Frontieres et reconciliation_Titelei

Transcrição

Frontieres et reconciliation_Titelei
Bernard LUDWIG, Andreas LINSENMANN (éd.)
Frontières et réconciliation
L'Allemagne et ses voisins
depuis 1945
Collection « L'Allemagne dans les relations internationales »
vol.° 1
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page titre.p65
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28/07/2011, 15:56
Atelier international de jeunes chercheurs organisé par l’UMR Identités, relations internationales et civilisations de l’Europe - Irice (Universités Panthéon-Sorbonne &
Paris-Sorbonne, CNRS) et la Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Historisches
Seminar, Arbeitsbereich Zeitgeschichte) les 12 et 13 février 2010 à Paris avec le soutien du Centre interdisciplianire d’études et de recherches sur l’Allemagne - CIERA
(Programme de formation-recherche 2008-2010 « Traces de guerre, mémoires et réconciliation. L’Allemagne et l’Europe depuis 1945 ») et de l’Université franco-allemande.
Aides à la publication : Université franco-allemande (UFA/DFH), Zentrum für
Interkulturelle Studien (ZIS) de la Johannes Gutenberg-Universität Mainz, UMR Irice
(Paris 1, Paris 4, CNRS).
Couverture : Destruction des barrières douanières et manifestation pro-européenne de jeunes au poste frontière entre St. Germanshof et Weiler près de Wissembourg en Alsace, le
7 août 1950. Photo : Süddeutsche Zeitung ©
Le 27 janvier 1951, la délégation polonaise traverse le pont-frontière à Francfort sur l’Oder
après la signature de l’accord définitif établissant la « frontière de paix » entre la Pologne
et la RDA sur l’Oder-Neisse. Photo : Bundesarchiv ©
Toute représentation ou reproduction intégrale ou partielle faite par quelque procédé
que ce soit, sans le consentement de l’éditeur ou de ses ayants droit, est illicite. Tous
droits réservés.
© P.I.E. PETER LANG S.A.
Éditions scientifiques internationales
Bruxelles, 2011
1 avenue Maurice, B-1050 Bruxelles, Belgique
www.peterlang.com ; [email protected]
ISSN 2034-4929
ISBN 978-90-5201-719-8
D/2011/5678/
Ouvrage imprimé en Allemagne
Information bibliographique publiée par « Die Deutsche Nationalbibliothek »
« Die Deutsche Nationalbibliothek » répertorie cette publication dans la
« Deutsche Nationalbibliografie » ; les données bibliographiques détaillées sont disponibles sur le site http://dnb.d-nb.de.
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Table des matières / Inhalt
Remerciements ................................................................................................ 9
Danksagung.................................................................................................... 11
Introduction ................................................................................................... 13
Bernard Ludwig, Andreas Linsenmann
Einleitung ....................................................................................................... 27
Bernard Ludwig, Andreas Linsenmann
La frontière germano-polonaise :
entre Guerre froide et réconciliation / Die deutsch-polnische
Grenze: zwischen Kaltem Krieg und Aussöhnung
Front – Frontière – Tansfrontalité. Allemands et Polonais
sur l’Oder et la Neisse depuis 1945 ............................................................ 45
Pierre-Frédéric Weber
„Eine Grenze, die es nicht gab“ – Die Grenzfrage
im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland
und Polen in den 1970er Jahren ................................................................. 63
Dominik Pick
Minorités, frontières et micro-histoire /
Minderheiten, Grenzen und Mikrohistorie
Die Wahrnehmung der deutsch-polnischen Grenze
in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec 1945-2007 ................................... 85
El bieta Opi owska
Les associations politiques d’expulsés dans les relations entre
l’Allemagne et la République tchèque : obstacles ou passeurs ? .......... 103
Ségolène Plyer
Guerre, frontière et rapprochement /
Krieg, Grenze und Annäherung
Mémoire civile de la Seconde Guerre mondiale
dans l’espace frontalier germano-néerlandais ......................................... 129
Christine Gundermann
Le rôle de l’espace frontalier
dans le rapprochement belgo-allemand après 1945 ............................... 159
Christoph Brüll
L’épuration de 1945 en Alsace, un vecteur de réconciliation
entre la France et l’Allemagne ? ................................................................ 179
Christiane Kohser-Spohn
Vivre aux frontières / An der Grenze leben
Grenznah – ganz nah? Subjektive Theorien
von Grundschülerinnen und Grundschülern zu Frankreich
und Franzosen in der deutschen Grenzstadt Kehl ................................ 201
Julia Putsche
Vom Verschwinden der Grenze.
Zur Situation der deutschen Minderheit in Dänemark ........................ 217
Nina Jebsen
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland.
Essay zu nationaler Identität im transmemorialen Zeitalter ................ 239
Anne Dippel
Les auteurs / die Autoren .......................................................................... 263
Index des noms de lieux / Ortsregister ................................................... 271
Index des noms de personnes / Personenregister ................................. 273
Cartes et illustrations /Karten und Bilder ............................................... 275
Entsöhnung und Zerschwisterung:
Österreich und Deutschland
Essay zu nationaler Identität
im transmemorialen Zeitalter
Anne DIPPEL
I.
Wohl kaum eine Grenze der heutigen Bundesrepublik Deutschland kündet von merkwürdigeren Beziehungen, als die zur Bundesrepublik Österreich. Unter dem Mantel scheinbarer Eintracht finden
Auseinandersetzungen statt, die nicht als Versöhnung, sondern als
Entsöhnung bezeichnet werden könnten; Dialoge der Verständigung
gemahnen mehr an Mißverständigungen; Verbrüderungen ließen
sich hier genauso gut als Zerschwisterungen deuten. Der Standpunkt
des Betrachters bestimmt die Bewertung der Phänomene. Diesem
Paradox spüre ich im Rahmen einer kulturanthropologischen Feldforschung nach. Am Beispiel österreichischer Schriftsteller innerhalb
des deutschsprachigen literarischen Feldes untersuche ich das Verhältnis von deutscher Sprache und österreichischer Nation im globalen, von digitalen Medien dominierten Zeitalter. In der Ära informationellen Überflusses und globaler Vernetzung entwickeln sich für
die Erinnerungs- und Identitätsdiskurse von Gesellschaften neue
Strukturen der Identitätsbildung, die eine Ausdehnung historischer
Raum-Zeit-Wahrnehmung und damit einhergehend eine Aufwertung von Erinnerung und Gedächtnis für die kulturelle Identitätsbildung mit sich bringen. Um dieses Phänomen zu definieren, verwen-
240
Anne Dippel
de ich im Nachfolgenden den Begriff transmemorial. Österreicher
sprechen Deutsch, sie sind aber keine Deutschen. Sie teilen Sprache,
Kultur und historische Ereignisse mit ihrem größten Nachbarn.
Anhand von Interviews und Teilnehmender Beobachtung soll der
symbolischen Qualität von Grenzen aus österreichischer Perspektive
nachgegangen werden.
II.
Zunächst werden einige Essentialia und anerkannte Erklärungsansätze zur Problematik der Grenze zwischen Österreich und
Deutschland in Erinnerung gerufen werden. Die etablierten Deutungsmuster, interpretatorische Wechselspiele von Kontinuitäten
und Brüchen im spannungsreichen Verhältnis der beiden Nationalstaaten, gründen auf dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und somit
dem endgültigen Abschied von monarchistischen Staatsformen und
dem Bekenntnis zu einer vom Volk aus konstituierten Verfassung in
Mitteleuropa. Sie sind ohne das Erlebnis alliierter Besatzung und
dem langfristig erfolgreichen Versuch der Demokratisierung des
ehemaligen Gebietes des Deutschen Reichs in den Grenzen vom 15.
März 1938 nicht zu denken. Sie erst ermöglichen, dass Österreich
und Deutschland heute als eigenständige, abgegrenzte, ergo diskrete
Nationalstaaten unabhängig von der geteilten Geschichte in einem
geeinten Europa friedlich koexistieren. Und das, obwohl sich beide
Länder mit Fug und Recht als Haupterben des durch den Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 neu geordneten und
mit der Gründung des Deutschen Rheinbundes, sowie der Niederlegung der Römisch-Deutschen Kaiserkrone durch Franz II. am 6.
August 1806 zerfallenen Heiligen Römisches Reichs Deutscher
Nation betrachten können. Die Zertrennung des ehemaligen
Reichsgebietes, von napoleonischen Interessen vorangetrieben,
zeitigte die von einer Möglichkeit zur heutigen Wirklichkeit gewordenen geteilten Entwicklung Österreichs und Deutschlands. Helmut
Rumpler konstatiert: „Für das Deutschtum in Österreich hatte diese
Trennung zunächst gar nicht so sehr im Hinblick auf seine politische
und ökonomische Herrschaft im Habsburgerstaat, sehr wohl aber
für seine kulturelle Identität schwerwiegende und nie mehr bewältig-
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
241
te mentale Folgen.“1 Über 150 Jahre waren immer wieder Einigungsversuche angestrebt worden, die jedoch allesamt scheiterten –
vom Deutschen Bund als erfolgreichem Verhandlungshöhepunkt
der europäischen Neuordnung des Wiener Kongresses am 8. Juni
1815, über die Versammlungen in der Paulskirche mit dem am 27.
