Christ in der Gegenwart 2014-29

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Christ in der Gegenwart 2014-29
CHRIST
IN DER GEGENWART
29
Demokratie exportieren?
Irak, Afghanistan und Länder der Arabellion sind nicht reif für unser politi325
sches System.
66. JAHRGANG FREIBURG, 20. JULI 2014
Baustelle Vatikanbank
Der Chef-Kontrolleur der Vatikanbank ist
in kurzer Zeit effektiv gegen Geldwäsche
vorgegangen. Er wird ausgetauscht. 327
WWW.CHRIST-IN-DER-GEGENWART.DE
DER KOMMENTAR
Wir
W
ir sind Weltmeister – zumindest für einige
Stunden, ein paar Tage, bis der Freudenrausch abgeklungen ist. Beim Lesen dieser Zeilen
gilt für die meisten bereits: Wir waren Weltmeister.
Der Alltag hat uns wieder. Zuvor jedoch sahen wir,
dass Soziologen, die eine individualistische Gesellschaft verkünden, nicht ganz recht haben. Auch in
Zeiten der Vereinzelung ist das Vergemeinschaftungsbedürfnis nicht verflogen. Je weniger Milieus,
Parteien, Konfessionen und Religionen die Zugehörigkeit bestimmen, umso mehr wächst die Sehnsucht, sich anderswoher als Gemeinschaftswesen zu
konstituieren, sich eine kollektive Identität wenigstens einmal zu borgen. Daher umarmen sich Wildfremde im Freudentaumel beim Public Viewing,
suchen Massen die Wärme der Fanmeile. Das tröstet gegen Einsamkeit, das erlaubt, Gefühle mit
„Gleichgesinnten“ zu teilen, die sonst nicht gleichgesinnt sind.
Eine Fußball-WM ist etwas Besonderes, Einzigartiges. Im Unterschied zu Weltmeisterschaften, die
jährlich stattfinden, gibt es dieses Turnier nur selten,
bloß alle vier Jahre. Es dauert womöglich Jahrzehnte, bis eine Ländermannschaft wieder einmal
die Chance hat, nach dem Pokal der Pokale zu greifen. Und wann je schaut wieder einmal ein farbenfroh leuchtender segnender Christus zu wie über
Rio, der Stadt so vieler erfüllter und geplatzter
Träume? Die Fußball-WM widersetzt sich jedenfalls
noch, solange die Fifa nicht andere geldgierige Pläne
hegt, der Nivellierung durch die Inflation der
Events, die austauschbar sich gegenseitig auslöschen.
Die Erinnerung an ein WM-Turnier bleibt in der
Seele ein Leben lang haften. Weißt du noch, damals …? Das melancholische Verwehen der Zeit
erhält im Fußball dichtesten Ausdruck, einen existenziellen Ankerpunkt.
Vor allem aber war es diesmal die Leichtigkeit
des Spielerischen nach dem Spiel, die berührte.
Früher wäre es bei diesem „bierernsten“ Männersport undenkbar gewesen, dass Freundinnen,
Frauen und Kinder der Athleten sich unmittelbar
nach Abpfiff auf dem Rasen versammeln, sich herzen, küssen, miteinander flachsen, Späße machen.
Die herrlichste Nebensache der Welt hat jenseits der
Milliarden-Beträge, um die sich alles dreht, plötzlich
etwas ganz schlicht Menschliches gewonnen. Sinnbild dafür war die Szene, wie ein beliebter Stürmer
ganz allein mit sich und seinem kleinen Sohn in der
bedeutendsten Arena der Welt, dem Maracanã,
kickte, Elfmeterschießen „übte“, als wäre vorher
nichts gewesen, während alle anderen in der Kabine
feierten oder Interviews gaben. Die große Welt wird
plötzlich ganz einfach und klein. Das ist das wahre
Leben, in dem wir uns wiederfinden als Zuschauer
und Beteiligte – auf Zeit.
CIG
Das Kalifat
Die ersten Kalifen waren Verwandte
Mohammeds. Ein Isis-Terrorist macht
326
sich zum Nachfolger.
EINZELPREIS: 2,60 EURO 321
Unkraut im Weizen
Wie sollen wir mit Fehlern und
Übeln umgehen?
Von Klaus Werger
D
as herabsetzende Reden über
andere ist weit verbreitet. Vielleicht waren wir selbst schon
einmal daran beteiligt. Meist vollzieht es
sich hinter dem Rücken der Betroffenen.
Im Internet wird eine noch größere Öffentlichkeit erreicht; mit der Anonymität
wächst anscheinend die Boshaftigkeit.
Ein solcher Austausch über einen Menschen bedeutet, dass sein Bild in den
Köpfen der anderen – manchmal sogar
in seinem eigenen – in entstellender
Weise bekritzelt oder gar unkenntlich
gemacht wird. So als würde Unkrautsamen über ein Weizenfeld gestreut. Von
einer solchen Beschädigung erzählt das
Matthäusevangelium (13,24–30). In der
Geschichte wird dieser Anschlag vom
„Feind“ des Gutsherrn verübt.
Nach der Deutung des Gleichnisses,
die wenig später im Text selbst gegeben
wird (Verse 36–43), ist die Aussaat des
Unkrauts ein Werk des Teufels. Jesus
selbst mag die Figur des Feindes so
erklärt haben oder doch eher der Verfasser der Geschichte, wie die meisten
Bibelausleger meinen. Nun hat es etwas Diabolisches, wenn unnötige Mühen verursacht werden, das Ergebnis
bereits geleisteter Mühen gemindert,
heimlich der unbeobachtete Moment
oder die Schwachstelle ausgenutzt
wird. Leider ist das Diabolische in diesem Fall zugleich sehr menschlich.
Das Gerede
Sicher gibt es die Feindschaften, bei denen mit intrigant „gestreuten“ Gerüchten gekämpft wird. Typischer beim
„Lästern“, und noch erschreckender,
dürften die Gedankenlosigkeit und das
„gute“ Gewissen der Beteiligten sein. Es
scheint ja angeblich keinen Schaden anzurichten. Die anderen machen ja auch
mit. Tatsächlich aber wird der Betroffene entsprechend dem Bild, das mit
dem Gerede gezeichnet wird, eingeschätzt und behandelt. Das kann handfeste Folgen haben. Mobbingopfer kennen die verhängnisvollen Auswirkungen
auch scheinbar harmloser Witzeleien.
Das Nebeneinander von Weizen
und Unkraut im Gleichnis weist auf
das Nebeneinander von Gut und Böse
hin. Der Verfasser wird zerstörerische
Kräfte im Blick gehabt haben, von denen Mitglieder seiner Gemeinde betroffen waren. Überraschend im weiteren Verlauf der Gleichniserzählung ist,
dass das Unkraut zunächst nicht beseitigt werden soll – mit der Begründung,
dass dabei auch die nützlichen Pflanzen entfernt werden könnten. Erst bei
der Ernte – man hat an das Gericht
Gottes zu denken – werden auf Anweisung des Gutsherrn Unkraut und
Weizen, das Gute und das Böse voneinander getrennt. Eine mögliche Bedrohung der guten Pflanzen durch das
Unkraut spielt hier keine Rolle. Damit
stößt die Aussagekraft des Gleichnisses an ihre Grenzen. Dem üblen Gerede über einen Mitmenschen etwa
darf man nicht tatenlos zusehen. Aber
im Gleichnis kommt es auf etwas anderes an.
Unkraut kommt auch ohne eigenes
Zutun aufs Feld. Fehler und Schwächen, über die geredet wird, kön-
Körperwelten: Nacktheit, Scham und Peinlichkeiten
Die westlichen Gesellschaften und Kulturen tendieren zum
Schamverlust. Diese Beobachtungen drängen sich auf.
Doch sie sagen nicht die ganze Wahrheit. Unsere Bilder
zeigen Adam und Eva als Ausschnitte aus dem berühmten
Genter Altar des Malers Jan van Eyck (1432), in der Mitte
eine Aufnahme des amerikanischen Fotografen Spencer
Tunick: Tausend Nackte im alten New-York-Zentralbahnhof
323
in Buffalo. (Fotos: picture-alliance)
322 Religiöser Leitartikel / Nachrichten
nen tatsächlich vorhanden sein. Was ist
gerechtfertigte, sachliche Kritik? Und was
ist bloßes, unnötiges Gerede, das man sich
leicht auch hätte sparen können?
Das Gleichnis macht eine wichtige unterscheidende Aussage. Rät es doch, den
guten Anlagen besondere Fürsorge und
Aufmerksamkeit zu schenken, gerade
wenn es sich um „zarte Pflänzchen“ handelt. Sie dürfen durch Maßnahmen gegen
das Unkraut nicht gefährdet werden. Im
größeren Rahmen sind damit Lösungen
ausgeschlossen, durch die Unschuldiges
bedroht und vernichtet wird („Kollateralschäden“), wenn Böses umfassend und
„radikal“, das heißt von den Wurzeln her,
bekämpft wird.
Was unsere Mitmenschen angeht, bleibt
es eine tägliche Aufgabe, den anderen
durch das Unkraut hindurch wahrzunehmen. Der andere bleibt dabei ja immer der
Nächste. Er ist wie wir das Geschöpf des
Vaters im Himmel.
Tattoos sind Frauensache
Der Eindruck täuscht: Auch wenn während
der Fußballweltmeisterschaft zahlreiche
Spieler großflächige Tätowierungen aufwiesen, so ist das Tattoo inzwischen überwiegend Frauensache – hierzulande vor allem in
der jungen Generation. Nach einer Umfrage
des Instituts für Demoskopie in Allensbach
sind dreißig Prozent der 16- bis 29-jährigen
Frauen tätowiert. Unter den gleichaltrigen
Männern sind es lediglich 18 Prozent. Interessant ist auch ein Ost-West-Gefälle: So ist
der Anteil der Tätowierten in Ostdeutschland mit 41 Prozent doppelt so hoch wie im
Westen. Auch Personen mit Hauptschuloder Realschulabschluss lassen sich doppelt
so häufig tätowieren wie Abiturienten.
Kopie und Kultur
„Kopieren ist eine menschliche Kulturtätigkeit der größten Wichtigkeit und
allerersten Güte.“ Das sagte der Münsteraner Philosoph Reinhold Schmücker im
„DeutschlandRadio Kultur“. Kopieren sei
nicht einfach mit Abschreiben oder Betrug
gleichzusetzen. Der Mensch habe zu allen
Zeiten durch Kopieren wesentliche Dinge
gelernt, gerade auch praktische Kenntnisse
wie Fremdsprachen oder Kochen.
Verbot für Chinas Muslime
Die chinesische Regierung hat ihren Mitarbeitern in der Nordwest-Provinz Xinjiang,
wo viele Muslime leben, verboten, während des Ramadan zu fasten. Beamte, Lehrer und Mitglieder der Kommunistischen
Partei wurden aufgefordert, das Fasten zu
unterlassen. Es handelt sich dabei um eine
Maßnahme, die begleitet ist von Festnahmen, drastischen Urteilen und Hinrichtungen als Reaktion auf blutige Anschläge mit
Dutzenden von Toten in China. Die Behörden machen muslimische Extremisten von
Xinjiang aus der Minderheit der Uiguren
für die Attentate verantwortlich. Im religiösen Fasten sehen die staatlichen Behörden
die Gefahr einer Solidarisierung mit dem
Radikal-Islam in China und seinen politischen Abspaltungstendenzen.
Nr. 29 / 2014 CIG
CHRISTLICHES
ZEITGESCHEHEN
Woelki: Freude am Rhein, Missmut im Osten
Die schnelle Besetzung des Bischofsamtes in
Köln mit Kardinal Rainer Maria Woelki aus
Berlin hat unter ostdeutschen Bischöfen neben Glückwünschen auch eine leise indirekte Kritik ausgelöst. Der Magdeburger Bischof Gerhard Feige sagte: „Angesichts
dessen, dass für Köln in noch nicht einmal
einem halben Jahr ein neuer Erzbischof gefunden werden konnte, wirkt es umso befremdlicher, dass Erfurt schon fast zwei
Jahre auf einen neuen Bischof warten muss.“
Zudem sei es „kein ermutigendes Signal für
den Osten Deutschlands, wenn ein aus dem
Rheinland gekommener Hoffnungsträger
nach nur drei Jahren schon wieder in seine
Heimat zurückkehrt.“ Offensichtlich sei
Berlin als Hauptstadt für die katholische
Kirche in Deutschland doch nicht so bedeutungsvoll, wie immer wieder behauptet
wird. Auch der Erfurter Weihbischof Reinhard Hauke äußerte sich missmutig über die
außerordentlich lange Vakanz in Thüringen.
