Leseprobe dieses Buches
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Leseprobe dieses Buches
Chögyam Trungpa Große Östliche Sonne Die Weisheit von Shambhala Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Schuhmacher Arbor Verlag Freiamt im Schwarzwald Copyright ©2004 by Chögyam Trungpa Copyright © der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt, 2004, by arrangement with Shambhala Publications, Inc., 300 Massachusetts Avenue, Boston, Massachusetts 02115 USA Titel der amerikanischen Originalausgabe: Great Eastern Sun. The Wisdom of Shambala 1 2 3 4 5 Auflage 04 05 06 07 08 Erscheinungsjahr Lektorat: Dr. Richard Reschika Druck und Bindung: Kösel, Altusried Dieses Buch wurde auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig. Weitere Informationen über unser Umweltengagement finden Sie unter www.arbor-verlag.de/umwelt. Alle Rechte vorbehalten www.arbor-verlag.de ISBN 3-936855-02-1 Gesar von Ling gewidmet An Gesar von Ling Eine Rüstung, geschmückt mit goldenen Insignien, Ein rassiges Roß, geziert von einem Sandelholzsattel: Dies opfere ich dir, du großer Kriegergeneral – Unterwirf jetzt die barbarischen Eindringlinge. Deine Würde, o Krieger, Ist wie ein Blitz in Regenwolken. Dein Lächeln, o Krieger, Ist wie der volle Mond. Deine unbezwingliche Macht Ist wie ein springender Tiger. Von Soldaten umzingelt, Bist du ein wildes Yak. Dein Feind zu sein bedeutet, Von einem Krokodil gestellt zu sein: O Krieger, beschütze mich, Den Erben unserer Urahnen. Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 15 Große Östliche Sonne Das Königreich, der Kokon und die Große Östliche Sonne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil Tiefgründig Der uranfängliche Pinselstrich . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein Punkt im weiten Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeit mit der Morgendepression . . . . . . . . . . . . . . . 3. Den physischen Materialismus überwinden . . . . . . . Der ursprüngliche Punkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das kosmische Niesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Disziplin in den vier Jahreszeiten . . . . . . . . . . . . . . . 6. Spiegelgleiche Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil 21 37 37 46 57 73 73 82 91 Funkelnd Heiliges Dasein – Die Verbindung von Himmel und Erde . . . . . . . . . . 105 7. Heiligkeit – Naturgesetz und natürliche Ordnung . . 105 8. Der König des grundlegenden Gutseins . . . . . . . . . . 115 9. Wie man die Große Östliche Sonne kultiviert . . . . 127 Dritter Teil Gerecht Die Leidenschaft, zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 10. Tadellosigkeit – Wie man sich selbst liebt . . . . . . . . . 141 11. In die höheren Bereiche gelangen . . . . . . . . . . . . . . . 151 12. Das Große Nein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Unerschrockene Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 13. Alleinsein und die sieben Tugenden der höheren Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 14. Der König der vier Jahreszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Vierter Teil Machtvoll Der Schrei des Kriegers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 15. Das grundlegende Luftschnappen des Gutseins . . . . 193 16. Anderen helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 17. Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Fünfter Teil Alles besiegend Das Lächeln des Kriegers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 18. 19. 20. 21. Eine Frage des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mukpo-Clan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits der Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Große Östliche Sonne – Der Punkt im Himmel 213 217 224 228 Epilog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fußnoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 235 241 243 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notizen des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontaktadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bücher von Chögyam Trungpa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 271 273 277 279 Vorwort Im Namen meines verstorbenen Ehemannes Chögyam Trungpa Rinpoche und der gesamten Mukpo-Familie trage ich gern ein Vorwort zu Große Östliche Sonne bei. Trungpa Rinpoche, dessen Shambhala-Titel Dorje Dradul von Mukpo lautet, war ein Beispiel eines echten Shambhala-Menschen. Obwohl er innerhalb der strengen monastischen Tradition Tibets aufgewachsen ist, hatte er doch einen sehr freizügigen Geist. Er wußte die grundlegende Heiligkeit des Lebens sowie das Leben von Menschen aus vielen verschiedenen Traditionen zu würdigen. Er folgte nicht nur dem buddhistischen Pfad, sondern erkundete darüber hinaus viele verschiedene Aspekte des Lebens, darunter die bildenden Künste, die Dichtung und so weiter. Er war in der Lage, über seine eigene Tradition hinauszusehen und sich vorzustellen, wie die Shambhala-Prinzipien sich auf das Leben von Menschen auswirken könnten, die anderen Religionen oder gar keiner