Oktober 1848 verabschiedeten Programm, das die Vereinigung
keines Teils des Deutschen Reiches mit einem nichtdeutschen Land
konstatierte, den Friedensverhandlungen zwischen Preußen und
Österreich im Schloss Nikolsburg am 6. August 1866, den durch
alliierten Beschluss nicht umsetzbaren Einigungsbestrebungen der
deutschen Territorien jener zerfallenen Imperien Mitteleuropas nach
dem 1. Weltkrieg, bis hin zur katastrophalen Vereinigung unter den
totalitären Auspizien des Dritten Reichs von 1938.
An der Grenze zwischen Österreich und Deutschland offenbart
sich die Konstruierbarkeit von kollektivem Gedächtnis: Fragmente
einer Ereignisgeschichte können je nach aktueller politischer Situation neu gruppiert werden und ergeben jeweils ein kohärentes Mosaik.
Aus diesem Grund dient sich eine Definition dieses Phänomens als
transmemorial an.
Transmemorialität zeichnet aus: 1. Gedächtnis und Erinnerung
bekommen im Rahmen kollektiver sozial-kultureller Kontinuen eine
außergewöhnliche Wichtigkeit. 2. Erinnerung dehnt sich als zeitliche
Wahrnehmung in die Erfahrung von Dauer aus: Bewegte Bilder,
Fotografie und Tondokumente ziehen die Vergangenheit in das Jetzt
der Gegenwart auf bis zu diesem Zeitpunkt ungeahnte Weise sinnlich erfahrbar herein. Internet und Computertechnologie speichern
eine Vielzahl von Informationen und Wissen ohne sichtbare Spuren
zeitlichen Verfalls. Die digital-elektronischen Speichermedien simulieren Aktualität von längst Vergangenem, genauso wie sie Lebendigkeit von Unbelebtem simulieren. Das Erzählen des Ereigneten
via Schrift erfährt eine andere Qualität, die über das Darstellen und
Erinnern hinaus geht und ihre medialen Bedingungen und Begrenzungen offenbart. Somit ergibt sich 3. Er-zählen ist im transmemorialen Zeitalter Sache der Maschinen. 4. Er-innern bleibt dem Menschen wesenhaft. 5. So genannte Identitäten, ob kollektive oder
individuelle, eigenen sich aus dem selben historischen Ereignispool
1
Helmut RUMPLER, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und
Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, in: Wolfram VON HERWIG (Hg.), Österreichische Geschichte 1804-1914, Wien 1997, S. 68.
242
Anne Dippel
die jeweils für sie notwendigen Identitätsmarker an und deuten sie
sich zu ihrem eigenen identitären Codierungssystem um, das von
Anderen, besonders Nahestehenden gedeutet und en detail dekodiert
werden kann. 6. Die klassischen Grenzen und Regelwerke der
Verwandtschaftssysteme, der Religionen, des Rechts, erfahren durch
mediale Interkonnektion eine Umwertung: Einerseits finden wir eine
Verstärkung und Rückbesinnung auf traditionelle Werte, andererseits eine Suche nach neuen Regelsystemen, die der heutigen Umwelt eines in komplexen von Rechenmaschinen und Technik abhängigen Gesellschaftssystemen entspricht. 7. Das Leben im Jetzt der
Vernetzung verstärkt die Kollektivsehnsucht des Einzelnen und
fördert die Sehnsucht nach Individuation in der Masse.
Durch die im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten medialen
Speichermöglichkeiten erscheinen Vergangenheiten, selbst wenn sie
über zwei oder drei Generationen zurückreichen, ungeheuer nah. Sie
fügen sich in das kulturelle Mosaik der Gegenwart. Erst bei genauer
historiographischer Betrachtung treten Inkonsistenzen in der jeweiligen Darstellung offen zu Tage. Je näher man an das vorgestellte
Geschichtsbild im transmemorialen Zeitalter herantritt, desto ungenauer erscheint die rückwirkende Darstellung der Ereignisse, desto
fiktionaler, gegenwartsbezogener wirkt der Charakter der wissenschaftlichen Erzählung.
Die Bundesrepublik Österreich erfuhr ihren heutigen territorialen
Ursprung im Vertrag von Saint-Germain, am 2. September 1919
unterzeichnet, der die Friedensordnung Kronländer der ehemaligen
habsburgischen k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn regelte. Die
Erste Republik Österreich war nur von kurzer Dauer. Sie mündete
am 1. Mai 1934 im austrofaschistischen Ständestaat und endete am
12. März 1938 mit dem Einmarsch von Hitlers Truppen und dem so
genannten „Anschluss“ an das Deutsche Reich als „Ostmark“. Der
Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 schloss sich die
Konstitution des österreichischen Staates auf der Basis des Mythos,
Österreich sei das „erste Opfer des Faschismus“ an. Dieser Diktion
bedienten sich die Großmächte auf der Moskauer Konferenz von
1943. Die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober/1. November
1943 wurde durch „die politische Tradition“ zu einem „Gründungsdokument der 2. Republik hochstilisiert.“2 Seither ist die Teilung der
2
Zum Opfermythos siehe Ernst HANISCH, 1890 – 1990, Der lange Schatten des
Staates : österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Wolfgang
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
243
ehemaligen Kernlande des Heiligen Römischen Reichs Deutscher
Nation endgültig und wird von der überwiegenden Mehrheit der
österreichischen Bevölkerung auch nicht mehr, so wie nach dem
Ersten Weltkrieg noch, in Frage gestellt. Ernst Hanisch resümiert,
die Großstaatssehnsucht der Österreicher sei erloschen. Der kleine
Staat sei nun als jene Insel erschienen, auf die man sich vor dem
deutschen Zusammenbruch retten habe können. Alles Deutsche sei
verpönt gewesen. Die Verantwortung für die Verbrechen des NSRegimes sei allein den Deutschen angelastet worden. Von oben habe
die Propaganda eines enthusiastisch-verkrampften österreichischen
Patriotismus begonnen, die sich um die historischen Fakten wenig
gekümmert und bei der Konservative und Kommunisten einträglich
zusammengearbeitet haben; nur die Sozialisten hätten sich dabei als
etwas störrisch erwiesen3.
So wie Auschwitz in diesem Spektrum als „negativer Pol der österreichischen Geschichte“4 fungiert, bildet das scheinbar einträchtige, multikulturelle Miteinander unter der Herrschaft des Hauses
Habsburg heute den positiven Pol innerhalb gedächtniskultureller
Diskurse. Wohl nirgendwo ist letztere Erinnerung verdichtet wie im
lebendigen Mythos des Wiener Kaffeehauses. Hier sitzen Menschen
aller Zughörigkeiten einträchtig beieinander. Die Zwietracht der
Menschen hat Kaffeepause. Aus dieser komplexen Konstellation
generieren sich alle heute üblichen Narrative: 1. Das politikgeschichtliche Narrativ, besonders prominent von Langewiesche,
Frevert und Smith beschrieben, zusammenzufassen in der Abwandlung eines Heraklit’schen Diktums: „Krieg ist der Vater der Nation“5. Für den Verlauf der österreichischen nationalstaatlichen Ent-
3
4
5
HERWIG (Hg.), Österreichische Geschichte Band 11, Wien 1994. S. 399. Sowie
Siegfried MATTL, Karl STUHLPFARRER, Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der
Zweiten Republik, in: Emmerich VON TÁLOS, Ernst HANISCH, Wolfgang
NEUGEBAUER, Reinhard SIEDER (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich, Wien 2000,
S. 902-934.
HANISCH, Der lange Schatten (Anm. 2), S. 398.
Ernst HANISCH, Der Ort es Nationalsozialismus in der österreichischen Geschichte, in: VON TÁLOS, HANISCH, NEUGEBAUER, SIEDER (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich (Anm. 2), S. 11-25, 11.
Dieter LANGEWIESCHE, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und
Europa, München 2000, besonders S. 26-31, sowie die Kapitel 8 und 9: Deutschland und Österreich: Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19.
