ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter
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ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter
ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter Aktualisiert Samstag, den 10. Januar 2015 um 11:07 Uhr "If you learn about history you have to meet people who went through it" (Holocaust Survivor, December 2013)" Bericht von Lilly Elaine Wolter aus Hamburg ASF-Freiwilligendienst 2013/2014 Jewish Family Service, Cincinnati, Ohio, USA Liebe Leserinnen, Liebe Leser, Liebe Patinnen, Liebe Paten, mein Name ist Lilly Elaine Wolter. Ich bin 20 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Hamburg. Nachdem ich im Sommer 2013 mein Abitur in der Tasche hatte, wollte ich Neues sehen und erleben. Der Gedanke nach der Schule eine Zeit lang mein gewohntes Umfeld zu verlassen und ins Ratte Wasser zu springen schwebte mir schon länger vor. Demnach habe ich schon in meiner Schulzeit nach einer für mich passenden Herausforderung gesucht. Diesbezüglich hat meine ehemalige Schule, Gymnasium Klosterschute in Hamburg/St. Georg, eine besondere Rolle gespielt. Mein Schulleiter war der ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hamburgs, demnach waren viele Projekte, Schulausflüge oder Klassenreisen immer sehr geschichtlich und kulturell geprägt. Durch ein Gespräch mit einer ehemaligen Lehrerin bin ich dann auf ,,Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" gestoßen. Nachdem ich die Internetseite von ASF wochenlang durchstöberte, war mir klar, dass die Ziele von ASF genau mit meinen Vorstellungen übereinstimmen. Somit war meine Suche beendet und ich habe mich dort beworben. 1/6 ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter Aktualisiert Samstag, den 10. Januar 2015 um 11:07 Uhr Es vergingen einige Wochen bis ich die Einladung zum Auswahlseminar erhielt. Auf dem Auswahlseminar konnten sich alle Bewerber über die verschiedenen Projekte informieren und herausfinden, welches am Besten zu ihnen passt. Es wurde in Gruppen über religiöse, geschichtliche, politische und zwischenmenschliche Themen diskutiert und jeder Bewerber wurde in Einzelgesprächen interviewt. Nachdem das 4-tägige Seminar zu Ende war erhielt jeder Bewerber einen Zettel, auf dem er seine Projektund Länderwünsche angeben musste. Ich habe mich neben den USA auch für Projekte in Frankreich, England und den Niederlanden beworben. Hierbei habe ich jeweils nach den Kriterien entschieden, wie mir das Projekt gefällt und ob ich mir vorstellen kann ein Jahr in dem jeweiligen Land zu leben. Nach dem Auswahlseminar vergingen einige unruhige Wochen der Ungewissheit. Werde ich angenommen? Wenn ja, welches Projekt bekomme ich? Was ist, wenn ich nicht angenommen werde? Und so weiter und so fort. Doch dann kam endlich die Email mit der festen Zusage. Ein unglaubliches Gefühl. Und nun war es sicher: ich gehe ein Jahr in die USA. Weit, weit weg von Zuhause. Ich werde im Jewish Family Service in Cincinnati arbeiten und Holocaust Überlebenden im Alltag behilflich sein. Sei es beim Einkaufen, Aufräumen, Behördengängen, Dokumente übersetzen oder Arztbesuchen. Aber hauptsächlich geht es darum, dass ich für sie da bin, mich ihnen widme und ihnen zuhöre. Es war mein größter Wunsch und es ist etwas ironisch, dass man doch etwas kalte Füße bekommt, wenn es dann plötzlich fest steht. Von nun an ging alles ganz schnell. Eine Projektreise nach Auschwitz und Krakau, ein Besuch in Berlin im amerikanischen Konsulat für mein Visum, ein Vorbereitungsseminar in der Nähe von Berlin und plötzlich schon der Abschied von meinen Liebsten. Angekommen in den USA folgte ein weiteres Vorbereitungsseminar in Philadelphia. Alle 22 USA-Freiwilligen haben dort zusammen in einem Hostel gewohnt. Ich muss