Religion angehören. Das zeigt, was für ein barmherziger Mensch er war. Es wäre sehr wichtig für meinen Mann gewesen, zu wissen, daß diese Lehren, die er zu seinen Lebzeiten an seine Schüler weitergegeben hat, nun als Buch erscheinen und auf diese Weise sehr viel mehr Menschen erreichen können. Ich hoffe, daß die hier dargelegten Prinzipien sich auf dem Pfad anwenden lassen, den die einzelnen Leser gerade beschreiten. Sie können ihnen helfen, das Leben der Menschen zu bereichern, und können ihnen eine Perspektive geben. Vielleicht verkörpern manche von ihnen viele der Shambhala-Prinzipien bereits ganz spontan. Dieses Buch kann ihnen helfen, eine Struktur zu finden, in der sie ihr Leben leben können. In den Shambhala-Lehren ist oft von der Großen Östlichen Sonne die Rede. Diese Sonne geht jederzeit auf, was bedeutet, daß Menschenwesen stets das Potential besitzen, ihr eigenes Gutsein und die Heiligkeit der Welt zu entdecken. Darum haben wir dieses Buch Große Östliche Sonne genannt. Ich hoffe, daß es vielen Menschen, auch denen, die bereits den Pfad der Kriegerschaft beschreiten, helfen wird, die Vision der Großen Östlichen Sonne in ihrem Leben umzusetzen. 13 Trungpa Rinpoche lebte selbst nach diesen Prinzipien, und daher vermochte er das Leben anderer Menschen zu bereichern. Es wäre schön, wenn die Leser sich diese Prinzipien so sehr zu Herzen nehmen könnten, daß sie ihrerseits das Leben der Menschen, denen sie begegnen, zu bereichern vermögen. Man könnte dies einen Bodhisattva-Umgang mit der Shambhala-Tradition nennen. Es war zweifellos die Weise, auf die mein Mann mit seinem gesamten Leben umging. Diana Judith Mukpo 14 Einführung Dieser Band ist eine Fortsetzung und Ergänzung des Buches Shambhala: The Sacred Path of the Warrior 1. Der erste Band war eine Art Führer nach Shambhala oder eine Landkarte, die den Pfad des Kriegers abbildete. In Große Östliche Sonne geht es um die Überlieferung und darum, wie man sie verkörpern und manifestieren kann. In diesem Sinne spricht dieses Buch nicht über vergangene Zeiten, sondern über das Jetzt. Es versucht gewissermaßen, Weisheit unmittelbar zu vermitteln oder zu überliefern. Auch wenn so etwas nur sehr schwer zu verwirklichen ist, ist es doch in die Schlichtheit des Textes eingebettet. Große Östliche Sonne ist in einen Prolog und fünf Teile gegliedert: „Tiefgründig“, „Funkelnd“, „Gerecht“, „Machtvoll“ und „Alles besiegend“. Diese fünf Abteilungen entsprechen den fünf Qualitäten dessen, was absolutes Ashé genannt wird. Das Wort Ashé taucht im Manuskript gar nicht auf, aber es wird in den Anmerkungen des Autors zu den Darlegungen, auf denen dieses Buch basiert, erwähnt. (Siehe: Anmerkungen des Autors, S. 271) In den Shambhala-Lehren repräsentiert das Ashé-Prinzip die Lebenskraft oder Energie, die dem gesamten menschlichen Leben zugrunde liegt und das Leben und alle Aktivität durchdringt. Leser, die das Ashé-Prinzip weiter erforschen wollen, können das innerhalb des „Shambhala -Trainings“-Programm tun.2 Auch wenn dieses Buch ganz bewußt strukturiert ist, muß man es nicht von vorn bis hinten lesen. Das Material in den frühen Kapiteln ist logisch anspruchsvoller; das spätere Material ist eher atmosphärisch und manchmal auch spielerischer. In einen gewissen Sinne ist die Struktur des Buches wie eine Blüte mit sich entfaltenden Blütenblättern. Wenn Sie es von Anfang bis Ende lesen, dann beginnen Sie bei den äußeren Blütenblättern und bewegen sich wie auf einer Spirale nach innen in ein leeres Zentrum. Sie können aber auch in der Mitte oder sonst irgendwo im Buch beginnen. 15 Das Material in den letzten beiden Buchteilen, „Machtvoll“ und „Alles besiegend“, wird Ihnen in der Form von Unterweisungen dargeboten, an denen Sie, liebe Leser, teilnehmen können. Diese Kapitel könnte man auch als Meditationen ansehen. Sie könnten sie also auf diese Weise lesen und herausfinden, ob Sie etwas mit diesem Ansatz anzufangen vermögen. Als er der westlichen Welt die Shambhala-Lehren vorzustellen begann, betrat Chögyam Trungpa nicht nur neues Terrain, er nahm auch einen neuen Namen an: Dorje Dradul von Mukpo. Er unterzeichnete das Vorwort zu Shambhala: The Sacred Path of the Warrior mit diesem Namen. Mukpo ist sein Familienname, Dorje Dradul bedeutet „der demantene Krieger“ oder der „unzerstörbare Krieger“. In diesem Buch wird er oft einfach Dorje Dradul genannt.3 Sowohl Anfänger der Meditation als auch Menschen, die noch nie Meditation praktiziert haben, sollten dieses Buch zugänglich finden. Ich hoffe, daß es auch für eher fortgeschrittene Praktizierende von Interesse sein wird. Viele Leser werden mit dem zufrieden sein, was sie durch die Lektüre des Buches gewinnen. Andere finden sich vielleicht dazu inspiriert, die Disziplin der Sitzmeditation zu praktizieren. Es gibt viele qualifizierte Meditationslehrer und eine Reihe von Organisationen, die eine Einführung in die buddhistische Achtsamkeitsmeditation anbieten.4 Im ersten Buch, Das Buch vom meditativen Leben, werden in dem Kapitel „Das grundlegende Gutsein entdecken“ detaillierte Meditationsanweisungen gegeben. Im vorliegenden