In der säkularen Presse fand die Wahl
Woelkis zum neuen Leiter eines der wich-
tigsten und reichsten Bistümer weltweit ein
überwiegend freundliches Echo. Besonders
gelobt wurden sein geschicktes, menschennahes Auftreten, sein bescheidener Lebensstil und sein verbindlicher Umgang ohne
polemische Untertöne.
Der „Tagesspiegel“ nannte Woelki den
„Shooting-Star“ unter den Bischöfen. Er sei
der „Prototyp“ einer kommenden Bischofsgeneration, die „nicht mehr kauzig und
dogmatisch verbohrt“ sei, sondern menschenzugewandt und sozial. „Die neuen
Männer reden von Barmherzigkeit und
meinen es auch so. Sie gehen auf Menschen
zu – in Maßen sogar auf ihre Kritiker – und
haben ein Herz für sozial Benachteiligte.
Theologisch konservativ sind sie trotzdem … Die Laien sollen sich beteiligen, das
ist sogar erwünscht – doch nur so lange,
wie sie die Autorität der Priester und Bischöfe stützen.“ Die „Frankfurter Allgemeine“ erinnerte daran, dass – wie in Freiburg – keiner der Kandidaten, die das
Domkapitel vorgeschlagen hatte, von der
römischen Bischofskongregation auf die
Auswahlliste gesetzt wurde. Da Woelki im
Herzen „ein Mann der Caritas, nicht der
Hinterzimmer der Berliner Politik sei“,
spreche einiges dafür, dass man im Vatikan
eine doppelte Chance nutzen wollte: „das
Erzbistum Köln zu befrieden und für Berlin nach einem neuen Erzbischof Ausschau
halten zu können“.
Die „Welt“ spekulierte, dass Woelkis
Wechsel der Auftakt einer größeren Bischofsrochade sein könnte. Demnach sei
der Münchner Kardinal Reinhard Marx im
Gespräch als sein Nachfolger in Berlin. „Er
ist ein Stratege, er denkt machtpolitisch,
macht in Talkshows eine gute Figur. In der
Hauptstadt könnte er zu einer Art Katholiken-Bundeskanzler aufsteigen und seine
Kontakte zur Regierung weiter intensivieren.“ Das Erzbistum München und Freising wäre dann frei für den päpstlichen
Sekretär Georg Gänswein. Marx stellte jedoch klar: „Selbstverständlich bleibe ich in
München.“
Joachim Gauck, das Militär und die Jesus-Geschichte
Boff über die Brasilianer
„So wie wir eine Polizei haben und nicht
nur Richter und Lehrer, so brauchen wir
international auch Kräfte, um Verbrecher
oder Despoten, die gegen ihr eigenes Volk
oder ein anderes mörderisch vorgehen, zu
stoppen.“ Mit diesen Worten hat Bundespräsident Joachim Gauck seine Forderung
bekräftigt, dass Deutschland notfalls auch
militärisch international eine stärkere Rolle
übernehmen müsse. Diese Sichtweise ist
von 65 evangelischen Pfarrern aus Ostdeutschland in einem offenen Brief kritisiert worden. „Wer einmal in seinem Leben
miterleben durfte, dass mit Gewaltlosigkeit
große gesellschaftliche Veränderungen bewirkt wurden, der ist aus Dankbarkeit für
diese Erfahrung eigentlich den Rest seines
Lebens dazu verpflichtet, an diese Erfahrung anzuknüpfen, auch unter gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen.“
Die Pfarrer erinnern an die Ökumenische Versammlung der DDR-Kirchen von
1989, an der Gauck als Pfarrer teilgenommen hatte. In dem damaligen Abschlussdokument hieß es: „Im Verzicht auf militärische Gewalt als Mittel der Politik sehen wir
einen notwendige Schritt zur Schaffung einer europäischen und weltweiten Friedensordnung.“ Unterstützung erhielten die Pfar-
Die Hochstimmung, die „quasireligiöse
Überhöhung“ des Fußballs und der brasilianischen Nationalmannschaft hätten die
Bevölkerung nicht auf das vorbereitet, was
im Sport gilt: „Einer gewinnt, und einer verliert.“ Das schrieb der brasilianische Theologe Leonardo Boff nach dem traurigen
Abschneiden seines Landes bei der Weltmeisterschaft in der „Süddeutschen Zeitung“. Die Fans täten ihm leid. „Die meisten fühlen sich nun geradezu verwaist.“
Brasilien sei ein vielfältiges und gespaltenes
Land, „das kaum etwas hat, was gut funktioniert“. Das Gesundheitssystem sei bloß
für die Reichen gut, das Bildungssystem
ebenso, das Verkehrswesen marode, die Sicherheit schlecht, die Polizei oftmals brutal.
„Wir sind in fast nichts gut. Aber wir sind
ein gastfreundliches und verspieltes Volk.“
rer von der Luther-Botschafterin Margot
Käßmann und vom Bischof im Sprengel
Mecklenburg-Vorpommern, Andreas von
Maltzahn. Margot Käßmann sagte, es sei
Aufgabe der Kirchen, die Friedensbotschaft
Jesu gegen die Anfeindungen zu verteidigen. Gauck müsse sich fragen lassen, ob er
noch in dieser Tradition stehe.
Dagegen erklärte der künftige evangelische Militärbischof Sigurd Rink: „Es gibt
Situationen, in denen die Völkergemeinschaft eingreifen muss, um größeres Unglück zu verhindern.“ Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler nannte
den Protestbrief der Pfarrer weltfremd
und fundamentalistisch. „Was die ostdeutschen Pfarrer und ihre westdeutschen Unterstützer … wissentlich oder unwissentlich infrage stellen, ist nichts Geringeres
als die Westbindung Deutschlands mitsamt den daraus resultierenden Verpflichtungen“, schreibt er in der „Süddeutschen
Zeitung“. In ihrem Innerlichkeitspathos
seien sie „den national gesinnten Pastoren
der wilhelminischen Zeit ähnlicher, als ihnen bewusst ist“. Von katholischer Seite
gibt es bisher keine kritischen Äußerungen von offizieller Seite gegen Gaucks Vorstellungen.
Kreativität kann die Seele heilen
Jede kreative Tätigkeit kann seelische Leiden, ja Krankheiten heilen helfen. Davon ist
Rainer M. Holm-Hadulla, Professor für psychotherapeutische Medizin in Heidelberg,
überzeugt. Dabei gehe es um die Suche nach
Anerkennung und die Ordnung von wirren
Gedanken. Holm-Hadulla, der bei der Internationalen Pädagogischen Werktagung in
Salzburg über „Therapeutische Aspekte der
Kreativität“ sprach, verwies auf Johann
Wolfgang von Goethe. Aus dessen Briefen
werde deutlich, dass er unter Depressionen
litt. Er habe aber durch seine dichterische
wie wissenschaftliche Kreativität die diffus
aufsteigenden Gedankengänge geordnet
und sich mit dem Schmerz versöhnt, die
Leiderfahrungen kreativ transformiert.
„Goethe suchte sich immer hilfreiche Beziehungen – heute wären das unter anderem
auch Berater, Therapeuten und so weiter.
Diese therapeutischen Beziehungen haben
ihn stabilisiert“, ist sich der Psychiater sicher.
„Xavier“ digital
In Bubaneshwar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Orissa, wurde in
der Trägerschaft der Jesuiten die „XavierUniversität“ gegründet. Ein Schwerpunkt
der katholischen Hochschule sind digitale
Technologien. Außerdem werden Studiengänge in Verwaltungswissenschaften, Betriebswirtschaft und Marketing angeboten.
Biologie, Kunst, Pädagogik und Publizistik
sollen hinzukommen.
Weltkirchenrat bestätigt
Christenverfolgung
Die Verfolgung von Christen in der muslimischen Welt und in Teilen Afrikas hat
sich verschärft. Das bestätigte und beklagt
der Generalsekretär des Weltkirchenrats,
Olav Fykse Tveit. In vielen Regionen der
Welt herrsche unter Christen große Angst.
CIG Nr. 29 / 2014
Von Johannes Röser
M
änner heulen nicht? Heulende
Männer schämen sich jedenfalls
nicht mehr. Zumindest nicht
Fußballstars, die wie die Brasilianer nach
einem glücklichen Elfmeterschießen eine
Runde weiterkommen, in die Knie sinken,
die Hände zum Himmel recken und vor
Rührung drauflosflennen – dann aber nach
einer Debakel-Niederlage das große Ziel
vor Augen verpassen und erneut ergiebig
Tränen vergießen. Diese lügen nicht. Oder
manchmal doch?
In den Medien wurde tagelang diskutiert, ob es sich schickt, sich so vor
den Augen der Stadionbesucher und vor
Milliarden Fernsehzuschauern gehen zu
lassen. Wenigstens peinlich sollte es den
Top-Millionären schon sein, meinen die
einen. Nein – Gefühle zeigen, das ist „in“,
das macht sympathisch, offenbart wahres
Menschsein, sagen die anderen. Wo Uwe
Seeler nach der Niederlage gegen die Engländer in Wembley 1966 mit hängendem
Kopf den Platz verließ, wird heutzutage
eher etwas theatralisch die Tragödie auf
dem grünen Rasen inszeniert. Schon derart
triviale Geschehnisse zeigen, wie sich im
Lauf der Zeiten die Ansichten ändern, worüber man sich schämen sollte oder eben
nicht schämen muss.
Der Journalist und langjährige Feuilleton-Chef der „Zeit“ Ulrich Greiner schreibt
in seinem neuen Buch „Schamverlust –
Vom Wandel der Gefühlskultur“ (Rowohlt)
über die unter allen Lebewesen einzig dem
Menschen mögliche Gefühlsregung: „Wer
sich überhaupt nicht zu schämen vermag,
ist kein Mensch im vollen Sinn – erst die
Fähigkeit zur Scham macht ihn zum moralischen Subjekt.“ Damit sei allerdings noch
nicht viel gesagt, denn das Schamempfinden hängt in hohem Maße vom kulturellen
Raum und von Prägungen der Religion ab.
„Man kann die Geschichte der Menschheit
als die Geschichte unterschiedlich verursachter Scham- und Peinlichkeitsempfin-
E
in langer Tunnel durch die Alpen ist
im Bau. Aufregend ist immer, wenn
sich die Bohrungen von beiden Seiten
treffen: Der Durchbruch ist geschafft, die
Bahn frei, Neuland kann entdeckt werden.
Jede Initialzündung hat diesen Reiz, jedes
Erst- und Erfolgserlebnis. Da brütet man
lange an einem Werk, mit Frustphasen
und Schreibschwierigkeiten. Irgendwann
klickt es, wenn es gut geht. Der Schreibfluss kommt in Gang, das Ziel in Sicht. So
spricht man vom ersehnten Durchbruch
bei komplizierten Verhandlungen, oft
Schwerstarbeit und nicht erzwingbar.
Oder bei einer schwierigen Heilbehandlung im Kampf mit der tückischen Krankheit. Welch ein Ereignis auch, wenn es in
belasteten oder gar zerrütteten Beziehungen doch zu neuem Verständnis kommt!
Und immer der Wunsch nach intensivem
Leben, vielleicht gar die Blaue Blume,
womöglich der Gottesfund.
„Es gibt im Grunde nur ein Problem
in der Welt, und es hat diesen Namen:
Wie bricht man durch? Wie sprengt man
die Puppe und wird zum Schmetterling?“
So lässt Thomas Mann im „Dr. Faustus“
Zeitgänge / Wege & Welten 323
Schäm dich!?