sagen, dass die erste Woche in Philadelphia sehr erschlagend war. Viele neue Eindrücke, die neue Sprache, das andere Essen und vieles mehr. Alles war anders und eigentlich wollten wir besonders nach dem Vorbereitungsseminar in Berlin endlich irgendwo ankommen und den überfüllten Koffer auspacken. Nachdem das Seminar in Philadelphia zu Ende war folgte noch ein weiteres Abenteuer: Die Fahrt mit dem Greyhoundbus. Als ich nach 14 Stunden endlich in Cincinnati angekommen war, konnte ich mich nach einem Welcome-Weekend bei meiner Supervisorin endlich mein eigenes Zimmer beziehen. Ich wohne in einem Einzelhaus direkt bei der Universität von Cincinnati mit vier Studentinnen zusammen. Ich wurde hier freundlich empfangen und an die Hand genommen. Meine Arbeit gefiel mir von Anfang an. Ich arbeite im Jewish Family Service, wo ich unteranderem Tätigkeiten im Büro übernehme oder unsere Klienten im direkten Kontakt unterstütze Im Jewish Family Service gibt es verschiedene Abteilungen. Ich arbeite im Holocaust-Center, was für mich bedeutet, dass ich durch meine Arbeit ausschließlich Holocaust-Überlebenden helfe. Die ersten Wochen in meinem Projekt vergingen unheimlich schnell und durch die Hilfe meiner ganzen Kollegen und meiner Chefin habe ich nach einer Weile ein Arbeitssystem für mich 2/6 ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter Aktualisiert Samstag, den 10. Januar 2015 um 11:07 Uhr gefunden. In meinem Projekt ist es unheimlich wichtig organisiert zu sein, da es manchmal ziemlich chaotisch werden kann. Einen typischen Arbeitstag gibt es im Jewish Family Service nicht. Jeder Tag bietet Neues und es stehen immer neue Events und Herausforderungen an. Ich arbeite in einem typischen Kombi-Projekt, was bedeutet, dass ich einen Teil meiner Arbeit im Büro verbringe und den anderen Teil im direkten Kontakt mit meinen Klienten bin. Für mich ist diese Abwechslung ideal, da ich viele theoretische Dinge im Büro lerne, andererseits aber auch einmalige Erfahrungen mit den Überlebenden sammle. Im Büro falten jede Woche neue Aufgaben an, aber hauptsächlich besteht meine Arbeit darin, den Kontakt mit den Klienten nach jedem Besuch zu dokumentieren, Schreiben von Deutschen Behörden zu übersetzen bzw. Schreiben auf Deutsch zu verfassen, Akten zu sortieren (Was zunächst langweilig klingt. jedoch stößt man jedes mal auf sehr interessante und manchmal auch erschütternde Informationen), regelmäßige Events zu organisieren. Annrufe entgegen zu nehmen, Räumlichkeiten für Meetings zu reservieren und andere Kleinigkeiten, mit denen ich meine Chefin unterstützen kann. Bei der Arbeit mit den Überlebenden handelt es sich z.B um Arztbesuche, zu denen ich die Klienten fahre und ihnen zur Seite stehe. Ich begleite meine Klienten aber auch zum Einkaufen oder gehe mit ihnen essen. Meistens aber mache ich „Friendly Visits" und höre ihnen einfach nur zu. Jeder Klient ist andere und es hat eine Weile gedauert, zu jedem einen individuellen Draht zu finden. Das Schöne ist. dass man mit der Zeit zu den meisten Klienten eine emotionale Bindung aufbaut. Somit ist meine Arbeit für mich keine ,,Arbeit", sondern eine Herzensangelegenheit. Dies bedeutet. dass die Zeit verfliegt und so versuche ich jede kleine Weisheit der Überlebenden aufzuschnappen. Was ich zusammengefasst an meiner Arbeit schätze ist, dass all die Neuen Veränderungen mein Leben auf den Kopf gestellt haben und ich jeden Tag dazu lerne. Sowohl praktisches als auch zwischenmenschliches. Es wird viel von einem erwartet und besondere nach 3 Monaten steigt der Druck, denn man ist nicht mehr ,,neu" und man möchte alles richtig machen. Aber nicht zu vergessen ist, dass die Menschen hier sehr verständnisvoll sind und meine Kollegen sich sehr viel Zeit nehmen, um mich im Büro zu etablieren. Wie bereits erwähnt vergeht die Zeit hier in Cincinnati sehr schnell. Oder wie eine meiner Kolleginnen sagen würde: „the time flies if you're having fun". Und auch wenn ich erst 3 Monate hier bin, gab es schon unzählige Momente, die mir den Atem genommen haben. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, wo ich zum ersten Mal eine Klientin zum Arzt 3/6 ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter Aktualisiert Samstag, den 10. Januar 2015 um 11:07 Uhr begleiten durfte. Eine ca. 1,50m kleine und zierliche Frau. Das Besondere war, dass die Klientin blind ist und sich direkt bei mir eingeharkt hat. Dass sie mir von Anhieb „blind" vertraut, ohne mich zu kennen, hat mir sehr viel bedeutet. Es sind eben doch die Kleinigkeiten, die einem ans Herz gehen. Mir war natürlich bewusst, dass ein Großteil meiner Klienten eine bestimmte Zeit in ihrer Jugend in einem Konzentrationslager verbracht haben, aber als ich eines Tages einer Überlebenden dabei geholfen habe ihre Strickjacke ausziehen, habe ich mich kurz erschrocken. Es war die Nummer auf ihrem Arm. Nicht, dass es mir vorher nicht bewusst war vor was für einem geschichtlichen Hintergrund diese Menschen stehen, aber diesen handfesten Beweis plötzlich zu sehen, darauf war ich nicht gefasst. Eines meiner Highlights war die Chanukah-Feier im Dezember, an der ca. 70 Klienten teilgenommen haben. Es war rührend zu sehen, wie sich alle gefreut haben und auch wenn der organisatorische Teil sehr stressig war - am Ende hat es sich dann doch gelohnt. Was mich besonders freut ist, dass meine Kollegen sehr humorvoll, offen und hilfsbereit sind. Ich erinnere mich noch an Tage, an denen ich im Auto saß und nicht wusste, wo ich bin und es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ich meine Kollegen anrufen kann und sie mir solange helfen, bis ich wieder zurechtkomme. Das Gefühl, dass man nicht alleine ist, hat man aber auch ASF zu verdanken. Mir scheint es so. dass die Projekte und alle Freiwilligen unter behutsamer Beobachtung stehen und es wurde schon zu Beginn meines Freiwilligendienstes sehr auf mich geachtet. Ich weiß, dass ich sowohl in meinem Projekt als auch außerhalb meines Projektes Ansprechpartner habe, falls etwas nicht stimmt. Die Kontaktperson für alle Freiwilligen befindet sich in Philadelphia, wo nach drei Monaten auch das erste Zwischenseminar stattfand. Hierbei ging es hauptsächlich darum sich auszutauschen und sicherzustellen, dass es allen Freiwilligen gut geht. Das nächste offene Seminar findet in Washington DC statt, worauf ich mich schon sehr freue, denn während des Freiwilligendienstes ist die ASF-Gruppe ein Stück weit Heimat. Allein schon der Sprache wegen. Eine weitere für mich sehr bedeutende Erfahrung hatte ich mit einer meiner Klientinnen, welche nur ungern ihr Haus verlässt. Meine Co-Worker haben seit einiger Zeit versucht die besagte Dame aus dem Haus zu bekommen, damit sie nicht vereinsamt. Sämtliche Versuche sie zum Essen auszuführen scheiterten. Als ich nach Cincinnati kam haben meine Kollegin und ich ihr vorgeschlagen in ein Restaurant ihrer Wahl zu gehen. Gesagt getan. Es war schon sehr ungewöhnlich, dass die Klientin sich überhaupt hat überreden lassen, jedoch hat es ihr so gut gefallen, dass wir in der darauffolgenden Woche wieder ausgingen. Nach dem dritten Mal wurde es zu einem festen Ritual. Es ist schön zu sehen, dass man als ASF-Freiwillige mit 4/6 ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter Aktualisiert Samstag, den 10. Januar 2015 um 11:07 Uhr seiner Arbeit etwas bewirkt. Es fällt mir unheimlich schwer meine Arbeit mit den richtigen Worten zu beschreiben, denn es ist eine einmalige Erfahrung, die man selbst erleben muss, um es zu verstehen. Mir war es von Anfang an wichtig meine Erinnerungen