Buch werden Details der Praxis der Sitzmeditation durch einen vielschichtigen Ansatz vermittelt. Die Übung kling in vielen Kapiteln an, auch wenn keine besonderen Meditationsanweisungen gegeben werden. Statt einen Terminus bei seinem ersten Auftauchen grob zu definieren, habe ich es vorgezogen, die Definition und das Verständnis von Fachbegriffen und Konzepten sich im Verlaufe des Buches entwickeln zu lassen. Im Nachwort der Herausgeberin finden sich Informationen über die Quellen, die im Buch verwendet wurden, und darüber, wie das Material redigiert wurde; dies sollte meine Vorgehensweise verständlicher machen. Sie erlaubte es nämlich, einen Begriff immer wieder neu vorzustellen. Nach meiner Empfindung stimmt das mit der Art und 16 Weise überein, wie der Autor ursprünglich sein Material präsentierte. Wie der mysteriöse „ursprüngliche Punkt“, der in diesem Buch immer und immer wieder auftaucht, ist auch Weisheit immer wieder neu. Sie stellt niemals eine Wiederholung dar. Ich hoffe, daß die Leser sich in diesem Geiste an dem Wiederauftauchen von Konzepten und Definitionen in diesem Buch freuen und diese erforschen werden. Stellen Sie sich das, wenn Sie so wollen, wie das Ausprobieren von einem Dutzend verschiedener Sorten von Äpfeln im Verlauf eines Herbstes vor. Wann immer Sie in einen Apfel beißen, erfahren Sie die Gleichheit oder die „Apfelheit“ der Frucht, aber gleichzeitig auch den besonderen Geschmack der jeweiligen Sorte: Granny Smith, McIntosh, Golden Delicious. Oder Sie könnten so an dieses Buch herangehen, als schlürften Sie einen edlen Whiskey oder einen hervorragenden grünen Tee oder als äßen Sie ein gutes Currygericht: Jeder Schluck oder jeder Bissen ist gleich und doch verschieden. Die Geschmäcker vertiefen und vermischen sich. Musik hat eine ähnliche Qualität. Die Wiederholung mit Variationen taucht in vielen musikalischen Formen auf, von traditionellen Musiken wie der indonesischen Gamelan-Musik über die japanische Hofmusik Gagaku und die Fidelmusiken aus Schottland oder der Bretagne bis hin zur Komplexität des modernen Jazz. Eine Fuge von Bach und eine Sinfonie von Beethoven wiederholen ihre Themen ebenfalls häufig, und Lieder haben ihre Refrains, die sich ständig wiederholen. Es könnte in der Tat hilfreich sein, sich die Kapitel dieses Buches als eine Serie von Liebesliedern vorzustellen. In einem Liebeslied gibt es selten irgendwelche „neuen“ Informationen. Was ein Lied interessant macht, das ist, wie es diese grundlegendste aller menschlichen Emotionen zum Ausdruck bringt. Das Leben von Chögyam Trungpa war ein einziges den Lebewesen gewidmetes Liebeslied. Es war ein Privileg, einige der Verse redigieren zu dürfen. Ich hoffe, auch Ihnen werden diese Lieder vom grundlegenden Gutsein Freude machen. Dorje Yutri, Carolyn Rose Gimian 17 Große Östliche Sonne Prolog Das Königreich, der Kokon und die Große Östliche Sonne Das Shambhala -Training basiert auf der Entwicklung von Freundlichkeit und Echtheit, damit wir uns selbst helfen und Zärtlichkeit in unserem Herzen kultivieren können. Wir umhüllen uns nicht länger mit dem Schlafsack unseres Kokons. Wir fühlen uns für uns selbst verantwortlich, und es fühlt sich gut an, Verantwortung zu übernehmen. Wir empfinden auch Dankbarkeit dafür, daß wir als menschliche Wesen tatsächlich für andere wirken können. Es ist höchste Zeit, daß wir etwas unternehmen, um der Welt zu helfen. Dies ist die rechte Zeit, der rechte Moment zur Vorstellung dieser Schulung. V om Überlebensdrang getrieben und genervt von den Anforderungen des Lebens, leben wir in einer Welt, die völlig davon ausgefüllt ist, sich an unsere Existenz, an unseren Lebensunterhalt, an unseren Job zu klammern. Während dieses Jahrhunderts und bereits seit wenigstens einigen Tausend Jahren haben die Menschen versucht, ihre Probleme zu lösen. Während der gesamten Geschichte der Menschheit sind in der Tat große Propheten, Lehrer, Meister, Yogis und Heilige aller Art erschienen und haben versucht, die Probleme des Lebens zu lösen. Ihre Botschaft war ziemlich unmißverständlich: „Versucht, gut zu sein. Seid freundlich zu euch selbst, zu euren Nachbarn, euren Eltern, euren Verwandten, eurem Ehepartner – zur ganzen Welt. Wenn ihr zu anderen gut seid, werdet ihr ihre Ängste lindern. Dann werdet ihr wunderbare Nachbarn, wunderbare Verwandte, eine wunderbare Ehefrau, einen wunderbaren Ehemann, eine wunderbare Welt haben.