Die Schamkultur scheint mehr und mehr durch eine Peinlichkeitskultur
abgelöst zu werden. Dafür gibt es Gründe. Doch der Schein trügt.
dungen verstehen, und nichts macht den
Ablauf der Zeit anschaulicher als der Wandel jener Übereinkunft hinsichtlich des Gebotenen oder Erlaubten, welche wir Kultur
nennen.“
Das „Busenattentat“
In seinen Zeitbeobachtungen zum Phänomen Scham – angereichert durch ein Panorama literarischer Zeugnisse – möchte
Greiner einem rein pessimistischen Eindruck allerdings entgegentreten. Beim gegenwärtig zu beobachtenden Schamverlust
und manchem Unschuldswahn handle es
sich nicht einfach nur um eine sittliche Verfallsgeschichte. Denn selbst jene, die sich
allem Anschein nach für ihr Verhalten
nicht schämen, können im Innersten ein
gewisses Schamgefühl wohl doch nicht
ganz ablegen. Greiner nennt als Beispiel das
sogenannte „Busenattentat“ von 1969. Im
Zuge der Studentenrevolte hatten damals
drei junge Frauen an der Frankfurter Universität eine Vorlesung von Theodor W.
Adorno gestürmt und den Philosophen mit
nackten Brüsten bedrängt. Dieser fühlte
sich nicht nur provoziert, sondern tief verletzt und beschämt, und er floh, sich mit
einer Aktentasche vor den Blicken der
Leute schützend, aus dem Hörsaal. Heute
würde ein Professor, dem Gleiches widerfährt, wohl eher belustigt reagieren und
amüsierte Reaktionen des Publikums hervorrufen, statt sich selber zu schämen.
Wie sehr sich die Schamkultur in der
Breite der Bevölkerung verändert hat,
kann man jetzt zur Sommerszeit auch wieder an vielen Stränden und Baggerseen
feststellen – und nicht nur dort. Die obszönen Schwulen-Paraden des immerwähren-
den Christopher-Street-Days gaben soeben erst wieder einen Eindruck vom
Wandel. Auch die Aktivistinnen der feministischen Femen-Gruppe sind fast ständig
irgendwo mit ihrem Ganzkörpereinsatz
unterwegs, um Oben-ohne öffentlich gegen angeblich sexistische oder sonstwie
unterdrückerische Frauenbilder zu protestieren. Im Kölner Dom war beim letzten
Weihnachtsgottesdienst Josephine Witt auf
den Altar gesprungen. Sie entblößte ihren
Oberkörper, auf dem geschrieben stand:
„Ich bin Gott“. Journalisten und Fotografen, die vorab informiert worden waren,
ließen es sich nicht nehmen, als willfährige
Vollstrecker des „Events“ diesen für ein
breites Publikum zu dokumentieren.
Schämte sich die jetzt wegen Störung des
Religionsfriedens Angeklagte? Möglicherweise überhaupt nicht. Doch niemand vermag von außen zu beurteilen, was in einem Menschen wirklich vor sich geht.
Scham ist wesentlich ein Geschehen im
Innersten: Der Mensch tritt seinem Ich,
sich selbst gegenüber im Bewusstsein seines Gewissens.
Eine der am „Busenattentat“ gegen
Adorno beteiligten Frauen schämte sich
doch, wie Greiner berichtet. Die damalige
Studentin A erklärte noch 2003 gegenüber
einer Journalistin, die sie interviewte, sie
wolle auf keinen Fall erkennbar sein, denn
sie habe das Bild von Adorno beschmutzt.
Und eine Mitstreiterin bekannte, sie habe
die Aktion sofort bereut: „Wir fanden uns
danach gar nicht so toll … Wäre ich tot und
würde Adorno begegnen, ich würde ihn
bitten, dass er mir vergibt.“
Die rebellischen Achtundsechziger wollten den Menschen die Schamgefühle aus-
WEGE & WELTEN
Mystik im Alltag
Durchbruch
die Hauptfigur sagen, einen Komponisten
auf der Suche nach der neuen Musik und
deshalb im Teufelspakt mit dem genial
Unheimlichen. „Wem also der Durchbruch
gelänge aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls, ihn sollte man wohl
den Erlöser der Kunst nennen.“ Wie in der
Kunst so im Leben: heraus aus der Kälte
ichbezogener Teufelskreise, nein hindurch;
heraus aus der Oberflächlichkeit, die man
Leben nennt, hindurch zu wahrem, wirklichem Da-Sein.
Das Alltägliche zu „durchbrechen“ auf
die letzte und göttliche Dimension hin –
das war ein Lieblingsbild, das der Mystiker
Meister Eckhart prägte. Das wesentliche
Leben kann der Mensch demnach „nicht
durch Fliehen lernen, indem er vor den
Dingen flüchtet und sich von der Außenwelt in die Einsamkeit kehrt; er muss
vielmehr eine innere Einsamkeit lernen,
wo und bei wem er sei. Er muss lernen, die
Dinge zu durchbrechen und seinen Gott
darin zu ergreifen und den kraftvoll in
einer wesenhaften Weise in sich einbilden
zu können.“
Da spricht der kontemplative Christ.
Da fliegt der entpuppte Schmetterling.
Da geht es um die Heiligung des Alltags
und die Mystik der offenen Augen. Das
sagt ein Mönch, also einer, der die ersehnte Gotteinung Tag für Tag übt und
auf den Durchbruch hofft – das sagt „der
Mönch in mir“. So wie die Dinge aus dem
treiben, denn diese seien Relikte einer repressiven bürgerlichen Gesellschaft. Greiner
hingegen stellt fest, dass der Schamverlust
nirgendwo und niemals ein Akt der Befreiung war oder ist, sondern stets ein Akt von
Unterdrückung und Tyrannei, zu dem gerade totalitäre Ideologien und Regime die
Menschen anstiften. Diese erheben stets
den revolutionären Anspruch, einen „gläsernen Sozialcharakter herstellen“ zu wollen. Scham aber ist dazu hinderlich. Der
Mensch soll gerade in seinen persönlichsten
und intimsten Regungen gebrochen, durch
gemeinschaftliche Schamlosigkeit dem Kollektiv unterworfen, domestiziert werden.
Im Gegensatz zu dem, was man gemeinhin
vermutet, setzt die Scham im politischen,
gesellschaftlichen Leben geradezu subversive, revoltierende, befreiende, oppositionelle Kräfte gegen den verordneten Mainstream frei, „wenn sich das Subjekt infolge
einer tief sitzenden Schamempfindung weigert, bestimmten Befehlen Folge zu leisten“.
Wer sich schämt, bekennt Widerstand, Eigensinn, Standhaftigkeit – gegen den Sog
des „Alle machen mit!“
Wenn alle mitmachen …
Dennoch funktioniert das Austreiben der
natürlichen Scham immer wieder und weiterhin, wo möglichst viele sich beteiligen
oder aufgrund von Gruppenzwang zur
Anpassung gezwungen werden. Die
ZITAT DER WOCHE
„Führende deutsche Kleinwaffenfabrikanten nehmen es schon seit Jahren mit
Gesetzen offensichtlich nicht so genau.
Die Bundeswehr kauft immer weniger
Waffen, in der Folge sucht die Branche
hemmungslos neue Abnehmer. Dafür
gibt es drei Gründe: erstens Profit,
zweitens Profit, drittens Profit.“
Jürgen Grässlin (Lehrer und Rüstungskritiker; in der „Süddeutschen Zeitung“)
Geheimnis des einen Gottes in ihrer
Vielfalt „ausfließen“, so wollen sie zurück in den Grund Gottes, in das „einig
ein“ und „nichtig nichts“. Aus der Vielheit in die Einheit hindurchfinden und
wieder einig werden mit Gottes Grund
und in ihm – das ist der Durchbruch,
und der geschieht wesentlich im Menschen.
Das ist in der Tat das Lebensthema
schlechthin. Daran hängt aller Friede. Auf
dieses Durchbrechen allein kommt es an,
in den göttlichen „Grund ohne Grund“.
Das ist der Wendepunkt zur Wirkeinheit
mit Gott. So wird der Mensch wirklich
fruchtbar. Für Eckhart ist das dank und
seit Christus endgültig geglückt, im Prinzip sozusagen. Aber allzu oft ist dies vom
Egowillen und ständigen lärmenden
Treiben derart überdeckt, dass es allererst – wieder – gesucht, freigelegt, entdeckt werden muss. Aber nie durch Weltflucht oder Abwertung des Alltäglichen,
ganz im Gegenteil. Nicht zufällig ist im
Wortbild vom Durchbruch stets das
Entscheidende präsent: die tägliche Geburt.
Gotthard Fuchs
324 Zeitgänge
schamlose sadistische Erniedrigung
von Feinden im Krieg, durch Folter und
Gefangenschaft ist in allen soldatischen
Kollektiven zu beobachten, ob in Afghanistan, im Irak oder jetzt auch in der „zivilisierten“ Ukraine. Selbst in völlig friedlichen Zusammenhängen funktioniert die
Umpolung des natürlichen Schamempfindens zur Schamlosigkeit, wenn nur eine
gewisse Anzahl von Gleichgesinnten mitmacht oder der Aufforderung zum Mitmachen Folge leistet. Man will ja nicht als
„verklemmt“ gelten und abseits stehen.
Greiner verweist darauf, dass sogar angesehene Institutionen, „private und auch
halbstaatliche Konzerne den Brauch pflegten, verdiente Mitarbeiter durch sexuelle
Orgien, die naturgemäß steuerlich abgesetzt wurden, bei Laune zu halten“. Die
entsprechenden Exzesse eines Versicherungskonzerns gingen durch die Presse.
Und wie es scheint, hat er deshalb keinerlei
bedeutenden Kundenverlust erlitten, geschäftlich jedenfalls nicht ernsthaft Schaden genommen.
Wann schämt sich ein Mensch? Wenn
viele mit dabei sind, offenbar kaum. Für die
großformatigen Foto-Aufnahmen nackter
Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen
vom Fotografen Spencer Tunick haben
sich stets Tausende bereitwillig ausgezogen. Im engen Getümmel mit Adam- und
Evakostüm hatten die Beteiligten keine
Skrupel. Haut an Haut leisteten sie den
Befehlen der Bildregie Folge. Und wenn
Kaufhäuser als Werbeevent ankündigen,
dass so und so viele der nackt ins Geschäft
strömenden Kundinnen und Kunden besondere Präsente erhalten, finden sich
auch da stets hinreichend viele Teilnehmer
für den „großen Spaß“. Unter Nacktbadern
muss sich heute der Mensch mit Badehose
schämen.
Mode Intimrasur
Auch wenn Greiner keine Verfallsgeschichte schreiben wollte, konnte er den
gesellschaftlichen Hang zum Exhibitionismus doch nicht ignorieren. Das beginnt
schon dort, wo Leute Wildfremden – ob
im Zug, im Restaurant oder in der Disco –
intimste Geheimnisse ausplaudern ohne
Furcht, ihr Gesicht zu verlieren. Die Modewelt lebt geradezu von offenherzigen Offenbarungstrends: „Lehrer, die zum Unterricht in knappen Muscle-Shirts erscheinen.
Schülerinnen, deren Dekolleté einstmals
selbst auf der Silversterparty aufgefallen
wäre, heimkehrende Büroangestellte, die
im delikaten Minikleid den Bus besteigen, wären noch vor vier, fünf Dekaden
undenkbar gewesen. Heute sind sie keine
Seltenheit mehr, jedenfalls in sommerlichen deutschen Großstädten nicht. Wobei
einem Besucher New Yorks auffallen kann,
dass die in den Bürotürmen arbeitenden
Menschen selbst bei größter Sommerhitze
dezent bekleidet sind: die Damen mit
Kostüm und Strumpfhose, die Herren mit
Hemd und Jackett. Mag sein, dass dies mit
der Eiseskälte des Air-Conditionings zu
tun hat, vielleicht aber auch mit einem Rest
puritanischer Scham.“
Die Neigung, sich zu entblößen und
sich damit anderen anzupassen, die sich
entblößen, vergleicht Greiner mit einem
„imaginären Laufsteg“, auf dem man
mithalten will. Und so ordnet man sich
einem herrschenden Ideal oder Mode-
Nr. 29 / 2014 CIG
diktat bereitwillig unter. Ein besonders
eklatantes Beispiel ist die – auch durch die
Pornoindustrie – in Mode gekommene
Intimrasur, die den Blick auf die Genitalien „freigibt“: „Je offensiver Frauen sich
zeigen und je kleiner die Bikinis werden,
bis hin zu ihrem völligen Verschwinden
am Nacktbadestrand, umso mehr wachsen neue Zwänge. Der Körper muss, wie
es in Heiratsanzeigen oft heißt, ‚vorzeigbar‘ sein, die Sichtbarkeit der Schamteile
verlangt deren ästhetische Bewirtschaftung.“ Greiner zitiert aus dem Buch „Muschiland“ über die einst als ausschließlich
intim geltenden Geschlechtsmerkmale:
„So lässt sich feststellen, dass die zunehmende Akzeptanz der öffentlichen Präsenz bestimmter weiblicher Körperbereiche eine Enthaarung dieser Bereiche nach
sich zieht. Dies gilt für Achseln und Beine
genauso wie für den Genitalbereich.“ Der
muss – so ergänzt Greiner – „im Extremfall einer kosmetischen Operation unterzogen werden …, um dem Schönheitsstandard Genüge zu tun“. In der Rasur
könne man „die symbolische Rückkehr in
eine vorpubertäre Kindheit erblicken“, in
eine im Intimbereich noch haarfreie Zeit,
„in den Stand der Unschuld“. Der Entblößungs- und Intimrasur-Zwang scheint die
Menschen zumindest augenblicksweise
in archaische Zeiten zurückversetzen zu
wollen, womit eine paradiesische Freiheit
jedoch noch nicht gewonnen sei.
