Milena Marković Seite 1 MILENA MARKOVIĆ Serbien

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Milena Marković Seite 1 MILENA MARKOVIĆ Serbien
MILENA MARKOVIĆ
Serbien
Milena Marković wurde 1974 geboren. 1998 Studienabschluss im Fach Dramaturgie an
der Fakultät für darstellende Kunst der Universität Belgrad.
Drei Gedichtbände sind von ihr erschienen: Der Hund, der die Sonne gefressen hat (LOM,
2001), Die Wahrheit ist brünstig (LOM, 2003), Der schwarze Löffel (LOM, 2007), sowie
das Buch 3 Dramen („Pavillons: wohin gehe ich, woher komme ich und was gibt es zum
Abendessen“; „Schienen“ und „Ein Schiff für Puppen“) (LOM, 2006). Alle dramatischen
Texte wurden auf den führenden Bühnen in Serbien aufgeführt, ebenso die Stücke Nahod
Simeon (2006) und Der Wald glänzt (2008).
Milena Marković hat einige Drehbücher verfasst. Realisiert wurden die Spielfilme Morgen
früh (2007) und Die weite, weite Welt (2009) sowie der Dokumentarfilm Die Grubenarbeiteroper von Oleg Novković (2006).
Marković ist Trägerin des Wiener Sonderpreises für das beste Drama aus dem exjugoslawischen Raum und des Sonderpreises des „Sterijino pozorje“ (Jovan-SterijaPopovic-Stiftung für Theater und dramatisches Schreiben). Mit dem Theaterstück Ein
Schiff für Puppen erhielt sie als Erste den Preis für Theaterschaffende „Borislav Mihajlović-Mihiz“. Weiters erhielt sie den Preis „Miloš Crnjanski“ für das Buch 3 Dramen (2007),
den Preis „Todor Manojlović“ (2009) und den „Sterija-Preis für den besten Text“ für Ein
Schiff für Puppen (2009).
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Zum Werk von Milena Marković
Vogelauge am Zaun ist eine Sammlung neuerer Gedichte von Milena Marković. Der Band
enthält etwa 50 betitelte Gedichte, die nicht in Gedichtzyklen gegliedert sind. Man kann
die Texte in zwei Gruppen unterteilen. Die kleinere besteht aus sogenannten narrativen
Gedichten, die so beschaffen sind, dass sie eine Geschichte suggerieren, und die größere
aus sogenannten Aussagegedichten, in denen ein starkes weibliches Subjekt dominiert.
Die narrativen Gedichte haben eine breitere thematische Spannweite: von der rustikalen
Evokation von Liebesabenteuern im Heu bis zur zeitgenössischen Szene einer angespannten und ungewöhnlichen Atmosphäre im Cafe „Chagall“ in Berlin, wo die „Erzählerin“ in
sexy roten Stiefeln befürchtet, dass die Gruppe, in der sie sich befindet, einen Zwischenfall herbeiführen könnte.
In der Lyrik von Milena Marković ist eine von schwarzem Humor durchsetzte Ironie nur
latent da, während die verbale Aggressivität und Laszivität explizit sichtbar sind. Es ist
eine Poesie des Blicks, sensibel für Szenen und Menschen vom Rande der Gesellschaft
und der Stadt. So ist etwa ein Gedicht aus der Perspektive einer Putzfrau verfasst, in
einem anderen erinnert sich das erzählende „Ich“ an sein ärmliches, aber spannendes
Leben in Mietwohnungen, mit häufigem Alkohol- und Drogenrausch. Dennoch gehört der
Großteil der Gedichte dieses Bandes zum Aussagetyp. Darin dominieren Introspektion
und umgangssprachliche Verspieltheit. In den Gedichten, die von einem surrealistischen
Impuls ausgehen, ist der Sinn der Kommunikation rätselhaft und weist Sprünge auf. Es
bleibt unklar, an wen sich das aussagende „Ich“ wendet, warum, aus welchem Anlass,
was es mitteilen will. Die Aussage der Mitteilung ist zurückgedrängt zugunsten der Äußerung einer emotionalen Erregung, eines Unbehagens, eines Aufbegehrens und einer Verstörung.
Es ist interessant, dass Milena Marković in einigen Gedichten eine direkte Verbindung zu
den stilistisch-metrischen Modellen der Volkspoesie herstellt. Das Gedicht, das der
Sammlung ihren Titel verliehen hat, hat das Reimschema und die Lexik von Zaubersprüchen, und realisiert wurde es im Stil einer Fabel. In einigen Texten wendet sich das lyrische „Ich“ an den Fluss, die Taube, die Naturelemente, und ein Gedicht ist – seltsamerweise – gereimt. Überall findet sich eine ironische Abweichung von jenem Typ von Emotionalität, für den die invozierende Intimisierung mit Tieren und ein singbarer Paarreim
selbstverständlich sind.
