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Durch die weiten Steppen Text und Fotos: Markus Neuenschwander Nach Russland, China und Indien ist Kasachstan das viertgrösste Land Eurasiens. Es ist beinahe so gross wie ganz Westeuropa, hat aber nur knapp 17 Millionen Einwohner. Wohl deshalb ist das so dünn besiedelte Land im Bewusstsein vieler Menschen praktisch nicht existent. Zu Unrecht. Wer die Reise wagt, wird eine wunderbare Welt entdecken – und während der ganzen Reise vermutlich nie einem anderen Touristen begegnen. 64 GLOBETROTTER-MAGAZIN sommer 2013 Zentralasien V or uns, hinter uns und rund um uns – nichts als die Unendlichkeit der kasachischen Steppe. Mal mit 25, mal mit 40 Stundenkilometern lassen wir uns über die Piste schütteln. Im 34-Sekundentakt knackt ein Sonnenblumenkern zwischen den Zähnen unseres Fahrers und Begleiters Gabidulla. Wenn das Auto jetzt kollabiert oder ein zweiter Reifen platzt, heisst es, auf ein zufällig vorbeikommendes Fahrzeug zu warten, was im besten Fall Stunden, im schlechteren Fall Tage dauern kann. Die Alternative wäre ein Tagesmarsch von rund 30 Kilometern bis zum nächsten Haus. Wir sind als Touristen zu viert unterwegs: Steffi und ich als Mittfünfziger, Steffis Tochter Lilla und deren Partner Manuel eine Generation jünger. Mit der Ferienreise, die wir selber geplant haben und für die wir uns im Frühsommer vier Wochen Zeit nehmen, wollen wir ein wenig in die zentralasiatische Welt eintauchen und uns so von der europäischen Hektik und Dichte des Lebens erholen. Die Anreise. Wir reisten auf dem Landweg an – ein Unterfangen, dessen Komplexität wir im Vorfeld unterschätzt hatten. Denn sämtliche Visa, Einladungen und Billette durch Weissrussland, Russland und Kasachstan zu organisieren und aufeinander abzustimmen, war eine hohe Kunst. Wir erhofften uns, dank der Zugsreise, mit erlebbarer Geschwindigkeit von der einen in die andere Welt zu wechseln. Diese Hoffnung erfüllte sich mit den langen Aufenthalten auf den Bahnhöfen, wo geschäftstüchtige Frauen den Reisenden immer wieder Gurken und Tomaten, Kartoffelpuffer und Omeletten, Bier und Sprudel anboten. Hie und da gönnten wir uns auch eine kleine Erfrischung im malerischen Speisewagen. So verflogen die vier Reisetage bis zur russisch-kasachischen Grenzstadt Petropavlovsk ohne einen Hauch von Langeweile. Doch als wir nach dem Umsteigen in den Zug nach Astana gemütlich an einem Bier nippten, kamen wir als Erstes mit der kasachischen Staatsgewalt in Konflikt: Ein im Zug patrouillierender Milizsoldat kam zu uns ins Abteil und las uns den Paragrafen vor, der jeglichen Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit verbietet. Jeglichen? Ja, – sofern ein Milizionär in der Nähe ist. Diesen feinen Unterschied würden wir bald auf dem Land kennenlernen, wo Lastwagenfahrer auf leeren Pisten völlig betrunken ihre Fahrzeuge lenken. Jetzt wollte uns der Uniformierte eine saftige Busse abknöpfen, die jedoch verhandelbar zu sein schien. Manuel und ich verstanden kein Wort, doch die beiden Frauen zermürbten unseren Gast mit ihrem Russisch und mit Naivität und Nettigkeit so lange, bis er unverrichteter Dinge abzog. Astana. Die moderne Hauptstadt mit ihrer futuristischen Architektur wächst rasant. Wer kommt denn da? Kritischer Blick der Bäuerin auf die ankommenden Reisenden. Weg vom