Der Auftritt von Monica Lierhaus
Dass dennoch die Scham nicht einfach
verloren geht, weist Greiner bevorzugt
auf Feldern nach, die mit Sexualität oder
Nacktheit gar nichts zu tun haben. Er verweist unter anderem auf den Auftritt der
Fernseh-Sportmoderatorin Monica Lierhaus bei der Verleihung der Goldenen
Kamera nach schweren Komplikationen
einer Hirnoperation: Als ihre Wiederkehr
ins öffentliche Leben, auf die Bühne angekündigt wurde, sei der Beifall riesig gewesen. Doch er erstarb abrupt, als sie nach
vorn trat: „Sie ging wie ein Roboter, mit
gespenstisch abgehackten Bewegungen, sie
sprach mit einer seltsam leiernden Intonation, und sie wirkte wie die geisterhafte
Erscheinung aus einer jenseitigen Welt, gerade noch ins Leben zurückgekehrt. Nach
ihren Dankesworten bat sie den Lebensgefährten Rolf Hellgardt zu sich. Sie habe
noch etwas auf dem Herzen, sagte sie, und
sie würde, wenn sie es könnte, vor ihm auf
die Knie gehen: ‚Ich möchte dich fragen,
ob du mich heiraten willst.‘ Die Kamera,
die unterdessen ins Publikum blickte,
zeigte äußerst betroffene Reaktionen, Entgeisterung, Mitleid, peinliches Berührtsein spiegelten sich in den Mienen der
Zuschauer. Einige hatten Tränen in den
Augen, andere schlugen sich entsetzt die
Hände vors Gesicht … Wohl niemals zuvor
ist Peinlichkeit derart zu einem kollektiven
Medienereignis geworden.“ Der Grund sei
wohl, dass sich die Menschen trotz allem
ein feines Gespür bewahrt hätten dafür,
was ausschließlich das Persönliche angeht
und wo die Grenze zum Öffentlichen liegt.
Haltung bewahren, Contenance. Das mag
altmodisch erscheinen, hat aber nach wie
vor Bedeutung: Takt, Stil, Unterscheidung,
Diskretion.
Eigenartig ist, dass wir einerseits eine
Liberalisierung und Freizügigkeit sonder-
gleichen erleben, andererseits aber neue
Reglementierungen. Die Sexualisierung
und Pornografisierung des öffentlichen
Lebens wird auf anderen Feldern von einem neuen Puritanismus der Körperlichkeit begleitet: „Gesundheit ist die neue Religion des Zeitalters, und wer sich ihrem
Diktat verweigert, indem er dem Genuss
des Rauchens, Trinkens oder Essens bedenkenlos frönt, macht eine peinliche
Figur und sich selber unmöglich.“ Er soll
sich schämen. Der Keuschheitsgedanke ist
vom Sexuellen ausgewandert in Selbstkasteiung unterschiedlichster Art. Man muss
seinen Körper stählen, den Leib in einem
exzessiven Fitnesskult asketisch drangsalieren. „Heute steht alles, was schmeckt
und Spaß macht, unter Verdacht: das
schnelle Auto ebenso wie die Zigarette,
der Schweinsbraten ebenso wie das Glas
Schnaps. Nichts scheint verwerflicher zu
sein als das sorglose Leben. Die Sucht
lauert an allen Ecken und Enden. Die
Magazine der Krankenkassen, die sich
nunmehr Gesundheitskassen nennen, die
Apothekerzeitschriften und die Sonntagsblätter sind zum Katechismus des richtigen Lebens geworden. Der Zölibat erntet
Hohn und Spott. Aber die Idee, sich einer
großen Sache so entschlossen zu widmen,
dass daneben kein Raum für Sinnlichkeit
und Muße mehr bleibt, hat in anderen
Sphären strikte Anhänger gefunden …
Obwohl der neue Puritanismus alles,
was Leistung ermöglicht und fördert, auf
seine Fahnen schreibt und jede Form der
Selbstertüchtigung preist, geißelt er zugleich die Spuren körperlicher Arbeit: den
Schweiß (man erinnere sich an das Foto
der Schweißflecke Angela Merkels unter
den Achseln ihres pfirsichfarbenen Kostüms bei Gelegenheit eines Bayreuth-Besuches, das durch die Medien ging); den
Geruch, dessen Bekämpfung meterlange
Regale in den Drogeriemärkten versprechen; das Verschwitzte und Fettige, den
Schmutz überhaupt.“
Wie peinlich!
Greiner bemerkt, dass zahlreiche derartige Beobachtungen eher auf den Übergang von einer Schamkultur, die durchaus
mit Schuldbewusstsein zusammenhängt,
zu einer Peinlichkeitskultur schließen lassen. Was einst mit Scham besetzt war, dafür schämen sich heute viele nicht mehr.
Eher werden neue Peinlichkeitsregeln
aufgestellt für etwas, „was gar nicht geht“:
„no go“.
Das hänge womöglich mit neuen Unsicherheiten und einer neuen Unübersichtlichkeit des Lebens zusammen, was diffuse
Ängste weckt. Greiner beschreibt sie so:
„die Angst, dem Markt der Anforderungen
nicht gewachsen zu sein, die Angst, ‚sangund klanglos einfach zu verschwinden, weil
wir plötzlich einfach nicht mehr gefallen.
Und deshalb schlagartig abrutschen, hinabschlittern, uns an nichts und niemanden
mehr halten können‘“, wie die Autorin Nina
Pauer in ihrem Buch „Wir haben keine
Angst“ bemerkt. Für Greiner zeigt sich dies
auch in der Angst vor einer festen Bindung,
vor Familie und Verantwortung, obwohl
sich doch angeblich alle Kinder wünschen.
„Dann die Angst, Position zu beziehen,
eine entschiedene Meinung zu äußern, und
diese Angst resultiert aus der Hauptangst,
peinlich zu sein, weil man für eine gehal-
ten wird, die ‚Latte Macchiati ‘ sagt; die auf
Facebook postet, was sie zu Mittag gegessen hat; die ihr Handy in einer Babysocke
mit Diddl-Maus-Anhänger trägt … Eine
probate Methode, solchen Peinlichkeiten
zu entgehen, besteht darin, sie zur Tugend
zu erklären, also absichtsvoll und auf ironische Weise peinlich zu sein …“
Wer sich zu viel schämt, zieht den Kürzeren. Das ist die vielleicht größte Furcht.
Entsprechend hat sich der pädagogische
und moralische Kodex der Gesellschaft
verändert – und damit das Erziehungsziel.
Einst sei es um Unterordnung und Anpassung gegangen. Heute geht es darum, den
Heranwachsenden für den Konkurrenzkampf zu stählen. „Die Fähigkeit, sich gut
darzustellen, sich gegen andere durchzusetzen und durch forciertes Auftreten
Geländegewinne zu erzielen, wird schon
früh eingeübt. Man schämt sich nicht, weil
man jemandem zu nahe getreten ist; man
schämt sich, weil man die Gunst des Augenblicks verpasst hat.“
Adam und Eva in uns
Scham unterscheidet sich für Ulrich Greiner von der bloßen Peinlichkeit wesentlich darin, dass sie mit dem Gewissen in
Verbindung steht. „Scham reagiert unabhängig von kollektiven Verbindlichkeiten,
sie gründet im individuellen Gewissen.
Das Gewissen geht letztlich auf metaphysische, auf religiöse Überzeugungen
zurück, und es bildet sich über lange
Zeiträume der Erziehung und der Überlieferung. In den neuen Gemeinschaften
spielt es nur eine Nebenrolle. Hier ist
entscheidend, ob man dem Comment genügt, modern gesprochen: der politischen
Korrektheit.“
Wo Scham war, soll Peinlichkeit werden. Möglicherweise hat der Abbruch tief
existenziell empfundener Schamgefühle,
für die es gar keinen äußeren Beobachter
braucht, doch damit zu tun, dass die religiöse Grundierung infolge der gesamtreligiösen Erosion abgeblättert ist. Statt der
Schwere der Scham regiert die Leichtigkeit
der Peinlichkeit, statt der Sittsamkeit und
Moral die bloße Übereinkunft, die Konvention, die Etikette. Ob das einer Gesellschaft
auf Dauer guttut, ist die eine Frage. Ob die
bloße Peinlichkeit jemals die abgrundtiefe
Scham tatsächlich ersetzen kann und jemals ersetzen wird, die andere.
Möglicherweise gehört es doch weiterhin zum Wesen des Menschen und des
Menschlichen, sich vor sich selbst und vor
anderen zu schämen, wo es Grund dafür
gibt. Und sei es der letzte Grund: das Versagen vor dem Erhabenen, dem Göttlichen, Gott. Adam und Eva, die sich wegen
ihres Ungehorsams Gott gegenüber vor
ihm im Garten Eden zu verstecken versuchen, stecken weiter in unseren Knochen
und in unserer Seele. Man mag die
menschheitsgeschichtlichen Ahnen im
„neuen“ Menschen gern verdrängen. Dennoch bleiben sie uns treu, weichen nicht
von unserer Seite. Am Ende allen Schämens hoffen wir wie die „Stammeltern“ im
alttestamentlichen Buch Genesis auf eine
Barmherzigkeit, die uns Felle macht, uns
bekleidet, damit wir nicht länger nackt dastehen, damit wir nicht mehr den taxierenden, misstrauischen Blicken ausgesetzt
sind, weder denen der anderen noch denen von uns selbst.
CIG Nr. 29 / 2014
ZUM
INNEREN LEBEN
Raum Sehnsucht
H
err, mein Gott, ganz und gar Dich
suchen und Dich finden in den
Zeichen der Zeit. Ganz und gar mich
ausstrecken nach Dir und Dir begegnen
im Antlitz der Menschen. Widerstände
aushalten und dennoch das Lebensschaffende tun. Anfangen und glauben,
dass Du das Unmögliche wahr machst.
Gebrochen werden. Sterben wie ein
Samenkorn, und in den kleinen Dingen
die Welt verändern. Ganz und gar der
Sehnsucht Raum lassen und glauben,
dass Du Zukunft eröffnest.
Mirjam Schambeck in: „Von der
Sehnsucht bewegt“ (Topos plus, Kevelaer
2014)
Schöpfer des Nichts
D
as Unaussprechliche, das Unbegreifliche an sich ist nicht schon
identisch mit der Gotteserfahrung. Der
Tod des Ego, von dem praktisch alle
spirituellen Überlieferungen sprechen,
ist etwas sehr Reales mitten im Leben.
Der „Auferstandene“, der in der Gnade
Gefestigte, der Verwirklichte – solche
Menschen sind bereit für die Gotteserfahrung. In ihnen ist aller Egoismus
gestorben. Aus dem alten Menschen
wird ein neuer Mensch. Man muss
„nichts“ sein, um in uns den Schöpfer
des Nichts zu erfahren.
Raimon Panikkar aus: „Was Menschen
bewegt: Weisheit“ (Kreuz, Freiburg 2014)
Wie von selbst
I
m Markusevangelium heißt es: „Mit
dem Reich Gottes verhält es sich so,
wie wenn ein Mensch Samen auf die
Erde gestreut hat, und er schläft ein und
er erwacht. Nacht und Tag, und der
Same sprosst und wird groß – er weiß
selbst nicht wie. Von selbst bringt die
Erde Frucht“ (4,26–28).
