weltenbastler- olympiade 2009

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weltenbastler- olympiade 2009
WELTENBASTLEROLYMPIADE
2009
Das Copyright eines jeden Beitrags liegt beim jeweiligen Autor.
Die einzelnen Beiträge wurden im Rahmen der
„Weltenbastler-Olympiade 2009“ auf
www.weltenbastler.net veröffentlicht.
Zeitraum: 29.06.2009 – 26.10.2009
Layout: dat Ly
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.............................................................................................6
Aufgabenstellungen.............................................................................7
HANDELSWARE
10
Ganilh.....................................................................................................................11
Sing-Sing, die blaue Droge
Gomeck..................................................................................................................12
Käufliche Liebe
Jundurg..................................................................................................................15
Schlammbrot
LANDSCHAFTLICH MARKANTER PUNKT
17
Jundurg..................................................................................................................18
Taslu am Fluss Luos
Neyasha.................................................................................................................19
Staumarat
Sturmfaenger.........................................................................................................21
Die Leenosichel
Veria.......................................................................................................................24
Kassobri, die silberblaue Stadt
Vinni.......................................................................................................................27
Die verlorene Stadt
LOKALE PERSÖNLICHKEIT
29
Neyasha.................................................................................................................30
Ahet Heilin, der Mosaikleger
Taipan.....................................................................................................................32
Duanm Grablaterne
Sturmfaenger.........................................................................................................34
Tassie, die Wellentänzerin, Stimme Sainodins
voguish...................................................................................................................37
Nekromantin & Kaiserin
NICHT-RELIGIÖSER FEIERTAG
38
Gerion.....................................................................................................................39
Das Blutfest von Port Nial
Mara.......................................................................................................................41
Das Königsfest von Kilaan
oder: der Gestank verbrannter Krabben
Taipan.....................................................................................................................48
Harasalanfeuernacht
oder: das Feuerpuppenfest
Veria.......................................................................................................................51
Das Funkenturmfest
3 / 159
PFLANZENART
53
Gerion.....................................................................................................................54
Die Khalenzblume
Malacai...................................................................................................................56
Die Hochzeitspflanze
Veria.......................................................................................................................59
Die blaue Gletscherzibbe
REGIONALE SPEZIALITÄT
62
Gerion.....................................................................................................................63
Katal
Gomeck..................................................................................................................65
Kæyal (Elfenscheiße ;-))
Sturmfaenger.........................................................................................................68
Cjennales, die Kronringe
Veria.......................................................................................................................72
Blutende Silberblattecken
RELIGIÖSE ZEREMONIE
74
Jundurg..................................................................................................................75
Amtseinführung des Grah
Mara.......................................................................................................................77
Der Guss der Glocke
Taipan.....................................................................................................................81
Amtseinführung des Rassharhohepriesters
Vinni.......................................................................................................................84
Ein neuer Anführer bei den Drachenkriegern
STÄDTISCHES WAHRZEICHEN
88
Ganilh.....................................................................................................................89
Die Hutmacher zu Vallalan
Jundurg..................................................................................................................92
Die fliegenden Händler von Rontoningus
Moordrache............................................................................................................94
Die Vnekyu von Heyrée
Sturmfaenger.........................................................................................................97
Die Netzträger von Skhe’ekshi
TIERART
100
Malacai.................................................................................................................101
Der Aramit
Taipan...................................................................................................................104
Tuchkaliden
Veria.....................................................................................................................108
Das Mütaitzja, das Tier des Lebens
Yelaja....................................................................................................................111
Die rubinrote Speiechse
4 / 159
TRACHT / KLEIDUNG
115
Gerion...................................................................................................................116
Die Uhrenweste
Mara.....................................................................................................................118
Die weiße Haut der gefangenen Geister
Sturmfaenger.......................................................................................................122
Der Shilgae
Veria.....................................................................................................................124
Die Amtskleidung der Tijiyain
Vinni.....................................................................................................................126
Der Kouro
HISTORISCHES EREIGNIS (REGIONAL)
128
Ehana...................................................................................................................129
Der Tod von Dar Kitanas, 568 n. Rgr.
Gomeck................................................................................................................132
Die Vereinigung der Tajarek
Sturmfaenger.......................................................................................................133
Kydlaers Einsicht
GESETZ
136
Gerion..................................................................................................................137
Das Pfeifverbot
oder: Das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung gegen Bahnpferde“
Lakyr.....................................................................................................................139
Zreunoktinische Gesetze
Taipan...................................................................................................................141
Das Ikreekverbot
BRAUCH / SITTE
143
Sturmfaenger.......................................................................................................144
Das Parthortcinium von Selye Hälyesse
Taipan...................................................................................................................149
Beschenkung der Neugeborenen von Senai
GILDE / VEREIN / BÜNDNIS
151
Gerion..................................................................................................................152
Die Gesellschaft der Gentleman Straßenräuber
Taipan...................................................................................................................154
Die Radhüter von Rezzar
Die Gewinner...................................................................................158
Der Medaillenspiegel.......................................................................159
Statistik............................................................................................161
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EINLEITUNG
Für all diejenigen, die mit „Weltenbastler-Olympiade“ nichts anfangen können, an
dieser Stelle eine kleine Erklärung vorweg:
wie bei den Olympiaden der Menschen, gibt es verschiedene Disziplinen, in denen
sich die unterschiedlichsten Bastler messen wollen.
Allerdings messen sie sich nicht in körperlicher Kraft, sondern in Ideenreichtum,
Originalität, Detailreichtum und der Fähigkeit in kürzester Zeit einer Aufgabenstellung
möglichst exakt gerecht zu werden.
Die diesjährigen Aufgabenstellungen der einzelnen Disziplinen findet ihr auf den
nachfolgenden Seiten, bevor die zahlreichen Beiträge dazu folgen.
Der Ablauf der Weltenbastler-Olympiade ist wie folgt:
1. Pro Disziplin müssen sich mindestens drei Bastler als Jury zusammenfinden,
die die Aufgabe in der jeweiligen Disziplin ersinnen und später die
eingesendeten Beiträge auch bewerten.
2. Ein jeder Bastler ist aufgerufen in den unterschiedlichen Disziplinen
teilzunehmen – möglichst mit konkreter Anmeldung.
(Die Juroren dürfen in ihren Disziplinen natürlich keine eigenen Beiträge
einsenden.)
3. Sobald die WBO begonnen hat, haben die Teilnehmer der jeweiligen Disziplin
nur eine Woche Zeit, die Aufgabenstellung umzusetzen.
(Bei den derzeit 14 Disziplinen dauert die WBO also auch entsprechend 14
Wochen = dreieinhalb Monate)
4. Die Beiträge werden an einen Organisator geschickt, damit die Juroren
unvoreingenommen die anonymisierten Beiträge bewerten können.
(Der Organisator stellt die Beiträge – ohne Nennung des Autors – den Juroren
zur Verfügung – derzeit in einem externen Forum.)
5. Die Juroren bewerten die Beiträge nach folgenden Gesichtspunkten:
✔ Originalität
✔ Detailreichtum
✔ Stimmigkeit
Pro Gesichtspunkt gibt es maximal 10 Punkte – so dass die maximale
Einzelwertung eines Juroren 30 Punkte betragen kann.
Die Gesamtwertung aller drei Juroren kann somit maximal 90 Punkte
betragen.
Wenn ein Juror der Meinung ist, dass die Aufgabenstellung nicht oder nur
teilweise erfüllt wurde, gibt es Punktabzüge.
(Auch die Juroren senden Ihre Bewertungen an den Organisator – eine
Abstimmung zwischen den Juroren ist derzeit nicht gewollt.)
6. Sobald alle Disziplinen abgeschlossen und bewertet wurden, findet die
Siegerehrung statt.
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AUFGABENSTELLUNGEN
zur Inspiration – zum nachbasteln – zum „an den Kopf langen“ ;-)
eine Übersicht aller Aufgabenstellungen
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Handelsware
Der Versuch eines Volkes, diese Handelsware beim Nachbarvolk zum
Exportschlager werden zu lassen, ging wider Erwarten ziemlich daneben.
Krieg oder Politik waren daran aber nicht schuld. Was für eine Handelsware ist
das und warum floppte der Versuch?
Landschaftlich markanter Punkt
In einer flachen Gegend wird ein wichtiger breite Fluss plötzlich für wenige
Kilometer auffallend schmal, ehe er wieder in die Breite geht. Um diese Stelle
ranken sich nicht nur Sagen und Legende, die Stelle war auch von
historischer Bedeutung.
Wie ist diese Engstelle entstanden und welche (nicht wirtschaftliche)
Bedeutung hat sie für die Bevölkerung des Umlandes.
Lokale Persönlichkeit
Der oder die Gesuchte ist eine orts- oder regional bekannte Persönlichkeit und
ist in ihrem Metier, dem sie nachgeht, außergewöhnlich gut; sie wird dafür bei
der Bevölkerung auch hochgeschätzt. Die Person führt jedoch ein
Doppelleben, von dem nur wenige auch nur etwas ahnen, obwohl diese
"zweite Person" ebenfalls - zumindest namentlich - gut bekannt ist.
Nicht-religiöser Feiertag
Einmal im Jahr (oder vergleichbare Zeitspanne) wird dieser Feiertag
anlässlich eines historischen Ereignisses in einem Land gefeiert, das bei
diesem Ereignis eine Niederlage erlitten hatte.
Was ist damals geschehen, wie wird der Tag gefeiert und warum tut man dies,
obwohl es eine Niederlage war?
Und warum riecht es dabei immer so intensiv?
Pflanzenart
Diese Pflanze wächst an sehr unzugänglichen Orten, doch in der
Vergangenheit hatte sie einen hohen Stellenwert und durfte zudem nur von
bestimmten Personen geerntet werden. Inzwischen ist ihre Bedeutung jedoch
stark gesunken/ist sie fast unwichtig geworden. Beschreibe auch, warum es
zu dem Wechsel des Stellenwertes gekommen ist.
Regionale Spezialität
Diese Süß- oder Nachspeise kann an beinahe jeder Straßenecke/jedem Markt
gekauft und verzehrt werden. Die Speise wird zwar bei der Zubereitung
erhitzt, üblicherweise jedoch kalt oder höchstens lauwarm verzehrt. In einer
bestimmten Region schmeckt sie aufgrund besonderer Umstände
außergewöhnlich anders (und viel besser) als anderswo und gilt als
besondere Spezialität.
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Religiöse Zeremonie
Zur Amtseinführung muss ein geistliches oder weltliches Oberhaupt diese
harte Zeremonie durchlaufen und dabei etwas Wichtiges opfern. Um was für
ein Amt handelt es sich, und wie stellt sich diese Zeremonie genau dar?
Städtisches Wahrzeichen
Das städtische Wahrzeichen ist kein Gegenstand und kein Gebäude, sondern
ein besonderer Stand von Personen, der fast nur dort vorkommt und die Stadt
berühmt gemacht hat. Um wen handelt es sich da und warum gibt es sie fast
nur dort? Und inwiefern sind sie auch visuell so speziell, dass sie als
Wahrzeichen taugen?
Tierart
Das gesuchte Tier hat in seiner Wildform eine Reihe unangenehmer
Eigenschaften. Dennoch wurde es - obwohl der Verzehr des Tieres religiös
verboten ist - domestiziert und wird vor allem von einem ganz bestimmten
Stand gehalten. Warum wurde das Tier domestiziert, für wen und wie konnte
man seiner Unarten Herr werden?
Tracht / Kleidung
Angehörige einer bestimmten Bevölkerungsschicht tragen dieses auffällige
Kleidungsstück, das man nicht ohne Hilfe anlegen kann. Es wird als
unschicklich angesehen, es in der Öffentlichkeit nicht zu tragen.
Historisches Ereignis (regional)
Ein bestimmtes Dorf, weit ab von jeglichem strategischen Punkt, ist Pilgerort
für Soldaten des ganzen Landes. Dort fand ein historisches Ereignis statt, das
die Wende in einem Krieg für das Land bedeutete. Allerdings handelte es sich
nicht um eine Schlacht oder andere kriegerische Handlung.
Gesetz
Dieses Gesetz verbietet es, an einer bestimmten Stelle einen bestimmten Laut
von sich zu geben. Welcher Laut ist das, warum ist er verboten, und wie wird
die Einhaltung des Gesetzes kontrolliert und ein Verstoß dagegen bestraft?
Brauch / Sitte
Einmal im Jahr versammeln sich die Bewohner eines kleinen Landstriches,
um, anders als üblicherweise bei der Geburt, allen Kindern die seit dem
letzten Ereignis geboren wurden ihre Namen, und noch etwas anderes,
eigentlich nicht Schmeichelhaftes zu geben.
Wann findet es statt? Weshalb findet es nicht bei der Geburt statt, wie läuft der
Ritus ab und was erhält das Kind dabei neben seinem Namen (und warum)
und inwiefern ist es nicht schmeichelhaft (und warum macht man es
trotzdem)?
Gilde / Verein / Bündnis
Diese Gruppierung ist keine Gilde oder Zunft, sondern eine Vereinigung von
Leuten mit einem gemeinsamen privaten Interesse. Sie besteht lediglich
innerhalb einer bestimmten Stadt, und ihre Mitglieder erkennt man nach
außen hin stets an einer bestimmten nicht dauerhaften Körpergestaltung (z.B.
Frisur, Körperbemalung usw.; nicht z.B. echtes Tattoo). Der Verlust derselben
kommt der Person teuer zu stehen (das muss nicht zwingend etwas mit Geld
zu tun haben).
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Weltenbastler-Olympiade
2009
Die Beiträge
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HANDELSWARE
Aufgabenstellung
Der Versuch eines Volkes, diese Handelsware beim Nachbarvolk zum
Exportschlager werden zu lassen, ging wider Erwarten ziemlich
daneben. Krieg oder Politik waren daran aber nicht schuld. Was für
eine Handelsware ist das und warum floppte der Versuch?
Zeit für die Bearbeitung:
29.06. - 05.07.
Teilnehmer:
1. Platz
Gomeck
käufliche Liebe
(69 Punkte)
2. Platz
Jundurg
Schlammbrot
(65 Punkte)
3. Platz
Ganilh
Sing-Sing, die blaue Droge
(63 Punkte)
Jury:
Sturmfaenger
Neyasha
Taipan
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Ganilh
Sing-Sing, die blaue Droge
Jedes Jahr, am 7. Juvel , feiern die Gläubigen des Landes Homalinn die Seligkeit der
Göttin Kalimpa. Vor jedem Tempel kann man an diesem besonderen Tag auf jedem
Markttisch blaue Stangen kaufen. Bevor die Messe in den Gotteshäusern beginnt,
kauen die Gläubigen fleißig auf solchen Stangen herum, um die ekstatischen und
euphorischen Substanzen zu saugen. Während der Messe setzt die Wirkung ein und
die Gläubigen beginnen ihre Trance. Sie summen die Gotteslieder und mit
geschlossenen Augen geben sie ihre erdliche Aufmerksamkeit auf und lassen sich
auf Wolken in den Himmel tragen. Dort „konnektieren“ sie sich mit der tausend Vulva
besetzten Göttin und genießen, für ein paar unsagbare Momente, die Glückseligkeit
an der göttlichen Quelle gebunden zu sein.
Die blauen Stangen sind getrocknete Wurzeln des gleichnamigen Gebüschs: SingSing. Dieses ist frostempfindlich und bevorzugt volle Sonne und tiefe, humusreiche,
durchlässige Erde. Im Spätsommer erscheinen bläulich-violette und weiße Blumen in
kurzen, aufrechten Ähren. Dieses Gebüsch ist aus diesen klimatischen
Gegebenheiten nur in wenigen Gebieten Homalinns vorzufinden. Im Herbst köpft
man das Gebüsch und lässt die Wurzeln in den letzten Sonnentagen trocknen. Die
erst dunkelbraunen Wurzeln färben sich während dieser Phase ins Bläuliche um.
Aus verständlichen Gründen, wurde die Nutzung der Sing-Singwurzel etwas
erweitert. Vor allem Homalinns Jugend nutzt diese Wurzel um sich an langen,
einsamen Abenden in den Liebesakten zu üben. Die Kalimpapriester verbieten
natürlich derartigen, „abnormalen“ Verbrauch der gottgewidmeten Wurzel.
Im nördlichen Nachbarreich Nordalinn erreichen die Gläubigen die göttliche Nähe
durch aufwendiges, stundenlanges Beten. Als die ersten Händler nach Homalinn
vordrangen, erhofften sie sich große Gewinne mit dieser Wurzel. Sie kauften Proben
und brachten sie in ihr Königreich. Dort erklärten sie dem Klerus die
Trancemöglichkeiten der blauen Droge. Die Glaubensvertreter waren erst begeistert
und probierten die Sing-Sing sofort aus. Doch die Götter Nordalinns sind
hauptsächlich starke Burschen deren Symbole Kriegshammer, Blitze und Schilder
sind. Sie fanden es gar nicht lustig, als ihre besten erdlichen Agenten wie
liebesfreudige Junggesellen auf Wolken antanzten, und sendeten sie illico Abwärts.
Frustriert und besorgt schickte der Klerus die Händler zurück und verboten
Schnurstracks die Sing-Singwurzel. Noch heute erreichen Weltenbastlerweit nur die
Gläubigen Homalinns göttliche Glückseligkeit durch fleißiges kauen und saugen an
der blauen Droge.
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Gomeck
Käufliche Liebe
Auszug aus dem Schiffs-Logbuch vom 23. Saadhi des Jahres 977:
Gestern sichteten wir nach 45 Tagen auf hoher See endlich Land. Es handelte sich
um eine ringförmige Inselgruppe, welche von Eingeborenen bewohnt war, die uns
augenscheinlich freundlich gesonnen waren. Wir gingen heute zur Mittagsstunde an
der westlichsten Insel, die von den Eingeborenen Suakatír genannt wurde, und
welche größtenteils von steilen Klippen gesäumt war, vor Anker.