Weltgeschehen. Kleine Bauernsiedlung mitten im Nichts. ç Geht unter die Haut. Gewitterstimmung über der Weite der kasachischen Steppe. In Astana, der Retortenhauptstadt dieses riesigen Landes, waren wir mit unserem Führer Gabidulla verabredet, der uns als Erstes durch die futuristische Architektur Astanas führte. Die Stadt, in den vergangenen 15 Jahren auf Geheiss des Präsidenten aus der Steppe hochgezogen, ist mittlerweile ein imposanter Anziehungspunkt für viele Asiaten, die sich hier eine bessere Zukunft erhoffen. «Registriert sind rund 700 000 Einwohner, tatsächlich wohnen aber gegen eine Million Menschen hier», erklärte uns Gabidulla. Der umtriebige Präsident, Nursultan Nasarbajew, blickte immer wieder von Plakatwänden väterlich zu uns herunter, mal aus einer Gruppe von Bergbaukumpels heraus, mal in einem leuchtenden Weizenfeld stehend. Er regiert das Land mit fester Hand und brachte es so erfolgreich vorwärts, dass er bei der Bevölkerung sehr beliebt zu sein scheint. Es gelang ihm, die alten sowjetischen Seilschaften zu zerschlagen und gleichzeitig zu verhindern, dass sich eine archaische Stammeskultur restaurierte. Kernziel der kasachischen Politik ist wirtschaftliche Gestaltungsfreiheit für eine neu entstehende Mittelschicht. Für die dazu notwendige innenpolitische Stabilität proklamiert der autoritäre Präsident eine Kultur des gegenseitigen Respekts zwischen den verschiedenen Religionen und Ethnien. Doch eine demokratische Struktur fehlt bis heute, und die Verhältnisse bleiben fragil. Eine gesicherte Zukunft wäre den Menschen in Kasachstan nach Jahrzehnten der Unterdrückung, Ausbeutung und Belastung zu gönnen. Erinnert sei nur an den Gulag und die zahllosen Internierten, die unter widrigsten Bedingungen die reichen kasachischen Bodenschätze zutage fördern mussten – zum einseitigen Nutzen einer russischen Elite, welche Kasachstan längst verlassen hat. Erinnert sei auch an die zahlreichen Atomtests, welche die Sowjets im kasachischen Semipalatinsk durchführten. Oder daran, dass der sowjetische Raubbau 65 einer intensiven Landwirtschaft den Aralsee, einen der grössten Binnenseen der Erde, versalzen und austrocknen liess. Aufbruch in die Weite. Auf einer Art Auto- bahn ohne seitliche Schutzbegrenzung verlassen wir frühmorgens die Hauptstadt. Nach wenigen Stunden umfahren wir die Industriestadt Karaganda. Die Strasse wird schmaler, holpriger und leerer. Schon kann es auf dieser Hauptverkehrsachse eine Minute oder länger dauern, bis uns ein Fahrzeug entgegenkommt. Die stundenlange Reise gibt uns eine erste Ahnung von der Unendlichkeit der kasachischen Steppe. Nach 20 Uhr begrüsst uns eine gespenstische Kulisse mit rauchenden Kaminschloten im düsteren Abenddunst: die Bergbaustadt Zhezkazgan mit ihren gewaltigen Kupferminen. Hinter der Industriezone kommt jedoch eine lebenswerte Stadt zum Vorschein, wo uns Gabidulla für eine Nacht bei seinen dort wohnenden Eltern einquartiert, die uns wie Könige bewirten. Am nächsten Tag fahren wir weiter in Richtung Ulytau-Region, die Wiege Kasachstans, und schon bald gibt es den ersten Halt. «Ihr werdet jemanden kennenlernen!» Fortan hören wir das von Gabidulla mehrmals täglich. Er spricht – wie die meisten Kasachen – kein Englisch. Zum Glück können sich Steffi und Lilla auf Russisch verständigen. Russisch ist neben Kasachisch noch immer die zweite Landessprache. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Menschen beeindruckt uns immer wieder. Als Gast anzuklopfen, ist in dieser einsamen Gegend aber auch Pflicht. Auf diese Weise lässt uns Gabidulla an der Lebenskultur seines Landes teilhaben. Die Begegnungen laufen stets nach einem erstaunlich festen Muster ab. Als Erstes begrüssen sich die Männer mit einem – oft beidhändigen – Händedruck, während die Frauen – für uns gewöhnungsbedürftig – schlicht ignoriert werden. Dann wird man hereingebeten und setzt sich rund um den niederen Tisch auf den Boden. Die Gastgeber legen Brotstücke und Steppenwanderung. Trotz Einöde alles andere als langweilig. ç Stecken geblieben. Das schwere Gefährt zieht uns aus dem Morast. í Schöne Aussicht. Auf dem Gipfel des heiligen Ulytau-Berges. íí Dreck in der Luft. Kulisse der Bergbaustadt Zhezkazgan. Gebäck auf das Plastiktischtuch und stellen ein paar Schälchen mit Butter und Sauerrahm, manchmal auch mit Marmelade darauf. Zutaten, die man dann mit einem Teelöffel auf ein Stück Brot streicht – meist ein wunderbarer Genuss. Bei ärmeren Bauern mit einem von Fliegen schwarzen Tischtuch aber auch mal eine leicht ranzige Angelegenheit. Und natürlich darf der Tee nie fehlen. Die Frau des Hauses sitzt neben dem kunstvollen Samowar, giesst aus einem Kännchen etwas hoch konzentrierten Tee und Milch in die Trinkschalen und verdünnt das Gemisch mit heissem Wasser. 66 Meistens bieten die Gastgeber auch eine Schale Kumys an: vergorene Pferdemilch. Die leicht alkoholische und stark Vitamin-C-haltige weisse Flüssigkeit erinnert an rauchigen Kefir, erfrischt aber dank der leicht säuerlichen Note den Gaumen und wirkt sich angenehm und beruhigend auf die Verdauung aus. Für das wunderbare Getränk melken die Frauen die Stuten etwa anderthalbstündlich in kleinen Mengen. Anschliessend wird die Milch nach bestimmten Regeln gelagert, gestampft und gemischt. Bei herrlichem Wetter geniessen wir die Weiterfahrt bis zu einem sumpfigen Graben, wo wir jäh stecken bleiben. Doch es kommt noch schlimmer. Nur wenige Minuten später erleben wir, wie schnell das Wetter in der kasachischen Steppe umschlagen kann. Am Himmel brauen sich dunkle Wolken zusammen. Schon bald giesst es, wie wenn sich über uns eine Schleuse geöffnet hätte. Blitze zucken, und da der Donner fast zeitgleich über uns knallt, fliehen wir in unseren feststeckenden Faradaykäfig. Sobald es der Regen zulässt, graben wir die Hinterräder aus und unterlegen erfolglos Steine. Die Leute in einem nahe gelegenen Haus können uns auch nicht helfen. Da erinnert sich Gabidulla an einen alten Freund mit einem schweren Fahrzeug in der «Nähe». Der Sohn des Bauern reitet los – und tatsächlich: Nach Stunden bangen Wartens erscheint am Horizont laut brummend und majestätisch das rettende Ural-Gefährt in rostigem Gelb und hilft uns innert Minuten aus der Patsche. So leicht zentralasien Klein und hart. Die runden Kurt-Käschen werden zum Trocknen an die Luft gelegt. Gesattelte Pferde. Sie warten geduldig auf ihre Reiter. Stall für Nutztiere. Auf den ersten Blick idyllisch, doch das Leben ist hart hier draussen. éé werden wir kaum ein zweites Mal aus einer vergleichbaren Misere gerettet werden – das weiss auch unser Fahrer. Entsprechend vorsichtig durchquert er von nun an die weiteren Gräben. Besuch bei