Das betont vorangestellte „von
selbst“ (griechisch automátä, „automatisch“) erschließt die Botschaft dieses
Gleichnisses. Ein Mensch hat – offensichtlich zur rechten Zeit – Samen
ausgestreut auf die Erde, mit der er sich
verbunden weiß. Von einem größeren Zusammenhang umfangen, eben
dadurch, dass da jemand den ReichGottes-Bezug realisiert, in dem er
existiert, kann es geschehen oder wird
es geschehen, dass sein diesem WeltKontext einzig gemäßes Handeln ohne
eigenes Zutun ohne Erfolgskontrolle
und Nachjustierung, „wie von selbst“,
eine ganz außerordentliche Wirkung
entfaltet. Mit dem Verstand ist es nicht
zu begreifen. Es ist wie ein einzigartiges, in seiner Dynamik ganz überwältigendes Wunder, was da wächst, reift
und Frucht bringt im Reich Gottes.
Claus Petersen in: „Weltverbunden leben“
(Fenestra, Wiesbaden 2013)
Spiritualität / Politik 325
Demokratie exportieren?
Deutschland soll international
mehr Verantwortung übernehmen,
heißt es immer wieder. Doch wie?
Von Heinz Theisen
B
undespräsident Joachim Gauck,
Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatten verschiedentlich verlangt, dass Deutschland mehr
weltpolitische Verantwortung übernehmen
solle und dazu eventuell militärische Expeditionen in ausländische Krisengebiete und
Konfliktzonen unternehmen muss. Allerdings wurden die vorangegangenen Fehler
vielfacher Interventionspolitik der westlichen Verbündeten bisher weder intensiv
analysiert noch thematisiert. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dazu jedenfalls
keine klare Meinung öffentlich geäußert.
Wir erhalten auch keine Hinweise, an welcher Art von Konflikten wir uns künftig
zu beteiligen haben. Es blieb bei eher allgemeinen moralisierenden Hinweisen auf
Deutschlands Verpflichtung, für das Gute
in der Welt einzutreten. Von einer durchdachten außenpolitischen Interventionsstrategie sind wir weit entfernt.
Warum fallen unseren Politikern und
Medien die Analysen auf diesem Feld so
schwer? Es liegt wohl daran, dass die Ursachen des Scheiterns mit besten Absichten
verbunden sind. Dem militärischen Einschreiten des Westens im Ausland liegen
allerdings vorrangig sehr eigenmächtige
Interessen zugrunde, wie man unter anderem in Afghanistan und im Irak gesehen
hat. Die Begründung, demokratische Verhältnisse fördern zu wollen, wurde ja bloß
zur „Beruhigung“ der eigenen Bevölkerung
nachgeschoben. In Afghanistan wollte man
den Al-Qaida-Leuten schlichtweg einen
Denkzettel verpassen. Was den Irak betrifft, ging es weniger darum, Massenvernichtungswaffen, die es dort gar nicht gab,
zu vernichten, als vielmehr die Region für
Zugänge zum Öl – einschließlich der dazugehörigen Transportwege – zu sichern. Zudem sollte eine starke militärische Präsenz
nahe dem Iran aufgebaut werden.
Die Opfer freier Wahlen
Die vom Westen in den fremden Ländern
mit Clan-Kulturen geforderten „demokratischen“ Strukturen entfesseln in den
dortigen Oligarchen- und Mafia-Strukturen eher Stammesfehden, Separatismus,
Bürgerkriege – jetzt der Vormarsch der
Milizen des „Islamischen Staats im Irak
und Groß-Syrien“ (Isis) mit der Errichtung eines Kalifats. Die ideologische, fast
schon religiöse Fixierung auf „Demokratie“ und „Liberalismus“ übersieht, dass
eine parlamentarische Parteienstruktur in
jenen autokratischen Gegenden oft mehr
Schaden als Nutzen anrichtet. Die liberale
Demokratie ist eine kulturgebundene und
nur unter bestimmten Voraussetzungen zu
verwirklichende Errungenschaft. Sie ist gewissermaßen das Dach, welches nicht vor
den Stockwerken Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft einem Staatswesen aufgesetzt werden kann.
Insbesondere für die Christen im Orient erweist sich die Forderung nach angeblicher „Demokratisierung“ im Nahen
und Mittleren Osten als Tragödie. Sie sind
vielfach zu Opfern von „freien“ Wahlen
geworden. Wo radikale Muslime oder
schwächliche Demokratien nicht willens
oder nicht in der Lage sind, das Mehrheitsprinzip mit dem Schutz von Minderheiten
zu verbinden, sind ethnische oder religiöse
Minderheiten gefährdeter als in säkularen
Diktaturen. Es war das frei gewählte Parlament Afghanistans, welches die Scharia
einschließlich der Todesstrafe für Konvertiten einführte. Es ist der vom Westen
nach Saddam Husseins Sturz „zwangsdemokratisierte“ Irak, in dem die Christen als
„Freunde des Westens“ hunderttausendfach verfolgt und drangsaliert worden sind
und werden – nicht vom irakischen Staat,
sondern von fundamentalistischen Muslimen, denen gegenüber die Staatsmacht
ohnmächtig ist. Die Zahl der zumeist chaldäischen Christen ist seit der Intervention
von 1,5 Millionen auf 600 000 geschrumpft.
Es ist eine Schande, dass dieser Begleitschaden westlichen Übermuts und
westlicher – ganz anders gelagerter – Interessen kaum zur Sprache gebracht wird.
Der Westen muss sich sogar unwillentliche
Verstrickung in Christenverfolgung vorhalten lassen. Nach Nordkorea gehören die
Hauptverfolgungsländer allesamt zum islamischen Kulturkreis. Irak und Afghanistan
stehen auf Platz vier und fünf der Verfolgerliste. Das mit dem Westen militärisch
und wirtschaftlich eng verbündete SaudiArabien folgt auf Platz sechs.
Der politische Universalismus ist tief in
unserem christlichen und aufklärerischen
Denken verankert, allerdings ohne die
dazugehörende Einsicht in dessen Begrenzungen, in die Sündhaftigkeit der menschlichen Natur und in die Grenzen der Vernunft. Er lebt daher vor allem in Gestalt
illusionistischer moralischer Appelle weiter. Unsere verweltlichten Eliten blenden
aus, dass die moderne Demokratie entstehungsgeschichtlich fest mit dem Christentum und der westlichen Aufklärung
verbunden ist. Echte liberale Demokratien
existieren – mit ganz wenigen Ausnahmen – ausschließlich auf dem Boden einst
christlicher Gesellschaften und Kulturen.
Eine aufrichtige Analyse der Weltlage kann
angesichts der fast zwanghaften Ausklammerung des Religiösen durch unsere profanierten Eliten nicht gelingen.
Daher kann das erste Ziel westlicher
„Aufbau“-Phantasien in anderen Ländern
nicht die Errichtung eines „demokratischen“ Staatswesens in unserem Sinne
sein. Vielmehr müssen zuerst Voraussetzungen und Vorstufen gefördert werden
durch Verteidigung von Religionsfreiheit
und Säkularität, durch das Schaffen eines
Bürgerbewusstseins. Für den langfristigen
Aufbau von Demokratien müssen kreative
und sozial engagierte Minderheiten wie die
Christen geschützt und unterstützt werden.
In vielen islamischen Gesellschaften tragen
sie weit über ihren Anteil an der Bevölkerung hinaus hoch engagiert zu Wirtschaftswachstum, sozialer Arbeit und Bildung
bei. Das Engagement für die Christen in
islamischen Gesellschaften wäre zugleich
vorbildlich für weitere Minderheiten.
Im Zusammenprall sowie Wettbewerb
der Kulturen sind säkulare Diktaturen oftmals das kleinere Übel. Denn radikalislamische „Demokraten“, die einmal an die
Herrschaft gekommen sind – wie zunächst
die Muslimbrüder und Salafisten in Ägypten –, neigen dazu, Minderheiten zu unterjochen und das Demokratische gleich wieder auszuhebeln. Eine künftige westliche
Außenpolitik sollte sich statt um demokratisches sogenanntes Nation Building, also
das Aufbauen einer Nation, erst einmal um
die Minderheitenrechte bemühen.
Die Uno- oder Nato-Truppen müssten
sich noch weitaus defensiver bescheiden mit
Eindämmungsstrategien. Damit würde sich
der Westen auf dem vertrautem Gelände
des Kalten Kriegs bewegen. Im Kalten Krieg
haben nicht Interventionen, sondern einzig
Eindämmung und Koexistenz, verbunden
mit geistiger „Werbung“ und ökonomischer
Stärke zugunsten der Freiheit, den Weltfrieden zu bewahren vermocht. Die demokratische Befreiung bleibt den Völkern selbst
aufgetragen.
Zuerst Minderheiten schützen
Wir überfordern und überdehnen uns bereits, wo wir uns nur im Rahmen demokratischer Gemeinschaften bewegen. Für UnoMandate im Sicherheitsrat braucht es auch
die Zustimmung Russlands und Chinas. Im
Kampf um die Bewahrung der Zivilisation
kann sich der Westen keine Dauerkonflikte
mit diesen Mächten leisten. Obwohl sich
Russland wieder als christliches Land versteht, welches sich auch um die orthodoxen
Christen in Syrien sorgt, wird es wegen
seiner demokratischen Defizite nicht als
Bündnispartner in Betracht gezogen. Für
eine neue Weltaußenpolitik sind Russland
und China jedoch notwendige Partner. Sie
werden in ihrer Hemisphäre ebenfalls mit
dem Radikal-Islam konfrontiert.
Angesichts der weltweiten Herausforderung durch radikale Muslime sollten die
geopolitischen Nachhutgefechte zwischen
den Ländern der untergegangenen Sowjetunion – wie im Fall der Krim – deutlich
niedriger gehängt werden. Die sich hinter
den Kämpfen in der Ukraine auch verbergenden Konflikte zwischen westkirchlichen und ostkirchlichen Kulturen sind gegenüber dem Kampf des militanten Islam
gegen Christentum und säkulare Gesellschaften vergleichsweise unwichtiger. Die
Empörungsrituale westlicher Regierungen
zeigen ihren fortdauernden politischen
Universalismus, der sich gegen jedwedes
Unrecht engagieren möchte, sich damit
heillos überfordert und darüber die heute
entscheidende kulturelle Bedrohung für
Christentum und Aufklärung verdrängt.
Der militante fundamentalistische Islam dringt insbesondere in Afrika sowohl
in christlichen als auch in stärker säkularen
Ländern vor. Die Radikalisierung, oft verbunden mit islamisch-terroristischen Aktivitäten, löst neue Wanderungsbewegungen
nach Europa aus. Auf Dauer gehört der
Schutz religiöser Minderheiten in den Mittelpunkt einer wertgebundenen westlichen
Außenpolitik.
326 Geschichte
M
it der Ausrufung eines Kalifats im
Irak kopieren die Extremisten der
Milizen „Islamischer Staat im Irak und
Groß-Syrien“ (Isis) eine jahrhundertealte
Begründungsstrategie. „Die Dschihadisten-Gruppe nutzt einen Vorteil am Konzept des Kalifats, den beispielsweise schon
Berber oder turkmenische Stämme vor
Jahrhunderten“ zum Machtgewinn verwendet haben: „Die Herrschaft eines Kalifen ist nicht an ein Territorium gebunden,
sondern erhebt universalen Anspruch“, erläuterte der Islamwissenschaftler Marco
Schöller an der Universität Münster. Isis
proklamiere einen weltweiten Dschihad
und mache auch der Vormachtstellung von
Al-Qaida Konkurrenz.
Das arabische Wort khalifa bedeutet so
viel wie „Nachfolger“. „Khalifa Rasul Allah“, „Nachfolger des Gesandten Gottes“,
lautete der Titel für die Nachfolger Mohammeds. Das Kalifat entstand nach dessen Tod 632, weil er lediglich weibliche
Nachkommen hinterließ. Die ersten vier
Nachfolger Mohammeds wurden auf verschiedene Weise gewählt oder bestimmt.
Die Namen der sogenannten vier rechtgeleiteten Kalifen – Abu Bakr, Umar, Uthman, Ali – finden sich in vielen Moscheen.
