Das Leben mit Dingen vollzustopfen, kann

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Das Leben mit Dingen vollzustopfen, kann
KÖLN 33
Samstag/Sonntag, 29./30. September 2012 Kölner Stadt-Anzeiger
„Das Leben mit
Dingen vollzustopfen
kann hinderlich sein“
Umweltökonom Niko Paech zum Ausleihen,
Freundefinden und Ressourcensparen
Zählen Sie doch mal kurz auf, welche Dinge Sie so teilen.
NIKO PAECH: Zum Beispiel habe
ich kein eigenes Notebook, obwohl es für Lehre und Forschung
mein Handwerkszeug Nummer
eins ist. Das Notebook, das ich benutze, wurde für den Lehrstuhl angeschafft. Das bedeutet, dass ich
nicht der Eigentümer bin, sondern
dass andere Angehörige der Universität auch Zugriff darauf haben.
Christine Röhr in ihrem Ladengeschäft, in dem es einen „abgefahrenen Mix“ nicht nur für den Garten gibt.
Wie würden Sie das Teilen theoretisch einordnen?
PAECH: Das Teilen von Dingen
kann eine sogenannte Subsistenzleistung darstellen, wenn ich meinem Nachbarn dafür, dass er mir
den Rasenmäher leiht, ein Brot baBILDER: JÖRN NEUMANN cke. So kann man Nutzungen für
sich erschließen, ohne den Gegenstand kaufen zu müssen. Das spart
Produktion. Ein noch weiter reichendes Prinzip, auf dem mein
Konzept der Postwachstumsökonomie fußt, ist die Suffizienz. Das
bedeutet, sich von manchen Dingen, die man andernfalls kaufen
sich vorstellen, dass Lehrgänge in müsste, sogar ganz zu befreien.
Kräuterkunde abgehalten werden,
sich eine Rockband austobt oder
noch ein Café mit SelbstbedieTHEMA DER WOCHE
nung entsteht. „Hier ist so viel
Teilen
Platz, ich möchte für Leute mit innovativen Ideen eine Plattform
schaffen“, schwärmt die Chefin Das heißt Verzicht?
von der Zukunft. Sie selbst plant PAECH: Nein, eben nicht. Sondern
im Dezember eine Premiere: Dann sein Leben zu entrümpeln, Komsoll dort ein Weihnachtsmarkt der plexität und Abhängigkeiten zu
etwas anderen Art entstehen. Die vermeiden. Und wo das zu schwer
Christbaumkugeln, auf denen fällt, ist die GemeinschaftsnutSchweine Wasserski fahren, sind zung ein guter Kompromiss. Wenn
ich mal eine Digitalkamera oder
schon bestellt.
eine Kreissäge benötige, leihe ich
die und kann als GegenleisGarten undAccessoires mir
tung andere Dinge zur Verfügung
Der Junge Garten liegt auf der
stellen. Beim Auto ist die SuffiziDürener Straße 420 in
enz kinderleicht, denn so ein Ding
50858 Köln, Telefon:
ist ein finanzieller Klotz am Bein
02 21/5 95 56 64. Öffund meistens unnötig.
nungszeiten bis November: Mittwoch
Es gibt aber auch Sachen, die man
und Donnerstag von
nicht teilen kann.
15–20, Freitag von 10–20
PAECH: Das trifft auf drei Kategound Samstag von 10–18
rien von Produkten zu. Die erste
Uhr. Von November bis
Kategorie sind Dienstleistungen.
März verkürzen sich die
Den Haarschnitt beim Friseur
20-Uhr-Öffnungszeiten
kann ich nicht mit anderen teilen.
auf 18 Uhr. (she)
Die zweite sind Verbrauchsgüter.
www.derjungegarten.de
Die Zahnpasta, die ich morgens
benutze, kann ich nicht teilen. Und
die dritte sind Gebrauchsgüter, die
man unterbrechungslos nutzt –
Armbanduhr oder Unterhemd. Es
gibt aber auch Grenzfälle. Dort,
wo ich Ende der 90er Jahre gearbeitet habe, gab es ein einziges
Handy für den Notfall. Wer Außendienst hatte, nahm das Handy
mung auf der Bühne mit dem an- mit und gab es anschließend zuschließenden Stück „Tango“. Das rück. Heute würde man sagen, das
Arrangement aus Akkordeon, Big geht gar nicht mehr, denn das HanBand und Piano-Soli, das sich dy ist ein Körperteil geworden.
auch wunderbar über einen Kinofilm hätte legen lassen, blies eine Macht Teilen Spaß, oder was sind
kraftvolle Sehnsucht in den Kon- die individuellen Anreize?
zertsaal.
