diese abgeschlachtet hatten, Bibelseiten in den Mund und ‚forderten die geschundenen Körper dazu auf, sich auf die Suche nach der
Wahrheit ihres Gottes zu begeben’. Die Blasphemie war also sowohl für die einen als auch für die anderen der Ausdruck einer Gegenwahrheit, die durch eine bewusste Verfälschung des Sinns der Schrift
und /oder der Tradition Gott beleidigte, kurz gesagt, sie war nichts anderes als die Sünde der Abweichung vom rechten Glauben." [S. 20f.]
Vier Gruppen von Blasphemien lassen sich in dieser Zeit beschreiben:
1. Die Infragestellung Gottes,
2. die bloße Vortäuschung einer christlichen Gesinnung,
3. die Zweifel an Religion und Transzendenz generell und
4. die Kritik der Sakramente und Kirchengesetze [S. 29-31].
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Im Kampf gegen die Blasphemie hört man dabei Töne, die bis heute zu vernehmen sind. So appellierte
man 1645 mit folgenden Worten an den König, die Blasphemiegesetze verschärft anzuwenden: "Die
Kirche ist der Ansicht, dass das große Unglück unserer Zeit auf den Verlust jedes religiösen Empfindens bei den Menschen zurückzuführen ist und dass sie die Verachtung ihrer Geistlichen ungerechtfertigterweise auf Gott übertragen, so dass Zügellosigkeit, Flucherei, Blasphemie und Gottlosigkeit mittlerweile alltägliche Verbrechen sind, die öffentlich und ungestraft begangen werden.«
Und in der Wahl der anzuwendenden Mittel war man gar nicht zimperlich: Im Namen Gottes, Herr,
lass Gerechtigkeit walten, / schick sie in den Tod, du brauchst nicht schwanken, / der Herrgott wird’s
dir sicher danken. [55]
Der rechtliche Rahmen für die Verurteilung für Blasphemie reicht zeitlich zurück bis zum Justinianischen Kodex (535-540), der für Gotteslästerer die Todesstrafe vorsieht. Grundsätzlich lässt sich aber
zwischen den weltlichen harten körperlichen Strafen und den geistlichen Strafen unterscheiden, die im
Wesentlichen auf den (zeitweisen) Ausschluss aus der Gemeinde hinausliefen. Gleichzeitig wird aber
auch deutlich, dass die weltliche Obrigkeit die Gotteslästerung als bedrohlichen Angriff auf die Grundlagen des Staates ansah. Sie betrachtete sie als "Verbrechen religiöser Natur, die der Integrität der politischen Obrigkeit schaden" [S. 69] Im engen Kontext steht damit, dass die reklamierte Meinungsfreiheit im Bereich des Religiösen in der Regel auch die Forderung nach politischer Meinungsfreiheit
nach sich zog. Kampf gegen Blasphemie bedeutete daher immer auch Stabilisierung der herrschenden
politischen Ordnung.
Auch die Städte wurden daher gegen die Blasphemie aktiv: "Im von den Spaniern besetzten Flandern
hatte die Stadtverwaltung von Lille ebenfalls eine Reihe von Verurteilungen 'wegen Ketzerei und Blasphemie' zwischen 1585 und 1614 ausgesprochen.
Die Ankläger, die sich vordringlich dem Kampf gegen den Protestantismus verschrieben hatten (nahezu zwei Drittel der Fälle), unterschieden sehr wohl zwischen der reformierten Ketzerei und der einfachen Äußerung von Flüchen und gotteslästerlichen Begriffen (ein Viertel der Fälle), auch wenn man
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eine Überschneidung der Kategorien in gewissen Fällen nicht ausschließen kann." [S. 89] Allein diese
Beschreibung ist höchst aufschlussreich und zeigt augenfällig, dass und wie der Blasphemievorwurf in
der jeweiligen Zeit jeweils gegen dissidente Gruppierungen verwendet wurde. Blasphemisch war, wer
ein anderes Gottesverhältnis, ein anderes Religionsverständnis hatte oder einfach nur kirchenkritisch
war. Blasphemievorwürfe sind eben auch ein Teil der Geschichte der innerkirchlichen Disziplinierungsstrategien. Sicher war ein Teil des Entsetzen auch im formelhaften gotteslästerlichen Sprachgebrauch der Bevölkerung begründet, aber da wo der Blasphemievorwurf strategisch eingesetzt wurde,
fokussierte er sich auf Andersdenkende.
