EineErinnerungsreise in dieGegenwart

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EineErinnerungsreise in dieGegenwart
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275/
Sjimlag/Sonnug, 2S./26. November
86
1989
9lcue3iird)er3cüung
WOCHENENDE
Nr. 275
Wiederbegegnung mit der
DDR
Eine Erinnerungsreise in die Gegenwart
(
kommt sehr selten vor, dass Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung eine eigentlich druckfertige Reportage
nochmals aufreissen und ihr ein neues Gesicht geben. Wäre der
vorliegende Beitrag vor zwei Wochen erschienen, hätte er noch
recht anders ausgesehen: er wäre auf Rüdiger Sieberts Bericht
über seine Reise auf den Spuren seiner Kindheit beschränkt gewesen - und er hätte mit seinen Ansichten aus der DDR vorder
Grenzöffnung an jenem Wochenende der Euphorie wie eine
Nachricht von gestern wirken müssen: über Nacht veraltet. Dabei sind Sieberts Erlebnisse auf der beschriebenen Reise nicht
etwa unwahr geworden. Sie zeigen sich im Spiegel der jüngsten
Ereignisse lediglich in einem andern Licht- die Dynamik der
politischen Entwicklung hat Ergänzungen diktiert. So ist aus
einer fast privaten Geschichte ein kS t ü c Zeitgeschichte geworden. Dem versuchen wir auch mit der Illustration Rechnung zu
tragen, indem wir Sieberts «Erinnerungsalbum» die Bilder von
Lieli Hiltpold gegenüberstellen, der an dem (auch schon wieder
historisch zu nennenden) Wochenende vom 11./ 12. November
die Ereignisse an der Berliner Mauer photographiert hat.
Es
*
.
Und dann steht der Freund vor meiner Tür; einer der einstigen Schulfreunde aus Weissenfels in Deutschland Ost vor meiner
Tür in Deutschland West. Dreissig Jahre hatten wir uns nicht gesehen; und nun treffen wir uns im Abstand weniger Wochen an
zwei verschiedenen deutschen Orten gleich zweimal. Ein Hauch
von Geschichte weht mir da ins Haus, angekündigt durch die
Massenmedien, gleichwohl unvorstellbar noch während jener
Tage im September, als ich vor der Tür des Freundes
in Weissenfels gestanden hatte. Ich war als Besucher aus dem Westen durch
die deutsch-deutsche Einbahnstrasse gekommen, die nur mir
offenstand, nicht dem Freund aus Kinderzeiten, der weder Verwandte in der Bundesrepublik noch sonstige Privilegien vorwei-
sen konnte, was bis zum 9. November 1989 Voraussetzung war
für eine Reise in den Westen, deren behördr.i.e Genehmigung
einem staatlicher Gnadenakt gleichkam.
Da steht also der Freund aus Weissenfels vor meiner Tür,
lächelt ein wenig verlegen, ungläubig ob der Öffnung der einsti-
gen Einbahnstrasse, die nun in beiden Richtungen befahrbar ist
seit dem 9. November. Er sei ein Besucher, der zurückkehren
werde. Gleich bei der Begrüssung erwähnt er es, als wolle er mich
gar nicht erst auf den Gedanken bringen, einen Übersiedler,
einen Flüchtling, einen Menschen beherbergen zu müssen, der
meiner Hilfe bedürfen konnte. Selbstbewusstsein klingt mir da
in
Rüdiger Sieben
entgegen; ein neuer Ton, den ich bei meinem Besuch drüben so
noch nicht wahrgenommen hatte. Und meine eigene Reise gewinnt durch diesen Gegenbesuch, durch die blosse Tatsache,
dass er überhaupt so spontan stattfinden kann, eine neue Dimension. Ich war an einem geschichtsträchtigen Vorabend in der
DDR gewesen und hatte es ebensowenig gewusst wie andere
Zeitgenossen, die von der Dramatik der Veränderungen überrascht worden sind seither. Weder als Journalist noch als Tourist
war ich nach Weissenfels gefahren, sondern als ehemaliger Bewohner dieser mittelgrossen Industriestadt an der Saale. Ich war
den Spuren meiner eigenen Kindheit in der DDR nachgegangen,
die abrupt vor dreissig Jahren geendet hatte, als unsere Familie
von Deutschland Ost nach Deutschland West geflohen war, ihr
Hab und Gut zurücklassend, um mit fast leeren Händen einen
neuen Anfang zu wagen. Eine offenbar unendliche deutsch-deutsche Geschichte.