Wir können auch zwei Gruppen von autobiografischen Gedichten identifizieren. Darin dominieren als Themen das Älterwerden und die Mutterschaft. Das Alter ist ein Lebensabschnitt, in dem man endgültig Illusionen vom Leben aufgibt und eine Phase des unaufhaltsamen körperlichen Verfalls, der von der Stimmung einer depressiven Übersättigung
getragen wird („ich werde alt / und es gibt kein geheimnis mehr / alles weiß ich was andere von mir halten / ein lächeln habe ich im gesicht es ist wie / ein herz am tor“). Wenn
sich das lyrische „Ich“ mit der Mutter identifiziert, wendet es sich an den ungeborenen
Sohn mit dem Rat, dort zu leben, „wo die welt jung ist“.
Lidija Kusovac und Saša Ćirić
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VOGELAUGE AM ZAUN - Werkauswahl
Originalsprache: Serbisch
108 Seiten
Verlag: LOM, Belgrad
Erscheinungsjahr: 2009
DER RIESE
Vater sagte mir er hätte nicht in der genossenschaft gelitten
so wie es manche erzählten
jener opa tihomir,
der unfruchtbare frauen behandelte, der
hatte ihn zur arbeit in die genossenschaft geschickt
es war sommer
vater arbeitete litt aber nicht
denn mit ihm arbeiteten ältere mädchen
und die trugen keine schlüpfer und das heu
roch nach fisch und man sah es
es war duchsichtig bei regen
und wenn die sonne diesen kattun durchdrang
hat er ihre muschis gesehen er ging
ihnen nach wie ein hund und einmal
regnete es und es blitzte und alle
hatten sich versteckt unter dem uniformentuch
er allein
war mutig
und stand dort im regen
wie ein riese
und das heu
duftete nach muschi
dieser junge riese im regen
mit erst hervorsprießenden haaren
blitz und donner
kattun mit hosenbund
indes muhten die kühe
und der planet drehte sich
und diese muschis und dieses heu
und dieser schlamm unter den bloßen füßen
all diese mädchen die die seinen sein würden
oh, blitz und donner
da ist kein leiden
sicher nicht
MEIN KLEINER
Mein sohn den ich nicht geboren habe
nicht ich
sei mir nicht böse, dass ich mein sohn zu dir sage
das bist du nicht
hör auf mich
verlasse diese gegend
verlasse die stadt
verlasse das land
das ist ein schlechter ort
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da führen opas in löchrigen anzügen
ihre enkel spazieren
da leben väter, kinder und enkel
in denselben särgen
in großen wohnhäusern
da warten sie ständig darauf, dass ihr leben beginnt
glaub mir, denn ich weiß es
auch ich warte ständig darauf, dass mein leben beginnt
geh
und mach all das, was dein vater und ich
nicht machen konnten
beende die schule rechtzeitig
heirate nicht zu früh
reise
wir konnten es nicht
es war krieg
bereise wunderbare singende städte
mach mit einem dunkelhäutigen mädchen liebe
mach mit einem schlitzäugigen mädchen liebe
sei mäßig im essen und im trinken
und mit drogen
mach nicht zu früh kinder
mach alles so wie wir es nicht gemacht haben
mach all das was wir nicht machen können
mach all das was mein sohn niemals wird machen können
den ich geboren habe
ich
trag eine landkarte im rucksack
verschwende kein geld auf dummköpfe
mach dir gedanken darüber bei wem du
übernachtest
mach dir gedanken darüber wer bei dir
übernachtet
denk gut über dich
sei kein künstler
genieße alles
besteige den höchsten berg
steck die füße in den ozean
fang einen großen fisch
und wirf ihn wieder zurück
er soll leben
halte keine hunde oder katzen
es wir dir leid tun, wenn sie weggehen
hasse nicht diejenigen, denen du
dankbar sein musst
sei niemandem
dankbar
mach alles selbst
sei ein wissenschaftler
sei nützlich
und geh geh
geh dorthin wo die welt jung ist
TOILETTEN
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Ich kann nichts machen
wenn meine Ruža meine wohnung sauber macht
weil nicht einmal dreißig jahre vorbei sind
seitdem meine tante in den firmen geschrubbt hat
in Deutschland
weil nicht einmal fünfzig jahre vorbei sind
seitdem meine großmutter toiletten geschrubbt hat
und genäht
und seitdem großvater als maurer gearbeitet hat
es ist nicht viel zeit vergangen
was sind schon fünfzig jahre
nichts
ich kann nichts machen
dann streune ich im haus herum wie
eine taube hündin
und störe meine Ruža
sie ist schwarz meine Ruža
einst zogen ihre leute herum
ließen sich nirgends nieder
sie sangen unter freiem himmel