Bauern. Nach einer kurzen Zeltnacht erreichen wir früh den Fuss des heiligen Ulytau-Berges und erklimmen in zweieinhalb Stunden den 1100 Meter hohen Gipfel. Eine überwältigende Aussicht in die endlose Weite belohnt unseren zügigen Aufstieg: rundherum Steppe, nichts als Steppe, bis zum Horizont. Es ist Sonntag, und beim Abstieg begegnen wir einer kasachischen Familie. Als sich Steffi erkundigt, ob sie den Berg oft besteigen, sind wir verblüfft. «Das erste Mal», antwortet die Mutter, die ihr ganzes INFOS&TIPPS bisheriges Leben im Dorf unten am Berg verbracht hat. Grösse | 2 724 900 km² (etwa gleich gross wie Nach sieben Uhr abends trefArgentinien und 66 Mal so gross wie die Schweiz). fen wir auf einem idyllischen Einwohner | 16,8 Millionen. Rund zwei Drittel der Bauernhof ein, welcher zwei FaBevölkerung sind Kasachen. Mit über 20 % bilden milien eine Existenz bietet. Zudie Russen, die nach der Wende das Land in grosser erst gibt es Tee, Kumys und Zahl verlassen haben, noch immer die grösste reichhaltig Brot mit Butter und Minderheit. Zu den weiteren Minderheiten gehören Sauerrahm, Süssigkeiten und viel Usbeken, Ukrainer, Uiguren und Deutsche. Gebäck. Gleichzeitig beginnen Städte | Almaty (1,4 Mio.), Astana (Hauptstadt; die Frauen im Hintergrund zu 0,7 Mio.), Schymkent (0,6 Mio.). rotieren. Das Fleisch für das kaSprachen | Die offiziellen Landessprachen sind sachische Nationalgericht BeKasachisch und Russisch (beides Pflichtsprachen an sparmak muss vier Stunden kochen. den Schulen). Im Stall hat es Platz für ein DutReligionen | 70 % bekennen sich zum Islam mehrzend Pferde und mehrere Kühe. Für heitlich Sunniten), 26 % sind Christen (mehrheitlich die Nacht treiben die Bauern rund 600 russisch-orthodox). Schafe und Ziegen in einen Pferch. Geschichte | Vom 13. bis zum 18. Jahrhundert stand Die Menschen leben als Selbstver Kasachstan abwechselnd unter mongolischer und sorger – ein regelmässiges Geldeinusbekischer Herrschaft. Ab dem 18. Jahrhundert kommen haben sie nicht. Sie produfolgte die russische und anschliessend sowjetische zieren Fleisch, Butter, Rahm, Eier, KuHerrschaft. Seit 1990 ist Kasachstan unabhängig und mys und Kurt. Kurt ist ein scharfer wird seither vom autoritären Präsidenten Nursultan Käse, der in etwa eiergrossen Stücken Nasarbajew regiert. an der Luft trocknet und zu Wodka – Bodenschätze | Dank den vielen Bodenschätzen wie bei uns Chips zu Bier – genossen hat das Land ein enormes Entwicklungspotenzial. Es wird. Kurt hat im Mund eine ähnlich verfügt über grosse Erdöl- und Erdgasvorkommen austrocknende Wirkung wie unsowie reiche Reserven an Kupfer, Zinn, Bauxit, Gold, reife Rhabarber. Während junger Silber und vielem mehr. Kurt – zumindest dosiert – noch Klima | Kontinental geprägt. Heisse Sommer (bis einigermas sen geniessbar ist, 40 °C) und kalte Winter (bis minus 40 °C). vermögen wir vom hochgereiften, Tourismus | Spielt in Kasachstan noch eine marsteinharten Käse mit unseren ginale Rolle. Infos à www.kasachstan-tourismus.de Zähnen nicht das kleinste StückReiseliteratur | «Kasachstan», Dagmar Schreichen abzubeissen. ber, Trescher Verlag, ISBN 978-3-89794-196-0 Das Einzige, was hier an die «Landkarte Kasachstan», 1:2 000 000, Reise moderne Zivilisation erinnert, Know-How, ISBN 978-3-83177-137-0 sind die Autos, die Satellitenschüssel und der nur K A S AC