Der Geruch. Da war er wieder. Unvermittelt und unverwechselbar drang er auf mich ein wie eine gestaltlose Umarmung, die
in gespenstischer Weise vertraut erscheint. Als ich zu mittäglicher
Stunde das Schultor öffnete, traf ich auf meine Kindheit. Eine
herbe Mischung aus altem Holz und Bohnerwachs, aus Mehlsuppe, eingetrockneter Tinte, aus dem Rauch von Braunkohlenbriketts und dem kalten Schweiss ungezählter Pennäler. Ich
schnupperte die Duftnote der eigenen Schule: Hatte ich den Mief
wirklich vor dreissig Jahren zum letztenmal gerochen und nicht
doch erst vor einem Tag, vor einer Woche? Auf Orte und Menschen war ich innerlich eingestimmt gewesen, nicht jedoch auf
diesen Schulgeruch, der meiner Erinnerung auf die Sprünge half.
Gleich rechter Hand war die Tür zu dem Klassenzimmer, in dem
der erste Schultag stattgefunden hatte. Die bunte Kreidezeichnung des Willkommens stand plötzlich vor mir; und die Erinnerung spielte mir das freundliche Lächeln jener Lehrerin zu
Fräulein Kurz hiess sie. Seltsam. Nach so vielen Jahren stellte
der Name sich so selbstverständlich ein, als sei er gestern noch
gebraucht worden. Ein gemalter Blumenstrauss war damals, an
jenem Tag im September 1950, an der Tafel zu sehen gewesen,
und noch keine der umständlichen Politparolen, mit denen wir
in den folgenden Jahren bis zum Überdruss traktiert worden
waren. Hier also begann diese Schulung zum Misstrauen, das
sich wie ein engmaschiges Netz schon früh über keimende
Freundschaften, über das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern legte. Schon in kindlichem Alter schärfte sich der Sinn, wem
zu trauen, wem aus dem Wege zu gehen war, welchem Lehrer die
-
Lippenbekenntnisse gewissermassen augenzwinkernd nachgesehen wurden, welchem strammen Genossen mit grösster Vorsicht
zu begegnen war. Ich sog den Schulgeruch ein. Hier hatte die
Gratwanderung begonnen zwischen den Aufsatzthemen wie
«Warum ich stolz bin, ein Burger der DDR zu sein» und den
kritischen Gesprächen im Verwandtenkreis, wo von solchem
Stolz nichts zu erkennen war.
Nicht nur Politik färbte die Erinnerung, natürlich nicht. Dort,
hinter der nächsten Tür, hatte der alte Rudersdorf unterrichtet,
der perfideste aller Lehrer. Er pflegte zu strafen, indem er die
Schüler an den Schläfenhaaren zog. Auch das Bild eines Mädchens tauchte auf, eines umschwärmten, unerreichbaren Mädchens. Der Geruch löste Empfindungen aus, in denen sich die
eigenen Eindrücke in literarischen Versatzstücken spiegelten, ein
bisschen Spoerlsche «Feuerzangenbowle», ein bisschen Werfels
«Abituriententag».
Ich hatte Verlangen nach frischer Luft. Auf dem verwaisten
Schulhof kam mir eine Frau entgegen, um die dreissig, vermutlich eine Lehrerin dieser Tage. Sie trug eine Kittelschürze. Was
ich hier wolle, n
w e ich suche? Die Frage klang amtlich und
streng. Die Vergangenheit war wie weggeblasen. Ich zögerte,
erklären,
wollte
fand kein passendes Wort und sagte dann wie
ein ertappter Sünder: «Ich suche mich selbst.» Die Reaktion war
gereizte
die
Abwehr eines Menschen, der sich nicht ernst genommen fühlt. «Das werden Sie so nicht verstehen können», ergänzte ich in der Hoffnung auf etwas Verständnis, «ich war hier
mal Schüler, wissen Sie. Ich möchte mich nur umschauen, nach
vielen Jahren.»