Jahrhundert, sowie Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte,
S. 172-216. Ute FREVERT, Gründungs-Legenden 1948: Die Geburt zweier Staaten
aus dem Geist einer Revolution, in: Aleida ASSMANN, Ute FREVERT (Hg.), Ge-
244
Anne Dippel
wicklung sind hier vor allem also der Vertrag von Saint-Germain,
sowie die von den Alliierten Mächten im Sommer 1945 auf der
Potsdamer Konferenz konstatierte Mitschuld am Zweiten Weltkrieg
entscheidend6. Soziokulturelle Kontinua wie sie Nationalstaaten
darstellen werden durch kriegerische Auseinandersetzungen und den
darauf folgenden Friedensordnungen konstruiert. 2. Das ethnolinguistische Narrativ, zuletzt durch Mirow in den Geschichtswissenschaften, in der Germanistik von Schlaffer behandelt, stellt den
historischen, sprachlich-kulturellen Zusammenhang der heutigen
Staaten Österreich, Schweiz und Deutschland ins Zentrum und
verfolgt in einer transnationalen Geschichtsschreibung Kontinuitäten und Brüche eines mehr oder weniger einheitlich begriffenen
soziokulturellen Raums7. 3. Das sozialgeschichtliche Nationalstaatsmodell, geboren aus Hegelschem Idealismus, für Österreich von
Hanisch und Reiterer umfassend beschrieben8. Das Dispositiv des
Nationalstaates produziere Bürger, das Recht setze Grenzen, die
Idee der Nation verselbständige und verfestige sich zugleich. 4. Das
geographische Narrativ, vor allem von Geiss dargelegt, erörtert die
exponierte Lage Österreichs zwischen Alpen und Adria für die
6
7
8
schichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen
Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 151-172. Anthony D. SMITH, National Identity, London 1991, besonders S. 30-33.
Vgl. Proklamation vom 27. April 1945, veröffentlicht als Staatsgesetzblatt für die
Republik Österreich, Jg. 1945, 1. Stück, ausgegeben am 1. Mai 1945, in: Österreicher und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport. Wien
1989, S. 148-149.
Heinz SCHLAFFER, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002.
Jürgen MIROW, Deutsche Geschichte - (k)eine Nationalgeschichte. Staatliche Einheit und Mehrstaatlichkeit, Volkszugehörigkeit und Nation in der deutschen Geschichte, Gernsbach 2002. Mit anderem ideologischem Hintergrund, doch in ähnlicher Weise argumentiert auch: Lothar HÖBELT, Österreichisch= deutsch
bundesrepublikanisch, in: Gerhard BOTZ, Gerald SPRENGNAGEL (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte: Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität,
Waldheim und die Historiker, Frankfurt am Main 1994, S. 338-345. Eine kritische
Auseinandersetzung mit volks- und nationenorientierten Argumentationsstrategien
zur Konstruktion von Identität findet sich bei: Wolfgang KASCHUBA, Volk und Nation: Ethnozentrismus in Geschichte und Gegenwart, in: Heinrich A. WINKLER,
Hartmut KAELBLE (Hg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, Stuttgart 1993, S. 56-81.
HANISCH, Der lange Schatten (Anm. 2); Albert F. REITERER, Die unvermeidbare
Nation. Ethnizität, Nationalität und nachnationale Gesellscchaft, Frankfurt am
Main 1988.
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
245
Entwicklung einer eigenständigen Nationalgeschichte Österreichs9.
5. Im dynastisch-religiösen Narrativ, prominent von Johnston ausgearbeitet, ist freilich das Erbe der habsburgischen, katholischen
Vielvölkermonarchie Österreich von besonderer Bedeutung10. Vom
Fortwursteln bis zum Vernadern, vom morbiden Humor bis zum
barocken Sprechen, von der Höflichkeit bis zur Grantigkeit finden
sich hier Kontinuitäten erörtert, die bis in die Zeit der josephinischen Reformen zurückreichten. 6. Das Trauma-Modell, zuletzt von
Langewiesche und Birbaumer pointiert zur Diskussion gestellt, hebt
den unterschiedlichen Umgang an der Beteiligung der Verbrechen
unter dem Nationalsozialismus und deren Verarbeitung für die
divergierende Entwicklung des Nationalbewusstseins in Deutschland und Österreich hervor. Die Kriegsniederlage wurde in Letzterem nicht in positives Lernen umgesetzt, es seien keine Ängste
durch Massenmord und Entrechtungspolitik entstanden, die Vergangenheit sei verdrängt worden und als Folge leide Österreich
unter einem kollektiven posttraumatischen Stresssyndrom11.
Aus den bisher aufgezählten Narrativen speist sich die Erklärung,
dass das spannungsreiche Verhältnis von Deutschland und Österreich bis heute aus der Nähe heraus geboren ist. Die jeweilige Nationalgeschichte resultiert aus gleichen Ereignissen aber unterschiedlichen Perspektiven. Die Sprache ist nicht bloß die gleiche,
geschrieben ist sie dieselbe Sprache. Die kulturellen Mythen sind
eins: Schauplätze der Nibelungensaga liegen in Österreich, das
Deutsch der Wiener Kanzleien ist für die Entwicklung der Hochsprache von nahezu ähnlicher Bedeutung wie die Übersetzung der
Bibel durch Luther und seine Mitstreiter; die Gebrüder Grimm
sammelten ihre Märchen auch in dieser Region, die Gegenreformation war hier so gnadenlos und umfassend, weil der Protestantismus
9
10
11
Imanuel GEISS, Geschichte griffbereit. Band 5: Staaten. Die nationale Dimension
der Weltgeschichte, München 2002, S. 155.
William M. JOHNSTON, A Nation without Qualities: Austria and ist quest for a
national Identity, in: Peter BOERNER, Concepts of National Identity. An Interdisciplinary Dialogue, Baden-Baden 1986, S. 177-186. Derselbe, Österreichische
Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938,
Wien 1972, ebenso in Neuübersetzung: Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Wien 2009.
Niels BIRBAUMER, Dieter LANGEWIESCHE, Neuropsychologie und Historie Versuch
einer empirischen Annäherung. Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und
Soziopathie in Österreich nach 1945, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006) 2,
S. 153-175.
246
Anne Dippel
so erfolgreich war. Dann: Szepter und Reichsapfel des Heiligen
Römischen Reichs liegen in Wien – der Thron Karls des Großen in
Aachen. Und nicht zuletzt: Beethoven kam aus Bonn, Hitler kam
aus Braunau am Inn. Letzterem wurde die Ehrenbürgerwürde seiner
Geburtsstadt erst am 8. Juli 2011 aberkannt. Religion und Herrschaftssysteme zeitigten ähnliche hierarchische Machtstrukturen,
obwohl der Anteil der Katholiken im Deutschen Reich unter Preußen gerade ein Drittel betrug, der Anteil der Protestanten unter der
deutschen Bevölkerung der transleithanischen Reichshälfte Österreich-Ungarns unter zehn Prozent lag. Und doch: Die Kraft des
Nationendispositivs stellt eigenständige Staaten her. Sie formt die
Perspektive auf historische Ereignisse aus der Vergangenheit für die
Bedürfnisse der jeweiligen Gegenwart um.
Die vorgestellten Narrative möchte ich im Folgenden um Thesen
zur gegenwärtigen medialen Verschränkung Österreichs und Deutschlands erweitern, und beispielhaft deren Auswirkungen auf nationale
Identität darlegen. Österreich und Deutschland bilden heute einen
Kommunikationsraum – korrekt formuliert formieren sich hier Akteure und Strukturen, Diskurse und Dispositive zu einer netzartigen
Struktur, die als ein kontingentes Kommunikationsraumzeitkontinuum bezeichnet werden können. Dies schließt neben der Zirkulation von
Berechenbarem, wie Geld und Waren, Arbeitskraft und technologischem Wissen auch die Zirkulation von Unberechenbarem, nämlich
Wörtern und Schrift, Sprache und Denken mit ein. Geschichte und
Gedächtnis, Dichten und Denken bilden hier Schichten der Zeit in
denen sich und durch die sich Identität bildet. Dies ist eines der
zentralen Merkmale von Transmemorialität. Dabei wirkt das Nationaldispositiv im Rahmen transmemorialer Prozesses als eine Falte,
eine „Zone der Subjektivierung“12, in der sich ein jeweiliges Innen, das
wir heute als „Identität“ bezeichnen, bildet. Vor allem Fernsehen,
Radio und Internet bestimmen heute den Alltag der Mehrheit von
Österreichern und Deutschen. Elektronische Medien heben traditionelle Grenzen auf, stellen aber freilich andere Begrenzungen her,
ausgelöst durch die technische Abhängigkeit und die ästhetische
Strukturierung der jeweiligen Medien, sei es durch Bild-, Ton-, Schriftund/oder Zahlenübertragung. Die Grenzen des Nationalstaates
verschieben sich durch ständige Verbindung, trotzdem nimmt das
jeweilige Bewusstsein für nationale Identität eher zu als ab. So wie die
12
Vgl. Gilles DELEUZE, Foucault, Frankfurt am Main 1997, S. 169.
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
247
Schlagbäume zwischen Österreich und Deutschland vom Inkrafttreten des Schengener Abkommens am 26. März 1995 aufgehoben
wurden, verschleifen sich ehemals klare Grenzen des Dialekts, der
kulturellen Erlebnisse, der lokalen Identifikation durch die vernetzte
Welt der digitaler Medien.