Die Eingeborenen, allesamt Keniau, waren kleingewachsen und von rötlichbrauner
Hautfarbe, ihre Häupter waren kahl und ihre Haut mit zahlreichen Tätowierungen
versehen. Sie lebten augenscheinlich nur von der Jagd auf Tiere des Waldes und
des Meeres und von den Früchten, die sie in der Natur vorfanden, Ackerbau
betrieben sie dem ersten Anschein nach nicht.
Die Inselgruppe, die hier unter dem Kapitän Sith á Kirrana entdeckt wurde, befindet
sich westlich von Lukkeja, weit ab von jeglicher Landmasse. Sith á Kirrana war im
Auftrag seines Heimatlandes unterwegs, das erforschen wollte, ob es im Westen
noch weitere unentdeckte Kontinente gab.
Die Mannschaft, größtenteils bestehend aus Forschern und Handwerkern, aber auch
einigen Handelsexperten, lag 30 Tage vor Anker, währenddessen sie die Insel
Suakatír und mit kleineren Booten auch die westlich angrenzenden Inseln Likkatau
und Tuniai erforschten, welches die größten Inseln des Archipels darstellten. Sie
knüpften erste Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung, auch wenn die
sprachlichen Unterschiede zunächst eine große Barriere darstellten, und erkannten,
dass sich die Inselgruppe hervorragend als Zwischenstation für weitere
Forschungsreisen weiter in den Westen eignete.
Die Kaial, wie sich die Einheimischen selbst nannten, waren neugierig und sehr
interessiert an jedem technischen Gerät, dass die Seeleute mit sich gebracht hatten.
Sie hatten selbst nur wenig Besitztümer, was sie zum Leben brauchten, beschränkte
sich meist auf Gegenstände für die Jagd, Wurfspeere, Netze, Fallen und
Flintsteinkeile zum Zerteilen der Beute, darüber hinaus Artikel aus geflochtenen
Ästen wie Körbe und ähnliches, was die Männer brauchten, die Früchte und andere
Pflanzen sammelten. Die Kaial waren allerdings sehr zufrieden mit ihrem derzeitigen
Leben und machten nicht den Anschein, dass sie etwas benötigten, was nur der
Osten ihnen liefern könnte. Um die Bezahlung solcher Waren machten sich die
mitgereisten Handelsexperten eher keine Sorgen - einige Früchte, die die Seeleute
vorgelegt bekamen, waren köstlich, man beschloss daher, einige der Samen, aber
auch junge Bäume und unreife Früchte der entsprechende Pflanze mit in die Heimat
zu nehmen, da sich die Oberschicht sicherlich für neue exotische Nahrungsmittel
begeistern ließ. Außerdem trugen viele der Kaial attraktiven Schmuck aus Steinen,
die in allen Farben schillerten – sie stammten anscheinend von den unzugänglichen
Bergen der Hauptinseln und wurden dort oberflächlich eingesammelt, es war jedoch
zu vermuten, dass sich unterirdisch mehr davon finden ließe. Sich diese Dinge mit
Gewalt zu holen, lag dem friedliebenden Volk der Lukkajanal fern.
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Doch was sollte man den Kajal verkaufen, die augenscheinlich nichts brauchten?
Sith á Kirrana beschloss, eine kleine Gruppe auf den Inseln zurückzulassen, darunter
auch ein Gelehrter für fremdartige Sprachen, und machte sich schließlich auf die
Heimreise nach Lukkeja.
Während der Zeit, die die zurückgelassene Gruppe nun auf der Inselgruppe
verbrachte und auf die Rückkehr des Handelsschiffes wartete, nutzten sie die Zeit
und erlernten die Sprache, die bei näherer Betrachtung gar nicht so unähnlich der
eigenen war.
Einer der Handelsleute, ein junger Kerl namens Raja á Suthei, hatte dann eines
Tages eine Idee.
„Was mir vom ersten Tage an auffiel, war folgendes: jegliche grobe Arbeit wurde hier
von den Männern erledigt. Ich spreche dabei nicht nur von der Jagd, sondern auch
vom Sammeln der Früchte bis hin zum Zubereiten der Nahrung und der nötigen
Instandhaltung und Reinigung der Hütten. Die Frauen führten auf diesen Inseln ein
für mein Empfinden äußerst bequemes Leben, zumal sie offensichtlich, was
zunächst sehr verwirrend für mich war, die Befehlsgewalt hatten. Auch die ersten
Verhandlungen, die wir mit den Kaial führten, fanden mit Frauen statt, die die
hochrangigen Positionen einnahmen.
Nun, auch in unserer Heimat findet man Männer und Frauen in allen Positionen, und
auch Frauen in Führungspositionen sind nichts Ungewöhnliches, doch was für uns
störend auffiel, ist die Autorität, mit der hierzulande jede Frau jedem Mann begegnet.
Ich ging nach einigen Monden eine Beziehung zu einer der Sprecherinnen des DorfRates mit dem klangvollen Namen Sujakalitei ein, da diese ein offensichtliches
Interesse an mir entwickelte. Da ich ungebunden und in einer sehr liberalen
Gesellschaft groß geworden bin (und eine solche Verbindung auch den
Handelsbeziehungen nur förderlich sein kann), hatte ich nichts dagegen zu sagen.
Doch das Zusammenleben gestaltete sich zunehmend schwierig, da ich natürlich
nicht ein derartig unterwürfiges Verhalten wie die einheimischen Männer an den Tag
legen wollte. Doch nicht nur der herrische Umgang machte mir Probleme, sondern
auch die Tatsache, dass Sujakalitei mich nur an ausgesuchten Nächten an ihre Seite
heranließ. Ich war es aus meiner Heimat gewohnt, den Trieben wann immer mir es
beliebte nachzugehen, und so litt ich sehr unter dieser erzwungenen Enthaltsamkeit.
Ich sprach darüber auch mit anderen Männern des Dorfes, und es war nicht nur eine
seltsame Angewohnheit meiner neuen Partnerin, sondern durchweg normal auf
diesen Inseln. Nichtsdestotrotz wünschten sich die Männer der Kaial durchaus mehr
Möglichkeiten in diesem Bereich, und das brachte mich schließlich auf eine Idee:
Wenn sich die Frauen hierzulande den Männern verweigern, die Männer aber
dennoch ihren Bedürfnissen nachgehen wollen, was läge dann näher, als ihnen
Möglichkeiten zu bieten, das zu tun? In unserer Heimat ist die käufliche Liebe eine
häufig anzutreffende und gesellschaftlich durchaus akzeptierte Dienstleistung.“
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Dies wurde in den folgenden Monaten in die Tat umgesetzt. Es war relativ leicht, für
dieses Unterfangen einige bereitwillige Damen zu finden, immerhin ging es in ein
exotisches, wunderschönes Inselreich mit Männern, die durch viel körperliche Arbeit
kaum ein Ricca1 Fett am Körper hatten. Auf Suakatír wurde eine Botschaft der
Lukkejanal errichtet nebst einigen anderen Gebäuden, darunter auch ein klassisches
Badehaus, wie man es in jeder Stadt Lukkejas findet, natürlich alles in einer etwas
abgewandelten Bauweise, den Gebäuden des Dorfes entsprechend mit Lehmziegeln
und Strohdächern, denn man wollte nicht unangenehm dekadent auffallen.
Doch die Tage gingen ins Land, und nur ein paar halbwüchsige, unvermählte und
entsprechend kaum vermögende Männer ließen sich blicken. Man war ratlos.
Schließlich wandte man sich ratsuchend an Raja á Suthei, der diese ganze Sache
ins Rollen gebracht hatte.
Der suchte seinerseits die Männer des Dorfes auf. Nach zahlreichen Gesprächen
stellte er letzten Endes fest, dass er die Kultur des Volkes völlig falsch eingeschätzt
hatte. Was er nicht erkannt hatte, war, dass die Männer zwar den Frauen gegenüber
unterwürfig waren, doch gleichzeitig verehrten sie auch alles Weibliche, und natürlich
die Frau an ihrer Seite ganz besonders. Nie würde es ihnen auch nur im Traum
einfallen, das Geschenk der körperlichen Liebe von einer anderen Frau
anzunehmen, wenn doch die eigenen Frau einem diese Gunst erweist – auch wenn
das nur zu ausgesuchten, raren Zeitpunkten geschieht.
Schlussendlich gab man das Unternehmen auf und schickte die Frauen wieder nach
Hause, denn eine Änderung der Geisteshaltung schien auf lange Sicht nicht
abzusehen zu sein.
1 Ricca = ein Sechstel eines Tahlum, welches ungefähr einer kleinen Handvoll Getreide entspricht.
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Jundurg
Schlammbrot
In den Hochländern im Westen von Chalan-Goy (Gesamt-Chalan) ist die
Zusammensetzung des Bodens eine andere als am restlichen Kontinent; die Erde ist
solcherart verschieden, dass gewöhnliche Pflanzen in ihr nicht gedeihen.
Im schlammigen Boden einer kleinen Region in der Provinz Gunsin hat man sich auf
die Herstellung einer Erdsubstanz spezialisiert, die bei Zuführung von Hitze zu einem
weißlichen Brot zusammenbäckt. Dieses Brot ist nahezu geschmacklos, auch nicht
besonders nahrhaft, wird aber in jener Region traditionell bei Festen konsumiert, es
hat eben seinen Platz in der Kulinarik der Chalan. Es wird auch als Reiseproviant
verwendet, wobei man die Broterde in kühlenden Behältern transportieren muss,
damit sie nicht schlecht wird.
Der aus Gunsin (sprich: Günschin) stammende Diplomat Orba Furiak hatte auf
seinen Reisen, die ihn vorwiegend in den Süden führten, meist große Mengen
Schlammbrot bei sich, als Notration. So auch bei seiner Reise in die Länder südlich
von Gùarak, ein ausgedehntes Wüstengebiet, das im Osten und Westen von großen
Gebirgszügen flankiert wird. Sein Ziel war die Stadt Proviong, auf dem Weg dorthin
querte er jedoch den nördlichen Rand der Wüste, und wurde überfallen. Bei den
Zadanx, die den Überfall gestartet hatten,
handelte es sich um einen kleinen unabhängigen Trupp, die in räuberischer Absicht
den Nordgrenzen entlang zogen. Als diese anstatt der erhofften reichen Beute fast
nur Erde fanden, wurden sie zornig; in ihrer Wut verschütteten sie die vermeintliche
Erde und nahmen Furiak gefangen. Doch für diese Nacht schlugen sie ihr Lager dort
auf.
Am nächsten Morgen war der Boden rund um das Lager mit weißem Brot bedeckt.
Alle riefen durcheinander, Gott habe ihnen ein Zeichen gegeben, und sie kosteten
das Brot und waren von einer religiösen Beglückung erfüllt. Sie zogen mit ihren
Gefangenen und einer großen Menge Brot zurück zu ihrer nahen Hauptstadt. Dort
wartete Furiak im Kerker, bis ihn Abgesandte seiner Heimat freikauften. Es sprach
sich herum, dass die Zadanx das Schlammbrot der Chalan für eine heilige Gabe
ihres Gottes hielten, und zahlreiche Händler machten sich auf den Weg nach Süden,
mit großen Mengen Broterde beladen.
Inzwischen jedoch hatte sich die Aufregung gelegt, und Ernüchterung machte sich
breit unter den Zadanx. Man hatte die verbliebenen Reste der Broterde untersucht
und ihre Funktionsweise herausgefunden. Das Brot war ja an sich genießbar, nur ließ
es sich - abgesehen von den kühlen Kellern in ihrer Hauptstadt - offenbar kaum
lagern, bereits nach wenigen Tagen war es ungenießbar, das Klima des Landes war
dem Brote eben ausgesprochen feindselig.
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Somit stießen die Händler, die es bis in die Länder der Zadanx schafften - die weite
Reise dorthin war äußerst beschwerlich und angesichts der ständigen Kriege im
Osten von Gùarak auch nicht ungefährlich - auf einen äußerst unbegeisterten
Empfang. Das Brot wurde zwar verkauft, doch um einen Preis, der nicht einmal einen
kleinen Teil der Reisekosten ersetzte, geschweige denn für die Rückreise aufkam.
Funktionsweise des Brotes
Erde hat zwar keine Seele, ist aber durchaus recht lebendig. Man spricht von
Teilseelen, die jeweils ihre eigene spezifische Struktur haben, und als ganzes
zusammenwirkend eben Erde bilden. Ein Bestandteil dieser Teilseelen hat eine
gewisse Bestrebung, sich bei unterschiedlichen Temperaturen oder Energieniveaus
zu verändern, Teilseelen schließen sich dabei zusammen und formen somit größere
Lebewesen, die sich erheblich von den ursprünglichen unterscheiden. Üblichweise
ist dieser Vorgang recht chaotisch, die Menge des
Aufbaus und Zerfalls etwa gleich, und im Endeffekt ergibt sich somit wieder ein
Gemisch, also Erde. Durch gezielte Veränderung der Teilseelen-Strukturen haben die
Chalan es allerdings geschafft, diesen Vorgang soweit zu lenken, dass er ein
brauchbares Ergebnis lieferte, eben das Schlammbrot von Gunsin.
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LANDSCHAFTLICH MARKANTER PUNKT
Aufgabenstellung
In einer flachen Gegend wird ein wichtiger, breiter Fluss plötzlich für
wenige Kilometer auffallend schmal, ehe er wieder in die Breite geht.
Um diese Stelle ranken sich nicht nur Sagen und Legende, die Stelle
war auch von historischer Bedeutung.
Wie ist diese Engstelle entstanden und welche (nicht wirtschaftliche)
Bedeutung hat sie für die Bevölkerung des Umlandes.
Zeit für die Bearbeitung:
06.07. - 12.07.
Teilnehmer:
1. Platz
Vinni
Die verlorene Stadt
(75 Punkte)
2. Platz
Sturmfaenger
Die Leenosichel
(73 Punkte)
3. Platz
Veria
Kassobri, die silberblaue Stadt
(71 Punkte)
4. Platz
Jundurg
Taslu, am Fluss Luos
(60 Punkte)
5. Platz
Neyasha
Staumarat
(48 Punkte)
Jury:
Taipan
Gerion
Lakyr
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Jundurg
Taslu am Fluss Luos
Taslu wird seit Jahrhunderten von Magierorden regiert; doch gab es einige
Ausnahmen: Immer nämlich, wenn ein einzelner Magier zu viel Kontrolle erlangte,
und den Rest des Ordens ausschalten konnte. Der Letzte, dem das gelang, war
Gassaul. Unter seiner Herrschaft verloren die Magier erheblich an Einfluss; viele, die
sich widersetzten, wurden verfolgt und auf verschiedenste Art und Weise
hingerichtet. Jedenfalls formierte sich im Geheimen bald eine Gruppe von Rebellen,
hauptsächlich Magier des alten Ordens, die der Verfolgung entgangen waren. Ihr
neues Ordensquartier legten sie, um es vor den wachsamen Augen Gassauls
Schergen zu verstecken, unterirdisch in der Nähe des Flusses Luos an. In das harte,
wasserundurchlässige Gestein gruben sie ein weitläufiges Netz, das den Fluss
entlang bis zur Stadt Print verlief. Viele Jahre lang blieb der nunmehr neue Orden
unentdeckt, und er wäre es auch geblieben, wenn es nicht im Orden Verräter
gegeben hätte, die sich von der Gunst Gassauls mehr versprachen als vom
Wohlergehen ihres Ordens.
Gassaul brach mit einigen treuen Verbündeten persönlich zu einem der vielen
geheimen Zugänge auf und stieg von dort in das weite Kellerreich. Der Orden war
nicht auf Eindringlinge vorbereitet und seine Verteidigung brach schon nach kurzer
Zeit zusammen. Die letzten verbliebenen Magier des Ordens versammelten sich
noch einmal und sprengten sich selbst in die Luft. Dadurch wurde eine Verbindung
zum nahen Fluss geschaffen, der prompt die Keller für sich entdeckte; Gassaul und
seine Anhänger ertranken ebenso wie die verbliebenen Ordensbrüder.
An der Oberfläche, in Print, hatte man von all dem nicht viel mitbekommen, nur das
Verschwinden des Tyrannen Gassaul und der Fluss, der an dieser Stelle nun nur
noch ein Rinnsal war, weil er die Strecke unterirdisch zurücklegen konnte. Die
absonderlichsten Vermutungen wurden aufgestellt, einig war man sich jedoch, dass
der verkümmerte Fluss und der verschwundene Tyrann zusammenhingen.
In der Zwischenzeit hatte sich aus im Exil überlebenden Magiern ein neuer Orden
gebildet, der die Gerüchteküche nur zu gerne für sich nutzte. Man sagte schließlich,
dass der Fluss selbst seine Kraft aufgewendet hatte, um sich des Tyrannen zu
entledigen; die Bevölkerung wurde also darauf eingeschworen, nie wieder einen
Tyrannen zu unterstützen.
An der Stelle, in der das Wasser in seinen unterirdischen Verlauf eingesaugt wird,
befindet sich nun ein Strudel, der für die Magier von großem Interesse ist; in der
Folge wurden in den Jahrhunderten nach Gassaul mehrere Forschungsinstitute in
Print gegründet, welche sich mit der Energie des Wassers befassen. Somit pilgern
nicht nur schaulustige Bürger nach Print, um den Fluss zu sehen, der den Tyrannen
vernichtet hat, der schon seit Jahrhunderten tot und deshalb eigentlich nur böse
gewesen sein kann, sondern auch Magier, was der Stadt zu einiger Bedeutung
verholfen hat.