Die Miene der Frau wurde noch ablehnender. Sie fragte nicht,
wann ich hier zur Schule gegangen sei, woher ich komme. «Sie
können doch nicht einfach so in eine Schule gehen», fuhr sie
mich an, «dazu brauchen Sie die Genehmigung des Direktors. In
einen Betrieb können Sie schliesslich auch nicht ohne Genehmigung gehen.» Dann ging sie, grusslos. Liess mich stehen und verschwand im grossen Tor des Backsteingebäudes, durch das ich
acht Jahre lang gegangen war in dieser Bergschule zu Weissenfels
an der Saale. Ich blieb betreten zurück auf dem leeren Hof und
hatte wieder einmal das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
Dies ist wohl das eigenartigste Land, in das ein Bürger der
BRD reisen kann, der selbst einmal Bürger der DDR gewesen ist.
Noch immer, obwohl nun so vieles in Bewegung geraten ist. Die
Aus dem Familienalbum: Der erste Schultag im Jahre 1950 und die Klassenphoto nach acht Jahren sozialistischer Schulbildung.
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Links: Die Bergschule von Weissenfels, ein roter Klinkerbau hoch über der Stadt. Rechts: Der Marktplatz. Ort der Demonstrationen im Juni 1953 und weder im Spätherbst I9S9. (Bilder: Sieben und Foto Kind-Schröder. Weissenfels)
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leitung
Mir fiel auf, dass vor den meisten Wohnungen, die ich betreten konnte, die Schuhe ausgezogen und Filzpantoffeln übergestreift werden. Auch für den Gast liegen solche weichen Hausschuhe bereit. Das hat etwas mit Reinlichkeit zu tun. Doch ich
wurde den Gedanken nicht los, dass dieser Schuhwechsel in psychologische Tiefen reicht. Als solle jeglicher Schmutz von der
Welt da draussen auch dort bleiben. Der Filzpantoffel als Inbegriffhäuslicher Abkapselung. Diese Latschen, wie es auf sächsisch heisst, haben gerade in Weissenfels, dem Zentrum der
Schuhindustrie, eine lange Tradition. Im barocken Schloss NeuAugustusburg, das dominierend auf dem Berg über der Stadt
steht, ist ein Museum zur Geschichte der Fussbekleidung eingerichtet. Ein Schaustück: die KPD-Betriebszeitung von 1928. Ihr
Name: «Der rote Filzschuh». Das Museum ist gepflegt und
ebenso erneuert wie die Schlosskapelle, die seit einigen Jahren
wieder in beeindruckender Frische glänzt. Das eigentliche
Schloss aber. Wahrzeichen der Stadt, verfällt und verkommt. Wo
einst eine Neuberin dem deutschen Theater revolutionäre dramaturgische Impulse gab und Bach und Händel noch heute mit Erinnerungstafeln geehrt werden, sind Lager und Büros eingerichtet, die allesamt einen jammervollen Anblick bieten. Das Schloss
in seiner Verwahrlosung ist symptomatisch für die ganze Stadt
für die Aussenansichten der DDR^ Daran werden auch politische
Neuanstriche der Republik in absehbarer Zeit wenig andern kön-
mittel
//.
November: Vorbereitungjür den neuen Grenzübergang Potsdamer Platz.
nen.
Ein Stück Mauer als Souvenir
Nr. 275
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. .
Auf dem Marktplatz holte mich eine Erinnerung ein, die auf
fatale Weise mit dieser Staatsgewalt verbunden ist. Als Neunjähriger stand ich dort inmitten der aufgebrachten Menge, die
das Rathaus stürmte. Am 17. Juni 1953 war das. Ich sah vor dem
geistigen Auge wieder, wie aus den oberen Fenstern die Akten
herausgeworfen werden. Ich hörte die Schreie rd e Menschen,
ihren Jubel, spürte die Erleichterung noch einmal, die von dieser
Rathausbesetzung ausgegangen war. In den Morgenstunden hatten sich die Polizisten und die Häscher des allgegenwärtigen
Staatssicherheitsdienstes verdrückt. Ich war damals gebannt gewesen von den Ereignissen und hatte noch nichts von den
Hintergründen begriffen. Mein Vater, rd e mich da hatte stehen
sehen, hatte mich schleunigst nach Hause geschickt.