“ Diese Botschaft 21 wurde bereits Tausende von Malen übermittelt. Unser Leben wird bereichert durch die vielen heiligen Schriften, darunter die alten Traditionen des Daoismus, die Texte des Vedānta, der Sūtras, Tantras und Shāstras. Heutzutage sind die Bibliotheken und Buchhandlungen voll von diesen Versuchen, zu uns durchzudringen. Die Leute sind so sehr bemüht, uns zu helfen, daß sie sogar die Bibel in unsere Hotelzimmer legen. Viele jener Lehrer und Heiligen gehören zu einer theistischen Tradition. Das heißt, daß sie den einen Gott anbeten und daher monotheistisch sind oder daß sie Botschaften aus dem Multitheismus anderer Traditionen vermitteln. Der Buddhismus ist dagegen eine nichttheistische spirituelle Disziplin, die nicht in Begriffen der Anbetung denkt und die Welt nicht als Schöpfung von irgend jemandem ansieht. Nach dem Buddhismus gab es keinen großen Handwerker, der die Welt hergestellt hat. Diese Welt wird allein durch unsere eigene Existenz erschaffen oder hergestellt und existiert allein durch sie. Wir existieren; deshalb haben wir diese besondere Welt hergestellt. Dann gibt es aber auch noch völlig andere Schulen des Denkens, die von naturwissenschaftlichen Entdeckungen gestützt werden; ihrer Ansicht nach ist alles ein evolutionärer Prozeß. Es gibt Darwinsche Theorien, wie der Mensch aus einem Affen oder einem Fisch entstanden ist. Es gibt viele einander widersprechende Vorstellungen vom Ursprung der Existenz. Aber ob wir nun vom Theismus, Nichttheismus oder einem naturwissenschaftlichen Ansatz ausgehen, es gibt diese besondere Welt – die erschaffen wurde und die wir haben. Für Theologen oder Naturwissenschaftler mag es schrecklich wichtig sein herauszufinden, warum wir hier sind und wie wir hierher gelangt sind. Aber vom Standpunkt der Shambhala-Vision gesehen, geht es nicht so sehr darum, warum ich hier bin oder warum Sie hier sind. Warum Sie vielleicht gern ein weißes Hemd oder ein rotes Hemd oder langes Haar oder kurzes Haar tragen, das steht nicht zur Debatte. Die wirkliche Frage ist: Da wir nun schon einmal hier sind – wie werden wir von diesem Moment an leben? Wir haben vielleicht noch lange Zeit zu leben, oder auch nicht. Die Vergänglichkeit ist immer gegenwärtig. Ihr Leben könnte im nächsten Augenblick zu Ende sein. Wenn Sie aus dem Zimmer gehen, in dem Sie sich gerade befinden, könnte Ihnen etwas passieren. 22 Sie könnten dem Tod begegnen. Alles mögliche kann in Hinsicht auf Leben oder Tod geschehen. Vielleicht bekommen Sie es mit körperlichen Schwierigkeiten zu tun, mit allen möglichen Krankheiten. Sie könnten an Krebs erkranken. Wie auch immer, Sie müssen vom jetzigen Moment aus leben. Der springende Punkt der Shambhala-Lehren ist, zu erkennen, daß es keine von außen kommende Hilfe gibt, die Sie vor der Angst und dem Schrecken des Lebens retten könnte. Der beste aller Ärzte, die beste aller Medizinen und die beste aller Technologien können Sie nicht vor dem Leben in Sicherheit bringen. Die besten Berater, die besten Bankkredite und die besten Versicherungspolicen können Sie nicht retten. Letztlich muß Ihnen klar werden, daß Sie selbst etwas tun müssen und sich nicht von Technologie, finanzieller Hilfe, ihrer eigenen Cleverneß oder gutem Denken irgendeiner Art abhängig machen dürfen – nichts davon wird Sie retten. Das mag sich nach einer düsteren Wahrheit anhören, aber es ist nichtsdestoweniger die Wahrheit. In der buddhistischen Tradition wird das oft auch die Vajra -Wahrheit genannt, die demantene Wahrheit, die Wahrheit, der man nicht ausweichen oder die man nicht zerstören kann. Wir können unserem Leben einfach nicht ausweichen. Wir müssen uns dem Leben stellen, Jung oder Alt, Arm oder Reich. Was immer geschieht – wir können uns vor dem Leben nicht in Sicherheit bringen. Wir müssen uns der letztendlichen Wahrheit unseres Lebens stellen – und die ist nicht einmal die letztendliche Wahrheit, sondern einfach die wahre Wahrheit unseres Lebens. Wir sind hier; darum müssen wir lernen, wie wir ab hier mit unserem Leben weitermachen können. Diese Wahrheit ist das, was wir die Shambhala-Weisheit nennen. Die Einführung einer solchen Weisheit in die westliche Kultur ist ein historisches Ereignis. Allerdings ist es nicht meine Absicht, Sie zu dem zu bekehren, was ich zu sagen habe. Es ist vielmehr so, daß Sie von selbst immer deutlicher ihre eigene Verantwortung begreifen werden, je mehr Sie verstehen. Ich spreche also nicht nur vom Standpunkt des Trompeters zu Ihnen, sondern auch vom Standpunkt derer, denen etwas vortrompetet wird. Wichtiger, als den Trompeter zu beobachten, ist, die Trompetenmusik zu hören. 23 Das Königreich Nach der Überlieferung war das Königreich Shambhala ein Königreich in Zentralasien, in dem diese Weisheit gelehrt und eine hervorragende Gesellschaft errichtet wurde. In jener Gesellschaft basierten die Sitten und das Verhalten der Bürger darauf, daß sie weniger Ängste hatten. Im Grunde kommen Ängste daher, daß wir uns nicht der Situation stellen, in der wir uns im Moment befinden. Das Königreich von Shambhala und seine Bürger, die Untertanen von Shambhala, waren in der Lage, sich der Wirklichkeit zu stellen. Man kann das Königreich von Shambhala ein mythisches Königreich nennen oder auch ein tatsächliches Königreich – in dem Maße, in dem Sie an Atlantis oder an den Himmel glauben. Manchmal heißt es auch, das Königreich sei technologisch fortgeschritten und seine Bürger außerordentlich intelligent gewesen. Die Spiritualität war säkularisiert, was bedeutete, daß man mit den alltäglichen Lebenssituationen angemessen umzugehen wußte. Das Leben basierte nicht auf der Anbetung einer Gottheit oder auf eifriger religiöser Praxis als solcher. Die wunderbare Welt von Shambhala beruhte vielmehr darauf, daß die Menschen tatsächlich