an diese wichtige Zeit aufzubewahren. So habe ich angefangen interessante Zitate der Zeitzeugen zu sammeln. Da diese Zitate für sich sprechen werde ich im Folgenden meine Lieblingszitate einfach mal auflisten: - „Something bad has always a good side and something good has always a bad side" - „Only pain is real. Everything else is a dream" - „When hope was a minimal light I survived because I was optimistic. Happiness is to work - free to old age" - „Feelings aren't right or wrong. They just are" - „I have nothing to complain about- if you complain it gets even worse" - „If you loose a person you love you start to grow - that's what life is about" - „ You don't know you're missing it until you're missing it" - „I came to this world with nothing and I can leave this world with nothing" - „ You can feel home wherever you make it home" - „You have to be patient. Not with somebody. Just with life itself" - „Never say a bad word about anyone. You never know if you may change your mind" - „Humans are killers. Animals are not killers - they kill to eat. Humans kill because of their - instant gravitation" - „I talk about the weather with people I don't like" - „The best thing you can do in life is to plant a tree and wait 20 years. You will see that it takes time for things to grow" - „A little bit of poison doesn't kill you" - „ Who I am is defined by who I am not" Jedes Gespräch regt mich zum Nachdenken an und ich lerne unheimlich viel von den Zeitzeugen. Sowohl geschichtliche Dinge als auch kleine Weisheiten, die meine bisherigen Ansichten des Lebens auf den Kopf gestellt haben. Mein Freiwilligendienst ist bereits nach 3 Monaten genau so, wie ich es mir erhofft hatte. Ich werde jeden Tag erneut gefordert und treffe auf interessante Menschen. Daher möchte ich mich besonders bei meinen Förderinnen/Förderern, Patinnen/Paten für ihre Unterstützung bedanken. Zu den Förderinnen und Förderern zählen unter anderem die Augustinum GmbH, Europäischer Freiwilligendienst, RAG, Remondis Aqua, SFDzV, Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, Stiftung West-östliche Begegnung und IFL. Mein Patenkreis setzt sich aus meiner Familie, Nachbarn, Freunden, Firmen, Bekannten und meiner ehemaligen Schule zusammen. Ein Freiwilligendienst mit ASF wäre ohne diese Menschen nicht möglich gewesen. 5/6 ASF-Freiwilligendienst Lilly Wolter Aktualisiert Samstag, den 10. Januar 2015 um 11:07 Uhr Wie bereits erwähnt haben sich alle meine Erwartungen, die ich an meine Zeit in Cincinnati hatte erfüllt. Sie wurden sogar übertroffen. Meine anfängliche Sorge mit möglichen Komplikationen allein gelassen zu werden hat sich als überflüssig erwiesen. Als ich zum Beispiel kurz nach der Ankunft in den USA erkrankt bin wurde ich ohne Weiteres zum Arzt gebracht und bestens versorgt. Ähnlich sieht es in meinem Projekt aus. Meine Arbeitskollegen stehen mir jederzeit zur Seite und unterstützen mich wo sie nur können. Da ich die 9. Freiwillige bin haben meine Kollegen bereits Erfahrung mit der Zusammenarbeit mit ASF und wissen daher, wie man die Arbeit für eine/n Freiwillige/n gestaltet. Nach drei Monaten ist es mir nun gelungen mich in meinem Projekt einzufinden. Zu Beginn war es recht schwierig ein System zu entwickeln, da man von all den neuen Informationen überwältigt wird. Diese zu sortieren braucht seine Zeit, aber es ist erstaunlich wie schnell man eine Routine entwickelt. Mein Ziel für die restliche Zeit meines Dienstes ist es, nun noch schneller und sicherer zu arbeiten. Am Anfang gehören zwar all die Fragen dazu, aber mit der Zeit möchte man auch unabhängiger werden. Außerdem hoffe ich, dass ich noch viele interessante Momente mit den Zeitzeugen erleben darf und dass ich weiterhin ihr Leben durch meine Arbeit ein Stück weit erleichtere. 6/6