Nun stand ich wieder an diesem Ort, dachte an den damals
von sowjetischen Panzern erstickten Aufstand, an den Volkspolizisten von vorhin und an die aufkommenden, ganz gegenwärtigen Demonstrationen der DDR-Bürger in Ostberlin, in
Leipzig, in Karl-Marx-Stadt, die Perestroika und Glasnost in
ihrem Lande forderten. Da braute sich jenes Gewitter zusammen,
das historische Ausmasse annehmen sollte und sich im Zusammenbruch bisheriger SED-Bastionen entlud. Noch hätte sich
das niemand als so nahe Möglichkeit vorstellen können, doch
die geistige Veränderung war spürbar. Als ich einem der Schulfreunde von dem Auftritt des Polizisten am Marktplatz erzählte,
schüttelte er den Kopf und meinte selbstsicher, eine solche Behandlung hesse er sich als DDR-Bürger nicht mehr gefallen. Genau diese Art des Alles-Schluckens sei es ja in den zurückliegenden Jahrzehnten gewesen, die es der Staatsmacht so leicht gemacht habe mit der Unterdrückung.
Ich wurde nach Hause eingeladen. Das schaffte eine Atmosphäre der Offenhei
t
und liess an alte Freundschaften anknüpfen, wie ich es nach dreissig Jahren nicht erwartet hatte. Die sich
überstürzenden Ereignisse, die täglichen Meldungen von geflüchteten DDR-Bürgern, denen nur die Auswege via Ungarn
und die CSSR offenstanden-, die Spannungen um den 40. Jahresg
tag, die vorsichtige Hoffnun
auf Reformen und zugleich das
tiefsitzende Misstrauen gegenüber einer bis anhin selbstherrlich
Obrigkeit
zwangen die Gesprächsthemen auf.
schaltenden
Wir sprachen von Freizügigkeit. Einer, rd e Architekt geworden ist, erzählte mir, er kenne die Schlösser an der Loire, die
Kathedralen Italiens nur aus den Büchern seines Studiums. In
Wirklichkeit habe er nie die Erlaubnis erhalten, tatsächlich dorthin zu fahren und sein Stilempfinden an deren Anblick zu schulen. Ob dies auf andere Wissensbereiche übertragbar sei, fragte
ich, ob dies nicht zu geistiger Verarmung und Kleinkariertheit
führe. Er lachte verbittert und meinte: «Die Einengung führt
nicht erst zu geistiger Verarmung. Wir stecken mitten drin.»
Ich fragte und fragte, wurde selbst aber wenig gefragt. Jedermann hatte den Wunsch, von sich und seinen Lebensumständen
zu berichten, von den Versorgungsmängeln, von dem Eingesperrtsein, von der verinnerlichten Abscheu gegenüber einem
System, das sie nicht als eigenständig denkende und
-
Was ist von den Träumen dieser Kindheit geblieben? Ich traf
Weggefährten von damals wieder. Wir schauten die Photos an,
die uns in dem Alter zeigen, in dem gerade noch die Jüngsten des
eigenen Nachwuchses sind. Ich wollte von Lebenswegen hören.
Geschieden der und unverheiratet jener; einer, der Selbstmord
verübte; ein anderer, der populärwissenschaftliche Bücher
schreibt; einer der Werksdirektor geworden ist; ein anderer, von
dem es spöttisch hiess, er sei eine «rote Socke», ein überzeugter
oder zumindest angepasster Parteigänger der SED. Ich erfuhr
von einem geistig behinderten Kind; hörte von einem Lehrer,
der wegen Geschichten mit Schülerinnen den Dienst hatte quittieren müssen. Jahre nach unserer Schulzeit. All das klang nicht
nach erfüllten Träumen. Ich erlebte es an wechselnden Orten mit
wechselnden Gesprächspartnern: Immer dann, wenn ich einen
Weisst-du-noch-Ton anschlug, war das Echo schwach. Gefragt
waren Themen der Gegenwart.
Ich wollte der vermeintlichen Poesie der Kinderzeit nachspüren und geriet immer wieder mit dem spannungsvollen Alltag
des anderen Staates in Konflikt. Er erlaubte auch seinen Gästen
keine Träume. Ich stoppte den Wagen am Marktplatz von Weissenfels und überlegte bei laufendem Motor, bereit, gleich weiterzufahren, wohin ich steuern musste, um an eine bestimmte
Adresse zu gelangen. Das kleine blaue Schild der Omnibushaltestelle hatte ich übersehen, das für mich Halteverbot bedeutet.