Das Bedürfnis nach Abgrenzung und Identitätsbildung erfährt im
Rahmen dieser Neuerungen indes Verstärkung. Identitäre Differenzmarker lassen sich im Alltag über Stereotype ausfindig machen,
sie bleiben bei genauerem Nachfragen oft im Vagen emotionaler
Befindlichkeiten. Beispielhaft dafür sind die Ausführungen eines
deutschen „NC-Flüchtlings“13, einem Biologiestudenten auf einer
kleinen Party in Wien, bei einem Gespräch über das Leben als
„Piefke“14 in Österreich heute: „Klar, alle paar Wochen hört man im
Radio etwas über Deutschland. Und ich fühle mich hier nicht so, als
ob ich in Deutschland wäre, es ist irgendwie anders, obwohl sie
Deutsch sprechen. Aber worin der Unterschied besteht, es ist bloß
ein Gefühl, ich kann nicht genau sagen, worin der Unterschied liegt.
Aber Deutschenfeindlichkeit, nein, das ist mir bis jetzt nur ganz
selten passiert.“15
Die mediale Präsenz historischer Ereignisse bestimmt heute
mehr denn je, das Bild, das wir von uns und unseren Nachbarn
13
14
15
NC-Flüchtling umschreibt lakonisch einen in Österreich studierenden Bürger der
Bundesrepublik Deutschland, der in seinem Geburtsland sein Wunschstudium
nicht aufnehmen konnte, da seine Abitursnote weit unter des in Deutschland Studienzugänge reglementierenden Numerus Clausus liegt. In Österreich existiert kein
Numerus Clausus.
„Piefke (Pifkineser): der Deutsche, besonders in lautstark urlaubender Form (nach
dem deutschen Militärmarschkomponisten“, in: Astrid WINTERSBERGER, Hans C.
ARTMANN, Österreichisch-Deutsches Wörterbuch, Wien 1995, S. 64. Piefke ist ein
Ethnophaulismus, d.h. eine abwertende, umgangssprachliche Bezeichnung für
deutschsprachige Bürger der Bundesrepublik Deutschland, vor allem aus Regionen
mit nicht-bajuvarischen Dialekten. Der Begriff ist in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, vermutlich auf der preußischen Siegesfeier anlässlich der Schlacht bei Königgrätz entstanden und karikiert ursprünglich den militärischen, überkorrekten, in
harter Aussprache sprechenden Preußen. Ab 1850 war der Begriff Piefke, ein ostdeutscher Name, Bezeichnung einer Berliner Witzfigur „Piefke“ ähnelt der im
Bayerischen verbreiteten Bezeichnung „Preiß“ für Norddeutsche. (Vgl. Ulrich VON
AMMON (Hg.), Variantenwörterbuch des Deutschen, u.a. Berlin 2004, S. 574. Schon
Gregor VON REZZORI beschreibt in „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“ die
vorherrschenden Ressentiments gegen „die Piefke“. In den frühen 1990er Jahren
erlebte der Begriff durch Felix Mitterers Fernsehserie „Die Piefke-Saga“ enorme
Popularität. Heute wird der Begriff teils abwertend, teils wertneutral verwendet.
Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 7.11.2009.
248
Anne Dippel
gewinnen. So wurden die bundesrepublikanischen Feierlichkeiten
anlässlich der zwanzigjährigen Wiederkehr des Mauerfalls vom
9. November 1989 im Jahr 2009 in ganz Österreich ebenso ausgestrahlt, wie in der Bundesrepublik Deutschland. Es kann daher nicht
verwundern, dass ich um den 9. November Wiener Kinder beim
Spielen rufen höre: „Komm, wir fliehen über die Mauer.“ „Wir
müssen so schnell wie möglich in den Osten rüber, sonst kriegen sie
uns.“ „In den Osten, Du Trottel, in den Westen müssen wir.“ Und
fünf Minuten später sagt einer der Väter: „Ich war einer der ersten,
die im Osten waren.“16 Alltägliche Verhandlungspraxen zur Konstitution nationaler Identität sind heute durch globale Vernetzung und
mediale Kongruenz bedingt. Diese These möchte ich nachfolgend
vertiefen.
III.
Paradox geschrieben: Wenn ich nicht fort bin, bin ich im Feld.
Ich brauche ja nicht darzulegen, dass es weder das militärische –
noch das physikalische Feld ist, schließlich bin ich weder ein Soldat,
noch ein Teilchen. Es ist aber auch nicht das soziologische Feld rein
empirischer Beobachtung, sondern das weiche Feld der Kulturanthropologie, das ich, mit der harten Ausbildung einer Historikerin
gewappnet, vor acht Monaten betreten habe. Seither lebe ich im
liebreizenden Wien und fühle mich von meiner gewählten Heimat
Berlin zumeist weit entfernt, so, als ob ich ein existentielles Kletterabenteuer am Cerro Torre in Patagonien erlebte. Um den Schritt
einer Feldforschung zu wagen, haben thematische und systematische
Gründe den Ausschlag gegeben: Einerseits ist das Thema der österreichischen Nationalität seit den 1980er Jahren ausgiebig und ganz
hervorragend bearbeitet worden, detailgetreu von Mikrostudien
zahlreicher Magistranten und Dissertanten bis hin zu weitblickenden
Entwürfen arrivierter Historiker wie Ernst Hanisch, Dieter Langewiesche oder William M. Johnston. Andererseits darf ich bei einer
kulturanthropologischen Feldforschung sowohl Vergangenheit als
auch Gegenwart in Betracht ziehen, vielerlei subjektive Methoden
anwenden, mich in hermeneutischer Quellenkritik genauso üben,
wie in qualitativem Interview oder Teilnehmender Beobachtung.
Mein Feldtagebuch – ob elektronisch oder analog, oral oder literal –
16
Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 7.11.2009.
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
249
ist Gedankenraum und oft auch Blitzableiter für Erlebtes in einem
mir fremden soziokulturellen historischen Kontinuum. Alles in
allem beschreibe ich, was ich sehe und lese, und höre und spreche,
fühle und erfahre: Und was ich dann erlebt und analytisch geordnet
habe, ordne ich zuletzt schriftlich; gegliedert in einen Mix aus kasualer Erörterung an herausragenden Beispielen und prinzipieller Treue
zu grundsätzlicher Problemstellung. So entsteht eine Systematik, die
den Gesetzen wissenschaftlicher Objektivität und Nachprüfbarkeit
trotz all dieser dubiosen Mischungen gerecht wird. Wie Mythen des
Alltags erscheinen manche Autoren im literarischen Feld – und an
ihnen lassen sich die Mythen einer noch sehr jungen Nation und
einer alterslosen Sprache, dem Deutschen, erörtern. Aber nicht bloß
Schriftsteller, sondern auch Wissenschaftler stiften Einsichten zu
meinem Thema – und das in ganz alltäglichen Situationen, wie ich
anhand der nachfolgenden Dichten Beschreibung, einer wahrhaft
Teilhabenden Beobachtung, demonstrieren möchte.
Konkret beschäftige ich mich mit Interferenzen zwischen zwei
verschiedenen Kräften: Nation und Sprache. Beide wirken völlig
unterschiedlich, oder wollen wir sagen, weil wir über „das Deutsche“
und „die Österreicher“ sprechen, Deutsch sprechen und – Österreichisch
sein wirken im Diskursiven völlig gegensätzlich. Und ich bin der
Überzeugung, dass diese dialektischen Interferenzen zweier außerordentlich wirkmächtiger Dispositive zu ganz merkwürdigen Produktionen des Geistes und zu ganz außerordentlichen Beobachtungen von Gesellschaft führen können. Wie Elfriede Jelinek es
exemplarisch zum Fall Fritzl auf den Punkt brachte: „Österreich ist
eine kleine Welt in der die große ihre Probe hält.“17
In so einem Feld lernt man daher nicht bloß über die Frage, wie
sich Nation, Schreibwerkzeuge und Sprache als kollektivierende
Kräfte im Zeitalter globaler Marktwirtschaft auf Beruf und Berufung
des einzelnen Schriftstellers auswirken. Eine Studie unter Intellektuellen und Künstlern in einer komplexen postindustriellen Gesellschaft, lehrt noch allerlei anderes. Zum Beispiel Interessantes zur
Frage des Wie-zu-Gehör-Bringens eines Themas in globalen Zeiten.
So geschah es mir am Abend des 9. November, als ich nach einem
aufschlussreichen Vortrag zur Praxis genealogischer Forschung zu
Beginn des 21. Jahrhunderts im Kreis der üblichen akademischen
17
Elfriede JELINEK, Im Verlassenen, 2008. Auf: www.elfriedejelinek.com (Stand April
2010).
250
Anne Dippel
Szene aus Mittelbau, Professoren, interessierten Laien und Studenten kurz vor oder nach Einreichen ihrer Magisterarbeit um einen
Stehtisch stand, ein Glas G’spritzten (vin blanc-soda) in der Hand, in ein
lebhaftes Gespräch mit einer Romanistik-Professorin der Wiener
Universität verwickelt. Noch ganz erfüllt von einem Interview mit
dem österreichischen Autor Peter Rosei18, Träger des Österreichischen Staatspreises, stürzten wir in ein Gespräch zu meinem Thema.