H S TA N abends laufende Benzingenerator für Licht und FernRUSSLAND seher. Zum Hof führen weder Strom- noch TelefonPetropavlovsk Reiseroute der Autoren leitungen, weder Wasser- noch Abwasserrohre. Wir staunen über Kostanay die trotzdem vorherrschende Pavlovar Sauberkeit, die Ordnung und die TengisAstana Uralsk Naturreservat gelassene, mit Stolz vermischte Karaganda Aqtobe Ulytau Zufriedenheit, welche die beiden Familien ausstrahlen. Arm sind Zhezkazgan Aralsk Atyrau Qosköl sie nicht. Anhand des Marktwertes der Tiere rechnet uns GabiAralsee dulla vor, dass sie sogar reich CHINA Almaty Schymkent seien. Wenn sie etwas benötigen, USBEKISTAN KIRGISTAN fahren sie auf einen Viehmarkt, TURKMENISTAN verkaufen ein Pferd oder ein paar Schafe und kaufen mit dem Erlös Mehl, Zucker, Salz, Gewürze, Textilien, Benzin um die 2000 Hektaren – etwa hundertmal grösund was sie für die nächsten Monate gerade ser als ein Landwirtschaftsbetrieb in der brauchen. Schweiz. Natürlich nutzen sie die Fläche entsprechend extensiver. Für den Hof gibt es keine klaren BesitzverGegen Mitternacht tragen die Köchinnen hältnisse. Die beiden Familien haben für das gesamte Gebiet einfach ein 55-jähriges Nutauf einer riesigen Emailplatte das Besparmak zungsrecht. Solche Betriebe haben eine Grösse auf. Die Müdigkeit hat uns längst den Appetit sommer 2013 GLOBETROTTER-MAGAZIN 67 ç ê genommen, doch wir schlagen tapfer zu und warten dann auf das Omi, das wie eine Art Amen jede Mahlzeit, aber auch jede Tee- und Kumysrunde abschliesst, worauf sich die Tafel zügig auflöst. Bei diesem Ritual hält sich der Tischvorsitzende die Hände vors Gesicht, murmelt eine Art Gebet und schliesst laut und vernehmlich mit Omi, wobei alle gleichzeitig in einer charakteristischen Bewegung die Hände nach unten ziehen. Wolfsjäger. Nicht nur dieser Brauch strahlt tiefe Ernsthaftigkeit aus. Uns fällt generell auf, wie ernsthaft die Menschen in Kasachstan miteinander umgehen – zumindest in unserer Wahrnehmung. Selbst wenn Wodka ausgeschenkt wird, geschieht dies mit dem immer gleichen ernsten Ritual: Jemand hebt das Glas, Guter Ausblick. Lilla, Steffi und Manuel hoch zu Kamel unterwegs. Jägerlatein. Der Wolfsjäger im Gespräch mit Führer Gabidulla. Schafhirten. Sie trennen die Tiere in der Koppel für eine Impfaktion. spricht tiefernst einen Trinkspruch, und alle nehmen einen Schluck oder leeren gleich das Glas. Ohne Toast kein Schluck. Die Anwesenden können noch so angetrunken sein – wenn der Toast gesprochen wird, sind alle aufmerksam und ruhig wie eine Schulklasse. Es gelingt uns nicht immer, rund um die Uhr bei dieser ernsthaften Zurückhaltung mitzuhalten. Zwischendurch bricht Lillas Temperament durch, sie sammelt etwa, wenn wir unterwegs wieder unter uns sind, herumliegende Knochen in der Steppe zusammen und tobt sich ausgelassen und völlig unkasachisch als Lilla Feuerstein aus. Sechs Tage reisen wir so durch das Ulytaugebiet, wechseln platte Autoräder und bestei- gen einen zweiten Berg. Plaudernd trinken wir Kumys und Tee und saugen dazwischen die fantastische Weite der Steppenlandschaft auf: Hunderte von Kilometern kein Asphalt, kein Auto, kein Strommast. Hie und da steigen wir aus, atmen den intensiven Wermutduft ein, manchmal auch gemischt mit Minze und Thymian, beobachten im warmen Abendlicht, wie sich in der Ferne eine Regenwolke