Wer aber sind die Menschen, die angeklagt werden, was ist m.a.W. die soziale Identität der Gotteslästerer? Hier treffen wir insbesondere auf Soldaten, so dass von einer „engen Beziehung zwischen Krieg
und Blasphemie“ gesprochen werden kann. Auf der anderen Seite verbindet sich die Blasphemie mit
den freidenkerischen Bewegungen. Das Gemeinsame kann man darin sehen, dass es sich jeweils um
Menschen handelt, die sich dem institutionellen und religiösen Rahmen Europas entziehen.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zeichnet sich ein Wandel des Verständnisses und des Umgangs mit Blasphemie ab. Es sind nicht zuletzt die Intellektuellen, die auf die frappante kulturelle
Kontextabhängigkeit des Blasphemievorwurfs hinwiesen und dessen Gültigkeit damit relativierten. So
schrieb Voltaire: "Was in Rom oder Loreto als Blasphemie gilt, wird in London, Amsterdam, Berlin
oder Kopenhagen als Frömmigkeit betrachtet." Und Pierre Bayle (1647-1706) folgert in seinem Essay
„Über die Toleranz“: "Wir klagen jemand an, der unerträgliche Gotteslästerungen ausstößt und die
göttliche Majestät auf die ketzerischste Art und Weise entehrt. Doch was bleibt davon übrig, wenn
man diese Worte wohlüberlegt und leidenschaftslos prüft? Jener Mensch denkt eben anders als wir, die
wir respektvoll über Gott reden". Diese frühaufklärerische Einsicht hat sich gesellschaftlich und vor
allem in den Kirchen bis heute nicht verbreitet.
Deutlich wird aber auch, dass sich der Akzent zunehmend auf die durch die Blasphemie gestörte öffentliche Ordnung verlagert. Das 'öffentliche Ärgernis' tritt in den Fokus des Interesses. Nicht Gotteslästerung an sich, sondern nur die öffentlich geäußerte und damit gesellschaftlichen Unfrieden provozierende gotteslästerliche Äußerung wird verfolgt. Hexerei, Ketzerei und Blasphemie "zerstören die
öffentliche Ordnung der Gesellschaft". Wie stark sich die Haltung allerdings gewandelt hatte, zeigt
Montesquieu (1698-1755) Äußerungen zum Thema: "Das Strafübel ist aus dem Gedanken entstanden,
dass es nötig sei, die Gottheit zu rächen. Allein man soll nur darauf hinwirken, dass die Gottheit geehrt
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Tagung "Psychomotorik"
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werde, aber niemals sie rächen wollen. Wahrlich, wie sollten die Strafen ein Ende nehmen, wenn man
nach diesem Gedanken verfahren wollte!"
Mit den Veränderungen im Zuge der Französischen Revolution und der Aufklärung ändert sich auch
die Bedeutung von Blasphemie. Das ist keineswegs als fortschreitende Säkularisierung zu deuten, die
die Bedeutung der Blasphemie schwinden lassen würde. Vielmehr tritt nun eine Sakralität des Profanen bzw. Religion des Politischen auf den Plan, die nun das Vaterland oder die Nation an die Stelle
früherer höchster Werte setzt. Spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat der Blasphemievorwurf
mit Religion an sich nur noch wenig, mit staatlicher und gesellschaftlicher Stabilität um so mehr zu
tun. Die innerkirchlichen Auseinandersetzungen darüber, was eigentlich als Blasphemie zu werten sei
(bis dahin, dass der Blasphemievorwurf selbst eigentlich blasphemisch sei, weil er Gott einseitig als
strafenden statt als gnädigen Gott darstelle), spielten gesellschaftlich keine Rolle mehr.
So zeigt sich: Blasphemie ist zum einen ein Spiegel der Religion, zum anderen ein Spiegel der Gesellschaft. Stand Blasphemie im 16. Jahrhundert zunächst für ein falsches Verständnis der dogmatischen
Lehre, so wird sie nach und nach zunehmend zu einer bewussten antireligiösen, antiklerikalen Haltung. Gesellschaftlich komplementär ist Blasphemie zunächst ein Element der Alltagssprache, um sich
dann zu einem bewusst gewählten rhetorischen Akt zu entwickeln. Dementsprechend reduziert sich die
Reaktionsweise auf Blasphemievorwürfe von der Androhung der Todesstrafe auf die Klage eines unangemessenen bürgerlichen Verhaltens. Blasphemie wird zur Respektlosigkeit.
Die aktuellen Debatten um Religion und Satire lassen diese Entwicklung noch spüren. Wenn man es
für justitiabel hält, dass man auch in religiösen Fragen nicht „veräppelt“ werden möchte und den Staat
zum Eingreifen auffordert, dann bewegt man sich nur noch im bürgerlichen Ehrenkodex. Das ist ein
Fortschritt, insofern die dissidente religionskritische Meinung nicht mehr als solche verfolgt wird. Es
ist ein Rückschritt, weil der Streit über kulturelle Ausdrucksformen immer noch nicht auf der Basis
des besseren Arguments, sondern der staatlichen Sanktion geführt wird.
Alain Cabantous, dem ich in seiner Darstellung weitgehend gefolgt bin, schreibt am Ende seiner Studie: „Es wäre wohl verfrüht, von einem vollständigen Verschwinden dieser Unsitte zu sprechen. Der
Kampf gegen die Blasphemie ist im letzten Jahrzehnt offensichtlich wieder aufgelebt. Neben der Verurteilung Salman Rushdies zum Tode durch eine Fatwa (1989) sind auch andere Schriftsteller (…)
wegen angeblich blasphemischer Schriften verfolgt worden. Sogar die 1985 veröffentlichte vollständi-
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ge Fassung von Tausendundeiner Nacht wurde … als 'pornographisch und blasphemisch' verurteilt.