Ich fragte sie, ob sie das nicht auch kenne, in einer Sprache ein ganz
anderer Mensch zu sein, als einer anderen. Ich sagte: „Im Englischen halte ich mich für viel witziger, viel kürzer angebunden und
schlagfertiger als im Deutschen – und im Französischen darf ich
meiner Liebe zur subtilen Ironie, zum erzählenden Esprit – mehr
nachgehen.“ Sie sagte: „Natürlich kenne ich das, zum Beispiel ist es
für mich so, wenn ich in Italien einen Vortrag halte oder in Frankreich oder in Deutschland. Es ist immer anders. In Deutschland
fühle ich mich ja oft fremd. Wenn man dann die Einzige ist, die kein
Hochdeutsch spricht. In Italien beginnt man am besten immer mit
einer kleinen Geschichte. Und in Frankreich, da darf man auf keinen
Fall mit den Termini Technici ankommen. Das mögen die gar nicht.
Während man in Deutschland sofort mit Begriffen um sich schmeißen muss. Und es ist so: Wenn ich das nicht mache, dann verstehen
die mich einfach gar nicht. Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, dass ich in jeder Sprache anders schreibe und dass ich nicht
übersetzen kann, sondern immer gleich in dieser Sprache schreiben
muss.“19 Georges-Arthur Goldschmidt beschrieb jenes Phänomen,
er konstatierte, dass jede Sprache dem Menschen ein anderes Gesicht verleiht: „Ich, der die Sprache spricht, bleibe hinter der Sprache, dafür ist sie da.“20 Aber zurück zum Feld: Es war der 9. November und dieser Abend endete ganz dionysisch, bald war die
ältere Romanistin gegangen, nach und nach leerte sich der Raum
und es blieb der harte Kern – beseelt von Wein und bespielt von
Musik aus Mac-Boxen, angekabelt an die Youtube-Welt des globalen
Zeitalters. Wir hätten ja, wie üblich, gemeinsam ins Café Bendl gehen
18
19
20
Peter Rosei, geboren am 17. Juni 1946, ist ein einflussreicher österreichischer
Schriftsteller Wiener Herkunft. Früh schon mit der lautmalerischen
Dialektdichtung H.C. Artmanns in Kontakt gekommen, konzentrierte sich seine
Prosa indes auf die Darstellung von Landschaften. Sein in Österreich vielfach
ausgezeichnetes Werk durchzieht ein pessimistisch bis melancholischer Ton.
Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 10.11.2009.
Georges-Arthur GOLDSCHMIDT, Freud wartet auf das Wort, Zürich 2006, S. 11.
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
251
können, dem Beisel hinter dem Rathaus, das bis zum frühen Morgen
offen hat. Dort warteten schon die Anderen. Aber ein ostdeutscher
junger Professor hatte seinen Erinnerungsblues, er wollte partout
nicht über den 9. November sprechen – so kam es, dass wir natürlich nur über den 9. November sprachen und ein wenig in der Zeit
vor 1989 lebten. Aus dem Feldtagebuch: „Irgendwann waren wir dann
nur noch drei: Ein österreichischer Doktorand mit internationalistischer Vergangenheit lacht gemeinsam mit dem stolzen Karl-MarxStädter über mich, sie haben mit mir als einziger Westdeutschen
einen Heidenspaß. Zu später Stunde verkündet der hochgeschossene und sehr eloquente ehemalige protestantische Pfarrersanwärter:
„Wenn ich in Wien bin, habe ich das Gefühl, endlich wieder zu
Hause zu sein.“ Der österreichische Ex-Stalinist fragt durch seine
dicken Brillengläser hindurch: „Ach ja? Wie das?“ Der junge Professor sagt „Zum Beispiel, wenn ich bei der Post bin. Dann brauchen
die dort so lange, ich stehe dort so lange an, die Postangestellten
hinter dem Schalter sind so unfreundlich – es ist genau so wie früher.“ Ich sage: „Das ist mir auch schon aufgefallen. Die sind hier
extrem langsam.“ Ich erinnerte mich an das erste Mal in einer
Wiener Post im frühen Sommer, eigentlich wollte ich nur schnell
einen Brief aufgeben. Die Frau hinter dem Schalter war so bräsig,
ich hätte sie am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt. „Du
bist ja sowieso total anders. Du bist die einzige, die hier nicht wirklich dazu gehört, Du Wessi.“ Das verkündet der junge Professor von
seiner inneren Kanzel und der marxistische Österreicher pflichtet
ihm mit erhobener Faust freudig bei. Glücklich kichern der Ösi und
der Ossi vor mir herum. Ich widerspreche vehement: „Moment, ich
bin gelernte Ostlerin, das bin ich, jawohl, ich habe zehn Jahre in
Berlin gelebt, ich weiß um die zwei Bedeutungen von Freiheit, und –
„mir wurde bewusst, dass es um diese Zeit keinen Zweck mehr hatte
über Freiheit der Warenwelt versus Freiheit von Warenwelt zu
diskutieren, „Und ich bin, ach, okay, ich bin Euch heute die Wessi.“
Der Abend endete mit einer Parade von FDJ-Liedern bis hin zur
Internationale. Die konnten wir übrigens alle singen – meine politischen Westlieder, bezogen auf die prekäre Gegenwart im postindustriellen globalen Zeitalter interessierten niemanden. Alles in allem
war es wohl der un-1938igste 9. November meines Lebens – und
sicher auch der Lustigste. Vermutlich genau deshalb.“21 Der Zufall
21
Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch, A.D., 10.11.2009.
252
Anne Dippel
will es übrigens, dass ich eine Woche später im Essayband Mein
liebster Feind von Robert Schindel über den „ähnlichen Blick“ lese,
den DDR und Österreich auf die Bundesrepublik geteilt hätten und
dem es nachzugehen gelte22. Wir drei indes hatten viel Freude; und
auch einen großen Kater am nächsten Tag. Und ich kann eine
seltsame Geschichte über relative nationale Identität aufzeichnen.
Nun übe ich mich auch in diesem Aufsatz den Rheingraben im
Zickzack zu überspringen und weder mit Termini Technici um mich zu
schleudern, noch zu sehr dem Fluss des Erzählens, dem Diskurs im
Essay zu folgen. Denn ich halte den deutsch-französischen Dialog
des Denkens und Erzählens nicht bloß für außerordentlich befruchtend, sondern für die jeweiligen Traditionen notwendig und unumgänglich. Wie es mit Deutschland und seinen Nachbarn nun steht,
ist anhand dieses Eintrags aus meinem Feldtagebuch offensichtlich
schwieriger als wir heute, über zwanzig Jahre nach dem Fall der
Mauer, wahrhaben wollen. Wir sehen da ein Deutschland und denken vom Jetztpunkt aus die Vergangenheit zurück, so wie Österreich
als ein Nachbar Deutschlands erscheint und nicht als ehemaliger Teil
desselben, über mehrere Jahrhunderte sogar Herrschaftszentrum
dessen, was Nährboden des heutigen Deutschlands vor Preußens
Prägung war und auch nach ihr blieb: den Sprechenden dieser
Sprache, denen, die, im Sinne der Saussure’schen langue, Deutscher
Zunge sind. Franz Grillparzer schrieb schließlich nicht ohne Grund
zur Reichsgründung unter Bismarck 1871: „Ihr glaubt, ihr habt ein
Reich geboren, und habt doch nur ein Volk zerstört“23. Erst später,
in den 1920er Jahren, gelang der irrtümlich Karl Kraus zugeschriebene Aphorismus: „Der Österreicher unterscheidet sich vom Deutschen durch die gemeinsame Sprache“24. Es sei hier an den Gemeinplatz erinnert, dass die Deutschen das einzige Volk Europas sind,
das von all seinen Nachbarn einen anderen Namen verliehen bekommt. Von dieser Sicht aus könnte man sagen, dass wohl niemand
genauer weiß, was Deutschland sei, als Österreich – vor allem, seit22
23
24
Robert SCHINDEL, Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen, Frankfurt am
Main 2004, S. 60.
Zitiert bei Jörg KIRCHHOFF, Die Deutschen in der österreichisch-ungarischen
Monarchie. Ihr Verhältnis zum Staat, zur deutschen Nation und ihr kollektives
Selbstverständnis. 1866/67-1918, Berlin 2001, S. 53.
Robert SEDLACEK, Entlarvt: Der falsche Karl Kraus, in: Wiener Zeitung vom
10. Januar 2007. http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4103
&Alias=wzo&cob=264760 (Stand April 2010).