entleert, oder schauen einer wegfliegenden Steppenweihe nach. Immer wieder taucht auch ein Murmeltier auf, steht ein Ziesel vor seinem Bau, schwebt ein Adlerbussard über uns, zieht eine Pferdeherde vorbei oder stolziert ein Jungfernkranichpaar durch die Landschaft. Ein Wolf kommt uns nie zu Gesicht, dafür sind die einzeln lebenden Tiere im Sommer zu scheu. Ein Problem sind sie dagegen im Winter, wenn sie sich zu Rudeln zusammenschliessen und, vom Hunger getrieben, auch mal ein Pferd reissen und bis zu den Häusern vordringen. Dagegen wehren sich die Menschen, die in der Einsamkeit dem Winter trotzen, mit ihren Karabinern. Stolz präsentiert uns ein Wolfsjäger seine Waffe, seine Jagdlizenz und die selbst gefüllten Patronen: eine Ladung – ein Schuss. Auf Wolfsjagd gehen die Jäger aber niemals allein, das wäre zu gefährlich. Nicht nur bei jedem Hof, auch bei jedem Grabmal, machen wir Halt. Dann heisst es «Foto, Foto», und wenn wir nicht stramm hinstehen und knipsen, beleidigen wir Gabidulla. Eines der wichtigsten Heiligtümer Kasachstans ist das Mausoleum von Jochi Khan, dem ältesten Sohn von Dschingis Khan, den die Kasachen als Stammvater der ersten kasachischen Fürsten verehren. Überhaupt ranken sich um die Grabmäler oft Legenden über Dschingis Khan, der zu Beginn des 13. Jahrhunderts die sagenumwobene Seidenstrasse unsicher machte. Schaukeln zwischen Sandhügeln. Am 14. Tag unserer Reise erreichen wir das Dorf Qosköl: Ausgangspunkt für unser geplantes Kameltrekking durch die Halbwüste. Doch weit 68 zentralasien Container mit abgestandenem Wasser bedienen, das wir jedoch vor Gebrauch noch abkochen werden. Wodka zum Abschied. Nach vier Tagen zurück in Qosköl, erleben wir einen berührenden Abschied. Im örtlichen Kulturzentrum mit kleiner Bühne und Zuschauerraum singt uns ein Dombraspieler melancholische Volkslieder vor. Und in der Nacht gibt es ausserhalb des Dorfes in einer Jurte ein grosses Nationalspeise. Das Besparmak steht zum Zugreifen bereit in der Mitte des Tisches. Teepause. In einer traditionellen Jurte steht eine Zwischenverpflegung bereit. Jurten-TV. Solarzellen und Satellitenschüssel sorgen für Fernsehempfang. é mit Jurte und Satellitenschüssel kommt Aufregung auf: In einem Jeep ist der Tierarzt angereist. Für eine Impfaktion trennen die Hirten wild gestikulierend die Schafe im Pferch. Der Tierarzt impft Tier um Tier. Vor dem Weitertrotten dürfen wir uns am grossen mobilen Abschiedsessen – Besparmak mit frisch gegrillten reichhaltigen Schaffleischspiesschen zur Nachspeise. Während der Vorbereitung geniessen die zahlreich geladenen männlichen Gäste mit Manuel und mir schon mal ausgiebig Wodka und Kurt. Unser Blick wird glasiger, und unsere T-Shirts und Hosentaschen füllen sich mit den aufgedrängten Käschen, die wir einfach beim besten Willen nicht alle in den Magen kriegen, während im Hintergrund die Frauen in aller Nüchternheit fachsimpeln. Bevor wir uns definitiv auf die Rückreise machen, fahren wir für einen dreitägigen Abstecher ins Tengis-Naturreservat, etwa so gross wie der Kanton Tessin. Am Horizont sehen wir eine Herde Saiga-Antilopen vorüberziehen, und an den offenen Seen beobachten wir durchs Fernrohr Flamingos und Krauskopfpelikane, die in Kooperation mit Kormoranen zu fischen pflegen, sowie zahlreiche Limikolen und andere Wasservogelarten. Nach Tausenden