Weit und breit kein Omnibus: ein ungeheuerliches Vergehen
dennoch. So jedenfalls stellte es der Volkspolizist dar, der auf
meinen Wagen zueilte und mich durchs geöffnete Seitenfenster
bösartig beschimpfte. Ein grauer, hagerer Mann in den Fünfzigern, zwei Sterne auf den Achselklappen. Er verlangte die
Papiere, ging ums Auto herum, spielte sich in dramatischer
Wichtigkeit auf. Immer wieder blätterte er im Reisepass, verglich
Photo und Inhaber und bemerkte die vielen Stempel fremder
Länder. «Wenn Sie so oft im Ausland sind, mussten Sie wissen,
wie man sich da benimmt», fauchte er mich an, die Verkörperung von Staatsgewalt, belehrend, strafend und auf lächerliche
Art unsicher wirkend. Ich musste ein Ordnungsgeld von 20 Ostmark zahlen. Kein Dank, kein Gruss, keine Bemerkung, die auf
eine menschliche Regung gedeutet hätte. Kein Gute- Weiterfahrt.
Ein Apparatschik in Aktion.
Die Szene wäre eine Lappalie, wenn ich sie nicht als typisch
für die offizielle DDR empfunden hätte und als Gestalt gewordene Erinnerung daran, was in meiner Kindheit den Begriff
Staat ausgemacht hatte. Der graue Volkspolizist ist weit über sein
persönliches Verhalten hinaus ein Repräsentant des Systems, das
auf der Entmündigung seiner Burger gründete. Wahrend meiner
Septemberreise erlebte ich die DDR noch in ihrem Originalzustand. Die gesellschaftlichen Krusten sind seither aufgebrochen: doch was wird aus solchen Amtsträgern? Haben sie ein
menschlicheres Gesicht bekommen? Oder eben doch nur Wende-
1989
Verrenkungen solcher Staatsdiener kein Hehl. Es sei eben noch
lange nicht ausgemacht, ob und wie sich ehrliche Veränderungen
verfestigen können. Der Berg schmutziger Wäsche, der nun zu
waschen sei, rage zu hoch, höre ich und vernehme sächsischen
Witz dazu: Es gebe ja nicht einmal genügend Reinigungs-
-
Ich spazierte durch die Strassen und erblickte hinter restaurierten Vorzeigefassaden die Hinterhöfe und Nebenwege in
totalem Verfall. Leere Fensterhöhlen und eingestürzte Wände
wie nach einem Bombenangriff, seit Jahrzehnten von keinem
Tropfen Farbe mehr übermalt, schlagen aufs Gemüt. Ich machte
die Erfahrung, die jeden Rückblick in eine verwehte Vergangenheit kennzeichnet: die Wege wirkten eng, die Strassen der Erinnerung kurz, die Räume von einst gedrängt. Ist es die Perspektive von oben, die den Blickwinkel des Erwachsenen ausmacht?
War es die Kindersicht von unten, die einst die Welt unendlich
gross erscheinen liess? Wohin ich auch streifte nach den dreissig
,
Jahren
alles wirkte überschaubar. Im Schatten einer Kastanie
schaute ich zwei Schuljungen zu, die mittags heimkehrten. Ich
J a h r Älteren. Wir waren oft zudachte an Hans, den zwei e
sammen diesen Weg durch den Küchengarten gegangen. Hans
wollte Zirkusdirektor werden. Einmal fuhr ein Postauto vorbei
und lieferte Pakete aus. Hans begeisterte sich bei dem Gedanken,
dieses Postauto könnte ihm eine Zeltplane und die Masten für
jenes Zirkuszelt bringen, das in den Träumen seiner zwölf
Lebensjahre den höchsten Platz einnahm. Kurios, dass bei meinem Besuch wieder ein Postwagen durch den Küchengarten
fuhr. Genau wie damals lieferte er alle möglichen Kartons nur
keine Zeltplane und keine Masten für einen Zirkus.
Sjimtag/Sonnug. 2S./26. November
hälse, wie das Schlagwort für Heuchelei, Opportunismus, Anpassung jetzt lautet? Der Freund, der mich nun besucht, gebraucht
es angewidert und macht aus seinem Misstrauen gegenüber den
anderen Grenzen, die ich seit dem Verlassen der DDR vor dreissig Jahren (merkwürdigerweise just am 9. November) passierte,
habe ich nicht gezählt. Nirgends auf der Welt aber hatte ich dieses verunsichernde Gefühl, in einem Land und zugleich in drei
verschiedenen Ländern zu reisen. Da ist einmal das Land der Gemeinsamkeiten beidseits der Grenze, symbolisiert durch die
Kirchtürme: wohltuende Impression, auch jenseits der Teilungslinie noch im christlich geprägten Kulturkreis zu sein. Doch da
gibt es eben dieses andere, zweite Land, das Land der Politik, wo
noch vor dem 40. jahrestag der DDR-Gründung, am 7. Oktober,
die Parolen von der Fortsetzung des «bewährten Kurses» künden, dessen Konkurs seither weltweit Schlagzeilen macht. Und es
gibt das dritte Land, das des Rückzugs ins Private, ins Familiäre,
in den Schrebergarten.