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
253
dem es eine eigene Nation geworden ist, also nach 1945 – wenn man
möchte, natürlich nach 1919 schon, mit dem Vertrag von SaintGermain. Oder besser: Dass von keinem Standpunkt aus Deutschland „deutschländischer“ ist als von Österreich aus, dort nämlich,
wo man Deutschland besonders genau beobachtet und tagtäglich im
Fernsehen mitverfolgt; denn außer den Werbeprogrammen, zwei
öffentlich-rechtlichen Kanälen und einem Privatkanal ist das österreichische Fernsehen das gleiche Fernsehen wie das Deutsche Fernsehen, und die Österreicher haben das schwere Schicksal – oder das
große Glück – nicht bloß einmal das Spektakel „Deutschland sucht
den Superstar“ in ihrer Muttersprache präsentiert zu bekommen,
sondern auch noch einmal das gleiche auf gut Deutsch, aber eben als
„Starmania“ im ORF 1 zu verfolgen. Und so kommen nicht umsonst die scharfsinnigsten Fernsehkritiken aus Österreich, etwa aus
der Feder des Essayisten Franz Schuh25. Es ist der randständige
Blick im großen Strom der Nachrichtenübertragung, der hier die
strukturellen und diskursiven Beschaffenheiten eines massenmedialen Kommunikationsraums kritisch zu erhellen vermag.
IV.
„Wir haben die Entwicklungen in Deutschland immer sehr genau
beobachtet“ sagte ein kluger österreichischer Kulturwissenschaftler
im Gespräch. „Österreich hat sich in der Ära Kreisky geöffnet. Der
Opfermythos begann mit dem Ende der Selbstprovintialisierung zu
bröckeln. Popkultur und eine andere Konsumlandschaft veränderten
das Bild des Alltags. Wir haben den französischen Film gesehen, die
US-amerikanische Wissenschaft verfolgt, die britische Literatur und
auch ganz genau die politische Entwicklung von 1968 beobachtet,
das Entstehen der RAF und das Auskühlen einer linken Jugendbewegung.“26 Er stockt kurz und sieht ins Leere. Und ich höre unwillkürlich die Nachrichten von Krone Hit, dem Sender des MedienTycoons Dichand. Wie er mich beim Einkaufen an der Kassa im
Zielpunkt – dem österreichischen Plus – belehrt: „Österreich ist
heuer im Vergleich zu Deutschland […] Schon seit drei Jahren geht
es Österreich besser als Deutschland. […] Deutschland und Österreich haben sich seit Jänner […] Österreich liegt vorn im Europa25
26
Vgl. Franz SCHUH, Narrenkappe und PizzaHut, in: Schreibkräfte. Über Literatur,
Glück und Unglück, Köln 2000, S. 7-23.
Interview mit Priv. Doz. Dr. habil. L. M. vom 10.12.2009, Wien.
254
Anne Dippel
Vergleich. “Ich kehre aus den Erinnerungsfluchten wieder in den
Moment zurück und höre wie der Kulturwissenschafter noch einmal
bekräftigt: – „Wir haben die Entwicklungen in Deutschland immer
sehr genau beobachtet“27.
Im Feld zeigt sich die ironische Seite der Kybernetik zweiter
Ordnung: Der Beobachter beobachtet den Beobachter. Welche
Auswirkungen hat der Blick des Anderen? Wer ist dieser Beobachter
der Deutschen am südlichen Rand? Es ist ja nicht irgend ein Beobachter, sondern einer der selbsternannten Erben des Heiligen
Römischen Reichs, die Insignien liegen heute noch in Wien – und
den Stephansdom zieren Schiefern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die immer noch von der Herrschaft über alle Deutschen stolz
künden. Und an der Ringstraße in Wien findet sich nur einer als
steinerne Statue entspannt auf dem Dichterthron sitzend verkörpert:
Das ist der Dichter Goethe. Erhaben steht ihm Schiller vis-à-vis.
Österreich als Begriff bedeutete bis 1918 nicht viel mehr, als was wir
heute unter Europa verstehen: Es beschrieb einen supranationalen
Verbund. Die österreichischen Deutschen fühlten sich im Sinne des
mitteleuropäischen kulturnationalen Verständnisses als Teil der
deutschen Nation. Aber dann kam der sogenannte „Anschluss“,
über den bis heute die Meinungen auseinandergehen – war es ein
Überfall oder ein selbstgewollter Beitritt, eine Heimsuchung oder
eine Heimholung? Bis heute ist die Definition dieses Ereignisses
nicht geklärt. Adolf Hitler erklärte in seinem Propagandawerk „Mein
Kampf“ die „Rückkehr“ seiner „Heimat“ ins Großdeutsche Reich
zum ersten Anliegen seiner Politik. Ein österreichischer Staatsbürger
blieb „deutscher Nation“. Hitler, dieser österreichische Deutsche,
war auch hier Sprachrohr der Mehrheit der Deutschen in Österreich
und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg28. Erst in den 1960er
27
28
Gedächtnisnotiz zum Interview mit L.M. im Feldtagebuch, A.D., 10.12.2009.
Hitlers erste Gedanken in Mein Kampf muten in diesem Sinne symbolträchtig an
„Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze
jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren
als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint! Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus
Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: Auch
wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie
schädlich wäre, sie müßte dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einen gemeinsamen Staat zu fassen vermag“ (Adolf HITLER, Mein Kampf. Zwei Bände in
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
255
Jahren bildete sich ein konsistentes Österreichbewusstsein heraus,
das als „allmählich als Nationalbewusstsein interpretiert werden
konnte.“29
Freilich ist die fast schon argwöhnische, immer sehr genaue Beobachtung des großen Nachbarn Deutschland bloß zum einen aus
der geteilten Vergangenheit gespeist. Mitten im 21. Jahrhundert
können wir gerade in einem Land, was über Jahrzehnte den Mythos
vom „ersten Opfer des Faschismus“ ins kollektive Gedächtnis und
damit das Verdrängen und Vergessen anstelle des Verdrängens und
Erinnerns eingeschrieben hat, nicht mehr alles mit den Ereignissen
innerhalb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklären. Zur
Entsöhnung und Zerschwisterung tragen noch andere Phänomene,
als die geteilte Geschichte und der unterschiedliche Umgang mit ihr,
oder die ähnliche föderale Struktur des modernen, marktwirtschaftlich ausgerichteten Sozialstaates mit bei. Von besonderer Relevanz
sind die unterschiedlichen Rollen der drei Länder im Rahmen des
Kalten Krieges, DDR und BRD mit ihrer Ost- bzw. Westanbindung
und Österreich, wobei Letzteres seinen Status der Neutralität immer
auch dazu genutzt hat, während dieser Zeit eine Drehscheibe zwischen den verhärteten ideologischen Fronten zu sein. Und nach dem
Ende des Kalten Krieges ist Deutschland größer geworden – Österreich aber klein geblieben. So verwundert nicht, dass Jörg Haider im
Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zur Deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 von einer „Wiedervereinigung in der
kleinen Version“ sprach30.
Wir beobachten in Zeiten der Europäischen Union schon seit
Längerem eine Zunahme mit lokaler Identifikation, was das Stich-
29
30
einem Band. Ungekürzte Ausgabe. Erster Band: Eine Abrechnung. Zweiter Band:
Die nationalsozialistische Bewegung. 583-587. Auflage. München 1941).
Ernst BRUCKMÜLLER, Die Entwicklung des Österreich-Bewußtseins, in:
http://iiss210.joanneum.at/demokratiezentrum2/media/pdf/bruckmueller.pdf
(Stand Mai 2010), S. 15.
Vgl. Zitatensammlung Haiders: http://www.deochandorais.de/misc/haie.htm
(Stand April 2010). Zu den politischen Ursprüngen der FPÖ und ihren pangermanischen Bestrebungen siehe auch: Peter EPPEL, Heinrich LOTTER (Hg.), Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte. 1955-1980, München 1982, S. 86-94.
Sowie: Lothar PROBST, Jörg Haider und die FPÖ: Anmerkungen zum Rechtspopulismus in Österreich, in: Nikolaus WERZ (Hg.), Populismus - Populisten in Übersee
und Europa, Opladen 2003, S. 113-127.
256
Anne Dippel
wort Glokalisierung ja auch beschreibt31. Und dies lässt sich besonders
an einem kleinen Land wie Österreich aufzeigen, das mit seinen 7
Millionen Einwohnern gegenüber den 80 Millionen Deutschen von
dessen medialen Produktionen und kulturellen Konventionen fast
schon kolonisiert wird. Hier ist das Ziel eines jeden ambitionierten
Schriftstellers, bei einem deutschen Verlag unterzukommen, eines
guten Journalisten, auch für eine deutsche Zeitung zu schreiben.
Und doch trägt noch eine weitere Besonderheit zur übermäßigen
Identifikation mit Deutschland bei – das, was die avantgardistische
Schriftstellerin Michaela Falkner im Gespräch schlicht als „Phantasielosigkeit“ bezeichnet32. Eben weil die Österreicher Deutsch sprechen, schauen sie vor allem darauf, was ihre deutschen Nachbarn
machen. Mit der Schweiz fühlt man sich allenfalls aufgrund der
Größe gleich. Mit Deutschland aber teilt man 30 Fernsehkanäle und
unzählige Netzseiten. Via terrestrischer Frequenzen und Satelliten
wird ein massenmedialer Kommunikationsraum geschaffen, der die
deutschsprachigen Länder über ihre gemeinsame Sprache zusammenschließt. Auch dieses Phänomen ist Teil von Transmemorialität.