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Neyasha
Staumarat
Am südlichen Rand der Sümpfe von Ecin, unweit von den Ruinen von Mediet,
erheben sich in der flachen Landschaft bizarre Felsformationen. Sie zwingen den
Fluss Cheitiece, der sonst in einem breiten Band gemächlich dahinfließt, in eine
enge, gewundene Form.
Die Cumeaner nennen diese Gegend Staumarat, die „zerbrochene Festung“.
Diese Gegend entstand vor etwa 2500 Jahren, als bei einem Ausbruch der
Vulkanspalte Ohil Lava über den sumpfigen Boden floss. Dabei staute sich ein
Lavasee auf, unter dem das Wasser verdampfte. Der Dampf suchte sich einen Weg
nach oben, zerriss die Lava und ließ sie dabei erstarren. Rundherum floss schließlich
die noch flüssige Lava ab und ließ die seltsamen Formationen aus Vulkangestein
zurück.
Am Ufer des Cheitiece schob sich die Lava ins Flussbett hinein, wo sie zu großen
Teilen erstarrte. Wie eine zerstörte Mauer ragen die Lavagebilde aus dem Fluss
heraus und engen ihn in seinem Lauf ein.
Das alles wissen die Cumeaner allerdings nicht. Für sie bildet Staumarat vielmehr
Anlass zu vielerlei Spekulationen, Mythen und Legenden. Viele sehen darin etwa die
Ruinen der mythischen Festung des Feuer- und Schmiedegottes Lenyron, von der es
heißt, sie wäre von den mit den Göttern verfeindeten Riwony einst zerstört worden.
Andere hingegen betrachten Staumarat als die Wohnstätte der Nateny, jenen
Naturgeistern, die in Türmen aus Felsen leben und dort ihre Schätze horten. Es
heißt, wer sich nachts in ihr Gebiet verirrt, wird von ihnen in den Felsen
eingeschlossen und für immer darin gefangen gehalten. Daher meiden viele
Staumarat, sobald die Dämmerung hereinbricht.
Lutca Worien, der die Bibliothek in Alturene leitet, sieht schließlich eine historische
Stätte in den Lavaformationen: Er meint, dass es sich um die Ruinen der
sagenumwobenen Siedlung Orilecha handelt. Die Überreste dieser Stadt werden
allerdings von verschiedenen Gelehrten an allerlei Orten im Cumeischen Reich
lokalisiert. Wenn man die beschriebene Lage von Orilecha in der älteren Literatur
betrachtet, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Stadt in den Sümpfen von Ecin lag,
weshalb Lutca Woriens Theorie von anderen Gelehrten massiv angefochten wird.
Staumarat ist wohl auch deshalb Anlass so zahlreicher Spekulationen, weil dieses
Gebiet vor 300 Jahren, als die Sümpfe von Ecin von den Cumeanern erobert
wurden, eine wichtige Rolle spielte: Im Jahr 1051 n. F. starteten die Cumeaner ihren
ersten Feldzug in die Sümpfe von Ecin und belagerten die Hafenstadt Mediet.
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In den folgenden Jahren konnten sie nicht nur zahlreiche der in den Sümpfen
lebenden Stämme unterwerfen, sondern auch Mediet erobern. Die Stadt wurde
daraufhin ein Stützpunkt der hier stationierten Legionen. Im Flusshafen von Mediet
wurden Schiffe gebaut, die schließlich mehrere tausend Soldaten den Cheitiece
hinunterbrachten, um weitere Siedlungen im Süden der Sümpfe zu erobern. In
Staumarat aber hatten sich Rebellen verschanzt, die die Schiffe in der Engstelle des
Flusses mit einem Hagel von Feuerpfeilen in Brand setzten. Die Soldaten, die in
Panik in den Fluss sprangen und sich ans Ufer retteten, wurden alle von den
Rebellen getötet. Kein einziger von den Soldaten überlebte. Für die Cumeaner war
das die schlimmste Niederlage seit mehr als fünfzig Jahren, zumal sie von den
Stämmen im Sumpf kaum großen Widerstand erwartet hatten.
Lelcon Ason Eweit, der die zurückgebliebene Legion in Mediet befehligte, ließ
daraufhin die Stadt dem Erdboden gleichmachen, zog sich dann aber nach diesem
Racheakt mit seinen Soldaten aus den Sümpfen zurück. Erst zwanzig Jahre später
wurden die Sümpfe von Ecin schließlich vollständig erobert und dem Cumeischen
Reich angegliedert.
Für die Einheimischen ist Staumarat auch heute noch ein Sinnbild für ihren Sieg über
die Cumeischen Soldaten.
Davon abgesehen hat diese Gegend aber auch eine praktische Bedeutung für die
Bewohner der umliegenden Siedlungen: Für sie ist das Lavagestein aus Staumarat
ein wichtiges Baumaterial. Manche befürchten zwar, die Nateny dadurch zu
verärgern, aber bisher ist es zu keinen nennenswerten Unglücken gekommen. Da
zudem gutes Baumaterial in den Sümpfen rar ist, werden diese Befürchtungen meist
beiseite geschoben und die Häuser auch weiterhin aus dem dunklen Vulkangestein
erbaut.
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Sturmfaenger
Die Leenosichel
ALLGEMEINE EINFÜHRUNG
Für die Oberflächenvölker des Weltenbrösels Arseyya ist Wasser das Allerwichtigste.
In den Randzonen der Oberfläche, die eine relativ flache Scheibe ist, existieren
mehrere größere Flüsse. Sie werden von der Kondensation des Wassers gespeist,
das in Nebelform unablässig an den Rändern des Brösels emporsteigt.
Von den Randgebirgen fließen diese Flüsse als lebensspendende Wasserläufe ins
Inland, ehe sie nach und nach verdunsten oder versickern. Während im
wüstenartigen Zentrum der Oberfläche hauptsächlich die nomadischen Adhi
umherziehen, können in den Randzonen und den seltenen Oasen die sesshaften
Adha leben.
DIE WASSERFEHDE
Zwischen den Siedlungen der einzelnen Adhastämme, die jeden Stamm für sich als
eigenständige Nation betrachten, herrscht eine niemals endende Konkurrenz um die
Wasserressourcen der wenigen Flüsse und Seen.
Der Fluss Leeno war in der Vergangenheit das große Streitthema zwischen den
Lloiiadha und den Hveiiadha.
Die Lloiiadha siedelten in den leicht gewellten Trockenebenen zu Füßen der
Randberge, besonders gern an den Stellen, an denen der breite, ruhige Leeno
beinahe parallel zu den den sanft abfallenden Hängen floss. Sie gruben ihre
Wohnhöhlen in das dort vorkommende weiche Gestein. Der Leeno war ihre
Lebensader.
Die Hveiiadha lebten weiter im Inland, wo die Trockenebenen in die Wüsten
übergehen. Sie siedelten ebenfalls an den Ufern des Leeno, und sein Wasser war
überlebenswichtig für die Bewässerung ihrer Felder und zur Versorgung ihrer
Echsenherden.
Beide Adhavölker waren sich auf dem Weg zur Hochkultur gegenseitig im Weg, denn
sie neideten sich das Wasser. Die Hveiiadha waren seit jeher abgehärtetere und
bessere Krieger. Sie überfielen die Dörfer der Lloiiadha immer wieder, und
irgendwann wurde das ständige blutige Hickhack den Lloiiadha zu bunt.
EIN PAKT MIT DER UNTERWELT
Die Lloiiadha hatten seit jeher Kontakte mit den Bewohnern der Welt unter ihren
Füßen, dem Volk der N’okko. Die N’okkostadt Ye’eme war nur durch zwei Wochen
Reisezeit und etwa einen Kilometer Gestein von den Lloiiadha getrennt.
Die Ye’n’okko waren die Geschicktesten unter den N’okko, wenn es darum ging, die
vielen Höhlen, die ihren Lebensraum darstellten, miteinander zu verbinden.
Der Anführer der Lloiiadha heckte mit Hilfe der Ye’n’okkoanführer einen Plan aus, wie
man die lästigen Hveiiadha zuverlässig ausschalten könnte. Dabei verbanden sie
ihre Kenntnisse der überirdischen und unterirdischen Topographie mit dem Können
der Magierpriester der Ye’n’okko. Die Magierpriester hatten ein bis dahin
unerreichtes Wissen um die riesigen Cnatra – die als Götter verehrten Feuerwesen
der von Höhlen durchzogenen Unterwelt. Diese, oder genauer gesagt deren
Hinterlassenschaften, bargen die Lösung des Problems.
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DIE SCHMELZE
Die Ye’n’okko waren in der Lage, die großen Mengen an glühend heißem Cnatrakot,
den die Wesen auf ihren langsamen Wanderungen durch das Gestein hinterließen,
mit Hilfe ihrer Magie einzusammeln.
Sie hatten sogar einen Weg gefunden, ihn mit gebündelter Magie wieder so weit
anzufachen, dass er Gestein um sich herum in ähnlicher Weise verflüssigte wie es
die Cnatra selbst taten. Es gab in der Grenzregion zwischen den beiden
Adhastämmen interessante unterirdische Höhlenformationen, und eine davon erwies
sich als geeignet. Es war ein alter Cnatragang, mehrere dutzend Meter im
Durchmesser, und sehr dicht unter der Oberfläche.
Es dauerte vier Jahre, genügend Cnatrakot einzusammeln oder von anderen
N’okkosiedlungen einzukaufen, doch schließlich wurde in einer gewaltigen
organisatorischen Anstrengung innerhalb weniger Tage der Cnatrakot aus den
geheimen Lagern nach oben geschafft, und schließlich waren die vielen Tonnen in
gleichmäßigen kleinen Häufchen auf der Oberfläche verteilt, dem annähernd
sichelförmigen Verlauf der Höhlenformation unterhalb folgend, auf etwa drei
Kilometern Länge.
Die Ye’n’okkomagier postierten sich zu beiden Seiten dieser Linie und wirkten ihre
Magie. Was die Lloiiadha nicht wußten war, dass in einigen dieser Häufchen von den
Magiern auch noch Cnatraparasiten gesetzt worden waren, welche mit dem Kot
gelegentlich ausgeschieden und von den Magiern am Leben erhalten worden waren.
Cnatraparasiten haben die Angewohnheit, sich mit Cnatrahitze vollzusaugen, und zur
weiteren Verteilung ihrer Nachkommenschaft im Inneren des Cnatra zu explodieren,
wenn sie eine kritische Temperatur erreichen.
Durch die Magie schmolzen sich die Cnatrahaufen wie glühende Nadeln ins Gestein,
und nach kurzer Zeit begannen die ersten Parasiten zu explodieren. Wunschgemäß
brach die Oberfläche daraufhin ein, und das verflüssigte Gestein und die
Gesteinstrümmer stürzten in den alten Cnatragang.
DIE UMLENKUNG
Nach einiger Zeit war die gewaltsam geöffnete Rinne so weit abgekühlt und
verfestigt, daß die restlichen paar Kubikmeter, welche sie vom Bett des Leenoflusses
getrennt hatten, auch noch entfernt werden konnten. Die Fluten des Leeno ergossen
sich in die vergleichsweise schmale, sichelförmig verlaufende Rinne. Nur durch ihre
Tiefe konnte sie die Wassermengen aufnehmen. Das Wasser zischte und gurgelte
durch die Rinne, erreichte schließlich ihr Ende und sprudelte wieder nach draußen,
von wo es sich seinen - teilweise durch eifrige Lloiiadhagrabungen ermutigten – Weg
suchte. Da das Gelände nicht vollkommen flach war, reichte diese Umlenkung des
Flusses aus, dass er sich nicht wieder in dieselbe Richtung wie zuvor ergoss. Der
Leeno nahm einen anderen Kurs, der ihn viele Kilometer von den Siedlungen der
Hveiiadha vorbei führte.
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DIE FOLGEN
Für die Hveiiadha kam das Ereignis völlig überraschend. Als sie begriffen, warum
das Wasser auf einmal ausblieb, war es zu spät. Das Flussbett war dauerhaft
geändert worden. Ihre Kultur verkraftete das nicht und brach zusammen, obwohl sie,
als sie merkten was geschehen war, die Lloiiadha verzweifelt angriffen. Doch diese
waren gut vorbereitet, und hatten mit einem Streich die Macht über das Wasser an
sich gebracht.
Heute sind die Hveiiadha größtenteils gezwungen, in von den Lloiiadha geduldeten
Dörfern an den Ufern des umgeleiteten Stroms zu leben, für dieses Privileg müssen
sie den Lloiiadha die Treue halten, und ihnen Abgaben zahlen, die meist direkt an die
N’okko weiterverschenkt werden. Weiß man bei den Lloiiadha doch, wie wichtig
diese als Verbündete waren, und wie gefährlich sie als Feinde sein könnten.
Die Hveiiadha, die nicht vor den Lloiiadha katzbuckelten führen heute ein
nomadenähnliches Leben. Von ihrer alten Kultur und ihren alten Traditionen hat sich
nicht viel erhalten, außer der Erinnerung. Die meisten von ihnen nennen sich
inzwischen Hveiiadhi. Sie haben mehrmals versucht, den Fluss wieder umzuleiten,
doch sind sie jedes Mal gescheitert.
DIE SICHEL
Der alte Cnatragang, der nun ein Teil des Flussbettes ist, wird allgemein als Sichel
bezeichnet, denn mit einem Streich wurde so den Hveiiadha die Lebensgrundlage
abgeschnitten.
Für die Lloiiadha ist die Sichel ein weithin sichtbares Zeichen ihres Triumpfs, jeder
von ihnen trägt voller Stolz das Sichelsymbol als Schmuck an seiner Kleidung. Am
Jahrestag der Umlenkung pilgern sie zur Sichel und werfen kleine rote Blumen in die
Fluten. An diesem Tag erhalten die Ye’n’okko stets großzügige Geschenke.
Für die Hveiiadhi und die Hveiiadha ist die Sichel ein böser Ort. Keiner von ihnen
nähert sich ihr gerne. Das friedliche Murmeln des Leeno wird zu einem gurgelnden,
donnernden Rauschen, sobald er hinein fließt. Wasser stiebt auf, und die Hveii
erzählen sich, es seien die Tränen ihrer Vorfahren. Sie haben viele Geschichten, wie
es den Lloiiadha gelungen ist, den Fluss umzuleiten. Manche sagen, ein Dämon liegt
unten im Wasser, er hält den Leeno fest und zwingt ihn, seinen Lauf zu ändern.
Andere wispern von einer Zukunft, in welcher der Leeno sich zornentbrannt gegen
seine Bändiger richten wird, um sie alle hinfortzuschwemmen. Die auferlegten
Fesseln würden von den Hveii abfallen, und ihr geteiltes Volk aus Hveiiadha und
Hveiiadhi wieder geeint in neuer Blüte erstehen.
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Veria
Kassobri, die silberblaue Stadt
Es ist bei Kassobri, wo die letzten niedrigen Ausläufer des Vatergebirges auf die
ersten Erhebungen des Hügellandes treffen. Nichts in dieser Gegend erreicht auch
nur annähernd die Höhe eines Weges2, die Provinz Kassai wird von den
Vatergebirglern und den Hügelländlern gleichermassen abschätzig als Flachland
bezeichnet und, so heisst es, noch niedrigere Berglein müssten ja wohl Krater sein.
Naturgemäss fliesst der Kevale aber genau hier und weder durch das Vatergebirge
im Norden noch weiter südlich durch die Hügellande. Immer war das aber nicht so.
Als im Jahre 3412 nach dem Feuerinferno der alte Abfluss der Ivene, der den Kevale
ganz östlich der Hügellande nach Süden vorbeiführte, durch einen immensen
Erdrutsch verstopfte, suchte das Wasser sich einen neuen Weg. Unaufhaltsam stieg
der Pegel und je nach Wetter wurden diese oder jene Landstriche überschwemmt,
die Völker flohen aus den gefährdeten Gegenden.
Das Wasser entschied sich schliesslich für einen neuen Weg zum Meer, nämlich
Richtung Westen, doch noch war es wankelmütig, floss in mehreren Flussarmen
zugleich und man konnte sich an den meisten Stellen nur bei Niedrigwasser in seine
Nähe wagen. Jedoch an jenem Ort stieg der Kevale nie hoch genug, der Fluss
musste sich gar schmaler machen als überall sonst, um sich zwischen zwei
Erhebungen hindurchzuzwängen.
21 Weg = 190 Meter
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Die Legende vom Omiang-Kind mit der blauen Blumenkette
So sehr man verstehen kann, dass Erde an einem steilen Hang abrutschen kann,
wenn der Untergrund wegbricht, und Wasser abwärts fliessen will, so gibt es auch
viele andere Geschichten über die Änderung des Flusslaufes. So etwa diese:
Als einst ein wütender Erdgeist die selbstsüchtigen Bewohner von Nahime strafen
wollte, streckte er seine Arme aus und hiess die Wassergeister, einen anderen Weg
zu nehmen. Die Wassergeister wollten sich sträuben, sie tobten und schlugen
Wellen, doch ihnen blieb doch keine Wahl, denn sie konnten nicht an ihm vorbei.
Damals allerdings war das Land Kassai noch ganz flach und kein einziger Hügel
zierte die Landschaft. So sprangen die Wassergeister übermütig hin und her und
überschwemmten alles gleichermassen. Ein Wassergeist traf schliesslich auf ein
tanzendes Omiang-Kind, das eine aus blauen Blumen geflochtene Kette um den
Hals trug.