Die katholische Kirche ihrerseits hat unmissverständlich die Gotteslästerung verurteilt, so beispielsweise anlässlich der Polemiken um 'Die letzte Versuchung Christi' von Martin Scorsese. Aber wer erinnert sich beispielsweise noch daran, dass der Film 'Der Garten der Lüste' des Regisseurs Carlos
Saura 1970 von dem spanischen Kulturministerium verboten wurde wegen 'respektloser Darstellung
von religiösen Praktiken, Anschauungen und Zeremonien mit boshafter, an Blasphemie grenzender
Absicht'? Wer weiß schon, dass die katholische Kirche in Deutschland und Österreich kürzlich einen
Prozess gegen Personen und Vereinigungen angestrengt hat, die offen die Kirche und die Geistlichen
angeklagt hatten? Sie stützte sich dabei auf die geltende Rechtsprechung. Das verbotene, ruchlose
Wort hat sich nur vorübergehend dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Es wird aber wieder zutage
treten, und zwar über das geschriebene, bildnerische und musikalische Werk, das eine immer schnellere und allgemeinere Verbreitung findet. Die Kriterien für diese Zuschreibung sind jedoch immer noch
nicht eindeutig. Die religiösen Autoritäten können ein künstlerisches Werk genauso gut als Blasphemie bezeichnen wie ein Bekenntnis zum Atheismus, die Infragestellung oder freie Auslegung eines
Dogmas bzw. die Kritik an einer kirchlichen Institution. Auch wenn dieses Wiederaufflackern des
Kampfes der Kirche im Zusammenhang mit dem Aufkommen des religiösen Fundamentalismus stehen
mag, so lässt es sich sicherlich nicht auf diesen Aspekt beschränken.“ [S. 223f.]
Das Jahr 2006 hat gezeigt, wie Recht Cabantous mit seiner Vermutung hatte. Es wird sogar verstärkt
weltweit daran gearbeitet, den Vorwurf der Blasphemie strafrechtlich zu bewerten und die Konsequenzen zu verschärfen. Zugleich wurde deutlich, dass der Bereich dessen, was unter Blasphemie zu verstehen sei, erheblich ausgeweitet wurde. Nicht mehr allein die Gotteslästerung durch ein Mitglied der
eigenen Religion, sondern bereits die Kritik an der Kirche und ihren Vertretern solle als Blasphemie
gewertet werden.
Schließen möchte ich meine Ausführungen mit einem Zitat von Prof. Dr. Muhammad Kalisch vom
Zentrum für religiöse Studien an der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster aus seiner Stellungnahme zum Karikaturenstreit, dem ich mich in der Sache vollständig anschließe: "Meines Erachtens
zeigt uns alle historische Erfahrung, dass ein besonderer strafrechtlicher Schutz von Religion stets
missbraucht wurde und im Übrigen mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit der Wissenschaft nicht zu vereinbaren ist. Ich bin daher auch für eine ersatzlose Streichung des § 166 StGB,
der ein Relikt aus dem Mittelalter darstellt und einer Gesellschaft, die sich rühmt, den Prozess der
Aufklärung durchgemacht zu haben, unwürdig ist ...
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Ein strafrechtlicher Schutz von Religion und religiösen Gefühlen ist schon deswegen unsinnig und abzulehnen, weil sich der Tatbestand niemals genau definieren lässt und dadurch automatisch immer in
die Nähe von Willkür gelangt. Willkür aber ist für einen rechtsstaatlichen Juristen das schärfste Unwerturteil überhaupt. Diese Undefinierbarkeit des Tatbestandes ist die Folge der Tatsache, dass jeder
Mensch eine unterschiedliche Wahrnehmung davon hat, wann er sich in seinen religiösen Gefühlen
beleidigt fühlt. Bei religiösen und philosophischen Auffassungen kommt nun noch das Problem hinzu,
dass das, was für den einen blanker Unsinn ist, für den anderen eine unumstößliche Wahrheit darstellen kann." (Prof. Dr. Muhammad Kalisch)
Anmerkungen
1
Werner Hofmann: "Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion". In: ders. (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst. München 1983. S.2 371.
2
Vgl. auch G. Schröder, Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit. Frankfurt 1985. S. 34.
3
Vgl. dazu G. Schröder, Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit. Frankfurt 1985, S. 23ff.
4
Ebenda, S. 26, 29, 36.
5
Andreas Mertin / Jörg Mertin, Das verletzte Gefühl. Eine Chronologie religiöser Empfindsamkeiten im Christentum, Magazin für Theologie und Ästhetik, http://www.theomag.de/41/mm2.htm
6
Vgl. u.a. http://www.juedisches-recht.de/rechtsgeschichte-jesu-prozess.html
7
Alain Cabantous, Geschichte der Blasphemie, 2001
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