In einer Stellungnahme des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik
Deutschland heißt es: „Der deutsch-österreichische Kultur- und
Wissenschaftsaustausch ist so intensiv und vielfältig wie mit keinem
anderen Land. Zahlreiche deutsche Dirigenten, Orchester, Musiker,
Sänger, Regisseure, Theaterdirektoren und Schauspieler arbeiten
häufig in Österreich und umgekehrt. Gleiches gilt für Gastprofessuren und Vortragende. Berufungen erfolgen oft grenzüberschreitend.
Kaum ein Tag vergeht, an dem im deutschen Fernsehen keine
deutsch-österreichische Co-Produktion zu sehen ist. Im Sektor Kino
sind die Erfolge der deutsch-österreichischen Zusammenarbeit
offensichtlich. Beste Beispiele aus jüngerer Zeit: „Die Fälscher“
(2007) oder „Das weiße Band“ (2009).“33
31
32
33
Roland ROBERTSON, Glocalization: Time-Space and Homogeneity - Heterogeneity,
in: Mike FEATHERSTONE, Scott M. LASH, Roland ROBERTSON (Hg.), Global Modernities, London 1992, S. 25-44.
Interview mit der Schriftstellerin Michaela Falkner 12.12.2009.
Informationen des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland 2008:
http://www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Oesterreich/Bil
ateral.html (Stand April 2010).
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
257
V.
Nun habe ich sehr wenig von Schriftstellern berichtet, aber doch
einen Einblick in den Feldforschungsalltag gegeben, auch einen
Einblick in die Problematik nationaler Identitätsbildung, die sich für
ein kleines Land ergibt, das in der globalen Gesellschaft von der
Unterhaltungsindustrie des Nachbarlandes abhängig ist, das schon
vor dem Eintritt in die Europäische Union mit Deutschland wirtschaftliche überaus eng verbunden war34, und dessen Intellektuelle
sagen „Es gibt keine österreichisches Feuilleton, das ich noch lesen
kann. Ich muss Die Zeit, die FAZ, die Süddeutsche lesen,“ – und die
einem im selben Gespräch, so wie die Jelinek-Spezialistin der Wiener
Universität es tat, mir mit offener Deutschenfeindlichkeit erklären
können „Also, die Deutschen Studenten an den Universitäten, die
sind unerträglich. Sie sind immer laut, und melden sich immer, sie
reden immer rein und überfüllen die Hörsäle. Und die Deutschen,
34
Zur aktuellen Situation vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes 2008: „
Deutschland war auch 2008 mit Abstand wichtigster Wirtschaftspartner Österreichs
mit einem Handelsvolumen von 82,9 Mrd. Euro (österr. Einfuhr: 48,1 Mrd., +
1,5%; österr. Ausfuhr: 34,8 Mrd., + 1,2% ggü. Vorjahr; 2007: Volumen 82 Mrd.)
(...) Insgesamt gingen 2008 32% aller österreichischen Exporte nach Deutschland
(so viel wie in die nächsten sechs Exportdestinationen zusammen), während deutsche Lieferungen ca. 40% des österreichischen Gesamtimportvolumens ausmachten.“ http://www.auswae rtiges-amt.de /diplo/ de/Laenderinformationen/Oesterr
eich/Bilater al.html (Stand April 2010). Sowie: Beziehungen zwischen Deutschland
und Österreich, in: Österreich News. Das österreichische Magazin in Deutschland
(18. September 2005).
http://www.oesterreichnews.de/30-beziehungen-zwischen-deutschland-und-oeste
rreich/ (Stand April 2010). Zur Entwicklung Österreichs bis zum Eintritt in die
Europäische Union siehe: Wolfgang MEDERER, Österreich und die europäische
Integration aus staatsrechtlicher Perspektive 1945-1992 – unter Berücksichtigung
des EWR-Abkommens, in: Michael GEHLER, Rolf STEININGER, Österreich und die
europäische Integration 1945-1993. Aspekte einer wechselvollen Entwicklung,
Wien 1993, S. 109-148. Schon zur Zeit des 3. Reiches war Österreich mit Deutschland aufs Engste wirtschaftlich verbunden, die Regelungen der Potsdamer Konferenz durchtrennten jedoch die bis dahin unauflösbaren wirtschaftlichen Verbindungen, wie die Erörterungen Ernst Hanischs offenbaren: „Verstaatlichung im
Gesetz und Verstaatlichung in der historische Realität klafften bis 1955 auseinander. Den Wettstreit um das Deutsche Eigentum hatte das österreichische Parlament
verloren, trotz des mutigen Übergehens des sowjetischen Protestes. Die Großmächte hatten in der Potsdamer Konferenz (Sommer 1945) festgelegt, dass Österreich keine Reparationen zahlen müsse, dass aber das Deutsche Eigentum in den
jeweiligen Zonen den Besatzungsmächten zufalle. Das sah zunächst harmlos aus.
Doch die Dimension wird sichtbar, wenn man erkennt, dass 62 Prozent des gesamteuropäischen Deutsche Eigentums in Österreich situiert war.“, HANISCH, Der
lange Schatten (Anm. 2), S. 412.
258
Anne Dippel
die haben überhaupt keinen Humor. Die verstehen uns einfach
nicht. Neben den Deutschen fühlt sich ein Österreicher immer
unterlegen. Warum? Ja, die sind so klar und so direkt und so unglaublich laut […]So erlebe ich es eben bei den Seminaren.“35 Auslöser für die Studentenproteste in Österreich waren dann auch wenige
Wochen nach dem Interview die vielen Deutschen Studierenden
und die Ausgleichszahlungen die vom Rektor der Innsbrucker
Universität, Karlheinz Töchterle, am 13. Oktober 2009 gefordert
wurden36. Aber diesen Vorwurf der lauten Deutschen an der Uni
kenne ich auch aus meiner Schulzeit in Frankreich. So wie mich am
Lycée in Lyon erschütterte, dass man in Frankreich fünfzig Minuten
lang ausschließlich den Reden des Professors lauschte, hatten französische Gäste an unserem humanistischen Gymnasium in Frankfurt am Main den Eindruck gewonnen, Schule in der Bundesrepublik sei ein freundlicher, dauernd anhaltender Kaffeeplausch. Und
meine Nachfrage bei der österreichischen Germanistin klärte schnell
auf: In Österreich erleben Schüler eine frontal ausgerichtete Lehre.
So können kleine kulturelle Unterschiede in der Erziehung später
große kulturelle Missverständnisse zeitigen und Klischees kreieren;
Missverständnisse und Klischees, die noch größer sind, je geringer
die kulturelle Distanz zu sein scheint. Die in Österreich verbreiteten
Ressentiments gegen Deutsche37, die Abneigung gegen und versteckte Angst vor den Piefke ist nicht zuletzt aus der Nähe zum großen
Geschwister heraus zu verstehen, ein Geschwister, das lange Zeit
mehr als das gewesen war. Österreich und Deutschland sind aus
dem gleichen Ei entsprungen – und gleichen sich doch nicht wie ein
Ei dem Anderen. In einer Studie zum Nationalbewusstsein von 2006
waren die Deutschen auf dem letzten Platz – die Österreicher aber,
teilten sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika, Venezuela
und Australien die ersten Ränge38. Die in Deutschland weit verbrei35
36
37
38
Interview mit Prof. Dr. a.o. Mag. P.J. vom 6.10.2009.
Uni-Rektor: Deutschland soll für seine Studenten zahlen, in: Die Presse
(13. Oktober 2009). http://diepresse.com/home/bildung/universitaet/514618/
index.do (Stand April 2010).
Christopher WURMDOBLER, Ihr könnt uns mal gerne haben: Deutsche in Wien, in:
Integration? Nee danke!, in: Falter (2009) 12, S. 34-35.
Tom W. SMITH, Kim SEOKHO, National Pride in Cross-national and Temporal
Perspective, in: International Journal of Public Opinion Research (2006) 18, S. 127136. http://wwwnews.uchicago.edu/releases/06/060301.nationalpride.pdf (Stand
April 2010). Zur rasanten historischen Entwicklung dieses Nationalstolzes vgl. auch
die von der Lazarsfeldgesellschaft vorgenommene Repräsentativerhebung über
verschiedene Bereiche politischen Bewusstseins der Österreicher im Jahre 1980. Im
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
259
tete These vom Minderwertigkeitskomplex der Österreicher39 sollte
schon längst in Frage gestellt und durch einen Größenwahnkomplexes ersetzt worden sein.
In Österreich lernt man mindestens zwei Sprachen, den Dialekt
in der Familie, die Erstsprache und die Varietät des Schriftdeutschen
in der Schule, durch Internet und Printmedien. So wie sich hier viele
Möglichkeiten von kreativem Spiel mit Sprache ergeben können,
wächst auch die Notwendigkeit, die kleine, eigene Kultur, geboren
aus den Grenzen eines Nationalstaates durch verstärkte Abgrenzung, durch scharfe Wörter im Rahmen der großen und entgrenzenden Kraft der Sprache zu konstruieren, der eigenen Identität ein
unvergessliches, erinnerbares Profil zu geben.