Sie gelten ebenfalls als Gottesgesandte. Ihnen haftet die Aura der Unfehlbarkeit an.
In der Islamgeschichte folgte auf Alis
Kalifat das der Ommayaden und Abbasiden, die ein dynastisches Nachfolgeprinzip
bevorzugten. Dadurch wurde das Prinzip,
dass der Kalif auch über besondere moralische und religiöse Tugenden verfügen
muss, verwässert. Auf die „rechtgeleiteten
Kalifen“ folgte eine Reihe von unrechtmäßigen Kalifen. Oftmals bestanden zwei
oder mehrere Kalifate parallel, bis das eine
über das andere siegte. Die faktische Macht
war immer ein besseres Argument für die
Fortsetzung der Institution als die religiöse
Nr. 29 / 2014 CIG
Das Kalifat
Seit dem Untergang des letzten Kalifats 1924 ist in der islamischen Welt
ein Vakuum entstanden, in das jetzt terroristische Kalifatsgründungen
wie die im Irak eindringen.
Legitimierung. Kalifen sollten nach den ursprünglichen Regeln direkte Nachfahren
Mohammeds sein oder zumindest dessen
Stammesangehörige. Doch über die Familienverhältnisse des Islamgründers wurde
schon zu Lebzeiten Mohammeds gestritten
und spekuliert. Nach seinem Tod verstärkten sich diese Konflikte noch.
Es wurde freilich nie abschließend geklärt, auf welche Weise das Kalifat weitergegeben wird. Als theokratische sunnitische Staatsform bestand das Kalifat zwar
bis 1924. Aber es wurde immer mehr zu
einer idealisierten Herrschaft, die im Lauf
der Zeit von Rechtsgelehrten ständig neu
definiert wurde. Während sich in Spanien
und Marokko beispielsweise verschiedene
Kalifate bekämpften, wurde im Nahen Osten durch das Vordringen der Türken das
Kalifat vom Sultanat übernommen und
aufgehoben. Als der letzte Kalif durch die
Osmanen abgesetzt wurde, hatte die Institution schon längst nicht mehr viel mit den
Vorstellungen der islamischen Urgemeinde
gemein. Eine Abstammung vom Gründer
Mohammed in direkter Folge konnte der
osmanische Kalif nicht glaubhaft begründen. Unter den Türken war das Kalifat nur
noch gut zur Begründung kolonialer Herrschaftsansprüche.
Die Abschaffung des Kalifats im osmanischen Reich wurde unter Muslimen als kleiner „Weltuntergang“ erlebt. Deshalb unternahm bereits 1925 der Scharif von Mekka,
Husayn, den Versuch, sich selbst zum Kali-
fen auszurufen, jedoch ohne Erfolg. Seit den
dreißiger Jahren unterstützten auch die
westlichen Mächte Versuche der Wiedererrichtung eines Kalifats. Besonders die Engländer, in deren Land sich der letzte Kalif
geflüchtet hatte und die auch den Scharifen
von Mekka unterstützten, taten sich hierbei
hervor, neben den Franzosen, die den Bey
von Tunis, einen ihrer Günstlinge, zum Kalifen erheben lassen wollten.
1931 fand in Jerusalem ein islamischer
Kongress zur Kalifatsfrage statt, bei dem
sich eine große Mehrheit der Islamgelehrten darauf verständigte, dass man in Abwesenheit eines Kalifen die Einigkeit der arabischen Völker bekräftigen und den
religiösen Zusammenhalt auch ohne Kalifat stärken sollte. Dieser Kongress war der
Vorläufer der panarabischen Bewegung,
aus der 1944 die Arabische Liga entstand.
Seit dem Wiedererstarken des radikalen
Islam infolge des Aufstiegs Saudi-Arabiens
zur weltgrößten Ölmacht unterstützt das
Königreich überall radikalislamische Strömungen, die wie die Wahhabiya, die Staatsideologie Saudi-Arabiens, ein Zurück zur
Urzeit des Islam auf ihr schwarzes Banner
schreiben. Das eigene Königshaus zum
Kalifat auszurufen, ist Saudi-Arabien
schlechterdings unmöglich, weil keinerlei
verwandtschaftliche Verhältnisse zu Mohammed und den Nachfolgern belegt sind.
Dafür unterstützt das Königshaus radikale
Strömungen, solange sie nicht dem eigenen
Anspruch gefährlich werden.
Parallel zum Aufstieg der fundamentalistischen extremen Muslime gab es einen
Machtverlust der Arabischen Liga. Die Kalifatsnostalgie geht mit einer Wiederaufwertung der religiösen Aspekte einher, was sich
jetzt mehr und mehr Terrorgruppen zunutze machen. Marco Schöller: So wie das
Kopftuch für Musliminnen wieder vermehrt
als religiöses Symbol verstanden wird, habe
auch die geistliche Bedeutung des Kalifats
an Gewicht gewonnen. In den letzten Jahren
wurden bereits in Tunesien, Libyen und
Westafrika Kalifate ausgerufen. Auch der
hierzulande als „Kalif von Köln“ 2004 verurteilte Muhammad Metin Kaplan verstand
sich als legitimer Nachfolger Mohammeds.
Abu Bakr Al-Bagdadi, der neu ausgerufene Kalif der Terrorgruppe Isis, hat nach eigenen Angaben islamische Theologie studiert, was, wie Marco Schöller erklärt, den
religiösen Anspruch „bei vielen seiner Anhänger noch bestärkt“. Er fordert von allen
Muslimen weltweit Gefolgschaft. An den
eigenen Namen hat er die drei Namen alHaschimi, al-Husseini und al-Qureischi angefügt. Vor allem die letzten beiden Namensteile sollen belegen, dass der in Samarra
geborene Iraker zugleich von den Haschemiten und dem Stamm der Qureisch
abstammt, denen auch Mohammed angehörte. Ob Al-Bagdadi seine Herkunft tatsächlich auf den Religionsgründer zurückführen kann, ist kaum nachprüfbar. Aber
bereits deren Behauptung verleiht dem
neuen Kalifen eine Autorität. Insbesondere
für die Königshäuser von Jordanien und
Marokko, die als Nachfahren Mohammeds
anerkannt sind, bedeutet dieser Anspruch
eine ernste Infragestellung ihrer Herrschaft. Diese zwei Monarchien gehörten
bislang – trotz aller Umstürze und Umbrüche, die mit der Arabellion zusammenhängen – zu den wenigen Polen der Stabilität in
der Region.
Bodo Bost / red
Nie wieder: eine Schande Christi
Z
u den großen spirituellen Dokumenten
des 20. Jahrhunderts gehören – in der
religiösen Szene viel zu wenig präsent – die
Gefängniszeugnisse von Helmuth James
von Moltke und – inzwischen bekannter –
Alfred Delp. Besonders deren Briefe und
Dokumente nach ihrer Verurteilung zum
Tode sind bewegende Zeugnisse eines entschiedenen christlichen Glaubens, „innerlich“ und „äußerlich“ zugleich. Durch die
Veröffentlichungen von Roman Bleistein
über Delp und Günter Brakelmann zu von
Moltke ist deren Lebenswerk anschaulich
mitzuvollziehen.
Weniger präsent ist, dass es sich im sogenannten Kreisauer Kreis ja um gut zwanzig
Freunde handelte, die sich seit dem Initiativgespräch zwischen von Moltke und Yorck
von Wartenburg 1942 in Berlin schrittweise
sammelten und in drei großen Geheimtreffen auf dem schlesischen Gut Kreisau ihre
Vorstellungen für ein neues Deutschland
interdisziplinär zusammentrugen.
Insofern ist die Studie des Historikers und
Politikwissenschaftlers Klaus Philippi sehr
hilfreich, weil sie mit Hilfe der sozialwissenschaftlichen „Netzwerktechnik“-Forschung
das Entstehen des Kreisauer Kreises anschaulich verdeutlicht. Ganz unterschiedlich geprägte Persönlichkeiten kamen
aufgrund ihres sozialen, politischen und religiösen Engagements zu einer politischen
Visions-Arbeit zusammen und riskierten
damit sehenden Auges ihr Leben. Der Verfasser geht den lebensgeschichtlichen und
historischen Resonanzen und Verknüpfungen nach, die solch entschiedene Christen
und eben auch kirchenferne Persönlichkeiten wie zum Beispiel Carlo Mierendorff,
Julius Leber und Adolf Reichwein zusammenführten.
Das unglaubliche Unrecht der Nazis
war für sie ein zentraler Punkt, weshalb sie
sich verbündeten. Immer noch viel zu wenig bekannt ist freilich, wie sehr die in Tegel
schließlich gefangenen und auf ihren Tod
wartenden Widerstandsdenker, sofern sie
christlich entschieden waren, aus der Bibel
lebten. Weihnachten 1944 bedankte sich
der Jesuit Delp beispielsweise bei seinem
evangelischen Gefängnisnachbarn Eugen
Gerstenmaier mit der Bemerkung: „Die
geschichtliche Last der getrennten Kirchen
werden wir als Last und Erbe weiter tragen
müssen. Aber es soll daraus niemals wieder eine Schande Christi werden. An die
Eintopf-Utopien glaube ich so wenig wie
du, aber der eine Christus ist doch ungeteilt,
und wo die ungeteilte Liebe zu ihm führt, da
wird uns vieles besser gelingen, als es unse-
ren streitenden Vorfahren und Zeitgenossen
gelang.“ Wer könnte sagen, dass sich diese
inzwischen siebzigjährige Hoffnung schon
zureichend erfüllt hätte, gerade im Hinblick
auf die gesellschaftliche und politische Bedeutung einer christlichen Ökumene?
Gut ist, dass Klaus Philippi in einer eigenen Studie an jenen Freiburger Priester
erinnert, der ein Jahr vor Moltke und Delp
um seiner christlichen Widerstandskraft
willen hingerichtet wurde und in dessen
Wirken der damalige Erzbischof Conrad Gröber eine eher unrühmliche Rolle
spielte: Max Josef Metzger. Er war zweifellos ein Gesinnungsgefährte der Kreisauer,
wenn auch äußerlich weit ab von ihnen und
in seelsorglicher und durchaus politischer
Friedensarbeit unterwegs. Aber aufgrund
der christlichen Entschiedenheit und der
Beurteilung der Zeichen der Zeit war er der
Gruppe eminent zugehörig.
Auch in diesem Band zeigen die biografischen und persönlichen Unterschiede zwischen dem evangelischen Christen Moltke
und dem katholischen Priester Metzger
umso mehr die Wucht des ökumenisch Verbündenden und christlich Gemeinsamen.
Dass wer christlich glaubt, sich konkret und durchaus politisch einzumischen
habe, ist hier neu zu lernen – aktuell ge-
rade jetzt, wo viele sich mit einer „mystischen“ Innerlichkeit zufriedengeben und
bezüglich gesellschaftlicher – wie auch
ökumenischer – Verantwortung eher resignieren.
Gotthard Fuchs
Hier ist auch auf einen Sammelband zu verweisen, den der Alfred-Delp-Kenner Günther Saltin herausgegeben hat. In „Gesang
im Feuerofen“ lässt er die Bibellektüren von
Moltke, Delp und Gerstenmaier, die sich
1944 im Gefängnis in Berlin-Tegel wiedertrafen, lebendig werden.
red
Klaus Philippi
Die Genese des „Kreisauer Kreises“
(epubli, Berlin 2013, 427 S., 34,75 €)
Ders.
Max Josef Metzger – Graf Helmuth
James von Moltke
Zwei Opfer des Nationalsozialismus. Eine
Gegenüberstellung (epubli, Berlin 2012,
218 S., 21,99 €)
Günther Saltin
Gesang im Feuerofen
Die ökumenische Bibellektüre von Helmuth
James Graf von Moltke, Alfred Delp, Eugen
Gerstenmaier und Joseph-Ernst Fugger von
Glött in der Haftanstalt Berlin-Tegel (Echter,
Würzburg 2014, 247 S., 29 €)
Kirche / Bibel 327
CIG Nr. 29 / 2014
Baustelle Vatikanbank
Der Chef-Kontrolleur der
Vatikanbank hat 3000 Konten
geschlossen und 200-mal Anzeige
wegen Geldwäsche erstattet. Jetzt
wird er ausgetauscht.