PAECH: Wer sich ein Auto, einen
Das klassische Big-Band-Erleb- Rasenmäher oder einen Akkunis endgültig perfekt machte Schrauber vom Nachbarn oder inRMS-Dozent Manfred Billmann. nerhalb eines SubsistenznetzwerEr übernahm den Gesang in kes leiht, spart viel Geld. Teilen
„Come Fly With Me“ und „Blame kann aber auch bequem sein. Sein
It On My Youth“, zweier zauber- Leben mit Dingen vollzustopfen,
hafter Stücke aus dem Great Ame- die man unterbringen und pflegen
rican Songbook.
muss, kann sehr hinderlich sein.
Schweinchenuhr und Cola-Gewächs
Christine Röhr betreibt an der Dürener Straße ein Garten-Geschäft mit Freiland-Paradies
Einen Ort der Stille sucht man hier
auf den ersten Blick vergebens.
Dort, wo auf dem Weg nach Marsdorf auf der Dürener Straße immer
Stau herrscht und das eher unwirtliche Gelände zwischen Autobahnbrücke, Kleingewerbe und
Getreidefeldern nicht gerade zum
Verweilen einlädt. Nur wenn man
ganz genau hinsieht und der Schiefertafel mit der Kreideschrift folgt,
serie
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DIE SPEZIALISTEN
Der junge Garten
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steht man plötzlich mittendrin im
Naturparadies von Landschaftsgärtnerin Christine Röhr (38), die
ihre Kundschaft gern als Erstes zur
Meditation in den Garten schickt.
Auf dem rund 3000 Quadratmeter großen Gelände blühen Heilkräuter wie Eisenkraut und Sauerampfer wild durcheinander zwischen Malven, Lichtnelken, Margeriten und wilder Möhre – auf einer üppig wuchernden kniehohen
Naturwiese, wie sie mitten in der
Stadt ihresgleichen sucht.
Im Sommer hat die Gärtnerin
neben alten Heilkräutern wie
Beinwell und Mukuna-Wenna
(„eine Vitaminbombe, die gern im
Salat gegessen wird“) auch exotische Gemüsepflanzen wie schwarze oder gestreifte Tomaten im Sortiment, den japanischen Wasserpfeffer und das Cola-Gewächs.
Aber das ist noch längst nicht alles, schließlich nennt Röhr ihr ungewöhnliches Projekt, das seit gut
zwei Jahren an der Dürener Straße
420 in Junkersdorf beheimatet ist,
ihren „Jungen Garten – Gartendekoration der besonderen Art“.
In ihrem Ladenlokal bietet Röhr
einen abgefahrenen Mix aus
quietschbuntem Kitsch, Kuriosem
und wunderschön anzuschauenden Dingen, dass die Kunden angesichts der Üppigkeit des Angebotes oft nicht wissen, was sie zuerst in Augenschein nehmen sollen. Lieber die Kuckucksuhr mit
dem Schaf, das zur vollen Stunde
blökt oder die mit dem Schwein,
das alle Viertelstunde grunzt. Gemüse- und Kräuterseifen betören
mit ihrem aromatisch-würzigen
Duft, holländisches BlümchenPorzellan, Geschirr aus Bambus
und Kokosnuss sind zu stilvollem
Chaos arrangiert und natürlich
Pflanzen, Pflanzen, Pflanzen – seltene Gewächse ebenso wie Klassiker. „Ich hab’ keinen Bock auf
08/15-Kram“, erklärt die Chefin
die kunterbunte Mischung.
„Man muss sich hier schon
durchackern“, lacht Röhr und rät
ihren Kunden zu „festem Schuhwerk und langer Hose wegen der
Brennnesseln“, wenn sie ihre Klientel zur Erntezeit zu den Kirsch-,
Apfel- und Pflaumenbäumen mit
der Aufforderung in den Garten
schickt: „Nehmen Sie mit, so viel
Sie wollen, aber im Tausch
gibt es dafür ein Glas
Marmelade zurück.“
Bis vor kurzem
waren ihre Gehilfen Klaus und
Gustav bei der
Schneckenplage noch
unentbehrlich. Dann kam
der Fuchs und hat
die beiden hungrigen Laufenten gerissen.
Röhr hat noch
viel vor: Auf dem
riesigen Gelände könne sie
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VON HARIETT DRACK
Big-Band-Sound unter der Gleisanlage
FESTIVAL
emotionalen Steigerung führen,
anderen geholfen zu haben. Teilen
als sozialer Akt kann zeigen, dass
einem die Personen, mit denen
man teilt, nahestehen. Individualisierung bis hin zur schmerzhaften
Vereinsamung kann so gemildert
werden. Der Nachbar, mit dem ich
ständig Produkte teile, hilft mir,
wenn ich in einer Notlage bin.
Vielleicht entsteht eine Freundschaft, am Ende gehen wir in die
Kneipe. Aber es gibt auch Menschen, die ihr Glück im Eigentum
an Gütern sehen und um jeden
Preis materiell unabhängig sein
wollen. In Köln sagen Sie doch
„Jeder Jeck ist anders“, oder?