mit ihrem Leben, ihrem Körper, ihrem Essen, ihrem Haushalt, ihren ehelichen Szenen, ihrem Atem, ihrer Umwelt, ihrer Atmosphäre umzugehen wußten. Nach den Legenden wurden die Vision und die Lehren von Shambhala in jenem großen zentralasiatischen Königreich verkörpert. Wenn wir das etwas tiefer betrachten, könnten wir sagen, daß es zu einer solchen Situation der Geistesklarheit kommt, wenn man sich mit seiner eigenen Intelligenz verbindet. Darum existiert das Königreich von Shambhala genau in diesem Augenblick in Ihrem eigenen Herzen. Sie selbst sind zweifellos ein Bürger von Shambhala und Teil des Königreichs von Shambhala. Wir versuchen nicht etwa, einen Mythos in die Realität zu übertragen; das wäre der falsche Ansatz. Zu diesem Thema habe ich übrigens ein Buch mit dem Titel Der Mythos Freiheit und der Weg der Meditation geschrieben.5 Allerdings besitzen wir als menschliche Wesen unsere Sinne: Wir können sehen, hören, fühlen und denken. Und aus diesem Grunde können wir auch etwas tun, um das Königreich von Shambhala wieder einmal herbeizuführen. 24 Diesmal muß es kein zentralasiatisches Königreich sein. Wir sprechen nicht davon, daß wir dorthin fahren und Gräber und Ruinen ausgraben, um die Überreste der Wahrheit von Shambhala zu finden. Es geht hier nicht um eine archäologische Forschung. Anderseits könnten wir durchaus von einer Art archäologischer Forschung sprechen, die darin besteht, unseren Geist und unser Leben auszugraben. Diese sind nämlich vergraben unter Schichten und Schichten von Erde. Wir müssen etwas in unserem Leben wiederentdecken. Ist das möglich? Es ist durchaus möglich, mehr als möglich. Wie sollen wir das also anpacken? Vom ersten Tag Ihres Lebens an haben Sie sich selbst, Ihr Leben und Ihre Lebenserfahrungen nie wirklich angesehen. Sie hatten niemals wirklich das Gefühl, daß Sie eine gute, anständige Welt schaffen könnten. Natürlich mögen Sie alle möglichen Dinge versucht haben. Sie sind vielleicht im Namen des Glücks der Menschheit auf die Straße gegangen und haben gegen das existierende politische System protestiert. Sie haben vielleicht neue Ideen und Manifeste aufgeschrieben, die dieses oder jenes verhindern sollen – jenen Schmerz, diesen Schmerz, diese Verwirrung, jene Verwirrung. Sie haben sich vielleicht sogar irgendwie heroisch verhalten und können deshalb sagen, daß Sie Ihr Bestes versucht haben. Und dennoch – haben Sie etwa wahren Frieden oder wahre Ruhe gefunden? Eine wahre, würdige Welt ist noch nicht zustande gekommen. Oft sind wir aufgrund unserer Aggressivität ziemlich ärgerlich und ablehnend, und wir beklagen uns häufig. Anstelle kurzer Haare wollen wir lange Haare. Statt lange Harre zu tragen, schneiden wir unser Haar kurz. Statt eines Jacketts und einer Krawatte wollen wir Jeans und ein T-Shirt tragen. Wir tun nicht dieses, sondern jenes. Wir versuchen, einen leichten Weg zur Erlangung der Freiheit und Verwirklichung der Vision einer humanen Gesellschaft zu finden. Statt Nutella zu essen, versuchen wir es mit braunem Reis. Statt dessen, versuchen wir dieses; anstelle von diesem, versuchen wir jenes. Das, dies, dies, das. Wir haben schon so viele Dinge ausprobiert. Besonders in den Vereinigten Staaten haben sich die Menschen so sehr darum bemüht, wieder eine gute Welt zu etablieren. Ich habe Hochachtung vor dieser Integrität, die in mancher Hinsicht einigermaßen beharrlich und ziemlich gut ist. 25 Das Prinzip der Shambhala-Schulung ist jedoch, daß man nicht etwa versucht, Probleme auszumerzen, sondern daß man wieder etwas Positives etabliert oder pflanzt. Der springende Punkt ist, daß man sich nicht mehrfach duschen muß, um den Schmutz zu entfernen. Die eigentliche Frage ist, was wir uns nach dem Duschen anziehen und wie wir unseren Körper parfümieren und schmücken werden. Einmal duschen reicht, man wird sauber davon. Wenn Sie danach noch immer weiter duschen, werden Sie extrem – allzu sauber. Da ist zwar eine gewisse Abwesenheit von Schmutz – aber was kommt danach? Es ist keine Wärme, keine Würde vorhanden. Vermögen wir nicht ein bißchen mehr zu tun, um Wirklichkeit und Gutsein in die Gesellschaft hineinzutragen? Der Kokon In der Shambhala-Schulung geht es darum, aus unserem Kokon hervorzukommen, der aus der Schüchternheit und der Aggressivität besteht, in die wir uns eingehüllt haben. Wenn wir aggressiver sind, dann fühlen wir uns besser verbarrikadiert. Wir fühlen uns gut, weil wir mehr haben, wovon wir reden können. Wir haben das Gefühl, daß wir die größte Stimme des Unbehagens sind. Wir schreiben Gedichte darüber. Wir bringen uns selbst durch diese Klagen zum Ausdruck. Können wir nicht, anstatt uns ständig zu beklagen, etwas Positives tun, um dieser Welt zu helfen? Je mehr wir klagen, desto mehr Betonplatten werden auf die Erde gelegt. Je weniger wir uns beklagen, desto mehr Möglichkeiten wird es geben, das Land zu pflügen und Samen zu säen. Wir sollten das Gefühl haben, daß wir etwas Positives für die Welt tun können, statt sie mit unseren Aggressionen und unseren Klagen zu überdecken. Der Ansatz der Shambhala-Schulung ist der, etwas ganz Konkretes, ganz Grundlegendes, ganz Bestimmtes zu tun und am Anfang anzufangen. In der Shambhala-Tradition sprechen wir davon, ein Krieger zu sein. Ich möchte hier gleich klarstellen, daß ein Krieger in diesem Fall nicht jemand ist, der andere mit Krieg überzieht. Ein Shambhala-Krieger ist jemand, der tapfer genug ist, angesichts der Aggressionen und der Widersprüche der Gesellschaft nicht klein beizugeben. Ein Krieger, auf Tibetisch ein Pawo, ist ein mutiger Mensch, ein authentischer 26 Mensch, der aus seinem Kokon herauskommen kann – also aus dem gemütlichen Kokon, in dem er oder sie zu schlafen versucht. Wenn Sie sich in Ihrem Kokon befinden, dann rufen Sie gelegentlich klagend Dinge aus wie: „Laß mich bloß in Ruhe!