"Was machst du hier?", fragte der Geist und das Kind antwortete: "Ich tanze, lieber
Geist, denn du kommst und bringst das Wasser mit dir." Der Geist floss einmal,
zweimal, dreimal, viermal um das Kind herum und verstand: "Ja, ich sehe, du kannst
schwimmen, denn du hast ja Flossen und auch Häute zwischen den Fingern." Das
Kind lachte, als der Geist es hochhob, doch als er es umfasste, war es still.
Da war der Geist verunsichert und fragte: "Warum lachst du nicht mehr und tanzt
auch nicht mehr?" Das Kind befreite sich wild aus seinem Griff und rief: "Siehst du
nicht, dass ich goldene Schuppen habe und keine blaue Haut?" Der Geist sagte:
"Das sehe ich", und darauf sagte das Kind: "Dann solltest du auch wissen, dass ich
Luft zu atmen brauche wie jene ohne Flossen."
Da wurde dem Geist klar, dass er das Kind fast ertränkt hätte, und er wurde traurig.
Das Omiang-Kind aber sagte: "Lasse mir nur ein paar Plätze Land, lieber Geist. Sie
müssen nicht hoch sein und auch nicht viele. Ich bin ja doch lieber im Wasser." Der
Geist bat: "Zeige mir, wo!", und das Kind ging los.
Es löste seine Blumenkette und liess Blumen zu Boden fallen und wo immer eine
Blume den Boden berührte, bat der Wassergeist einen Erdgeist darum, in die Höhe
zu wachsen. Bis zu den Hügeln wuchsen die Erdgeister und bis zum Vater wuchsen
die Erdgeister, doch genau in der Mitte blieb ein Pfad für die Wassergeister. Genau
so kam es zur Enge von Kassobri und das Omiang-Kind gründete die Stadt, die
heute noch von den Wassergeistern und den Erdgeistern beschützt wird. Und noch
immer wachsen, wo immer man hinsieht, jene blauen Blumen, wie sie einst zu einer
Kette geflochten waren.
Bei den genannten Blumen handelt es sich wohl um den blauen
Siebenstern, der tatsächlich in Kassai an jedem Wegesrand
wächst, und aus dem der blaue Farbstoff Kassaiblau gewonnen
wird. Die Pflanze hat eine flache Blüte mit sieben Blütenblättern,
vom runden Stengel zweigen stets zwei verschieden lange,
fleischige Blätter ab. Der Siebenstern ist giftig und führt zu inneren
Blutungen, wenn verspeist.
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Kassobri einst und heute
Die Stadt Kassobri wurde natürlich wirklich gegründet, eine Brücke erbaut und den
Wassergeistern ein Tempel errichtet, dem die Stadt ihren Beinamen blausilberne
Stadt verdankt, denn der Tempel war mit Kassaiblau und einer Metallpigmentpaste in
Wellenmustern angestrichen. Nicht wenige Künstler jener Zeit waren vom Bild der
Stadt so sehr angetan, dass sie sich ein Haus kauften und dort lebten und wirkten,
und auch einige Adelsfamilien zogen in die Stadt.
Mit den Jahren und Jahrzehnten gab es immer weniger Überschwemmungen, da
sich der Fluss endlich seinen Weg gegraben hatte. Das Leben und die Kultur in
Kassobri blühten nun auch mehr und mehr auf. Bis nach Nahime am alten Flusslauf
und Kirmara im Anassatal klang der Ruf der Stadt, sogar in Schriften aus Zabro an
der Keraita wird Kassobri als edelste Stadt im Westen genannt. Mitte des Jahres
3751 schliesslich, durch einen Irrtum als 3433. Jahr der Stadt angenommen, wurde
sie gar Hauptstadt des Königreiches Kassai, das zuvor noch aus der gut zwei
Grossmeilen4 südwestlich liegenden Hügelstadt Imbarlas am Serell regiert worden
war.
Noch heute, das Königreich Kassai ist längst vergangen und die Provinz Kassai
gehört zu Valeka, ist Kassobri eine grosse Stadt. Der nun nur mehr blaue Tempel,
inzwischen der Wassergöttin Savilla und ihrer Familie geweiht, hat zwar an
Bedeutung verloren, denn es gibt viele Wassertempel dem ganzen Fluss entlang,
doch noch immer ist die Stadt kulturell bedeutend. Jede gerade Woche des Jahres
werden im alten Königssaal Bilder und Skulpturen ausgestellt und Konzerte
veranstaltet, unzählige Theatergruppen haben ihre festen Plätze auf den Strassen
und im Opernsaal wird täglich gesungen. Wer als Mitglied der Künstlergesellschaft,
gleich ob Künstler oder Kritiker, anerkannt sein will, muss praktisch gelegentlich in
Kassobri sein.
Den von den Kassobrern Kunstblinde genannten ländlichen Bewohnern der Provinz
Kassai gefällt es allerdings weit mehr, über diese Wolkengucker zu lästern, und
darüber können sie froh sein. Die Kassaier der Dörfer sind nämlich sehr darauf
erpicht, das jeweilige Nachbardorf in allerlei Wettbewerben zu schlagen, vor allem in
jenem, die drei Meilen5 der Engstelle möglichst schnell zu durchschwimmen, und
stets kommt es dabei zu ritualisierten Streitigkeiten über Betrug und Bevorzugung.
Jeder solche Streit endet allerdings mit grossem Gelächter über die Städter und so
mancher Kassaier fürchtet insgeheim, die Städter könnten bodenständig werden und
den Streit so nicht mehr
schlichten können.
3 343= 7*7*7
4 1 Grossmeile = 9,3 Kilometer
5 1 Meile = 1331 Meter
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Vinni
Die verlorene Stadt
Was die Taschtanen erzählen:
Es gab eine Zeit, da glaubten die Menschen, sie könnten sich die Natur untertan
machen, Land, Wald und Fluss in ihren Dienst zwingen. Lehm wurde zu Stein und ihr
Wille zu einer Stadt. Sie wagten es gar, den großen Strom, der sich frei und
ungehindert durch die Ebene windet, in ein schmales, steinernes Bett zu zwingen.
Als wolle er sich dagegen aufbäumen, rauscht und tost der sonst so ruhige Fluss
durch diese Engstelle – doch diese Menschen hörten seine Warnung nicht. Gerade
dort bauten sie ihre hohen Häuser, ihre ganze große Stadt. Sie fingen die Fische des
Flusses, sie durchsiebten seinen Grund nach bunten Steinen, sie nutzten seine
trotzige Kraft, um große Räder anzutreiben. Rings um die Stadt zogen sie Gräben,
um ihre Felder zu bewässern und der Ebene ihre Nahrung abzutrotzen, ganz gleich,
was Wind und Wetter davon hielten. Sie gruben in den Hügeln nach Erzen und
Steinen, rodeten die Wälder, damit ihre Feuer immer brennen konnten. Der Lärm
versiegte nie, zu keiner Stunde standen die Räder still und niemals verlosch ihre
Glut. All das, um der Natur, dem Boden und dem Fluss ihren Willen aufzuzwingen.
Unsere Weisen sahen den Frevel dieser Taten. Baba’Anga, die Erdmutter, schenkt
ihre Gaben jedem, der sie zu schätzen weiß. Aga’Bao, der Geistervater, wacht über
alle, die dessen würdig sind. Doch diese Menschen in ihren steinernen Häusern
hatten beide vergessen. Sie nahmen vom Land ohne Dank und Besinnung. Sie
nahmen mehr als ihnen zustand, mehr, als das Land zu geben vermochte. Unsere
Weisen sahen den Frevel und führten unsere Stämme fort aus jener Gegend. Wie
seit alters her ziehen wir mit unseren Tieren durch die Ebene. So tun wir es heute
und so haben wir es zu jenen Zeiten getan. Wir folgen dem Instinkt der Tiere und
schlagen unsere Zelte dort auf, wo sie Wasser und Nahrung finden. Wir achten
Baba’Anga und gehorchen Aga’Bao. – Ihr jungen Leute, alle hier am Feuer, nehmt es
in eure Herzen! Lernt die alten Lieder und folgt den alten Regeln! Diese Menschen
dort am Fluss haben das nicht getan – und es war ihr Untergang.
Sie haben die Wälder verbrannt in ihren Öfen. Den Fluss in das enge Bett ihrer Stadt
gezwungen. Der Erde mehr und mehr abverlangt. Sie wollten die Warnungen nicht
sehen, die Drohungen nicht hören. Erst waren es nur ein paar Felder, die vom Regen
weggeschwemmt wurden. Eine Warnung nur. Trockenheit, die die Mauern rissig
werden ließ. Doch sie hielten nicht inne. Dann verschloss Baba’Anga ihren
fruchtbaren Schoß und alles auf den Feldern verdorrte. Der Regen kam zu selten –
oder zu heftig. Das reißende Wasser des Flusses riss den Boden nur mit sich, anstatt
ihn zu netzen. Nichts Essbares wuchs mehr, nur noch bitteres Gras und dornige
Sträucher. Aga’Bao, der lang auf ihre Einsicht gewartet hatte, verschloss sein Herz
gegen ihr Elend. Hunger befiel die Stadt, Krankheiten folgten. Und der Hochmut, mit
dem sie die Natur hatten untertan machen wollten, wandelte sich in Neid, Eigensucht
und Gier. Jeder raffte zusammen, was er konnte. Bruder bestahl Bruder, Eltern
verstießen ihre Kinder, Nachbarn und Freunde wiesen einander die Tür. Bald schon
wurde aus dem Streit Kampf und aus dem Kampf blutiger Krieg. Manche versuchten
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wegzulaufen – mit ihrem armseligen Hab und Gut woanders neu zu beginnen. Neue
Häuser zu bauen, neue Felder anzulegen… Wir haben sie alle zurückgetrieben. Wo
immer wir sie trafen, haben wir ihre Felder verbrannt und ihre Tiere genommen. Sie
haben gefrevelt und so sollten sie ihre Strafe auch bis zum Ende tragen.
Die Menschen vom Fluss sind nun längst Vergangenheit. Unsere Stämme ziehen
noch immer durch die Ebene. Unsere Feuer erhellen die Nacht. Die gierigen Öfen
der Stadt sind jedoch längst dunkel und kalt. Doch die Stadt gibt es noch. Verlassen
und verflucht und auf immer eine Mahnung, die Geister zu achten. Noch immer
stehen die Steine, die den breiten Fluss in ein enges Bett zwängen. Noch immer
rauscht sein Wasser rasend dort hindurch, auf beiden Seiten von den Resten der
Stadt umgeben. Jetzt ist es der Triumph des Flusses, der die Gier der Menschen
überdauert hat. Sie wollten ihn zwingen, doch sie selbst haben verloren, wurden
vertrieben oder getötet. Ihre Häuser stehen noch. Lehm, der zu Stein wurde,
Stockwerk für Stockwerk. Manche Mauer zerbrochen, alle Fenster leer. Niemand
wagt es, sich dort länger aufzuhalten oder gar niederzulassen. Wer will auch in
steinernen Gräbern hausen, wenn das Grasland doch alles bietet, was wir brauchen.
Und doch kennen wir die Stadt. Unsere Stämme meiden sie auf ihren Wegen – doch
wir, die wir die Geschichten bewahren und zu den alten Liedern trommeln, wir, die
die Stimmen der Geister hören, gehen dorthin. Als ich jung war, nahm mein Lehrer
mich mit, so wie seiner zuvor ihn, wie all die Generationen zuvor, seit dem Fall der
Stadt. Ich war jung – und ich hörte die Geister. Ich tanzte zum Rauschen des
Flusses, ich trommelte mit den Stimmen des Windes.
Jetzt ist mein Bart weiß und meine Schultern tragen viele Jahre, und doch gehe ich
noch immer Jahr um Jahr in die verlorene Stadt, um den Stimmen zu lauschen. Den
klagenden Stimmen der Stadtleute, den triumphierenden von Wasser und Wind. Und
eines Tages werde auch ich meinen Schüler mit an diesen Ort nehmen. Er wird
tanzen und trommeln, auf die Stimmen hören und mit ihnen singen. Und ich werde
dort bleiben und eins werden mit dem Staub. Die Stadt an der Engstelle des Flusses
ist kein Ort für die Lebenden. Jeder hier sollte sie meiden, so er nichts mit den
Geistern zu schaffen hat. Es ist kein Ort für Menschen. Nur die Geister leben dort, wo
Baba’Anga und Aga’Bao den Menschen Demut lehrten.
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LOKALE PERSÖNLICHKEIT
Aufgabenstellung
Der oder die Gesuchte ist eine orts- oder regional bekannte
Persönlichkeit und ist in ihrem Metier, dem sie nachgeht,
außergewöhnlich gut; sie wird dafür bei der Bevölkerung auch
hochgeschätzt. Die Person führt jedoch ein Doppelleben, von dem nur
wenige auch nur etwas ahnen, obwohl diese "zweite Person" ebenfalls
- zumindest namentlich - gut bekannt ist.
Zeit für die Bearbeitung:
13.07. - 19.07.
Teilnehmer:
1. Platz
Sturmfaenger
Tassie, die Wellentänzerin, Stimme Sainodins
(73 Punkte)
2. Platz
Taipan
Duanm Grablaterne
(72 Punkte)
3. Platz
Neyasha
Ahet Heilin, der Mosaikleger
(68 Punkte)
4. Platz
voguish
Nekromantin & Kaiserin
(39 Punkte)
Jury:
Gomeck
Jerron
Moordrache
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Neyasha
Ahet Heilin, der Mosaikleger
Ascon Rufon Chani in einem Brief an ihre gute Freundin, eine der obersten Richter
von Cumea:
Meine liebe Freundin,
Deiner Bitte, dir einen geeigneten Mosaikmeister für den Empfangsraum in deiner
neuen Sommervilla zu empfehlen, komme ich gerne nach. Ich weiß genau den
richtigen Mann für dich:
Ich rede von Ahet Heilin; möglicherweise hast du seinen Namen bereits gehört. Hier
in Sesuat ist er wohl bekannt. Ahet Heilin hat hier in der Bucht von Cachuran in
unzähligen reichen Anwesen prachtvolle Mosaiken gelegt, von denen du einige von
Besuchen kennen dürftest. Zu seinen Meisterwerken zählt das Cauleitmosaik in der
Bibliothek von Lelcon Amaton Ziarra. Ahet Heilin hat darauf die Geschöpfe des
Waldes Cauleit nebst mythologischen Szenen in diesem Wald so detailliert und
lebensecht abgebildet, dass man meint, durch den Wald selbst zu wandeln.
Ahet Heilin versteht es aber auch vortrefflich, zart-verschlungene schwarze Ranken
auf weißem Grund zu legen oder Porträts, die den Abgebildeten zum Verwechseln
ähnlich sehen.
Du siehst: Welches Motiv auch immer du bevorzugst, Ahet Heilin ist der Mann, an
den du dich wenden musst.
Du schreibst, dass du großen Wert darauf legst, mit Leuten von tadellosem Ruf zu
arbeiten. Auch hier kann ich dich beruhigen: Mir sind von Ahet Heilin keine Skandale
bekannt; er scheint ein durch und durch ehrenwerter Mann zu sein. Er lebt mit seiner
Frau und seinen beiden Kindern seit nunmehr neun Jahren in Sesuat und hat sich in
dieser Zeit nichts zuschulden kommen lassen. Nach seinen eigenen Aussagen
kommt er aus Tenwe, wo er sein Handwerk bei Stiapon Wela gelernt hat, die ja nun
ebenfalls keine Unbekannte ist.
Auch seine Arbeiter sind in jeder Hinsicht ehrbar und zuverlässig.
Ich muss wohl nicht erst erwähnen, dass all dies seinen Preis kostet, aber ich denke
nicht, dass das für dich ein Problem darstellen wird.
Allerdings muss man bei Ahet Heilin oft mit einer beträchtlichen Wartezeit rechnen.
Er hat sicher bereits mehrere Mosaiken in Auftrag, die er vor deinem fertig stellen
muss. Vielleicht würde er dich aber vorziehen, wenn du ihm einen gewissen Anreiz
bietest. Was Geld betrifft, so ist er nicht bestechlich, aber nach allem, was ich gehört
habe, ist er ein leidenschaftlicher Reiter und hat eine gewisse Vorliebe für edle und
schnelle Pferde.
Wenn du ihm ein vielversprechendes Pferd aus deiner vorzüglichen Zucht anbieten
würdest, könnte er möglicherweise nicht widerstehen. Das nur als kleiner Hinweis.
Nun aber zu etwas anderem. Man hat mir berichtet (...)
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Chani liefert hier eine sehr glaubwürdige Beschreibung von Ahet Heilin, und wenn sie
ihn auch ein wenig in den Himmel lobt, so hat sie nur wenig übertrieben. Tatsächlich
ist Heilin der beste und bekannteste Mosaikmeister im Umkreis von Cumea.
Was Chani allerdings nicht weiß, ist, dass Heilin doch auch seine Geheimnisse hat,
denn er ist auch noch für etwas ganz anderes berühmt, wenn auch unter einem
anderen Namen.
Mehrmals im Jahr bereist er die größeren Glashütten der Umgebung, um ihre
Erzeugnisse zu begutachten und zu entscheiden, wer ihn für die nächsten Aufträge
mit den Glasstäben für seine Mosaiksteine beliefern soll.
Zweimal im Jahr allerdings hat er ein anderes Ziel, wenn die anderen ihn auf seinen
geschäftlichen Reisen wähnen. Dann ist er nämlich in der Stadt Mortacen
anzutreffen, wo zweimal jährlich ein berühmtes Pferderennen stattfindet.
Dieses Rennen ist eine alte Tradition, bei der die alteingesessenen Familien Reiter
für ihre kostbaren Pferde anheuern. Das Rennen findet jeweils im Nebelmond und im
Erntemond statt, zu Ehren der mythischen Zwillinge Adla und Liwe, die als
Schutzgeister der Pferde gelten.