E
rnst von Freyberg hat als Aufsichtsratsvorsitzender des „Instituts für religiöse Werke“, wie die Vatikanbank offiziell
heißt, sämtliche Konten kontrolliert. „Wir
haben 16 300 Kunden geprüft. Die Bank ist
jetzt sauber! Das war mein Ziel“, erklärte
er kurz und prägnant der „Bild“-Zeitung.
Auf den ersten Blick hört sich diese Bilanz
wie eine reine Erfolgsgeschichte an. Denn
mit diesem Auftrag war der deutsche Jurist
und Unternehmensberater noch von Papst
Benedikt XVI. 2013 berufen worden. Die
Bank war seit Jahrzehnten mit Geldwäsche
sowie dubiosen mafiösen Geschäften und
zweifelhaften Beziehungen zur italienischen
Politik in Verbindung gebracht worden.
Doch nach nur siebzehn Monaten im Amt
tritt von Freyberg nun ab. Offiziell heißt es,
dass die erste Phase des Umbaus geschafft
sei. Neben der Kontenüberprüfung werden
mittlerweile Jahresbilanzen vorgelegt. Es
gibt strengere Regeln gegen Geldwäsche
und mehr Transparenz. Für die anstehende
Phase der Neuorientierung werde jemand
benötigt, der den Posten als Vollzeitstelle
ausfüllt – von Freyberg war zwischen Rom
und seinem deutschen Wohnsitz gependelt
und hatte weitere Posten inne.
Bertones „Geschenk“
Als kompromissloser Sanierer hat er sich allerdings nicht nur Freunde im Vatikan gemacht, wie von Freyberg selbst anmerkte. Er
erstattete nach eigenen Angaben 200-mal
Anzeige wegen des Verdachts auf Geldwäsche, schloss 3000 Konten zwangsweise und
kündigte „nahezu alle Beratungsverträge bei
der Bank“. Als Rückschlag gilt der Fall des
Monsignore Nunzio Scarano. Dieser flog in
von Freybergs Amtszeit auf, als er versuchte,
zwanzig Millionen Euro mit Hilfe eines Geheimagenten aus Italien in die Schweiz zu
schaffen. Der langjährige Rechnungsprüfer
der vatikanischen Güterverwaltung Apsa
wickelte seine Geschäfte über mehrere Konten bei der Vatikanbank ab. Bis heute gibt es
immer wieder neue Vorwürfe gegen den unter Hausarrest stehenden Geistlichen. Ein
rechtskräftiges Urteil steht aber aus.
Bei der Vorstellung der erst zweiten
Jahresbilanz in der Geschichte des 1942
gegründeten Instituts musste von Freyberg auch noch einen Gewinneinbruch
vermelden: von 86,6 Millionen Euro 2012
auf nicht einmal mehr drei Millionen im
Folge-Jahr. Wie die „Frankfurter Allgemeine“ berichtete, wies von Freyberg darauf
hin, dass der Nettoertrag wie im Vorjahr
bei rund 70 Millionen Euro gelegen habe.
„Doch danach hätten noch die Lasten der
Vergangenheit bereinigt werden müssen,
mit Abschreibungen auf Anlagen von
28,5 Millionen Euro, dem Verbuchen eines
‚Geschenks‘ von 15 Millionen Euro oder
Beraterkosten für die Säuberungsaktion
von 8 Millionen Euro.“ Bei der 15-Millionen-Euro-Schenkung handelt es sich der
Katholischen Nachrichten-Agentur zufolge
um den Ankauf von letztlich wertlosen
Wandelanleihen, mit denen der frühere
Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone einem befreundeten Filmproduzenten „aus
der Patsche geholfen“ haben soll. Der unter
Papst Benedikt XVI. zweitmächtigste Mann
in der vatikanischen Verwaltungsbehörde
war noch bis Ende 2013 Vorsitzender eines Kardinalsrats, der die Vatikanbank beaufsichtigte. Mit der neuen, transparenten
Berichtspraxis soll Bertone nicht zufrieden
gewesen sein.
Insgesamt Stoff genug, dass nicht nur
italienische Medien vermuten, mächtige
Kreise innerhalb des Vatikan steckten hinter der Ablösung von Freybergs, der selbst
Intrigen in der Behörde beklagte: „Manchmal hat man das Gefühl, dass sich gerade
an der Kurie nicht nur die besten Köpfe,
sondern auch große Intriganten tummeln.“
Pells Transparenz
Die „Süddeutsche Zeitung“ vermutet hingegen, dass von Freyberg „nach seiner
Schwerstarbeit keine Lust hat, mit reduzierter Verantwortung dazustehen“. Zum
einen wird die künftige Zielgruppe für die
Finanzdienstleistungen des „Instituts für
religiöse Werke“ nahezu ausschließlich aus
Ordensgemeinschaften, Angestellten und
Pensionären des Vatikan, Bischofskonferenzen, Bistümern und beim Heiligen
Stuhl akkreditierten Diplomaten bestehen.
Zum anderen – so vermutete die SZ –
könnten die Reformideen aus dem Kreis
der ehemals acht, mittlerweile neun Kardinäle, die Papst Franziskus als sein Beratergremium für die Kurienreform installiert
hat, die Kompetenzen der Vatikanbank
und damit auch die ihres AufsichtsratsPräsidenten stark beschneiden.
Für diese Erklärung spricht, dass die
Vatikanbank in die von Papst Franziskus
neu geschaffene Struktur eines Wirtschaftssekretariats eingefügt werden soll, das für
sämtliche Finanz- und Wirtschaftsfragen
zuständig ist. Geleitet wird dies von dem
Australier Georg Pell, der dem Rat der
neun Kardinäle angehört. Pell hat bereits
angekündigt, dass er die Güterverwaltung
des Apostolischen Stuhls Apsa, die das Vermögen und die Immobilien des Vatikan
verwaltet, zu einer Art Zentralbank aufwerten will. Auch von Freybergs Nachfolger, der Franzose Jean-Baptiste de Franssu,
gilt als Vertrauter des australischen Kardinals. Der Wirtschaftswissenschaftler und
Unternehmensberater gehörte bereits der
Kommission an, die die Wirtschafts- und
Finanzorganisation des Vatikan im Auftrag
des Papstes durchleuchtete. Außerdem ist er
Teil des von Kardinal Reinhard Marx geleiteten Wirtschaftsrats, der das übergeordnete
Wirtschaftssekretariat kontrollieren soll –
so zumindest die bisher bekannte Struktur.
Franssus ältester Sohn wiederum ist bei der
Finanzberaterfirma tätig, die im Auftrag
von Freybergs die Konten der Vatikanbank
prüfte. Franssu kündigte an, den Weg seines
Vorgängers fortzusetzen.
Welche Gründe für das Ausscheiden
von Freybergs tatsächlich ausschlaggebend
waren, darüber lässt sich momentan nur
spekulieren. Das Beispiel zeigt jedoch, wie
schwierig es für Papst Franziskus ist, die
angekündigte Kurienreform konkret umzusetzen.
sun
DIE SCHRIFT
Anstößige Texte (11)
Gott von Versuchung abhalten?
Z
ur Frage, ob Gott in Versuchung
führt, hat sich gezeigt, dass die Antworten des Neuen Testaments nicht auf
eine Linie zu bringen sind. Außerdem
war ein weites Bedeutungsspektrum des
griechischen Verbs peirazein zu erkennen, das übersetzt wird mit „in Versuchung führen“ (vgl. Folge 10). Kann diese
Weite dabei helfen, die letzte VaterunserBitte zu verstehen? Folgendes Problem
stellt sich: Muss Gott durch eine Bitte
davon abgehalten werden, den Menschen
in Versuchung zu führen? Ist sogar damit
zu rechnen, dass Gott in böser Absicht
dem Menschen Fallen stellt?
In der Vaterunser-Bitte ist das Moment der Versuchung durch ein Substantiv ausgedrückt: peirasmos. Die deutsche
Übersetzung „führe uns nicht in Versuchung“ folgt also der griechischen Textstruktur. Diese ist für manche Ausleger
der Anlass, an eine bestimmte endzeitliche Vorstellung zu denken. Gemeint sei
nicht irgendeine „Versuchung“, sondern
die endzeitliche Bedrängnis, die sich vor
der Heilsvollendung ereignen sollte. Vor
eben dieser Not soll Gott bewahren
beziehungsweise soll der Beter in dieser
Not bestehen. Aber in den Stoffen der
Jesusüberlieferung, in denen endzeitliche
Wirren zur Sprache kommen (etwa in
Mk 13,7–20), ist das Wortfeld von „Versuchung“ nicht belegt. Außerdem ist die
Vorstellung von den endzeitlichen Katastrophen für die Jesusüberlieferung im
Ganzen nicht kennzeichnend. Dass Jesus
sich im Gebet, das er seine Jünger gelehrt
hat, darauf bezogen hat, ist deshalb unwahrscheinlich.
Ein Zugang zu einer anderen Antwort
eröffnet sich, wenn man nicht außer Acht
lässt, an wen sich das Gebet richtet. Gott
wird als „Vater“ angesprochen. Die Beter
können demnach nicht meinen, Gott
durch ihre Bitte von übelwollenden Ak-
tionen abhalten zu müssen. Im Matthäusevangelium ist dies durch die Einleitung
des Vaterunser noch unterstrichen. „Euer
Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr
ihn darum bittet“ (6,8). Dann ist die Bitte
nicht in einem Zweifel an der Güte Gottes
begründet. Sie lässt sich auch so deuten,
dass Gott solche Situationen verhindern
möge, in denen der Mensch in seinem
Verhältnis zu Gott versagen könnte. So ist
die Bitte als Ausdruck der Demut zu
verstehen: Man weiß um die eigene
Schwäche und bittet deshalb um die
Bewahrung vor jeder Erprobung. Blicken
wir auf das erhobene Bedeutungsspektrum des zugrundeliegenden griechischen Begriffs, so verbindet sich mit
„Versuchung“ in der Vaterunser-Bitte
nicht die Absicht, ein Scheitern zu provozieren. Angeknüpft wird vielmehr an der
Sinnlinie „Erprobung durch Gott“. Jedoch
wird um Bewahrung vor solcher Erprobung gebetet, weil der Beter unsicher ist,
ob er sie besteht.
Im Matthäusevangelium wird diese
Bitte aufgegriffen in der Anweisung Jesu
an seine Jünger im Garten Getsemani:
„Wacht und betet, damit ihr nicht in
Versuchung geratet“ (26,41). Die Einbindung in diese Szene zeigt, dass die Versuchung im Rahmen der Passion gedeutet
wird. Sie nicht zu bestehen heißt, Leiden
und Tod Jesu nicht als den Weg des
Messias akzeptieren zu können. Hier
scheint „Versuchung“ schon fast gleichbedeutend mit „Versagen“ zu sein. Die
Jünger, die schlafen, statt um Bewahrung
vor jener Versuchung zu beten, beenden
denn auch die Nachfolge angesichts der
Verhaftung Jesu (26,56). Der Sinn der
Vaterunser-Bitte lässt sich aber nicht auf
diesen Zusammenhang beschränken. In
sie kann jede Situation aufgenommen
werden, die zum Scheitern der Gottesbeziehung führen könnte.
Gerd Häfner
Bischöfinnen in der Kirche von England
D
ie Reaktion der katholischen Kirche
war abzusehen: Die Öffnung des Bischofsamts für Frauen in der Kirche von
England erschwere den ökumenischen Dialog erheblich, erklärte etwa Giovanni Maria
Vian von der offiziösen Vatikanzeitung „Osservatore Romano“. Die Generalsynode der
Anglikaner hatte mit Zweidrittelmehrheit in
allen drei Häusern – Bischöfe, Kleriker,
Laien – beschlossen, dass Frauen Bischöfinnen werden können. Nachdem 1992 das
Priesteramt für Frauen geöffnet worden war,
hatte die Synode bereits 2005 grundsätzlich
die Zulassung von Frauen zum Bischofsamt
befürwortet. Seitdem wurde jedoch um die
kirchenrechtlichen Änderungen gerungen.
Zuletzt war im November 2012 das Vorhaben gescheitert, weil bei den Laien sechs
Stimmen zur notwendigen Zweidrittelmehr-
heit fehlten. Damals hatten auch Befürworter der Weihe von Frauen erklärt, dass sie
gegen den Gesetzentwurf gestimmt hätten,
weil ihnen die Kompromisse für die Gegner
zu weit gingen. Pfarreien, die eine Pfarrerin
oder Bischöfin ablehnen, haben auch künftig
Anspruch auf eine männliche Seelsorge.