Offizielle Konzepte von Identität haben zumeist virtuelle Qualitäten. Echte, gebundene Kollektividentitäten haben über keinen
längeren Zeitraum bestanden40. Sie sind ein Phantasma, so wie die
Identität des einzelnen Ichs aus dem Phantasma des Spiegelstadiums
geboren sind41. Die Vernetztheit kultureller und sozialer Formen
werden durch Radio, Fernsehen, deren Satellitenübertragung und
den virtuellen Erfahrungsraum des Internet allgegenwärtig und
unmittelbar. Wie gezeigt werden konnte, setzen sich bei genauerer
Beobachtung Stereotype nationaler Besonderheiten aus diffusen
Gefühlen und Erinnerungsfragmenten des Alltags und vagen Vorstellungen von Differenz zusammen. Diese Identitätsbildung erfährt
ihre Verstärkung im globalen, von elektronischen Massenmedien
dominierten Gesellschaften wie Österreich durch den Gegensatz
von lokal erfahrenen Alltags innerhalb eines Nationalstaates einerseits und die ständige Auseinandersetzung mit den medialen Produkten eines strukturell dominanten Nachbarn in einem geteilten
Kommunikationsraum andererseits. Sowie das Medium selbst Nachricht ist, stellt es den Rezipienten einen Zeichenvorrat zur Verfü-
39
40
41
Jahre 1956 vertraten 46% der Befragten die Überzeugung, Österreich sei keine Nation. Noch 1964 waren lediglich 47% aller Österreicher der Überzeugung, Österreich sei eine Nation, 1980 67%, EPPEL, LOTTER (Anm. 30), S. 560-561.
Vgl. zum Beispiel Petra STUIBER, Der Minderwertigkeitskomplex des KleinstaatenBewohners, in: Die Welt (2. Mai 2001). http://www.welt.de/print-welt/arti
cle448510/Der_Minderwertig keitskomplex_des_Kleinstaaten_ Bewohners.html
(Stand April 2010).
Vgl. Michael HERZFELD, Anthropology. Theoretical Practice in Culture and
Society, Oxford 2001, S. 137.
Jacques LACAN, Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je, in:
Ecrits I, Paris (1966) 1999, S. 92-99.
260
Anne Dippel
gung, der im spezifischen Fall von nationaler Identität zu einem
bewusstseinsanordnenden, kohärent erscheinenden Ganzen umstrukturiert wird – gleichgültig wie polyvok die Nachrichten selbst
sind. Auch das Unbewusste kollektiver Identitäten ist polyvok,
erscheint jedoch im Augenblick der Zurschaustellung ein-eindeutig.
Individuen sind eingebunden in Öffentlichkeiten sozialen Miteinanders. Nationale Identitäten dienen sich diesem politischen Geltungswillen des Einzelnen an, ohne dass sie vom jeweiligen Menschen großes Engagement verlangten. Sie verweisen – wie sich am
Beispiel des hier dicht beschriebenen Abends vom 9. November
2009 genauso verdeutlichen lässt, wie anhand internationaler Fußballturniere – auf die Affekt-Ebene kollektiven Geltungswillens in
jedem Individuum. Nationalbewusstsein kann ungeheure und ungeheuerliche Gefühle und Handlungen einzelner Menschen und kollektiver Gruppen auslösen. In einer säkularen Gesellschaft spielt
nationales Denken mit seinen transzendierenden Effekten dem
Bedürfnis der Menschen Teil eines größeren Ganzen, einer NichtImmanenz zu sein, entgegen. Jeder kann, schon im Hier und Jetzt,
Teil von etwas „Göttlichem“, etwas Größerem sein. Dies ist auch
ein Effekt der transnational wirkenden Medien. Der Affekt des
Nationalismus ist, wie der österreichische Schriftsteller Franz Werfel
in seinem Essay über den Glauben klar darlegte, „kostenlos“42. Er
hängt nur vom Geborenwerden ab. Biologische oder staatliche
Zuständigkeit wird zu einem moralischen Wert, der es dem Individuum ermöglicht, Teil eines höheren Wesens, eben eines nationalen
Kollektivs zu sein. Daran ist keine menschheitserlösende Gerechtigkeit geknüpft, keine Aufgabe, außer das zwecklose Existieren, um
Teil des Kollektivs sein zu können. Jeder Einzelne ist notwendig,
um das Kollektiv zu bilden. Werfel schreibt nicht ohne Ironie dem
Nationalismus paganische Gesinnung zu. Denn „als Sendbote
urtümlicher Daseinsgewalten verschmäht er es, zu argumentieren, er
orakelt.“43 Dieser Verweis ist weniger esoterisch, als er auf den
ersten Blick zu sein scheint. Hingegen spricht hieraus eines der
Symptome oral-auraler, zumeist polytheistischer Kulturen, nämlich
der Hang, alles zu beseelen und den Zusammenhängen und Bedingtheiten von Welt einen einigenden Sinn zu unterstellen. An
dieser Stelle setzt die Kraft des Nationalismus ein. Nationalismus
42
43
Franz WERFEl, Können wir ohne Gottesglauben leben?, in: Zwischen Oben und
Unten, Stockholm 1946, S. 67-126, 94.
Ebd., S. 95.
Entsöhnung und Zerschwisterung: Österreich und Deutschland
261
spielt symptomatisch den Wirkmechanismen oral-auraler Medien
des transmemorialen Zeitalters zu. Ong beobachtete schon 1967,
dass elektronische Medien zu Effekten führten, die bis dato einzig in
oral-auralen, paganischen Kulturen aufgetreten sind – besonders
hinsichtlich der mythologischen und stereotypen Funktionsweise
von Erinnern, Gedächtnis, Gemeinschaftswesen und Identitätsbildung44. Printmedien indes, gepaart mit Alphabetisierung aller Bürger
durch ein einheitliches, staatlich koordiniertes Bildungswesen, fördern linear-teleologisches, kategorisierendes Denken und die Vorstellung einer geeinten kollektiven Identität45. So verschränken sich
in der Transmemorialität digitale Oralität, deren Basis Schriftlichkeit
bleibt, elektronische und analoge Medien zu einem Identitätsdispositiv, das nationale Identität und Nationalstaatlichkeit aktiv herstellt
und den einzelnen Bürger dazu auffordert, sich selbst als Subjekt,
das Fremde aber objektivierend zu betrachten. Trotz der Aufhebung
realer Grenzmarken führt die digitale Vernetzung der Gesellschaften
und ihrer Individuen somit zu einer Verstärkung der inneren Grenzen und dem Aufbau der eigenen Identität durch die Stereotypisierung des Anderen. Dies geschieht um so mehr, je enger Gesellschaften miteinander vermascht, verwoben oder vernetzt sind, wie es bei
Österreich und Deutschland der Fall ist. Von diesem Standpunkt
aus lässt sich mit Recht resümieren: Keine Grenze Deutschlands hat
weniger reale und zugleich größere symbolische Qualität, als die zu
seinem im wahrsten Sinne des Wortes eigen-tümlichen Nachbarn
Österreich.
44
45
Walter J. ONG, The Presence of the Word. Some Prolegomena for Cultural and
Religious History, New Haven 1967, S. 76-92.
Ebd., S. 35-53.
262
Anne Dippel
Résumé
Anne Dippel : L'Allemagne et l'Autriche : concurrence et réconciliation entre
frères et sœurs. Essai d’études culturelles sur l’identité nationale à l’ère transmémorielle d’un point de vue historiographique et selon une méthode ethnographique.
En se fondant sur l’exemple la frontière entre l’Allemagne et
l’Autriche contemporaine, l’essai introduit le terme de transmémorialité afin de décrire le phénomène de la mémoire collective d’une
société électrifiée et digitalisée. Les modalités d’enregistrement, du
magnétophone jusqu’à l’ordinateur, transforment les rapports humains à l’expérience du raconter – qui dérive étymologique du racompter – et du rappeler : le souvenir des événements devenu
historiques change. Les « frontières » traditionnelles entre les éléments structurant l’organisation des sociétés – comme la famille, le
peuple ou la nation – deviennent fluides. La signification de la
langue et de la parole se modifie. Ces changements n’ont pas seulement des répercussions sur l’organisation des communautés, mais
également sur la perception de l’individu lui-même. Au temps de la
mondialisation et de la transnationalité, les anciennes entités de
l’ordre du discours de la mémoire se transforment sans s’annuler.
Les phénomènes dans le passé, même s’ils paraissent éloignés dans
les limites d’un temps mesuré par le chronographe, restent actuels.
Sans disparaître, ils suscitent des stéréotypes, car ils renvoient ainsi à
une expérience spatiotemporelle qui n’est pas calculable, mais présente dans la mémoire.

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