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WOCHENENDE
handelnde
Menschen akzeptierte. Ich staunte über die unverblümte Kritik.
h o l c ausgesprochene Ablehnung hatte ich nicht in Erinnerung
S
aus jenen Jahren, da man zwar westliche Radiosender gehört,
aber danach, aus Angst vor Kontrollen übereifriger Funktionäre,
die Stationsmarkierung auf der a
S k a l weitergedreht hatte. Damals in den fünfziger Jahren wurden die ersten Fernsehantennen
nicht nur auf, sondern unter den Dächern montiert, um die Einstellung auf Weststationen zu verbergen.
Ich erinnerte mich, wie wir als Kinder zur Doppelzüngigkeit
angehalten worden waren. Bitte nichts in der Schule von dem erzählen, was daheim an Informationen, Meinungen, Kritik behandelt wurde, so hatten die Ehern uns eingeschärft. Solche Verhaltensweise prägte ein Weltbild und bereitete den Boden all der
Heuchelei, den zu durchpflügen sich viele Menschen in der DDR
nun anschicken. Die jungen Leute, mit denen ich auf meiner
Reise zusammenkam, waren von solchen Skrupeln und Angst
vor dem Reden schon nicht mehr geplagt. Die Söhne und Töchter meiner Schulkollegen kannten sich aus bei «Dallas» und im
ganzen bunten Spektrum des westlichen Fernsehens und redeten
offen und öffentlich darüber. Lange bevor die Grenze durchlässig wurde und am 9. November wie ein Damm bei Hochwasser schliesslich brach, war die westliche TV von keinem Zensor mehr aufzuhalten. Professionelles Interesse liess mich das
Ost-Programm verfolgen: ich hatte bei Nachfrage im Freundeskreis den Eindruck, der einzige Mensch in der DDR gewesen zu
sein, der damals die «Aktuelle Kamera» verfolgte. Nur ein paar
Wochen her, und doch schon abgeschlossene Vergangenheit.
Mauerstücke werden von Baupionieren der NVA abtransportiert.
Sonntäglicher Grenzverkehr beim neuen Übergang
Potsdamer Platz
Die Klassenphoto von einst ergab bei der Bilanz nach drei
Jahrzehnten, dass nur wenige meines Jahrgangs in den Westen
gegangen waren. Wird sich das nun noch ändern? Nebensächlichkeiten gewannen tiefere Bedeutung. Mit Freunden schaute
ich mir im Städtchen Lützen bei Weissenfels das Heimatmuseum
mit dem Zimmer an, das dem nur wenige Kilometer entfernt in
Poserna geborenen Dichter Gottfried Seume gewidmet ist.
«Wenn wir nicht von vorn anfangen, dürfen wir nicht hoffen
weiterzukommen.» Der Seume-Satz am Fenster wurde von den
linientreuen Museumsgestaltern vermutlich vor Jahren im Sinne
der DDR-Gründung verstanden. Die Frau, Mutter zweier erwachsener Kinder, die mich nun begleitete, interpretierte den
Spruch ganz anders. «Ein wahres Wort», sagte sie und lächelte
vielsagend. Am Abend zuvor hatten wir das Für und Wider einer
Ausreise in den Westen besprochen.