Das Rennen beginnt in der Stadt Mortacen, führt dann aus dem Westtor hinaus, um
die Stadt herum und im Osten wieder in die Stadt hinein, um dann auf dem großen
Marktplatz zu enden. Bei dem Rennen zu gewinnen, bedeutet für die jeweilige
Familie eine große Ehre. Der siegreiche Reiter wird verehrt und genießt in der Stadt
beinahe den Status eines Helden.
Und unter den Siegern der letzten Jahre fand sich oftmals auch der Name Warien,
worunter sich niemand anders verbirgt als der leidenschaftliche Reiter Ahet Heilin.
Das Pseudonym hat er deshalb gewählt, weil die Teilnahme an den Rennen trotz
allem als Schande für achtbare Bürger betrachtet wird. Bei den Reitern handelt es
sich sonst vorwiegend um Athleten, Tagelöhner, Gladiatoren und einfache
Handwerker. Bestimmt wäre es Heilins gutem Ruf nicht sehr zuträglich, wenn seine
Teilnahme an diesen Rennen bekannt werden würde. Ob er dann noch so viele
Aufträge von hohen Adeligen bekommen würde, ist fragwürdig.
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Taipan
Duanm Grablaterne
Die zierliche Duanm, genannt Duanm Grablaterne,
kommt natürlich nicht aus Lest Menas, lebt nicht einmal
im Hafenbecken oder in der Küste vor der Groborstadt,
und schon gar nicht in der Stadt selbst. Denn Duanm ist
eine Dadan und daher ist nicht die Stadt, sondern der
ganze Golf von Raken ihr zu Hause. Anders als die
meisten Dadan lässt sie sich aber täglich in Lest Menas
blicken, um ihre Dienste als Lotsin anzubieten. Denn
gefährlich für Schiffe ist der Golf von Raken auf alle
Fälle. So zerschellen nicht nur immer wieder Schiffe an
den zahlreichen Riffen, auch ein Ekegg, ein gigantischer
Wasserdämon, hat sich eingenistet und bis jetzt drei
Schiffe in die Tiefe gerissen. Gute Lotsen sind daher
ständig gefragt, doch die Drada-Delfine, die sonst die
Schiffe von Haagest durch gefährliche Gebiete führen,
sind hier rar, eine gute Gelegenheit, wie Duanm vor rund
dreißig Jahren erkannte, als sie einem verzweifelten
Kapitän, der mitten auf dem Meer in gefährliche Untiefen
navigiert war, ihre Hilfe anbot und ihn sicher in den
nächsten Hafen, dem von Lest Menas, führte. Duanm
wurde für ihre Tat reich belohnt und fand Gefallen an
dem Gefühl, für die Sicherheit besonders vieler Vertreter
des grässlichen Landvolkes verantwortlich zu sein, dass
sich mit der Zeit als gar nicht so grässlich herausstellte
und sogar so etwas wie Sprachen zu besitzen schien,
was Duanm früher nie für möglich gehalten hatte. Für
eine Dadan verhältnismäßig schnell lernte sie von den
Matrosen der Schiffe schließlich sogar das Angir, die
Männersprache der Grobor – diesen war es unbekannt,
dass sie es mit einer Frau zu tun hatten – und das
Auerim, was ihr nicht nur dabei half, Kunden zu finden,
sondern auch ihre Arbeit an sich sehr erleichterte. Eine
weitere Hilfe ist eine Grablaterne 1), die Duanm ständig
folgt und mit seinem Leuchten auch in der Nacht ein
Schiff auf Kurs hält. Diesem anhänglichen Hai verdankte
sie schließlich auch ihren Beinamen.
Mittlerweile kennt jeder von Lest Menas die sonderbare
Dadan, die jeden Tag im Hafenbecken auftaucht und
ihre Dienste anbietet und fast immer findet sich jemand,
der sie auch benötigt. Ihr Ruf ist mittlerweile so groß,
dass sie gelegentlich sogar die wertvollen Zarrezzi 2)
durch gefährliche Riffe lotsen darf, was ein immenser
Vertrauensbeweis der Haagester Regierung ist.
Auf der anderen Seite hat Duanm für ihren Ruhm auch
einen Preis bezahlen müssen. Ihre Sippe hat sie
nämlich zurückgelassen, also sie weiterzog und
mittlerweile hat sie nur gelegentlich Kontakt zu
Artgenossen, die sie für immer sonderbarer halten,
obwohl sie von einflussreichen Dadan trotzdem instinktiv
mit Respekt behandelt wird.
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Dadan
Die Dadan sind marin lebende Kulturschaffende,
die nur vage humanoide Züge aufweisen und kein
Landbewohner würde jemals auf die Idee
kommen, es handle sich bei ihnen um intelligente
Wesen, hätten sie nicht Arme mit Greifhänden.
Sie bleiben mit einer maximalen Körperlänge von
einem Meter relativ klein und sind meist
silbriggrau gefärbt, wie bei Haien, mit denen sie
eng verwandt sind, ist ihre Haut nicht von
Schuppen, sondern von winzigen Zähnchen
bedeckt. Vom Wasser sind sie vollkommen
abhängig und sterben schon nach kurzer Zeit an
der Luft. Landbewohnern misstrauen sie
bestenfalls, normalerweise werden sie gefürchtet,
was auf Begegnungen mit Fischern
zurückzuführen ist. Nach Möglichkeit werden sie
daher von den Dadan gemieden und Haagest ist
nur eine von ganz wenigen Gebieten, in denen
Menschen (und Grobor…) relativ friedlich
zusammenleben, nebeneinander und doch in ganz
unterschiedlichen Welten.
Über das Leben der verschiedenen Dadanvölker
ist noch immer praktisch nichts bekannt, obwohl
die Dadan in den Gewässern von Haagest als
Staatsbürger gelten und sogar das Wahlrecht
haben – von dem aber praktisch kein Dadan
Gebrauch machen. Sie leben in Sippen, die in
Ausnahme bis zu hundert Individuen umfassen
können – meistens aber deutlich kleiner werden –
und leben von Weichtieren, Krebsen und kleinen
Fischen. Obwohl sie auch über längere Zeit in
einem bestimmten Gebiet bleiben können, sind
sie aber auch dort stets nomadisch unterwegs und
errichten daher keine Behausungen und geben
sich mit natürlichen Höhlen und Verstecken
zufrieden, in denen sie nie länger als wenige Tage
bleiben. Alle Gegenstände, die sie herstellen –
Netze, Speere, Messer aus Stein oder
Muschelschalen, Schmuck – lassen sich leicht
transportieren. Noch unbekannter als das
Alltagsleben sind nur die religiösen
Vorstellungen. Es scheint viele Götter zu geben,
die in der Tiefsee hausen und von dort die
Geschicke der Welt lenken, nur ganz wenige
dieser Götter sind auch einer Handvoll Gelehrter
in Haagest auch bekannt. Besser bekannt ist die
besondere Beziehung der Dadan zu Haien, die
vermutlich auch religiöse Ursachen hat. Die Tiere
werden verehrt und besonderen Individuen bringt
man auch Opfer in Form von gefangenen Fischen
und Krebsen dar. Haie hingegen, selbst die
gefährlichen Polquans- und Calodhaie, greifen
kaum Dadan an. Man sagt, die priesterähnlichen
Izalsfazgla könnten sogar mit Haien
kommunizieren und ihnen Befehle erteilen.
Trughaie
Obwohl ein typischer Trughai, der besonders häufig
im Golf von Raken in den Riffen und an der
Felsküste vorkommt, bis auf die fehlenden
Brustflossen allen Vorstellungen eines typischen Hais
entspricht, wird er doch von den Gelehrten Haagests
und auch dem abergläubischen Volk für etwas ganz
anderes gehalten, für einen grässlichen Dämon, der
nur vorgibt ein Hai zu sein. Grund für diese – falsche
– Annahme sind die untypischen Trughaie, deren
Kadaver relativ häufig angespült werden. Typische
Trughaie ernähren sich trotz ihrer Größe von bis zu
drei Metern hauptsächlich von keinen Fischen und
beißen nur bei Bedrohung einen Menschen,
verschmähen sogar die kleinen Dadan und versuchen
Störer meist nur mit einem Schlag der Schwanzflosse
zu verscheuchen. Auch in der Fortpflanzung
unterscheiden sich Trughaie nicht wesentlich von
anderen Haien. Sie sind lebendgebährend und bringen
zwei bis zehn Junge auf die Welt. Untypisch ist, dass
es dabei häufig – durchschnittlich in einem von zehn
Fällen –zu Missbildungen kommt, die sich in der
Regel in zweiköpfige Tiere zeigen. Diese untypische
Trughaie leben meist nur wenige Tage, sind aber für
den schlechten Ruf der Tiere verantwortlich.
Zahlreiche Legenden ranken sich um sie, die
ausschließlich von ihrer Falschheit, Bosheit und
Grausamkeit handeln. Für die Dadan allerdings sind
zweiköpfige Trughaie Verkörperungen Izals, der
Gottheit von dem, was geschehen könnte, die daher
auch entsprechend verehrt werden und denen die
wenigen Izalsfazglas auch Opfergaben bringen, in der
Hoffung, dass sie einem einen Blick in die Zukunft
gewähren. Die wenigen zweiköpfigen Trughaie, die
ihre ersten Wochen überleben und sich in Höhlen und
Grotten versteckt halten, verdanken wohl einzig und
allein diesen Opfergaben und den Izalsfazglas ihr
Leben. Ob sie aber als Dank tatsächlich etwas
prophezeien ist mehr als ungewiss.
In Lest Menas ist gleichzeitig auch das Gerücht von
einem Izalsfazgla (Haisprecher) im Umlauf und
einem riesigen zweiköpfigen Trughai, der ganz in
der Nähe der Stadt seinen Unterschlupf haben soll.
Während ersteres nur Gelehrte aus Nadarost zu
interessieren scheint, die hartnäckig nach dem
Izalsfazgla suchen und dabei immer wieder
vergeblich auch Duanm um Hilfe bitten, sind die
Fischer eher hinter dem Hai her, der ihrer Meinung
nach die Fische vertreiben und Kinder frisst, doch
alle Versuche den Hai zu töten oder auch nur das
Versteck zu finden, sind bis jetzt alle
fehlgeschlagen, vermutlich weil es sich unter
Wasser befindet. Auch bei der Jagd nach dem
Untier hat man schon mehrmals Duanm um Hilfe
gebeten, was sie aber stets vehement abgelehnt
hat.
Praktisch niemand weiß nämlich, dass es sich bei
Duanm und dem legendären Izalsfazgla um ein und
dieselbe Person handelt. Duanm hat nämlich vor
zwanzig Jahren den kaum geborenen zweiköpfigen
Hai halb tot im Meer treibend gefunden und ihn so,
wie es ihr der Izalsfazgla ihrer Sippe einmal gezeigt
hat, in eine große sichere Grotte gelockt. Seither
versteckt sich der Hai dort und ist mittlerweile zu
groß um sie wieder zu verlassen. Das riesige Tier ist
daher völlig darauf angewiesen, dass es von der
Izalsfazgla mit Nahrung versorgt wird. Seit wenigen
Jahren ist sich Duanm sicher, dass der Hai zu ihr
spricht, in Rätseln, die sie kaum versteht, die aber
zweifellos von der Zukunft handeln. Halten sich
Dadan in der Nähe auf, lässt sie ihnen unter dem
Namen Izalsfazgla von Lest Menas die weniger
kryptischen Prophezeiungen des Hais zukommen,
immer häufiger aber auch den Bewohnern von Lest
Menas, denn sie ist inzwischen der Ansicht, dass
auch sie ein Recht darauf haben. Duanm weiß nicht,
dass ihre Prophezeiungen von Gelehrten aus
Nadarost gesammelt werden und man sich dort
bereits streitet, ob einige vielleicht schon
eingetroffen sind.
1) Grablaterne: Ein kleiner Hai, der an die Oberfläche
kommt, um Kleinsttiere zu jagen. Er leuchtet,
wahrscheinlich um Beute anzulocken.
2) Zarrezzi: Fassartige, langsame Unterseeboote der
Grobor, die nach schnellen, schlanken Raubfischen
benannt sind. Sie werden für Erkundungsfahrten und
zum Schmuggeln verwendet. Sehr selten, extrem
schwer im Bauen und daher unermässlich wertvoll. Alle
49 Zarrezzi befinden sich im Besitz von Haagest.
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Sturmfaenger
Tassie, die Wellentänzerin, Stimme Sainodins
Wenn es Euch jemals nach Kuen’merron verschlägt, dann müßt ihr unbedingt den
nördlichsten Zipfel der Insel besuchen. Genauer gesagt, das kleine Küstendorf Terice
in der Maiellanbucht. Mein Heimatdorf liegt genau an der Stelle, an der sich die
Meerenge, die Kuen’merron vom Festland trennt, langsam aber sicher dem Ozean
öffnet. Terice ist über den Landweg gut zu finden, auch wenn man die Häuser vom
Meer aus kaum erkennen kann.
:: Du solltest vielleicht erwähnen, dass man bessere Chancen hat, dich in der Bucht
zu finden::
Dazu wollte ich grade kommen, Sainodin! Du bringst mich ganz aus dem Konzept...
Also. Meistens bin ich tagsüber mit den Tuikh-Trainern draußen. Ihr sucht einfach
nach dem einen Boot, das von Tuikh umschwärmt wird. Ihre schlanken graugrünen
Leiber mit den bunt gefleckten Schnabelmäulern sind kaum zu übersehen, und ihr
Schnattern und Zwitschern hört man schon von weitem, unsere Pfeifsignale auch.
Die kleine halbnackte Gestalt, die sich zwischen den Tuikh im Wasser tummelt, das
bin dann ich. Eine weibliche Ji’rallak unter lauter schlaksigen, bärtigen
L’Ardhamännern.
::...die alle zehn Jahre älter sind als du. Mindestens.::
Genau. Mich kann man gar nicht übersehen. Ich bin jetzt sechzehneinhalb, aber ich
arbeite schon mit Tuikh seit ich acht war. Du weißt aber genau, daß die anderen zwar
ab und zu bemerken, dass ich eine Frau bin, aber trotzdem bin ich ‚einer von den
Jungs’. Ich habe ein natürliches Talent, mit den Tuikh umzugehen. Sie verstehen
mich, ich verstehe sie. Es hat Jahre gedauert, um das in die Köpfe der Leute zu
kriegen, aber mittlerweile haben sie sich daran gewöhnt. Ich bin eine Tuikhtrainerin,
und ich habe schon zweimal das jährliche Wellenreiter-Rennen gewonnen. Mein
Reitgeschirr, das ich selbst entworfen habe, unterscheidet sich in einigen Details von
den bisher üblichen, und mittlerweile treten in jedem Jahr mehr Wellenreiter an, die
meine Schirrung benutzen. Das die anderen Reiter mich anerkennen macht mich
stolz.
Es hat mich früher immer gestört, wenn sie mich als „das Tuikhmädchen von Terice“
bezeichnet haben. Wir Ji’rallak halten keine Tuikh die uns beim Fischen helfen, aber
die L’Ardha tun es. Von dem her war es schon ein wenig kurios, daß ich mich ständig
nur mit ihnen beschäftigt habe. Aber wie könnte ich das nicht? Wenn Ihr euch einmal
an ihren Finnen festhaltet, und euch mitziehen lasst, dann werdet ihr wissen was ich
meine. Ihre Schnelligkeit, ihre Gelehrigkeit, die Treue, die sie den Schiffen halten, auf
die sie geprägt sind... das wird mich immer faszinieren. Und sie vergessen einen nie.
Wenn wir die Küste entlang zu anderen Dörfern fahren, um frischgeschlüpfte Tuikh
auf die dortigen Schiffe zu prägen, kommen ‚meine’ Tuikh immer angeschwommen,
um mich zu begrüßen. Obwohl es schon Jahre her ist, dass ich geholfen habe, sie
auf die Welt zu bringen.
Nächstes Jahr werde ich vielleicht mitfahren, wenn sie eine Expedition zu den
Meerleuten starten. Wir verstehen ihre Sprache nicht, aber sie züchten auch Tuikh,
und ihre unterscheiden sich in interessanten Einzelheiten von unseren.
::Ich glaube nicht, dass sie dich mitlassen werden, Tasie.::
Weil ich eine Frau bin? Ach komm. Deswegen werden sie doch nicht...
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:: Nicht deswegen. Aber meinetwegen. Wenn der Rat der Sprecher es verbietet,
müssen die L’Ardha gehorchen. Das weißt du doch.::
Wir werden es ihnen einfach nicht sagen, fertig. Probieren werde ich es auf jeden
Fall! Jaaa... und da wären wir bei dem Punkt, an dem alles kompliziert wird. Ich bin
nämlich nicht wirklich alleine in meinem Kopf.
::Ich lasse dir aber deine Privatsphäre.::
Das will ich dir auch geraten haben. Also, darf ich offiziell vorstellen, meine innere
Stimme, die meistens nur ich allein hören kann: Sainodin. Verstorben vor... wie
lange?
::Sechshundertsiebzehn – nein, sechshundertachtzehn Jahren.::
Da hört Ihr es. Sainodin ist ein Ahngeist, ein L’Ardha-Ahngeist. Ji’Rallak-Ahngeister
gibt es nämlich nicht. Allein deswegen sollte ich nicht in der Lage sein, ihn zu hören.
Aber ich tue es doch. Das einzige, was uns dazu eingefallen ist, ist...