und hielten sich pferde und bärinnen
meine Ruža die schöne Ruža
was sind schon fünfzig jahre
nichts
und jener opa der vom birnbaum gefallen war
weil er die eine birne nicht oben lassen wollte
und ein anderer dessen letzte worte waren
gib nicht so viel zucker in die marmelade
und wieder eine andere deren letzte worte waren
ach wenn ich nur niesen könnte
ich muss etwas machen
was sind schon fünfzig jahre
nichts
die bärenhalter haben nicht nur drei finger
die bärin tanzt wenn sie betrunken ist
wenn du neben ihr einschläfst
reißt sie deine finger ab
auch ich tanze tanze
wenn nicht warten die toiletten
auf mich
DIE LETZTE
Ich reite immer noch
manchmal erwischt mich der regen
manchmal der schnee
manchmal versengt mich die sonne
manchmal stechen mich käfer
manchmal kratzt mich ein zweig
manchmal
trinke ich den regen
lecke den schnee
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esse den käfer
kratze den zweig
ficke die sonne
ich reite immer noch
dort wo die abladeplätze sind
und die eisenbahn
und wo die stadt endet
und wo die tische fleckig sind
und die weiber heruntergekommen
und wo ein mann kniet
dort wo ein mann kniet da bin ich
und wo ein mensch fragt warum ich
und wo eine frau weint
und wo ein mann fragt warum mich
und wo ein mann fragt warum mir
und wo ein kind was
ich reite immer noch
wer mich sieht der sieht mich
ich bin immer noch dort
ich bin zehn und habe angst
ich bin fünfzehn und gehe an denen vorbei die ständig spucken und
nach tabak und bier riechen und
deren adamsäpfel wie kastanien hervorspringen
ich bin zwanzig und schiebe einen kinderwagen
ich bin fünfundzwanzig und stürze mich in die nacht
mein feuer leuchtet mir
ich bin dreißig und bin immer noch da
ich bin fünfunddreißig und möchte immer noch
an der autowerkstatt vorbei gehen
mit einem arm um meine taille
oder um meinen hals
ein scharfer geruch
ein auto fährt schnell vorbei
ich reite immer noch
mit dem meinen
DER STRAND
Ein fischer war ertrunken
man brachte ihn in ein netz gewickelt
wer jammert, sagt man
hat viele schwestern
seine frau erwerbslos
vier kinder
in einem netz ist er angekommen
mit ausgestreckten fingern
etwas aufgedunsen
ich habe mich zum strand aufgemacht
dort vergnügten sich ganze familien
im wasser
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mancherorts gab es segelboote
mit angelsachsen
andernorts gab es tische
mit russen
ich betrachtete die wolken
sie erinnern mich an ein netz
FAMILIEN
Ich betrachte vom fenster aus eine wiese
einen fasan und ein fasanenweibchen
er ist bunt sie ist grau
ihre kinder gehen ihnen hinterher
auf dem großen baum sitzt eine elster
sie schaut nach, ob ein vogeljunges
zurückbleibt
dieses eine das nicht den anderen folgt
dieses eine das stehen bleibt um etwas anzuschauen
etwas das leuchtet
etwas das gut schmeckt
das wird die elster verspeisen
ich betrachte vom fenster aus ein wohnhaus
es hat fenster und balkone
da sind männer und frauen
und ihre kinder
sie haben sich vereinigt und dadurch
familien gegründet
es erwartet sie neid es erwartet sie hass es erwartet sie
krankheit es erwartet sie alter es erwartet sie undankbarkeit
es erwartet sie etwas das leuchtet etwas das man essen kann
es erwartet sie die elster und der elster kind
diejenigen die das nicht erwartet
erwartet etwas noch schlimmeres
der elster enkelkind
ich betrachte die kirche
die menschen gehen meistens in das große geschäft gegenüber
dann binden sich die frauen ein kopftuch um und betreten die kirche
und dort haben sie es schön
sie glauben dass die elster und das kind der elster und das enkelkind der elster nicht zu
ihnen
kommen
wenn sie die kirche betreten
wie schön riecht es hier
aber die elster ist schon drinnen
sie nickt mit dem kopf und
lacht
SCHNELL
Ich werde alt
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und es gibt kein versprechen mehr wenn die nacht beginnt
alles kenne ich was kommen wird
wie ein kätzchen reibe ich mich unter dem stuhl
ich saufe aus meinem glas und schweige
ich werde alt
und es gibt kein geheimnis mehr
alles weiß ich was andere von mir halten
ein lächeln habe ich im gesicht es ist wie
ein herz am tor
ich werde alt
und warte darauf jünger zu sein
ich weiß wie das geht