von Kilometern Fahrt haben wir zwar nur einen kleinen Teil des riesigen Landes kennengelernt, wir haben aber die gastfreundlichen Menschen ins Herz geschlossen und kommen irgendwann zurück in die Weiten der zentralasiatischen Steppe. [email protected] sommer 2013 GLOBETROTTER-MAGAZIN © Globetrotter Club, Bern sind die vereinbarten Vorbereitungen nicht gediehen, denn in der Umgebung müssen erst mal reitbare Kamele gefunden und in eine Koppel getrieben werden. Als es gilt, das erste Tier zu testen, will es Steffi mit ihrem ausgeprägten Respekt vor grossen Tieren gleich hinter sich bringen. Sie hievt sich kurzerhand zwischen die Höcker und klammert sich mit ihrer ganzen Kraft am vorderen fest. Dieser Sprung ins kalte Wasser hilft, denn schon am nächsten Tag wird auch sie sich souverän durch die Halbwüste schaukeln lassen. Spätabends tragen uns die Gastgeber für die Stärkung zum bevorstehenden Trekking ein wunderbares Essen auf: Besparmak, das wir ja nicht zum ersten Mal geniessen dürfen. Wir greifen zu, im wörtlichsten Sinne, direkt von der grossen Platte. «Das Sauberste in Japan sind die Stäbchen, in Europa die Gabeln und in Kasachstan die Hände», haben wir uns schon bei früherer Gelegenheit belehren lassen. Doch auch wenn man sich vor dem Essen die Hände mit einem Seifenrest und etwas abgestandenem Wasser wäscht, lässt ein Blick auf die Fingernägel der arbeitenden Kasachenhände ein bisschen daran zweifeln. Die selbst gemachten Teigwarenblätter des Besparmak gleichen Lasagneblättern und schmecken auch ähnlich, verfeinert mit Zwiebeln und einem lauchartigen Gewürz. Doch kasachisches Essen besteht vorwiegend aus Fleisch: Auf den Teigwaren ist ein Berg von grossen Pferde- und/oder Schaffleischstücken aufgetürmt, welche die männlichen Gastgeber zunächst mit einem grossen Messer von Hand in mundgerechte Häppchen zerkleinern und auf die Platte zurückwerfen. Dann haben die Gäste die Aufgabe, einen grossen Knochen abzunagen, damit anschliessend auch alle anderen mit zunehmend glänzenden Händen und laut schmatzendem Mund genüsslich zuschlagen können. Bis zum folgenden Mittag haben die Verantwortlichen vier Kamele, einen Sattel, zwei Steigbügelpaare und ein paar Decken beisammen. Alles ein bisschen knapp für vier Touristen und zwei Kamelführer, aber im gemütlichen Trott sind die Kamele nicht viel schneller als Wanderer. Wir werden die Möglichkeit, zwischendurch wandern zu können, noch gerne in Anspruch nehmen. Doch mit zunehmend routinierter Reittechnik geniessen wir während vier bis fünf Stunden täglich das langsame, erhabene Tempo und zeitlose Schaukeln zwischen Sandhügeln und Krautbüscheln. Die stundenlange Mittagshitze verbringen wir jeweils möglichst regungslos am Schatten, nachts geniessen wir in der Nähe eines Hofes in unseren Zelten die kühle Finsternis. Nach einer Nacht bei einem ärmlichen Sommersitz 69 Weitere exklusive Reisereportagen lesen? Für 30 Franken pro Kalenderjahr liegt das Globetrotter-Magazin alle 3 Monate im Briefkasten. Mit spannenden Reise geschichten, Interviews, Essays, News, Tipps, Infos und einer Vielzahl von Privatannoncen (z.B. Reisepartnersuche, Auslandjobs etc.). Dazu gibts gratis die Globetrotter-Card mit attraktiven Rabatten aus der Welt des Reisens. Inklus Informieren und Abo abschliessen: www.globetrottermagazin.ch ard otter-C obetr ive Gl