Die Freunde redeten von all dem, was sie gern hätten, exotische Früchte, elegante Kleider, moderne Haushaltsgeräte, das
gewisse Etwas, das zu bieten die Planwirtschaft nicht
in der Lage
ist. Blue Jeans seien nun mal attraktiver als Blauhemden des
Jugendverbandes
sagte,
staatlichen
FDJ. Ich
dass mir das meiste
selbst wenig bedeute, dass ich TV- Werbung verabscheue und mir
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SamsUg/SonnUg. 25-/26. November 1989
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die Radioreklume vor den Nachrichten bei uns lästig sei. Die
Antwort lautete stets, wie snobistisch, wie arrogant dies klinge,
wenn man im Überfluss lebe. Ich musste mich bremsen, um nicht
in die allerorten so bereitwillig angebotene Rolle des reichen
Onkels aus dem Westen zu fallen. Ich kämpfte gegen das Gefühl
angeblicher Überlegenheit an, das sich beim Anblick mässig gefüllter Regale in den Geschäften aufdrängt und in so vielen Gesprächen, die die westliche Wohlstandsbreite priesen, aufkam,
als sei eben dieser Überfluss meine persönliche Leistung.
aus. Wenn ich von den westlichen Massenmedien und
ihrer entlarvenden Darstellung östlicher Machtverhältnisse sprach, bekam ich zu hören, dass die oft genüssliche Art der Wahrheitsverbreitung den östlichen Betrachtern
auch denen, die selbst
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teilung
der Kritik zustimmen weh tue. Ein Schlagwort unserer politischen Erziehung vor drei Jahrzehnten tauchte in den Gesprächen
wieder auf. Es hiess «Konvergenztheorie»: die westlich-kapitalistische Welt werde sich dereinst an die östlich-kommunistische
anpassen
und zwar wegen deren historischer Überlegenheit
zwangsläufig, wie einem Naturgesetz folgend, so war uns eingetrichtert worden. Der Begriff ist aus der Phrasenmode gekommen. Dafür hat die Westmark drüben die Funktion einer Leitwahrung erhalten. Die «Konvergenztheorie» ist aktuell geblieben, mit völlig entgegengesetztem Vorzeichen allerdings und von
einer ganz anderen Praxis überholt, als unsere Politlehrer einst
wahrhaben wollten, zumindest in ihren Lippenbekenntnissen.
liche die eigenen Eltern nach ihrer Rolle im Nazideutschland befragten, was sie denn zur Verhinderung der Katastrophe getan
hätten. Dann fügte er nachdenklich an: «Und was werde ich einmal den eigenen Kindern sagen, wenn sie nach dem fragen, was
ich heute tue oder eben nicht tue?»
Nach solchen Gesprächen der vielschichtigen Gemeinsamkeiten war ich im September beim Abschied immer wieder in der
Stimmung, einzuladen: Besucht
mich doch auch einmal, nächste
Woche, bald. Ich liess eine solche Bemerkung unausgesprochen,
weil sie in ihrer Unrealisierbarkeit (bis auf Ausnahmen) den
Nerv dessen getroffen hätte, woran die meisten DDR-Bürger litten. Welch ein Nachholbedarf hatte sich da angestaut!
Wir redeten auch über Zivilcourage. Ein Schulfreund, Mitglied der SED, zu den Privilegierten im Staate gehörend und
dennoch im privaten Gespräch seine individuelle Not mit diesem
Staat aussprechend, ehrlich, offen, einer, der es sich selbst nicht
leichtmacht: dieser Mann erinnerte daran, wie wir als Jugend-
«Auf Wiedersehen» klingt diesmal fester, selbstverständlicher als
-
Gegenseitige Empfindlichkeiten stiessen
auf. Wenn im
Freundeskreis pauschal vom in Westdeutschland erstarkenden
Neofaschismus die Rede war und unterstellt wurde, dies sei den
meisten Deutschen egal, forderte das meinen Widerspruch her-
31eue <;3ürcjjer
Der Freund aus Weissenfels kehrt nun wieder dorthin zurück.
Er ist zum erstenmal im Westen gewesen. Unser beiderseitiges
jüngst in Weissenfels- oder muss ich
nach all den politischen
Erdstössen sagen: damals in Weissenfels?
....
Vor dem Brandenburger Tor: Noch wird die Mauer, brüchig geworden auch hier, von Grenzsoldaten bewacht.
Diesseits der Grenze: Stadtplan und Informationen zum Willkomm.
Deutsch-deutsche Begegnung über den Zaun.
Ostberlin: Ein DDR-Grenzoffizier sieht der Bevölkerung Rede und Antwort.
Improvisation statt Bürokratie: Visumausgabe beim Potsdamer Platz.
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Checkpoint Charlie- ein Übergang nicht mehr nur
für Diplomaten.
Nach dem Besuch im Westen: Manche grossen Wünscht sind
auf einmal erfüllbar geworden.
Schlangestehen
für das
Begrüssungsgeld. (Bilder: Veli Hiltpold)