du drehst dich im kreis
fällst auf den boden und siehst
oben einen endlosen himmel
DEODORANT
Schwer ist es einfach so zu sagen
was an diesem tag schlecht ist
außer dass die frauen unfreundlich sind
in den geschäften
und dass ein mädchen erzählt dass sie
ein deodorant kaufen muss
für den der sie fickt
er hat sie gefragt
und was hast du für mich gekauft
schwer ist es einfach so zu sagen
was an diesem tag schlecht ist
außer dass dieser der mich gemacht hat sehr blass ist
und ihm etwas wehtut und er es nicht sagen will und wir streiten
es ist schwer zu sagen
was an diesem feiertag schlecht ist außer
das alles vereist ist und ich sehe wie knochen zu bruch gehen
knochen
ich weiß nicht was schlecht ist
aber vieles ist schlecht
an diesem tag
nur ein mädchen das das schaufenster putzt
hat sich an etwas erinnert und gelächelt
ich küsse sie auf den hintern
GESCHICHTE, SAFT, WURST
Ein denkmal schaut mich an und fragt mich
ob ich mich erinnere
nein
ein grab schaut mich an und fragt mich
ob es mir leid tut
nein
man baut es man baut es von neuem
ein armer teufel fällt vom gerüst
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ob er mir leid tut
ja
er tut mir leid mit einem halben kilo brot
mit der wurst
dem saft den er zur hälfte ausgetrunken hat
es tut mir leid um den saft
es tut mir leid um die wurst
es tut mir leid um die frau die auf ihn wartet
es tut mir leid um mich die ich das alles
sehe
und dabei habe ich geld in der tasche
und weiß nicht woher ich komme
von wölfen und bären
von denen die auf dem gerüst
waren und dann heruntergefallen sind
es gibt menschen wie dich
es tut ihnen leid um das denkmal
um ein grab
um die gerechtigkeit das elend
und mir tut es eben leid
um die wurst
HALTESTELLE
Die glocken läuten und über die wiese geht ein hund
der schlamm ist vertrocknet und das mädchen trägt keine warmen strümpfe
sie riecht wie eine blumenhandlung am friedhof
man pfeift ihr an der haltestelle nach
sie tut so als würde sie es nicht hören
der hund bellte die sonne an die sich vor ihm zurückgezogen hatte
hinter den supermarkt
dort war eine deponie
schwarze vögel haben da zu mittag gegessen
und auch zu abend gegessen
ich lache
ich habe eine flasche bei mir
noch dieses eine mal
noch dieses eine mal
damit ich glaube dass ich völlig in ordnung bin
eine feine dame
die verdientermaßen ihre flasche hinunterstürzen wird
man sieht doch verdammt noch mal
dass ich völlig in ordnung bin
und nicht
auf einer deponie
ÜBERWIRF DICH
Ich bin in Berlin
habe neue rote stiefel
in Berlin
dem sehr lebendigen
da lebe ich nicht
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da lebt eine spinne am fenster
ich will sie nicht stören
und man fährt viel mit dem fahrrad
das gefällt mir nicht
weil ich nicht rad fahren kann
das geld das ich ausgebe
spare ich meinen kindern vom mund ab
ich gebe es aus
ich trage eine bierflasche in der hand
durch die straßen
und habe tränen in den augen
als ich hätte reisen sollen konnte ich nicht
ich hatte kein geld
ich hatte keine papiere
ich hatte ein kleines kind
alles was später kam
kam nicht zur rechten zeit
in Berlin sitzen wir
im cafe Chagall
mit einem verrückten russen der liegestützen macht
um uns zu zeigen wie kräftig er sei
mit einem glatt rasierten russen
und mit einem aus Wales der über und über tätowiert war
sicher hatte er auch etwas am hintern
es hätte gleich etwas passieren können
der russe hätte sich mit uns überwerfen können
und zu raufen beginnen
der Waliser hätte sich mit uns überwerfen können
und mit einem stumpfen gegenstand auf uns einschlagen
meine neuen stiefel hätte er schnappen können und davonlaufen
er hätte sie nicht leicht herunterbekommen
es hätte gleich etwas passieren können
wir hätten weinen können oder singen
und uns miteinander verbrüdern
oder einander abschlachten
und dann schauen wer am leben bleibt
stattdessen sind wir aber burritos essen gegangen
und haben reichen amerikanischen kindern zugeschaut
wie sie die kellnerin anmachten
ohne den Russen und den Waliser
führten sie weiter
ihre nummer vor
und haben sich nicht
weiter überworfen
ich habe neue
rote stiefel
aus dem Serbischen von Jelena Dabic
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