Das heißt, es gibt keine Verpflichtung, dass wir teilen sollen?
PAECH: Weil damit Ressourcen gespart werden, ließe sich die Verantwortung gegenüber ökologischen Lebensgrundlagen anführen. Wenn jeweils zwei Personen
eine Digitalkamera nutzen, ließe
sich die Produktion glatt halbieren. Wer es ernst meint mit nachhaltiger Entwicklung, sollte dies
erwägen. Aber von einer Verpflichtung würde ich nicht reden.
Das sind ja jetzt keine neuen Entwicklungen.Trotzdem scheint es sich
neuer Beliebtheit zu erfreuen, oder?
PAECH: Was sich geändert hat,
sind die Kommunikationskanäle.
Als unsere Großeltern sich Dinge
teilten, geschah das in der Nachbarschaft, im Freundes-, Bekannten- oder Kollegenkreis. Heute
führt die Digitalisierung sozialer
Beziehungen unter jungen Menschen zu neuen Formen des Teilens. Denken Sie an das Couchsurfing. Da teilt man Schlafgelegenheiten. Und zwar global.
Stimmt Sie das optimistisch? Kann
uns das bei der Umstellung auf
nachhaltiges Wirtschaften helfen?
PAECH: Nicht unbedingt. Teilen
kann auch das Gegenteil bewirken, wenn es nur dazu dient, zusätzlichen Konsum zu ermöglichen. Beim Couchsurfing spare
ich Unterkunftskosten. Dadurch
kann ich mir jetzt eine Reise nach
New York leisten. Der Hin- und
Rückflug erzeugt pro Person 4,2
Tonnen CO2 . Da kurbelt es den
Ressourcenverbrauch also an. Nur
wenn Teilen zu einem Substitut für
Produktion wird, ist es ein Beitrag
zur nachhaltigen Entwicklung.
Das Gespräch führte
Philipp Haaser
Die 15. Jazz-Rock-Pop-Tage zeigen talentierte Schüler der Rheinischen Musikschule
VON MARTIN BOLDT
Ein gutes Musikfestival braucht
nicht notwendigerweise große Namen. Den besten Beweis liefert aktuell die Rheinische Musikschule
(RMS): Bei den 15. Jazz-RockPop-Tagen zeigen Schüler und
Ehemalige, Lehrer und Offizielle
derzeit eindrucksvoll, welche
künstlerischen Reserven Köln in
diesen Sparten besitzt.
Direkt unter die Gleisanlagen
des Hauptbahnhofs, genauer in
den „Bogen 2“, ging es am Donnerstagabend für das Jazz-Orchester von Leiter Michael Villmow.
Unterstützt wurde die 17-köpfige
Big Band dabei nach ihrem Opener mit der lässigen Swingnummer „It’s Oh So Nice“ von wechselnden Solisten, die die Formation teils mit recht ausgefallenen
Instrumenten unterstützten. So
zum Beispiel Gunther Tiedemann,
Das Jazz-Orchester der Rheinischen Musikschule
der der Vielzahl an Blechbläsern
mit einem Cello entgegentrat. Seine Eigenkomposition „Snakeflakes“, die mit unkonventioneller
Metrik begann, brachte die Musiker reichlich ins Schwitzen, liefer-
BILD: CHRISTOPH HENNES
te dem Publikum des ausverkauften Saals allerdings einen frischen
Sound, bei dem das verstärkte Cello zeitweise gar an eine Blues-Gitarre erinnerte. In eine gänzlich
andere Richtung driftete die Stim-
Die 15. Jazz-Rock-Pop-Tage laufen
noch bis zum 30. September. Für die
Konzertabende „Jazzy Tunes“
(Samstag, 20 Uhr) und die „Jazz
Lounge“ (Sonntag, 18 Uhr) gastieren
die Musiker der Rheinischen Musikschule im Alten Pfandhaus, Kartäuserwall 20. Eintritt jeweils 7,50 Euro.
Aber es macht Leuten Spaß, sich
Dinge zuzulegen, sich eine Kamera
zu kaufen, sich mit der Benutzung
vertraut zu machen, sie zu pflegen.
PAECH: Ja sicher. Manchmal ist
das Teilen eine Basis für soziale
Beziehungen, Gemeinsinn und Sicherheit. Es kann überdies zu einer
Zur Person
Niko Paech,
Jahrgang
1960, ist seit
2010 Vertretungsprofessor an der Uni
Oldenburg,
Lehrstuhl
Niko Paech
Produktion
teilt gern.
und Umwelt
(Schwerpunkte Umweltökonomie und Nachhaltigkeitsforschung). Postwachstumsökonomie nennt Paech sein Konzept für eine Wirtschaft, die
nicht mehr auf Wachstum angewiesen ist, um stabil zu sein. Er
gehört zum wissenschaftlichen
Beirat von Attac und ist Aufsichtsratsvorsitzender der Oldenburger Energie-Genossenschaft. (phh)

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