::...dass einer deiner Vorfahren fremdgegangen ist. Es kann nicht anders sein.::
Wisst Ihr, L’Ardha haben keinen Zugang zur Magie, so wie wir restlichen Menschen
ihn kennen. Das haben sie ihrem Gott zu verdanken. Wie er das gemacht hat,
wissen sie natürlich auch nicht. Tatsache ist, wenn ein L’Ardha die
Schwellenkrankheit bekommt, wird er danach wieder gesund und lebt sein Leben
weiter ohne auch nur mit Magie ein Feuer entzünden zu können. Richtig spannend
wird das für ihn erst wenn er gestorben ist.
::Vielleicht erkläre besser ich das, Tasie. Ich bin damals gestorben, und es hat lange
Jahre gedauert, bis ich mich von diesem Schock so weit erholt hatte, um zu lernen in
meiner neuen Daseinsform zu leben. Die älteren Ahngeister haben mir sehr
geholfen. Wir können untereinander leidlich gut kommunizieren, aber mit den
Lebendigen, die in der festen Welt leben ist es schwerer. Es braucht sehr viel
magische Energie, von der wir nur einen begrenzten Vorrat haben. Es sei denn man
findet seinen Sprecher. Tasie ist mein Sprecher. Ich kann praktisch ohne
Energieverlust mit ihr reden, und sie gibt weiter was ich zu sagen habe.::
Ganz so einfach ist es auch nicht. Sainodin ist ein sehr alter Ahngeist, und er hat
mich bereits gefunden als ich noch ein Kleinkind war. Aber er hat nichts gesagt, wie
er es getan hätte, wenn ich ein L’Ardhakind gewesen wäre. Er hat statt dessen
gewartet bis ich alt genug war um zu verstehen. Den Ji’Rallak ist diese Eigenheit der
L’Ardha nämlich bis heute sehr unheimlich. Geister, die in den Verstand von anderen
eindringen, sogar durch ihren Mund reden können... wenn jemand aus meinem Volk
wüsste dass Sainodin bei mir ist, wäre das mein gesellschaftliches Aus. Nicht einmal
meine Eltern wissen von ihm.
::Sie sind nette Leute, deine Eltern, aber sehr konservativ. Sie würden mich für ein
böses Überbleibsel aus den Magiekriegen halten, weil sie nicht verstehen daß
Ahngeister durch den Tod ihres Körpers nicht den Verstand verlieren, wie die
Magierkrieger ihrer Völker.::
Als ich zwölf war, und meine Eltern mich mitnahmen, um in der Stadt Jenume
Verwandte zu besuchen, habe ich mich in den örtlichen L’Ardhatempel geschlichen.
Zu meinem großen Glück behandeln die Priester alles sehr vertraulich – obwohl sie
ganz aufgeregt waren, als sie festgestellt haben, daß mein Ahngeist Sainodin ist. Er
hatte mir nie gesagt, dass er aus der Königsfamilie kam.
::Ich wollte dich nicht nervös machen.::
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Ich weiß. Ich konnte sie jedenfalls überzeugen, nicht laut herauszuschreien wer ich
bin, und es auch meinen Eltern nicht zu sagen. Irgendwann werde ich es vermutlich
tun müssen, aber jetzt noch nicht. Sie haben stattdessen einen Priester in den
kleinen Tempel in Therice beordert, den ich ab und zu besuche. Von ihm lerne ich
mehr über Ahngeister, und Vater Drakain bleut mir auch immer wieder ein, dass es
meine Pflicht ist, Sainodins Weisheit und sein Wissen nicht ungenutzt zu lassen. Sie
wollen zu allem und jedem seine Meinung hören.
::Deine auch. Nur wollen sie dir eben noch mehr beibringen als nur Tuikh zu
trainieren.::
Und dafür müsste ich ein paar Jahre in Jenume verbringen. Fort vom Meer. Und ich
müsste meinen Eltern beichten daß ich Stimmen höre.
::Und dass du meine Stimme sein wirst. Man wird dir viel Respekt erweisen. Du bist
eine Ji’rallak. Und du kannst deine Stellung benutzen, um unsere Völker einander
näher zu bringen.::
Das sagst du mir ständig, und ich weiß es auch, Sainodin. Aber ich kann mich
einfach noch nicht dazu durchringen, mein Leben so umzukrempeln. Schon jetzt ist
durchgesickert, dass „Sainodins Stimme“ wieder erklingt. Unter den L’Ardha
zumindest. Ich höre meine Freunde die Gerüchte austauschen, höre, wie sie über
Dinge reden, die wir beide im Rat der Sprecher gesagt haben, und weiß, dass sie
mich ganz anders ansehen werden, wenn herauskommt dass ich Sainodins Stimme
bin. Ich will diesen Moment noch so lange wie möglich herauszögern. Ich will mein
jetziges Leben auskosten so lange es geht, ehe ich mich der Pflicht stelle, die mir
mein Schicksal auferlegt.
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Vo gu ish
Nekromantin & Kaiserin
Wortlos ließ sich die Dame, welche in einem türkisen Gewand gekleidet war, das
auch ihr Gesicht verdeckte, auf den einzige, freien Platz in der verruchten Kneipe
nieder. Gegenüber von ihr saß eine vermummte Gestalt, welche reglos vor sich
hinmurmelte:“ Sind sie jene, die die Verlorenen in unsere Welt zurückholen kann?“
Obwohl man ihr Gesicht nicht sah, konnte man hören, dass sie weinte.
Die vermummte Gestalt antwortete ohne sich zu bewegen:“ Ja diese Person bin ich,
aber es ist ein riskantes Vorhaben, welches auch durchaus das Gegenteil bewirken
kann...“ Die offensichtlich trauernde Frau schluchzte laut auf bevor die Gestalt
fortfahren konnte: „...da sie eine spirituelle Verbindung zu jener verlorenen Seelen
herstellen müsse und die Energie so stark sein könnte, dass auch sie in den Abgrund
fallen“. Die Frau entfernte ihr verhüllendes Tuch von ihrem Gesicht und sprach, dann
selbstsicher: „Glauben sie mir ich habe mich lange und durchaus intensiv mit diesem
Thema beschäftigt und bin trotz aller Risiken zu diesem Ritual bereit, denn...“. Sie
begann laut zu weinen: „Es gibt nichts was ich mir sehnlicher Wünsche als meinen
Ehemann wiederzusehen.“ Das erste Mal war eine Bewegung der dunklen Gestalt zu
spüren: „ Nun gut ich denke ich bin bereit mich ihnen als behilflich zu erweisen,
allerdings nur gegen eine gewissen Lohn, welcher...“ bevor sie ihren Satz beenden
konnte hatte jene Frau bereits zwei kleine Säcke voller Gold auf den Tisch gelegt:
„ Ich denke dies wird fürs erste reichen.“
Sie fühlte sich wie immer als sie zu dem mit der trauernden Frau vereinbarten
Treffpunkt kam, doch innerlich hatte sich etwas in ihr geändert. Sie hatte die ganze
Zeit darüber nachdenken müssen, was passieren würde, wenn sie einen Fehler
begehe. Diese trauernde Frau hatte ihr von Anfang an Leid getan und sie wolle sie
unter keinen umständen enttäuschen.
Am vereinbarten Treffpunkt traf sie auf die bereits ungeduldig wartende Dame,
welche darauf bestand jenes Ritual sofort zu beginnen.
La beauté passe:
Ein schwerer Fehler wie sich im Nachhinein herausstellte, denn bei dieser Frau
handelte es sich um eine verkleidete „Schützerin vor schwarzer Magie“, welche
schon länger versuchte jene Nekromantin, von der alle sprachen ausfindig zu
machen, da die Nekromantik im gesamten Kontinent als gesetzwidrig galt, doch jeder
Mensch ihre Dienste in Anspruch nahm und die vermummte Gestalt so als Kaiserin
und als Nekromantin in die Geschichte einging. Doch kurz vor ihrer Geburt verurteilte
sie das Gericht zum Tode und so wurde kein niemals ein neuer Thronfolger geboren,
was dazu führte, dass das Königshaus bis heute unbesetzt ist.
Hinweis von Ly: dieser Beitrag hatte keinen Titel - er ist von mir so gewählt worden
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NICHT-RELIGIÖSER FEIERTAG
Aufgabenstellung
Einmal im Jahr (oder vergleichbare Zeitspanne) wird dieser Feiertag
anlässlich eines historischen Ereignisses in einem Land gefeiert, das
bei diesem Ereignis eine Niederlage erlitten hatte.
Was ist damals geschehen, wie wird der Tag gefeiert und warum tut
man dies, obwohl es eine Niederlage war?
Und warum riecht es dabei immer so intensiv?
Zeit für die Bearbeitung:
20.07. - 26.07.
Teilnehmer:
1. Platz
Mara
Das Königsfest von Kilaan
(82 Punkte)
2. Platz
Taipan
Harasalanfeuernacht
(80 Punkte)
3. Platz
Veria
Funkenturmfest
(72 Punkte)
4. Platz
Gerion
Das Blutfest von Port Nial
(71 Punkte)
Jury:
Gomeck
Jerron
Neyasha
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Gerion
Das Blutfest von Port Nial
Port Nial ist eine der, zumindest was die Bevölkerung angeht, kleineren Städte des
Hafenbundes, um nicht zu sagen die Kleinste. Sie ist gelegen an der Mündung des
gleichnamigen Flusses Nial, der sich aus den regenreichen Dschungeln des
Hinterlandes speist. Seit Gründung der Küstenstadt müssen sich die Bewohner, ein
recht zäher Haufen aus allen Himmelsrichtungen zusammengewürfelter Leute, mit
zwei Dingen herumschlagen: zum Einen der Gier anderer Länder und Städte, die es
auf die reichen Edelsteinvorkommen abgesehen haben, die im Urwald um Port Nial
liegen, zum Anderen mit dem Dschungel selber.
In der Gegend der Stadt reicht der Urwald bis beinahe an die Küste heran, es bleibt
nur ein kleiner Küstenstreifen, teilweise nicht einmal hundert Meter, ehe die ersten
Baumriesen beginnen. Und mit diesen beginnt auch die Gefahr. Einer der
gefährlichsten Dschungelbewohner ist ein Raubtier, das Baumwolf genannt wird.
Zwar ist das Tier nicht mit dem Wolf verwandt, hat aber gewisse äußerliche
Ähnlichkeiten mit diesem und jagt ebenfalls in größeren Rudeln. Ebenso herrschen in
den dichten Wäldern noch viele Schutz- und Tiergeister, die ihre Reviere teilweise
eifersüchtig beschützen. Doch die Bewohner der Stadt und der umliegenden Minen
haben sich mit ihrer Umwelt arrangiert, und so lange gelegentlich ein Opfer
dargebracht wird und die Baumwölfe nicht zu sehr gereizt werden, leben die Bürger
Port Nials in Eintracht mit der Natur.
Im Jahr 150, also vor 43 Jahren, brach der instabile Frieden zwischen dem damals
noch recht jungen Hafenbund und dem Königreich Leton, die zu dem Zeitpunkt
größte Seemacht, zusammen, und Grund dafür waren die Edelsteinminen Port Nials.
Wie zu erwarten war, verlief der Krieg für den viel zu schwachen Hafenbund nicht
besonders gut und nach nicht einmal einem Jahr war ihre Flotte so stark dezimiert,
dass sie ihre Städte nicht mehr verteidigen konnte. Also zogen sich die Schiffe von
Port Nial zurück und überließen die Stadt ihrem Schicksal. Nicht einmal die Stadt
konnte evakuiert werden.
Der folgende Tag ging als größte Niederlage in die Geschichte des Hafenbundes ein,
das erste und bisher einzige Mal, dass eine Stadt des Hafenbundes erobert wurde.
Ebenso wurde dies der Tag einer der größten Gräueltaten der jüngeren
Kriegsgeschichte. Innerhalb weniger Stunden landeten dutzende Schiffe und die
Stadtbevölkerung wurde von den Letoner Soldaten grausam niedergemetzelt,
nachdem die letzten Verteidiger verzweifelt den Rückzug zumindest eines kleinen
Teils der Bürger in das Hinterland ermöglichte.
Der Blutzoll war hoch. So hoch, dass der Fluss rot wurde und der Geruch von Blut
durch die Straßen zog. Und eben dieser Geruch lockte die Räuber aus dem
Dschungel. Im Laufe der nächsten Tage wurde ein Rudel nach dem Anderen wurde
vom Blut und der Verwesung aus dem Dschungel angelockt, und schon bald war die
Stadt wieder belagert, dieses Mal jedoch von der Natur selbst. Die Flüchtlinge im
Hinterland sahen zudem keine Veranlassung, die Tiere zu beruhigen oder die
Naturgeister gnädig zu stimmen, und so lebten sie friedlich in ihren kleinen Dörfern,
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während die Letoner Soldaten, vom Umland und damit von den Bauernhöfen
abgeschnitten, hungerten und sich immer heftiger werdenden Angriffen der Tiere
ausgesetzt sahen.
Nicht einmal eine Woche später waren die Soldaten gezwungen, die Stadt
aufzugeben. Sie kehrten mit der Nachricht in die Heimat zurück, dass die Natur
selbst die Städte des Hafenbundes beschützt, was Friedensverhandlungen zur Folge
hatte. Der daraus entstandene Frieden war immer noch recht instabil und gespannt,
aber in den kommenden Jahren konnte der Hafenbund seine Macht ausbauen und
ein Gegengewicht zu Leton aufbauen.
Die überlebenden Bewohner Port Nials warteten noch einige Zeit ab, bis sich die
Baumwolfsrudel in der Stadt gütlich getan haben und sich wieder in den Dschungel
zurückzogen, denn so viele Rudel an einem Ort geht auf Dauer nicht gut, außerdem
gingen langsam die Nahrungsmittel aus. Schließlich war die Stadt verlassen und die
Bewohner kehrten zurück.
Seither wird im Port Nial jedes Jahr am Tag der Niederlage das Blutfest gefeiert, an
dem der Natur und insbesondere den Baumwölfen für ihre Hilfe in dieser schweren
Stunde gedankt wird.
Um diesen Tag zu feiern, wird das ganze Jahr gearbeitet. Es werden schon kurz
nach dem Ende des vorherigen Festes Kühe ausgesucht, die extra für den Tag das
ganze Jahr über gemästet werden. Tags zuvor wird die Hauptstraße geschmückt und
es werden, wie es für Feste üblich ist, Stände und Bühnen aufgebaut um das Volk zu
unterhalten. Am Tag selber werden die Kühe geschmückt und in einer Prozession vor
die Stadt geführt, wo ein Opfertisch aufgebaut ist. Dort werden die Kühe geschlachtet
und ausgeblutet, das Blut in der Umgebung verteilt, bis der Geruch durch die
Straßen und in den Dschungel zieht.
Dann ziehen sich die Bewohner hinter die Stadtmauern zurück und feiern
ausgelassen, während die Wolfsrudel der Umgebung, vom intensiven Blutgeruch
angelockt, ihr Geschenk abholen. Zu Sonnenuntergang werden die Festivitäten
anschließend für eine Stunde unterbrochen. Zu der Zeit findet eine Andacht statt, in
welcher der Opfer während der Eroberung gedacht wird. Danach findet ein weiterer
Zug zum Opfertisch statt, wo nachgesehen wird, wie viele Tiere verspeist wurden.
Die übrigen werden in die Stadt mit genommen und gegrillt. Das Fleisch dieser Tiere
gilt als glücksbringend und so versucht jeder, eine der knappen Portionen zu
ergattern. Die Feier geht noch bis in die frühen Morgenstunden weiter, denn der
folgende Tag ist frei und so spülen sich viele den Geruch nach Blut mit viel Alkohol
herunter.
In den übrigen Städten des Hafenbundes wird der Tag nicht gefeiert. Dort wird gerne
das Gemetzel in Port Nial, der Stadt die sie kurzzeitig im Stich lassen mussten,
vergessen. Stattdessen feiert man dort einen Monat später den Beginn der
Friedensverhandlungen, am Tag des Gemetzels findet nur eine kurze Andacht statt.
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Mara
Das Königsfest von Kilaan
oder: der Gestank verbrannter Krabben
Auszug aus 'Meer der geborstenen Brücken' von Padamun Caam, Seite 347 f. in der
Ausgabe des Fi Makae Verlags von 1997 NZ
Die Dämmerung findet mich in den Straßen, sie sucht ohnehin nur dort nach mir und
die Straßen kennen mich nur bei Dämmerung. Tag und Nacht pressen hier das
Zwielicht in schmale Streifen zwischen Extremen und ich schlüpfe hinein, wie es mir
passt. Die Inselmenschen reiben Floskeln aneinander und an mir vorbei durch enge
Passagen und der Gestank ihrer Worte macht mich wahnsinnig. Meine Hände
wischen den Schleim von Augen und Nase, ich atme durch den Mund, weil ich in
dem Gerede Mühe habe über der Wortoberfläche zu bleiben.
Das Ende der Dämmerung entlässt mich auf freie Fläche, die Häuser rücken davon,
um im Zwielicht verbleiben zu können. Um Feuer tanzen Heuschrecken mit
knusprigen, zappelnden Gliedern und ich binde mir den Schal vor mein Gesicht. Ihre
Körper stoßen schalen Geruch nach totem, brennendem Meer ab und schaudernd
suche ich einen Weg hindurch, bis meine Zehen an glühende Kohlen stoßen.
Die Kohleaugen schauen mich bittend an und Beine strecken sich in der Glut. Sie
verbrennen sie alle lebend.
Kein Schiff fährt diese Nacht noch. Ich bin auf Kilaan und vor mir brennen die
Krabben auf ihrem eigenen Schlachtfeld.