“ oder „Zisch ab!“ oder „Ich will der sein können, der ich bin.“ Ihr Kokon ist aus tollen Aggressionen gemacht, die daher kommen, daß Sie gegen Ihre Umgebung kämpfen, gegen die Erziehung durch Ihre Eltern, gegen die Erziehung durch Ihre Schule, gegen alle möglichen Arten von Erziehung. Wenn Sie in Ihrem Kokon sitzen, brauchen Sie nicht wirklich zu kämpfen. Sie können dann und wann den Kopf heben und vorsichtig aus dem Kokon hervorlugen. Manchmal, wenn Sie den Kopf ein wenig herausstrecken, finden Sie die Luft ein bißchen zu frisch und kalt. Aber dennoch ist das ganz gut. Es ist die beste frische Luft von Frühling oder Herbst – oder auch die beste frische Luft von Winter oder Sommer. Wenn Sie also zum ersten Mal den Kopf aus dem Kokon herausstrecken, dann gefällt Ihnen das, auch wenn es sich vielleicht ein wenig unbehaglich anfühlt. Ja, Sie finden das sogar sehr erfrischend. Wenn sie also auf diese Weise hervorgelugt haben, werden Sie mutig genug, ganz aus dem Kokon herauszuklettern. Sie sitzen dann auf ihrem Kokon und schauen sich um. Sie recken die Arme, und Sie beginnen, Kopf und Schultern zu entwickeln. Die Umgebung ist freundlich. Sie heißt „der Planet Erde“. Oder Sie heißt „Boston“ oder „New York City“. Es ist Ihre Welt. Ihr Nacken und Ihre Hüften sind nicht allzu steif, also können Sie sich hin und her wenden und sich umsehen. Die Umgebung ist gar nicht so schlimm, wie Sie gedacht hatten. Immer noch auf dem Kokon sitzend, richten Sie sich ein wenig mehr auf. Dann knien Sie sich hin, und schließlich stehen Sie auf und stellen sich auf Ihren Kokon. Während Sie sich umsehen, wird Ihnen klar, daß der Kokon nicht mehr nützlich ist. Sie müssen der Logik der Werbung keinen Glauben schenken, die behauptet, daß Sie sterben müssen, wenn Ihr Haus nicht gut genug isoliert ist. Sie brauchen die Isolation Ihres Kokons nicht wirklich. Das ist nur ein kleiner Panzer, den Sie sich mit Hilfe Ihrer kollektiven und eingebildeten Paranoia und Verblendung angelegt haben, die mit der Welt da draußen nichts zu tun haben wollten. 27 Dann strecken Sie versuchsweise ein Bein aus, um den Boden um den Kokon herum zu berühren. Im allgemeinen nimmt man zuerst den rechten Fuß. Sie fragen sich, wo ihr Fuß wohl landen wird. Sie haben Ihre Fußsole nie zuvor auf den Grund dieses Planeten Erde gesetzt. Wenn Sie den Boden berühren, kommt er Ihnen zuerst ziemlich rauh vor. Er besteht aus Erde, nackter Scholle. Aber schon bald entdecken Sie die Intelligenz, die es Ihnen ermöglicht, auf der Erde zu laufen, und Sie bekommen langsam das Gefühl, mit dem Prozeß umgehen zu können. Ihnen wird klar, daß Sie dieses Familienerbstück, das man den „Planeten Erde“ nennt, schon vor langer Zeit geerbt haben. Sie stoßen einen Seufzer der Erleichterung aus, vielleicht einen mittelgroßen Seufzer, strecken nun auch Ihr linkes Bein aus und berühren den Boden auf der anderen Seite des Kokons. Wenn Sie die Erde zum zweiten Mal berühren, finden Sie zu Ihrer Überraschung, daß die Erde sanft und freundlich und viel weniger rauh ist. Sie fühlen Freundlichkeit und Zuneigung und Sanftheit. Sie haben das Gefühl, daß Sie sich sogar auf Ihrem Planeten Erde verlieben könnten. Sie können sich verlieben. Sie empfinden echte Leidenschaft, und das ist etwas sehr Positives. An diesem Punkt entschließen Sie sich, Ihren geliebten alten Kokon zurückzulassen und aufzustehen, ohne sich an dem Kokon festzuhalten. Sie stehen also jetzt auf ihren beiden Füßen, und dann machen Sie einen kleinen Spaziergang außerhalb Ihres Kokons. Jeder Schritt ist rauh und sanft, rauh und sanft. Rauh, weil die Erkundung noch eine Herausforderung ist, und sanft, weil Sie auf nichts stoßen, das versuchte, Sie zu töten oder aufzufressen. Sie müssen sich nicht verteidigen oder mit überraschenden Angreifern oder wilden Tieren kämpfen. Die Welt um Sie herum ist so gut und schön, daß Sie wissen: Hier kann ich mich als Krieger, als eine machtvolle Person aufrichten. Sie bekommen langsam das Gefühl, daß diese Erde durchaus brauchbar ist, ja nicht nur brauchbar, sondern ganz wundervoll. Und zu Ihrer Überraschung finden Sie, daß viele andere um Sie herum ebenfalls aus ihrem Kokon hervorkommen. Wohin Sie auch gehen, finden Sie Scharen von Exkokonbewohnern. 