Zu einer erneuten Abwanderungswelle
anglikanischer Christen zur katholischen
Kirche wie nach der Zulassung von Frauen
zum Priesteramt wird es diesmal wohl
nicht kommen. Allerdings werden sich die
Gräben weiter vertiefen. Während unter
anderem in Amerika, Australien, Irland,
aber auch in Südindien und Kuba Frauen
zu Bischöfinnen geweiht werden können,
lehnt dies die Mehrheit der anglikanischen
Nationalkirchen in Afrika, Asien und im
Mittleren Osten ab.
neu
328 Wochenliturgie / Leserbriefe
Nr. 29 / 2014 CIG
AUS DEN
LESERBRIEFEN
LITURGIE IM LEBEN
Gott – nein, Religion – ja: Der neue Trend?
Aufgerichtet
D
urch diese heilige Salbung helfe dir
der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des
Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von
Sünden befreit, rette dich, in seiner
Gnade richte er dich auf.“ Mit diesen
Worten wird jedem Kranken im Sakrament der Krankensalbung die Nähe
Christi zugesagt. Diese Sätze machen
zudem deutlich, dass das Verständnis der
Krankensalbung als bloßes Sterbesakrament zu kurz greift. Entsprechend hat
das Zweite Vatikanische Konzil in seiner
Liturgiekonstitution betont, dass die
sogenannte Letzte Ölung, „die auch –
und zwar besser – ‚Krankensalbung‘
genannt werden kann, nicht nur das
Sakrament derer (ist), die sich in äußerster Lebensgefahr befinden“ (Art. 73).
Krankheit und Tod sind Teil des
Lebens. Wo sie vorkommen – sei es, weil
ich selbst schwer krank bin, sei es, dass
ich Kranken oder Sterbenden begegne
und Mitleid empfinde –, erfahre ich nicht
nur die Begrenztheit meines und allen
Lebens und Könnens. Die Konfrontation
mit Leid und Tod kann auch zur Frage
nach dem Sinn und nach der Gegenwart
Gottes werden. Die Feier der Krankensalbung oder die Krankensegnung und
andere Feiern mit Kranken oder Sterbenden geben zwar keine letzte Antwort. Im
Angesicht des bedrohten Lebens setzen
sie in Wort und Tat jedoch Zeichen der
göttlichen Nähe.
Wo Christen Kranke besuchen und
Sterbende begleiten, schreiben sie sich
ein in die Spur Jesu. In den von ihm
überlieferten Erzählungen, wie er körperlich und seelisch erkrankte Menschen
geheilt hat, wird deutlich, dass Gott das
Heil des ganzen Menschen will. Von
Anfang an salbten Christen Kranke und
Sterbende, um ihnen dieses Heil zuzusagen. Mitten im Unheil schrieben sie so
die Geschichte von Gottes Heil fort und
hielten – wider allen Zweifel – die Hoffnung auf Gottes Leid und Tod überwindendes Ja gegenwärtig. Es ist ein Handeln, das zum Zeugnis werden kann,
mich in meiner Krankheit aufzurichten
und neu auszurichten. Matthias Mühl
16. SONNTAG IM JAHRESKREIS (A), 20. JULI 2014
1. Lesung: Der Glaube an den Gott, der für alles Sorge trägt (Weish 12,13.16–19).
2. Lesung: Der Geist Gottes selber tritt für uns mit Seufzen ein (Röm 8,26–27).
Evangelium: Lasst Unkraut und Weizen wachsen bis zur Ernte (Mt 13,24–43).
AN DEN WERKTAGEN
Mo., 21.7.: Montag der 16. Woche, Les.: Mi 6,1–4.6–8, Ev.: Mt 12,38–42;
oder hl. Laurentius von Brindisi, Ordenspriester, Kirchenlehrer.
Di., 22.7.: Hl. Maria Magdalena, Les.: Hld 3,1–4a oder 2 Kor 5,14–17,
Ev.: Joh 20,1–2.11–18.
Mi., 23.7.: Hl. Birgitta von Schweden, Mutter, Ordensgründerin, Schutzpatronin
Europas, Les.: Gal 2,19–20, Ev.: Joh 15,1–8.
Do., 24.7.: Les.: Jer 2,1–3.7–8.12–13, Ev.: Mt 13,10–17; oder hl. Christophorus,
Märtyrer in Kleinasien; oder hl. Scharbel Machluf, Ordenspriester.
Fr., 25.7.: Hl. Jakobus, Apostel, Les.: 2 Kor 4,7–15, Ev.: Mt 20,20–28.
Sa., 26.7.: Hl. Joachim und hl. Anna, Eltern der Gottesmutter Maria,
Les.: Sir 44,1.10–15 oder Spr 31,10–13.19–20.30–31, Ev.: Mt 13,16–17.
Stundengebet: Vierte Psalmenwoche.
AUTOREN DIESER AUSGABE
Klaus Werger, Gymnasiallehrer für katholische Religion, Philosophie, Ethik und Latein,
Worms.
Gotthard Fuchs, Dr. phil., Priester und
Publizist, Wiesbaden.
Bodo Bost, Theologe und Islamkundler,
Pastoralassistent im Erzbistum Luxemburg.
Heinz Theisen, Dr. phil., Professor für
Politikwissenschaft an der Katholischen
Hochschule Nordrhein-Westfalen, Köln.
Matthias Mühl, Dr. theol., Diakon, Dozent
für Dogmatik an der Fachakademie für
Pastoral und Religionspädagogik in Freiburg.
Gerd Häfner, Dr. theol., Professor für
Biblische Einleitungswissenschaft an der
Ludwig-Maximilians-Universität München;
IMPRESSUM
CHRIST IN DER GEGENWART Chefredakteur: Johannes Röser.
Redakteure: Jürgen Springer, Michael Schrom (BILDER DER GEGENWART),
Katholische Wochenzeitschrift
Stephan U. Neumann, Christoph Schulte. – Anschrift: Hermann-Herder-Str. 4,
Begründet von Karl Färber.
D-79104 Freiburg, Tel.: 0761/2717-276, Fax: -243, E-Mail: [email protected].
Abonnentenservice: Tel.: 0761/2717-200. Fax: -222; E-Mail: [email protected].
Verlag Herder
Anzeigen und Beilagen: Bettina Haller, Tel: 0761/2717-456, Fax: -426,
Postanschrift:
E-Mail: [email protected], Anzeigenpreisliste Nr. 38.
D-79080 Freiburg i. Br.
Verlag: Herder GmbH, Freiburg. Druck: fgb · freiburger graphische betriebe.
2065 ISSN 0170-5148
Preise (unvbl. Empf., inkl. MwSt): halbjährlich € 46,80 (Studenten € 30,00) zzgl.
€ 15,60 Versand [D] / sFr 62,00 zzgl. sFr 31,20 Versand. Kündigungsfrist: 4 Wochen
www.christ-in-der-gegenwart.de zum Ende des Berechnungszeitraums. Gedruckt auf umweltfreundlichem Papier.
Der Artikel „Gott – nein, Religion – ja“
(CIG Nr. 25, S. 279) über das Phänomen,
dass die religiöse Frage gerade von säkularen Medien und Nichtglaubenden neu entdeckt wird, beleuchtet weltweit die differenzierten Strömungen von Gottesglauben
und Religion, wie sie in Gesellschaft und
Öffentlichkeit beziehungsweise im Schrifttum gelebt, diskutiert und philosophiert
werden.
Die Überschrift könnte auch lauten:
„Gott – ja, Kirche – nein“. Glaubenszweifel
entspringen nicht nur unerfüllten Wünschen und Problemen im täglichen Leben.
Sie sind meines Erachtens oft auch die
Folge von für den Einzelnen nicht nachvollziehbaren Abläufen der Institution Kirche, wie sie sich nach außen darstellt und
wie sie im Innern – etwa bei Skandalen –
ihre Schwächen offenbart. Der Weg, den
Papst Franziskus aufzeigt und lebt, sich
mehr den Bedürftigen zuzuwenden, scheint
mir der richtige zu sein, um religiöse Fragen zu beantworten und damit Glauben in
die Menschheit zu säen.
Peter Flößer, Unterwössen
Ein Glaube ohne Gott wird zu einem Glauben ohne Inhalt und scheint in „diffuser Spiritualität“ aufzugehen, wie es bei Ihnen heißt.
Einem kollektiven – kirchlichen – „LehrGebäude“ scheint alsbald ein subjektives
„Leer-Gehäuse“ gegenüberzustehen. Die
dem christlichen Glauben eigene Gottesbeziehung mit den Kennzeichen von Ebenbildlichkeit, Bund, Gerechtigkeitsstreben (ent-)
schwindet als vorgegebene Grundlage dem
Heiliger Nichts
Vielen Dank für den Hinweis auf das Buch
von Hans Waldenfels über die Grundlegung
des buddhistisch-christlichen Dialogs (CIG
Nr. 26, S. 290). Das hat mich an ein Gespräch erinnert, das wir in einem Zen-Meditationskreis in Beuron vor etlichen Jahren
geführt haben. Damals saßen wir nach einer
strengen Zen-Woche zum Abschluss mit
Meister Nagaya aus Tokio zusammen, und
es ging auch um das personifizierte Gottesverständnis von uns Christen.
Einer formulierte seine Bedenken gegen
das Neutrum „Nichts“, das für den Buddhisten die Mitte seiner Philosophie bildet.
Professor Nagaya hörte sich alles ruhig und
lächelnd an und sagte dann: Warum sagen
Sie nicht „Der Nichts?“ Nach diesem Wort
schwiegen wir einige Minuten lang. Mit
dieser Stille fand das Gespräch einen guten
Abschluss. Beim Heimfahren versuchte ich
säkular-humanen Wertesystem. Erklärungsnot aber bleibt, was dann dem Glauben inhaltlich zu eigen ist und ohne Gottesbeziehung und Verheißung auf Zukunft hin
voranbringt.
Josef Eisend, Malsch
In dem Beitrag geht es um die Gottesfrage,
um das, worauf die Menschen in der Kirche
oft nur eine halbe oder keine zeitgemäße
Antwort bekommen; eine Antwort, die so
lange wahr bleiben kann, bis sie wieder falsifiziert wird. Ich aber meine, es kann nicht
um „Gott“ selbst gehen, sondern einzig um
eine Revision der Vorstellung von ihm.
Aenne Siebert, Unterwössen
Dieser Beitrag stellt ein hochaktuelles
Thema gut verständlich dar. Ich bin in den
letzten Jahren als Priester wiederholt um
„Hochzeitssegen“ (nicht kirchliche Trauung) gebeten worden, obwohl bei den Paaren keine Ehehindernisse gegeben waren.
Unter diesen Personen gab es sowohl Männer wie auch einige Frauen, die nicht nur
irgendeine begründete oder unbegründete
Abneigung gegen die Kirche verspürten,
sondern an Gott nicht glauben konnten
oder wollten, aber trotzdem von einer
Sehnsucht nach einem gesegneten Leben
erfüllt waren.
Tiefes Staunen angesichts von Wundern
der Natur, des Menschen oder in großer bildender Kunst, die sich nicht wissenschaftlich begründen lassen, bleibt ein Impuls zur
Sinnsuche.
Prof. Dr. Philipp Harnoncourt, Graz
ein Gebet: „Heiliger Nichts, heiliger großer
Nichts, heiliger unsterblicher Nichts!“ Ungewöhnlich, provozierend sicher für viele.
Aber hilfreich für den, der wie Maria „alle
diese Dinge im Herzen bewegt“.
Wolfgang Schneller, Oberdischingen
Erwählter Bischof?
Den Beitrag „Der Geist der Leitung“(CIG
Nr. 26, S. 292) über die Bischofsweihe habe
ich gern gelesen. Dort wird das Weihegebet
in der Liturgie zitiert, wo es heißt: „Gieße
jetzt über deinen Diener, den du erwählt
hast, die Kraft, die von dir ausgeht …“ Aber
„die Erwählung des Dieners“ geht gar nicht
vom Gottesgeist aus, sondern ist ganz normaler Menschengeist. Daher wäre es ehrlicher und glaubwürdiger, den Nebensatz
„den du erwählt hast“ wegzulassen.
Rosemarie Bucher, Ettlingen