Alljährlich kurz nach Beginn des Frühling findet auf der vergleichweise kleinen Insel
Kilaan eine Feierlichkeit statt, die von Gästen auf der Insel als nahezu abstoßend
empfunden wird. Über Kilaan, die gleichnamige Stadt und auch einziger größerer Ort
der Insel, die trotz ihrer unbedeutenden Größe als Freistaat im Bund der südlichen
Meereskönige gilt, hängt tagelang ein bitterer, fischig-fauliger Gestank, der den
Einwohnern jedoch wenig bis gar nichts auszumachen scheint. Nicht-Insulaner
verschanzen sich, wenn sie denn schon anwesend sein müssen, gerne hinter stark
mit Minze eingeriebenen Schals und tragen damit noch eine weitere Note zur
Duftkakophonie bei.
Ursprünglich wurden bei diesem Ereignis Krabben in Palmfaserfeuern verbrannt, um
genauer zu sein die größten lebenden Landkrabben der Sphäre, deren recht kleine
Population sich auf einige Inseln im südlichen Meer der Brücken beschränkt. Oder
besser beschränkt hat. Da mit der Zeit auch die Krabben von anderen Inseln
importiert wurden, ist die Zahl der Tiere beträchtlich gesunken und für echte
Riesenkrabben wird mittlerweile so viel Geld gezahlt, wie in der immer wieder unter
die Kriesenregionen fallenden Insellandschaft übrig ist.
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Um die großen Scheiterhaufen aufzufüllen wird neben den rar gewordenen
Landkrabben mehr Palmfaser verbrannt und diese mit allerlei Meerestieren Rennsepien, Ölfisch und Federbraue - geruchlich angereichert.
Was Nichtinsulaner schließlich gänzlich von den Feierlichkeiten abstößt ist die
Tatsache, dass das gefeierte Ereignis die Eroberung Kilaans durch Meerkönig
Tahaaliin Upumiiru ist. Diese liegt mittlerweile 74 Jahre zurück und hat die Insel vom
eigenständigen Königreich zum Freistaat unter den Erben Tahaaliins degradiert amaTheraner, ursprünglich alle einzelne Königreiche und nun unter der Herrschaft
Icheras und meistens bis heute nicht damit einverstanden, können die fröhliche
Bejubelung der Abhängigkeit nicht nachvollziehen und kehren mit wirren Eindrücken
und einer gewissen Verachtung für die Insulaner wieder heim, sobald sie können.
Ablauf des Festes
Um die Eroberung bis heute in Erinnerung zu halten und zu feiern finden mehrere
Festakte statt, von denen die abendliche Verbrennung von Meeresgetier über drei
Tage hinweg deutlich die abstoßendste ist, aber nicht die verwunderlichste.
Die gesamten Feierlichkeiten beginnen am ersten Tag mittags damit, dass mehrere
Tänzer in monatelang zurechtgeschusterten Kostümen aus Federpalmwedeln,
Troddeln, besticktem Stoff und Federn durch Kilaan-Stadt wandern und dabei einen
großen Tross anderer Einwohner, bemalt und verkleidet als Krieger und
ausgerechnet Krabben anführen. Die dargestellten Hauptfiguren sind zwei Kinder,
ein Junge und ein Mädchen, mit riesigen auf Muscheln gemalten Augen und
aufgerissene Mündern, die gestikulieren und Ach und Weh schreien. Die dritte Figur
ist eine Frau in rot gemustertem Gewand und mit verbundenen Augen, die möglichst
phantasievolle Beleidigungen von sich gibt, die zu einem großen Teil weit unter der
Gürtellinie auf die Virilität eines eindeutig männlichen Empfängers gemünzt sind.
Diese Kostüme sind weniger Kleidung als mehr eine große, versteifte Figur, in die
der Tänzer oder besser Träger hineinschlüpft. Trotz ihrer leichten Bauweise bedeutet
das ein erhebliches Gewicht für den Tänzer, das er bewegen und animieren muss.
Gleichzeitig ermöglicht die Bauweise, dass man die Kostüme regelrecht abstellen
kann und sie ohne Tänzer darin aufrecht bleiben.
Bei der gesamten Parade bedrohen Krieger und Krabben gleichermaßen im Scherz
die Umstehenden und wann immer die Frauengestalt vorbei zieht machen Mütter
eine große Schau daraus, ihren Kindern laut in die Ohren etwas anderes zu singen
oder sie ihnen zuzuhalten.
Anschließend werden die drei Hauptfiguren ohne Tänzer auf dem zentralen Platz
Kilaans aufgestellt und das erste Feuer zur Krabbenverbrennung entzündet, worauf
Krabben und Soldaten rasch den Platz verlassen. Der Rest des Abends wird mit
alkoholischen Getränken und kleinen, scharf gewürzten Broten bestritten, die
allgemein eine Festmahlzeit auf Kilaan darstellen, weil sie gut im Stehen gegessen
werden können und eine Abwechslung vom recht drögen, stark maritim geprägten
Nahrungsangebot bieten.
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Am nächsten Mittag, wenn die stinkenden Feuer nur noch leicht schwelen, beginnt
eine weitere Parade, in der ein vierter Tänzer einen großen, feierlich gekleideten
Mann darstellt, der jedoch samt seinen Soldaten von den Krabben durch die Straßen
der Stadt gejagt wird. Am Ende befindet er sich vor der Stadt und die wieder
aktivierte Frauenfigur ruft ihm Obszönitäten zu, während die Kinderfiguren jammern
und sich wie Peitschenkreisel drehen - die größte Herausforderung an die Tänzer,
der allerdings auch nicht jeder immer gewachsen war. Für gewöhnlich stellt der Sturz
der Kinder das Ende des Umzugs dar, die Figuren werden an Ort und Stelle
aufgestellt und man geht zur zweiten Krabbenverbrennung über, die ebenso von
Getränken und Feiertagsbrot begleitet wird.
Der dritte Tag wird mit einer ganzen Menge weiteren Verbrennungen gefeiert. Die
Krabbentänzer werden von der insulanischen Bevölkerung in die frisch angefachten
Feuer getrieben - natürlich ziehen sie im entscheidenden Moment die Kostüme aus
und verbrennen nur diese. Der Mann zieht mit den Soldaten in die Stadt ein und
konfrontiert vor den brennenden Krabben die Frau und die Kinder. Nach einer
ganzen Menge möglichst akrobatischen Getanzes legt der Tänzer der Blinden Frau
sein Kostüm ruhig und ohne Gegenwehr auf den größten Meerestierscheiterhaufen.
Die Kindertänzer schlüpfen ebenfalls aus ihren Kostümen und legen diese auf den
Boden, damit die Männerfigur samt Soldaten so lange wie noch applaudiert wird über
sie hinwegtanzen kann.
Die abendliche Krabbenverbrennung - und die letzte - wird diesmal nicht nur durch
Getränke und Essen begleitet, sondern auch durch Musik und weitere Tänze, die
durchaus bis zum Morgengrauen gehen können. Dann werden auch Kinder, der
Mann und die Soldaten auf dem fast heruntergebrannten Feuer verbrannt, diesmal
jedoch andächtig wie bei einer feierlichen Bestattung.
Mehrere Tage Erholung und die Beseitigung der Ascheberge beschließen die
Festlichkeit, die allgemein 'Abhängigkeitsfeier' oder 'Königsfeier' genannt wird.
Historischer Hintergrund
Tatsächlich findet die gesamte Handlung eine Basis in den Geschehnissen der
Übernahme Kilaans durch Tahaaliin Upumiiru.
1928 verstarb Kasaaban Upumiiru, König von Kilaan, auf einem Überfall auf
Ayakimeye, eine bereits von Sviyinne besiedelte Insel südlich Kilaans. Damals wie
heute liegt Kilaan an der Grenze, die grob zwischen Selweae und Sviyinne gezogen
werden kann. Ab dem frühen 19. Jahrhundert kam es dort immer wieder zu leichten
bis schweren Auseinandersetzungen, die in den Kriegen der letzten Jahre gipfelten
und auch Kilaan immer wieder beeinträchtigen - aufgrund seines Status als
Protektorat des starken Meerkönigreiches Upumiiru jedoch weniger als kleinere
Inseln ohne Zugehörigkeit zu einem größeren Machtfaktor.
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Nach dem Tod Kasaabans fiel Kilaan an seine Kinder - zweieiige Zwillinge namens
Usaaban und Masaani. Allerdings waren die beiden Kinder gerade mal vier Jahre alt,
als ihr Vater verunglückte oder besser verunglückt wurde. Wie genau er bei dem
Überfall bzw. dem Kriegszug starb ist ungeklärt, Gerüchte gehen von einem Tod im
Kampf über Fieber bis zu Ersticken an einer Gräte bei der Siegesfeier auf
Ayakimeye.
In Folge zog sich die Mutter der Zwillinge und nun Witwe von Kasaaban mit
schweren Depressionen in ihr Heim zurück und weigerte sich, mit der Außenwelt in
Kontakt zu treten. Sie war schon vorher eine anstrengende und immer wieder von
schweren Launen und Depressionen geplagte Frau gewesen, die von ihrer ganzen
Art her und dann zusätzlich durch ihre gewollte Isolation nicht in der Lage war, auch
nur eine der fähigeren Persönlichkeiten unter den Beratern ihres Mannes auf Kilaan
zu halten. Allein solche, die in der schwachen Position der Königsfamilie eine
Möglichkeit zur Bereicherung sahen, verblieben an dem kleinen Königshof und
scharten sich um die Kindherrscher.
Die Bevölkerung Kilaans, oder wenigstens diejenigen, die nicht so bald wie möglich
die Insel verließen, bat bei Kasaaban Upumiirus Halbbruder Tahaaliin um Hilfe und
schlugen vor, dass er das Königreich seines Bruders annektieren sollte - das größere
Meerkönigreich unter dem fähigen Herrscher und Kriegsherren sollte ihnen den
Rücken stärken und die Sviyinne abschrecken.
Tahaaliin weigerte sich.
Dies tat er aus mehreren Gründen. Zunächst wollte er Kilaan als Puffer zwischen
seinem Reich und den Sviyinne belassen und wäre wohl erst von sich aus bereit
gewesen einzuschreiten, wenn die Sviyinne begonnen hätten, die Insel nicht nur zu
überfallen, sondern zu kolonisieren.
Darüber hinaus hegte er regelrecht eine Abscheu vor Kilaan und mehreren Inseln im
Umkreis und obendrein vor seinem Halbbruder. Was genau der Anlass für seinen
Hass auf die Inseln und speziell die dort lebenden und laichenden Riesenkrabben
war ist nicht gänzlich klar... aber hartnäckige Überlieferung unter der Hand sagt, dass
Kasaaban den etwas jüngeren Tahaalin bei einem Treffen auf seiner Insel zur
Demütigung (nachdem der Jüngere den größeren Erbteil erhalten hatte) in eine zur
Sammlung der Krabben dienende Erdgrube stieß. Daraus resultierte eine Phobie und
ein lebenslanger Zwist zwischen den beiden.
Offiziell ließ Tahaaliin verlauten, dass er erst Kilaan übernehmen würde, wenn man
die Krabben alle entferne. Von ihm als Scherz gemeint namen die Insulaner dies
mehr als ernst. Zur nächsten Laichzeit sammelten die Menschen eifrig alle der Tiere,
jedoch nicht um sie zu essen, sondern um sie offen auf den Plätzen zu verbrennen
und so ihre Absicht kundzutun, dieses Ärgernis aus der Welt zu schaffen.
Tahaaliin soll einen Lachkrampf bekommen haben. Er weigerte sich weiterhin, jedoch
unkommentiert, während die Kriegsbote der Sviyinne Kilaan regelmäßige Besuche
abstatteten.
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Bei der wiederum nächsten Laichzeit - die Tiere versammeln sich dazu in den
tropischen Gewässern sechsmal im Jahr in unterschiedlichen Wellen - wiederholten
die Einwohner Kilaans die Sammlung und Verbrennung der Krabben. Zu diesem
Zeitpunkt befand sich die entfernt mit dem Herrscherhaus verwandte Nachtsängerin
Lutaalu auf Kilaan und erfuhr dadurch von dem Hintergrund der seltsamen Handlung.
Die Nachtsängerinnen Südselwes und des Meeres der Brücken sind eine
Gruppierung blinder Musikerinnen, die mit fortschreitenden Kenntnissen der Medizin
und Veränderungen in der Sozialstruktur amaTheras mittlerweile auf dem Kontinent
bis auf einige wenige alte Praktizierende ausgestorben ist. Speziell auf den Inseln
handelt es sich bei den Nachtsängerinnen um eine der wenigen Professionen für
Frauen, die sie aus der Familie heraus und ohne Hindernis von Insel zu Insel führen.
Wie auch auf anderen Kontinenten gibt es auf Selwe und im Meer der Brücken das
positive Vorturteil, dass blinde Menschen bessere Musiker seien als sehende. Daher
konnten sich blinde Frauen den Nachtsängerinnen anschließen und - wenn sie denn
auch tatsächlich eine Begabung besaßen - im Gesang von einer Lehrmeisterin
ausgebildet werden, bis sie auf sich gestellt umherreisten. Bekannt und beliebt für
ihre Balladen, aber auch für ihre Anekdoten, Witze und Spottlieder, waren sie im
selwe'schen Kulturkreis beliebte Gäste auf allen Inseln.
Lutaalu, blinde Cousine zweiten Grades von Tahaaliin, beschloss in ihrer Profession
als Nachtsängerin den Inselbewohnern Kilaans zu helfen. Und wohl auch den
Krabben, deren Verbrennung sie ein Ende setzen wollte - sie gilt bis heute als
sanftmütige und tierliebe Persönlichkeit.
In kürzester Zeit wurden ihre Spottlieder, die den Meerkönig als ängstlichen Versager
mit Angst vor Krabben und kleinen Kindern schilderten, auch im weiten Kreis um
Kilaan bekannt. Tatsächlich waren sie weit gehobener als die Obszönitäten, die auf
den heutigen Feierlichkeiten geschrien werden, verfehlten jedoch nicht ihre Wirkung.
Erbost über die Spottverse, die ihn überall begrüßten, stimmte Tahaalin einer
Annexion Kilaans zu. Seine Bedingungen jedoch erweiterten sich.
Erstens sollten weiter die Krabben wenn nicht schon ausgerottet, so doch von ihm
ferngehalten werden, wenn er sich auf Kilaan befand.
Zweitens mussten die Kindherrscher und ihre Mutter offiziell jeden Anspruch auf
Herrschaft und Erbe von sich weisen.
Drittens sollten die Spottlieder sofort verboten sein und nie mehr gesungen werden.
Viertens musste Lutaalu wegen Majestätsbeleidigung
Verwandtschaft - hingerichtet werden.
-
ungeachtet
ihrer
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Puntk vier stieß auf das Problem, dass es der Bevölkerung Kilaans schwer fiel, ihre
eigene Helferin hinzurichten. Es entstand eine Pattsituation, in der Kilaan auf allen
Seiten nur den Kürzeren ziehen konnte - entweder weiter Opfer der Übergriffe von
sviyinn'schen Piraten zu sein oder sich Tahaaliin ernsthaft zum Gegner zu machen.
Eine relativ kleine Gruppe höherer Bürger allerdings bedrängte die depressive
Herrscherwitwe, bei einer Scharade zu Gunsten fast aller mitzuspielen und ihre
Kinder dahingehend zu lenken. Schwer unter Drogen und Alkohol agierend gelang
es der kranken Frau auch, zwar als Marionette aber gerade eben ausreichend
glaubwürdig, die nötigen Handlungen zu vollziehen - sie sprach eine offizielle
Weigerung aus, Lutaalu hinzurichten und lud die Nachtsängerin zu ihrem Schutz
nach Kilaan in.
Im Gegenzug wurde Tahaaliin unter der Hand zugespielt, dass Kilaan oder besser
seine unfähigen Herrscher allen Bedingungen zustimmen würden - allerdings wäre
ein kleines Schauspiel nötig... Offiziell gab es diese Absprachen nie, allerdings haben
sich die Gerüchte darüber fast ein Jahrhundert hartnäckig gehalten.
Lutaalu, beunruhigt über die Forderung ihrer Todesstrafe, ging nur zu gerne auf das
Angebot eines Asyls ein und reiste nach Kilaan - lieber wollte sie mit
Piratenübergriffen leben als mit einem Kopfgeld. Allerdings wurde sie kurz nach ihrer
Ankunft schon festgesetzt. Für ihre eigene Sicherheit, so wurde es öffentlich
gemacht, erhielt sie eine Unterkunft im bescheidenen Palast der Stadt und durfte
diesen nur mit Begleitung verlassen.
Wenige Spannen (von zehn Tagen) später erschien Tahaaliin Upumiiru, humorloser
Meerkönig und Krabbenphobiker, mitsamt seiner gänzlichen Kriegsflotte im Hafen
von Kilaan und eroberte Stadt und Insel im Handstreich.
Um ihn nun 'gnädig zu stimmen' willigten die Zwillinge und ihre Mutter ein, den vier
Forderungen Tahaaliins ohen weitere Verzögerung nachzugeben. Tahaaliin willigte
ein und somit war der Krieg des Meerkönigs gegen die Krabbeninsel in nur wenigen
Stunden bereits beendet und die Absprache gelaufen wie geplant.
Tahaaliin ließ sich im Palast nieder, aus dem er Zwillinge und die sichtlich
überraschte Witwe vertrieb, die offenbar nicht mit dieser drastischen Wendung
gerechnet hatte, und wohnte den Verbrennungen bei - der der Krabben und der von
Lutaalu. Die hilflose Sängerin wurde betäubt dem Scheiterhaufen überantwortet,
wenn auch die Wortführer Kilaans ihrem neuen Herrscher und ihren Mitinsulanern
weiß zu machen versuchten, dass Lutaalu sich freiwillig opferte. Bis heute ist das
auch die offizielle Version, jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass die begabte und
junge Sängerin eingewilligt haben soll, unter Drogen lebendig verbrannt zu werden.