28 Als Exkokonbewohner haben wir das Gefühl, daß wir würdevolle und wunderbare Menschen sein können. Wir müssen nichts von uns weisen. Wenn wir unseren Kokon verlassen, finden wir jederzeit Gutsein und Dankbarkeit in uns vor. Und während wir so auf der Erde stehen, finden wir auch, daß die Welt nicht sonderlich deprimiert ist. Andererseits besteht jedoch auch Bedarf an sehr harter Arbeit. Wenn wir aufstehen und herumgehen, nachdem wir endlich aus unserem eigenen Kokon entkommen sind, sehen wir, das es Hunderttausende anderer gibt, die noch in ihrem Kokon stecken und dort kaum Luft bekommen. Das berührt uns, und wir fühlen uns traurig, sehr traurig. Von der Wörterbuchdefinition her hat „Traurigkeit“ eine negative Bedeutung. Wenn Sie sich traurig fühlen, fühlen Sie sich unglücklich oder schlecht. Oder Sie sind traurig, weil Sie nicht genug Geld oder Sicherheit haben. Aber aus der Shambhala-Perspektive ist Traurigkeit auch inspirierend. Sie fühlen sich traurig und leer im Herzen, aber Sie fühlen auch etwas Positives, weil zu dieser Traurigkeit eine Anerkennung anderer gehört. Sie würden denen, die noch in ihrem Kokon feststecken, gern sagen, daß sie ebenfalls diese echte Traurigkeit empfinden würden, wenn sie nur aus ihrem Kokon hervorkämen. Diese Leere im Herzen, diese Lauterkeit des Herzens, ist das Prinzip des Kriegers mit dem lauteren Herzen der Traurigkeit. Als jemand, der selbst einmal im Kokon gelebt hat, finden Sie es großartig, daß es in der Vergangenheit Menschen gegeben hat, die ihrem Kokon entkommen sind. Sie wünschten sich, den Menschen in den Kokons die Geschichte der Krieger der Großen Östlichen Sonne und des Shambhala-Königreichs erzählen zu können. Alle Krieger der Vergangenheit mußten ihren Kokon verlassen. Das würden Sie die Menschen in den Kokons gern wissen lassen. Und Sie würden ihnen gern sagen, daß sie nicht allein sind. Es gibt Hunderttausende anderer, die diese Reise hinter sich gebracht haben. Sobald Sie diese Eigenschaft der Traurigkeit kultiviert haben, entwickeln Sie auch eine Qualität der Würde oder des positiven Stolzes, die sich total von dem gewöhnlichen negativen Stolz unterscheidet. Sie können sich der entwürdigten Welt voller Würde präsentieren, um ihr zu zeigen, daß es nicht angeht zu versuchen, dem Tod auszuweichen, indem man in einem Kokon schläft. Die entwürdigte Welt, in der die Menschen 29 in dem Versuch, den Schmerz des Todes zu vermeiden, in ihrem Kokon schlafen, nennt man die Sonnenuntergangswelt. In dieser Welt warten die Menschen auf den Sonnenuntergang als ein Zeichen, daß eine friedliche Nacht vor ihnen liegt. Aber diese Nacht ist nie friedlich: Sie ist immer total finster. Jene, die sich aus ihrem Kokon erheben, nennt man die Menschen der Großen Östlichen Sonne. Sie werden nicht geblendet, wenn sie ihre Augen öffnen, und sie schämen sich dessen nicht, daß sie Kopf und Schultern entwickelt und ihren Kokon verlassen haben. Diese Menschen beginnen die frische Morgenluft zu atmen. Sie erfahren eine Helligkeit, die durchgängig und wunderschön ist. In der Übung der Sitzmeditation, die ein Teil der Shambhala-Übungen ist, betonen wir die Wichtigkeit einer guten Haltung. Haltung ist wichtig, nicht nur beim Sitzen6, sondern bei allem, was Sie tun. Ob Sie mit einem Kunden sprechen oder mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin, ob Sie mit Ihrem Haustier sprechen oder mit sich selbst – was gelegentlich geschieht –, dabei eine gute Haltung von Kopf und Schultern zu haben ist ein Zeichen dafür, daß Sie Ihrem Kokon entkommen sind. Einer der Gründe, warum die Leute unter der Dusche singen, ist, daß das auf sie herabströmende Wasser sie zwingt, gerade zu stehen, mit erhobenem Kopf und geraden Schultern.7 Sie fühlen sich gereinigt, und darum beginnen sie zu singen oder zu summen. Das ist kein Märchen, das ist wahr. Wenn Ihnen Wasser auf die Schultern, auf den Kopf und aufs Gesicht fällt, haben sie das Gefühl, mit dem Himmel verbunden zu sein. Anderen helfen Die Shambhala-Schulung basiert auf der Entwicklung von Freundlichkeit und Echtheit, damit wir uns selbst helfen und Zärtlichkeit in unserem Herzen kultivieren können. Wir umhüllen uns nicht länger mit dem Schlafsack unseres Kokons. Wir fühlen uns für uns selbst verantwortlich, und es fühlt sich gut an, Verantwortung zu übernehmen. Wir empfinden auch Dankbarkeit dafür, daß wir als menschliche Wesen tatsächlich für andere wirken können. Es ist höchste Zeit, daß wir etwas unternehmen, um der Welt zu helfen. Dies ist die rechte Zeit, der rechte Moment zur Vorstellung dieser Schulung. 30 Unser Festhalten am Ich manifestiert sich in den Worten “Ich bin“. Darauf folgt dann die Schlußfolgerung: „Ich bin ... glücklich“ oder „Ich bin ... traurig“. Wir haben den ersten Gedanken (Ich) und den zweiten Gedanken (bin), und der dritte Gedanke ist dann schließlich die Schlußfolgerung: „Ich bin glücklich.“ – „Ich bin traurig.“ – „Ich fühle mich miserabel.“ – „Ich fühle mich prima.“ ... Was immer der Gedanke sein mag. Die Shambhala-Vorstellung von Verantwortung bedeutet, das „bin“ fallenzulassen. Sagen Sie einfach: „Ich glücklich“, „Ich traurig“. Ich weiß, daß es da ein gewisses linguistisches Problem gibt, aber ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Es geht darum, anderen gegenüber ohne Selbstbestätigung verantwortlich zu handeln. Um das etwas anders auszudrücken, nehmen wir an, Ihr Name sei Sandra. Da ist „Sandra“, und da ist die „Welt“. Man braucht kein Verb als Bestätigung zwischen den beiden. Seien Sie einfach freundlich zu anderen. Sandra sollte echt sein. Wenn sie wahrhaft und echt Sandra ist, kann sie anderen sehr viel helfen. Sie mag nicht in Erster Hilfe ausgebildet sein, aber sie kann doch jemand anderem ein Pflaster auf den Finger heften. Sandra scheut sich nicht mehr zu helfen, und sie ist auf der Stelle sehr freundlich. Wenn Sie anfangen, anderen zu helfen, dann haben Sie begonnen, Kopf und Schultern aufzurichten, und Sie kommen aus Ihrem Kokon hervor. Beim Shambhala-Training geht es darum, das Produzieren unechter Menschen zu vermeiden. Es geht darum, zu einem echten Menschen zu werden, der anderen helfen kann. Wenn man im Kokon lebt, dann ist man wie ein Kind im Mutterschoß, das keine Lust hat, herauszukommen. Auch wenn man dann einmal geboren ist, ist man nicht gerade begeistert über die Erziehung zur Reinlichkeit. Sie möchten am liebsten weiter in Ihren Windeln leben. Sie mögen es, unten herum immer schön eingewickelt zu sein. Aber schließlich nimmt man Ihnen die Windeln weg. Sie haben keine Wahl. Sie wurden geboren und zur Reinlichkeit erzogen; schließlich können Sie nicht für immer in Ihren Windeln bleiben. Tatsächlich mögen Sie sich freier vorkommen, wenn Sie nicht ständig irgendwelche Windeln um den Hintern gewickelt haben. Sie können sich freier bewegen. Schließlich sind Sie vielleicht ganz erleichtert darüber, von der Tyrannei der Eltern und des Elternhauses frei zu sein. 31 Aber immer noch mögen wir nicht wirklich eine Disziplin entwikkeln. Also entwickeln wir dieses kleine Dingsbums, diesen kleinen Kokon. Wir umhüllen uns mit allen möglichen Dingen. Wenn wir im Kokon stecken, dann setzen wir uns nicht gern gerade hin und essen mit guten Tischmanieren. Wir mögen uns nicht vornehm anziehen, und wir wollen uns keiner Disziplin unterwerfen, die auch nur drei Minuten Stillhalten von uns verlangt. Das liegt teilweise daran, daß wir im modernen Westen aufgewachsen sind, wo alles darauf ausgerichtet ist, daß die Kinder „Spaß“ haben. Sogar die Schulbildung muß Spaß machen. Wenn Sie Ihre Kinder außerhalb des Kokons erziehen können, dann werden Sie lauter Bodhisattva-Kinder aufziehen, Kinder die echt sind und sich den Tatsachen stellen und die wirklich in der Lage sind, angemessen mit der Wirklichkeit umzugehen. Ich habe das mit meinen eigen Kindern gemacht, und es scheint zu funktionieren. Als anständige menschliche Wesen stellen wir uns den Tatsachen der Wirklichkeit. Ob wir uns gerade in einem Schneesturm oder einem Gewitter befinden oder ob Chaos in der Familie herrscht, was immer die Probleme sein mögen, wir sind bereit, sie zu lösen. Wir empfinden es nicht mehr als lästig, uns diese Situationen genau anzusehen, sondern geradezu als unsere Pflicht. Auch wenn uns die Nächstenliebe oft genug gepredigt wurde, glauben wir nicht daran, daß wir sie verwirklichen können. Der traditionelle amerikanische Ausdruck dafür ist, wie ich gehört habe, daß man sich „nicht die Hände schmutzig machen will“. Das ist, auf den Punkt gebracht, der Grund dafür, daß wir in unserem Kokon bleiben wollen: Wir wollen uns nicht die Hände schmutzig machen. Aber wir müssen etwas für diese Welt tun, damit die Welt sich zu einer gewaltfreien Gesellschaft entwickeln kann, in der die Menschen sich selbst aufwecken können. Anderen zu helfen, das ist eine der größten Herausforderungen. Ich schätze Ihren Forscherdrang, Ihren Sinn für Humor und Ihre Lockerheit. Bitte versuchen Sie, noch vornehmer zu werden und aus Ihrem Kokon herauszukommen. Es geht vor allem darum, innerlich echt zu werden. Das heißt, daß Sie sich von der Plastikwelt frei machen, soweit das überhaupt möglich ist. Und bitte verletzen Sie andere nicht. Wenn Sie das nicht können, dann behandeln Sie wenigstens sich selbst 32 besser und bestrafen sich nicht selbst, indem Sie in Ihrem Kokon schlafen. Und schließlich versuchen Sie bitte, mit anderen zusammenzuarbeiten und ihnen zu helfen. Eine unglaublich große Zahl von Menschen braucht Hilfe. Bitte versuchen Sie, ihnen zu helfen – um Himmels willen, um Himmels und der Erde willen. Sammeln Sie nicht einfach nur eine östliche Weisheit nach der anderen. Sitzen Sie nicht auf einem leeren Zafu, einem leeren Meditationskissen. Gehen Sie hinaus und versuchen Sie anderen zu helfen, wo es möglich ist. Das ist der springende Punkt. Wir müssen etwas tun. Wir müssen unbedingt etwas tun. Wie wir in der Zeitung lesen und im Fernsehen sehen, geht es mit der Welt bergab, Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute, ein Ding nach dem anderen – und niemand hilft da wirklich. Ihre Hilfe muß keine große Sache sein. Sie können damit anfangen, einfach mit Ihren Freunden und gleichzeitig an sich selbst zu arbeiten. Es ist höchste Zeit, daß wir Verantwortung für diese Welt übernehmen. Das wird sich dann von selbst auszahlen. 33