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Allerdings machte sich die wenig ruhmvolle Tat direkt bezahlt: der nächste Übergriff
von Sviyinne wurde vom anwesenden König und seinen Truppen direkt und blutig
zurückgeschlagen und von da an stand Kilaan offiziell unter dem Schutz des
Meerkönigreichs. Zwar ist der eigene Zweig des Herrschergeschlechtes durch einen
anderen ersetzt worden - makaberer Weise von einem Cousin aus der Linie Lutaalus
- aber die Position als Vasallenstaat hat sich stabil seither gehalten.
Die Einwohner Kilaans haben davon sichtlich profitiert und auch das Meerkönigreich
nutzt die Insel inzwischen als wichtige Station für Nachschub in den Kriegen um das
Meer der Brücken. Gründe genug, das historische Ereignis alljährlich mit dem
aufwändigen Puppentanz und der Verbrennung der Krabben zu feiern, die die
Geschehnisse in bizarrer Form nacherzählen sollen. Warum genau auch die Figuren
des Königs, seiner Soldaten und der Kindherrscher verbrannt werden ist unklar.
Tatsächlich hat sich nach der 'Eroberung' Tahaaliin nie wieder auf dem verhassten
Kilaan aufgehalten, auch zu den feierlichen Krabbenverbrennungen nicht, und ist auf
einer gänzlich anderen Insel am anderen Ende seines Reiches verstorben und
brandbestattet worden. Vermutlich fußt dieser Teil des Brauches auf der Tatsache,
dass ohnehin alle Puppen alljährlich neu gebaut werden müssen, da das Material
nicht ausreichend beständig ist, um alte neu zu verwenden.
Dass die Witwe des Herrschers namentlich kaum bekannt ist und auch keine eigene
Vertretung als Tanzpuppe besitzt... mag an ihrer Unbeliebtheit liegen oder an ihrer
durch Krankheit und Fehlverhalten verschuldeten geringen Bedeutung.
Fazit
amaTheranern ist das Fest auf Kilaan vor allen Dingen durch die Schilderungen
Padamun Caams bekannt, der dort mehrere Spannen nach der Schlacht von Sukyan
verbrachte um sich zu erholen und wohl zu seinem Unglück (und als weitere
Belastung seines fragwürdigen Geisteszustandes) die Krabbenverbrennungen
miterlebte. Die Szenen aus seinem Buch prägen weitgehend die Sicht der
amaTheraner und damit der in ihren eigenen Augen fortschrittlichsten Zivilisation der
Hemisphäre von Kilaan, nämlich das eines unverständlichen, primitiven Ortes voller
abstoßender Bräuche und Geschehnisse. Die Einwohner umliegender Inseln und die
Sviyinne sehen die Kilaane als seltsame Menschen an und auch sie irritiert der
Brauch - aber das wird keinen einzigen Einwohner der Insel abhalten, davon
abzulassen, selbst wenn um sie das Meer der Brücken in Flammen aufgeht.
Daher wird wohl auch in Zukunft jedes Jahr kurz nach Frühlingsbeginn der Gestank
verkohlender Krustentiere über die Insel ziehen und alle Fremden abschrecken,
Kilaan jemals wieder zu besuchen.
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Taipan
Harasalanfeuernacht
oder: das Feuerpuppenfest
Jedes Jahr in der Nacht vom 28. zum 29. Tedmuin, also in der Nacht vor dem
Haagester Unabhängigkeitstag, kann man in ganz Haagest große Scheiterhaufen
sehen, auf denen Strohpuppen mit Tonköpfen verbrannt werden, umringt von den
feiernden Massen. Viele Fremde und wohl auch einige weniger gebildete
Einheimische vom Land halten diesen Brauch wohl für einen Teil des
Unabhängigkeitsfestes, doch haben beide Feste – zumindest direkt – nichts
miteinander zu tun. Denn die Harasalanfeuernacht, die eher unter dem Namen
Feuerpuppenfest bekannt ist, ist nicht nur mehr als zweihundert Jahre älter, ihr
Entstehen ver-dankt sie auch einem Ereignis, das nicht gegensätzlicher zur
Unabhängigkeit Haagests sein könnte.
Kränkliche Könige, machtgierige Aristokraten und ein gründlicher Kaiser
Die Wurzeln für die Ereignisse, die zur Harasalanfeuernacht führten, gehen tief
zurück, bis zum Beginn der Königszeit in Haagest, als sich die großen
Handelshäuser, die bis dahin die Macht in Haagest hatten, sich in der Messerzeit
(659 – 689 n. MF) derartig dezimierten, dass sie nichts dagegen tun konnten, als sich
Alertare von Tarhilat 689 n. MF zur ersten Königin von Haagest ernannte. Um die
Macht in der Familie Tarhilat zu halten, wurde eine schon fast in Vergessenheit
geratene Tradition aufgegriffen, Alertare wurde mit ihrem Onkel verheiratet, und sie
war nicht einzige der nun folgenden Königinnen und Königen6, die mit einem engen
Blutsverwandten vermählt wurde. In der Folge gab es tatsächlich nur vier ernst zu
nehmende Versuche, die Tarhilats zu entmachten und nur eine einzige Königin
entstammte dem Haus Karnell. Die Verwandten- zum Teil sogar Geschwisterehen
hatten aber ihre Folgen: Die Tarhilats waren bald ständig krank, lebten allgemein
nicht sehr lange und sahen sich schließlich alle sehr ähnlich, auch was ganz
besondere Familienmerkmale betrifft. Zwei oder mehr verwachsene Finger zu haben
galt (und gilt noch heute) als sicherster Beweis mit dem Hause Tarhilat verwandt zu
sein, und da die Tarhilatmänner nicht gerade dafür bekannt waren treue Ehemänner
zu sein, gibt es auch genug Nichtaristokraten, die ganz offensichtlich Tarhilats sind.
Schlimmer wirkte sich der Inzest aber auf den Verstand und die
Zurechnungsfähigkeit der Herrscher aus und so kann man davon ausgehen, dass in
den letzten fünfzig Jahren der Königszeit nicht die Königinnen sondern deren Berater
Haagest regierten, die leider auch zu oft Tarhilats waren. Um die Zustände zu ändern
– und natürlich auch um selbst an die Macht zu kommen – verbündeten sich einige
Aristokratenhäuser, um die Tarhilats zu stürzen. Die wichtigsten Verschwörerfamilien
waren Karnell und Harasalan, zwischen denen es auch zu einem Streit kam, denn
Karnell wollte die Sache selbst regeln, während das Haus Harasalan, das gute
Verbindungen zu Tanibed, sogar zum Kaiser Raut XII persönlich pflegt, dafür war,
das mächtige Kaiserreich Tanibed um Hilfe bei dem Umsturz zu bitten. Karnell setzte
sich durch, was Harasalan aber nicht davon abhielt Kaiser Raut von dem geplanten
Umsturz zu informieren und um Soldaten zu bitten. Harasalan bekam ohne viel
6 Die Gesellschaft der Auir ist matriarchalisch aufgebaut, daher gab es auch deutlich mehr Königinnen
als Könige.
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betteln zu müssen die gewünschte Verstärkung – über 50.000 gut ausgebildete
Soldaten, mehr als die ganzen Verschwörer selbst aufbringen konnten – und sogar
der Kaiser selbst kam mit. Gegen eine solche Truppenübermacht konnte Tarhilat
nichts ausrichten, Königin Erashnasiri III fiel genauso den Schwertern der
Verschwörer zum Opfer wie auch viele Tarhilats, die nicht klug genug waren,
rechtzeitig die Seiten zu wechseln. Zur Überraschung der Verschwörer dachte der
Kaiser aber nicht daran nun Haagest zu verlassen, sondern richtete ein provisorische
Regierung im klimatisch milden Nadarost ein – das heiße Belhork war bis zu diesem
Tag die Hauptstadt von Haagest – verteilte seine Soldaten an strategisch wichtigen
Stellen und ließ noch mehr auf die Insel einschiffen. Die wenigen Versuche den
Kaiser mit Waffengewalt wieder dazu zu bewegen die Insel zu verlassen, schlugen
allesamt fehl, hatten sich die kaiserlichen Truppen doch bei dem blutigen Umsturz
zurückgehalten und waren den Auir nun deutlich überlegen. Am 12. Tedmuin lud der
Kaiser alle wichtigen Personen von Haagest in die neue Hauptstadt und teilte ihnen
mit, dass er Haagest zum einem Protektorat von Tanibed mache, um die Bewohner
der Insel vor unfähigen Herrschern wie den verderbten Tarhilats und vor reulosen
Verrätern wie den Harasalans zu schützen. Die Aristokratie war natürlich empört –
allen voran die Harasalans – konnte aber nichts dagegen tun, dass die meisten
aktiven Verschwörer und alle Harasalans, die sich damals in Nadarost aufhielten,
festgenommen und nach Auir-recht des Hochverrats angeklagt wurden und am 28.
Tedmuin des Jahres 1004 n. MF auf dem Scheiterhaufen starben, am gleichen Tag,
an dem sich Raut XII öffentlich zum Schutzherrn von Haagest ernannte.
Die Harasalanfeuernacht zu Zeit der Besatzung
Raut XII verließ schon wenige Monate später Haagest, setzte aber Statthalter ein,
die sich allerdings wenig beliebt machten, da sie nicht unabhängig handeln konnten
und der Kaiser in Tanibed, von dem sie die Befehle erhielten, die Situation nicht so
gut einschätzen konnte wie die Leute vor Ort. Die Folge waren bürgerkriegsähnliche
Zustände, denen die Besatzer kaum Herr werden konnten. Die Versuche, die
Bevölkerung mit Massenhinrichtungen einzuschüchtern – in der Nacht von 28. auf
den 29 Tedmuin wurden jedes Jahr tatsächliche und vermeintliche Verschwörer egal
welchen Ranges verbrannt, was fast zu einer Auslöschung des Hauses Harasalan
führte – schürten eher den Zorn und die Entschlossenheit der Haagester. Kaiser
Raut XIII gab daher nach dem Tod seines Vater 1029 die gesamte Herrschaft über
Haagest in die Hand eines würdigen Vertreters, eines Eparchen, der praktisch
unabhängig über Haagest herrschte und nur Steuern an Tanibed abzuliefern hatte –
allerdings natürlich vom Kaiser auch wieder abgesetzt werden konnte. Eine der
ersten Handlungen des ersten Eparchen Corndelon von Murnshel bestand darin, die
Massenhinrichtungen zur Harasalanfeuernacht – der Name hatte sich bereits
eingebürgert – gänzlich zu verbieten, und ließ stattdessen Strohpuppen verbrennen.
Die Haagester nahmen diese Umstellung gerne an und entwickelten in den
folgenden Jahren einen großen Ehrgeiz darin, die Strohpuppen besonders
künstlerisch zu gestalten. Sie bekamen Köpfe aus Ton, die oft manchem verhassten
Machthaber sehr ähnlich sahen, füllten die Tonköpfe mit Ölen und den Strohkörper
mir den aromatischen Blättern des Blaublattstrauches, damit es beim Verbrennen
angenehm roch. Corndelon von Murnshel hatte nichts dagegen, dass einige der
Tonköpfe auch seinem Gesicht sehr ähnlich sahen, andere Eparchen zeigten da
weniger Verständnis, richtig verbieten konnte es aber keiner. Eparchen, die keinen
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Spaß verstanden und die Puppenmacher verhafteten, mussten damit rechnen, dass
im nächsten Jahr so gut wie jede Puppe sein Gesicht trug – und alle Haagester
konnte man schließlich schlecht verhaften, vor allem weil sich auch Tanibeder immer
häufiger am Puppenmachen beteiligten.
Ein Fest überlebt
Gründe, warum die Harasalanfeuernacht noch immer gefeiert wird, obwohl die
Besatzer schon lange Haagest verlassen haben, gibt es einige. So bilden Tanibeder
einen nicht zu unter-schätzenden Teil der Haagester Bevölkerung, die zwar großteils
froh darüber sind Bewohner eines unabhängigen Haagest zu sein, trotzdem aber in
der Eroberung Haagests durch Tanibed durchaus etwas Positives sehen. Tanibed hat
Haagest schließlich so etwas wie Zivilisation gebracht und die Aristokratie so weit
entmachtet, dass sie keinen Schaden mehr anrichten kann. Andererseits war das
Fest zur Zeit der Besatzung aber auch bei den Auir und sogar den Grobor äußerst
beliebt, war es doch eine der wenigen Gelegenheiten zu feiern, ohne die Besatzer zu
verärgern – und auch eine Gelegenheit sich über diese lustig zu machen. Der
Hauptgrund dürfte aber am Ende des Krieges der Hand, des haagester
Unabhängigkeitskrieg, selbst liegen. Taranis Batraal plante nämlich die Fenedanburg
in Nadarost, den Herrschaftssitz der Eparchen, am 28. Tedmuin einzunehmen und
somit die tanibedische Besatzung am Jahrestag ihres Beginns zu beenden. Das
ehrgeizige Ziel ging nicht ganz auf, zum einen da sich die stark dezimierten
Verteidiger der Fenedanburg von der Kraft der Verzweiflung getrieben in äußerst
hartnäckige Gegner verwandelten, aber auch ein starker Sturm behinderte den
Ansturm, sodass die Fenedanburg einen Tag später in die Hände der Rebellen fiel
und damit Haagest offiziell erst am 29. Tedmuin frei wurde. Beide Feste fielen daher
nur fast zusammen, weshalb fortan auch beide gefeiert wurden.
Als fünf Jahre später die Auiraristokartie immer lauter forderte die Macht wieder zu
über-nehmen,
lud
Taranis
Batraal
Vertreter
aller
Adelsfamilien
zur
Unabhängigkeitsfeier in Nadarost ein, um darüber zu diskutieren und bat sie schon
etwas früher zu kommen. Alle kamen spätestens am 28. Tedmuin und sie alle
wurden Zeugen der größten Harasalanfeuer-nacht, die es jemals gegeben hatte. Die
Puppen, die brannten, waren hoch wie Häuser und trugen die karikierten Gesichter
der geladenen Aristokraten, der Blaublattrauch erfüllte die ganze Stadt und raubte
den Nadarostern den Atem. Jeder der hochgeborenen Gäste verstand die Geste und
keine Familie wagte es fortan, laut irgendwelche Herrschaftsansprüche zu stellen.
Schon das allein ist aus der Sicht der haagester Regierung ein Grund dafür zu
sorgen, dass die Harasalanfeuernacht auch weiterhin gefeiert wird, genau so wie zur
Zeit der tanibedischen Besatzung.
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Veria
Das Funkenturmfest
Wer lange genug in der dilnayatischen Hauptstadt Seliaris verweilt wird zweifellos
Zeuge des wildesten Festes, das die Stadt überhaupt bieten kann. Die an sich als
wichtiger angesehene Feier der Krönung eines neuen dilnayatischen Kaisers geht im
Alltag unter, während das Funkenturmfest die Bewohner der Stadt ebenso wie
zahlreiche Besucher zugleich fesselt und befreit.
Am dritten der Turmtage, die sogar nach dem Fest benannt wurden, erbauen die
kräftigen Männer der Stadt auf dem schwarzen Platz, einem der Marktplätze, aus
dem Holz der Koreniste einen Turm, der nur vom Schlagturm des Palastes überragt
werden soll. Eine lebensgrosse Holzfigur in Rüstung wird im Inneren des Turms
versteckt und während der Nacht müssen die Baumeister ihr Werk und den
wehrlosen Holzsoldaten bewachen und verteidigen, denn die Frauen der Stadt
versuchen, den Helm des Soldaten zu erbeuten.
Mit Morgengrauen des vierten der Turmtage ist dieses Spiel vorbei und das
eigentliche Fest beginnt: Mit dem berauschenden Tee aus dem Anassatal oder
hohen Fruchtweinen dem Alltag entrückt tanzen die Feiernden um den Holzturm,
legen mit Dreieckshölzern bunte Mosaike auf den schwarzen Steinboden des Platzes
und zünden schliesslich den Holzturm an.
In früheren Zeiten war die Rettung des Soldaten eine Mutprobe für junge Leute, doch
inzwischen wird kein Leben mehr riskiert. Ein Mitglied der städtischen Feuerwehr
trägt die Holzfigur ins Freie und wird dafür von den Anwesenden überschwänglich
gelobt.
Die Konstruktion des Turmes ist zwar so ausgelegt, dass er in sich
zusammenstürzen und nicht umfallen soll, dennoch stehen üblicherweise gut hundert
Magier bereit, einen Sturz in die Menge zu verhindern. Sie feiern dafür mit einem Tag
Verspätung mit einem nur einen Stab7 hohen Turm im Hof der Universität Seliarnaya.
Im Gegensatz zu den Frauen der Stadt, die nur selten den Helm erbeuten, haben die
Studentinnen meist Erfolg, was vermutlich an der geringeren Grösse des Turmes
liegt.
Bewohner der Stadt kennen all dies von klein auf, während Besucher auf einige
Besonderheiten aufmerksam gemacht seien:
1. Der allgegenwärtige süssliche Geruch, der an Bendriben-Beeren erinnert, stammt vom Harz des
Koreniste-Holzes. Man muss die Kleidung in Essig waschen, um den Geruch wieder loszuwerden.
Waschlauge hilft dagegen überhaupt nicht.
2. Es wird sehr ungern gesehen, wenn man Tee und Wein durcheinander trinkt. Wenngleich die
Seliarnaien das an anderen Tagen auch gerne praktizieren, an diesem Tag entscheidet man sich für
eine Art Getränk. Für Leute, die Tee-Wein-Mischungen trinken, soll es sogar schon Schläge gegeben
haben.
3. Auswärtige Wachsoldaten von hohen Besuchern sollten ihren Helm gut festzurren. Flinke Frauen
nehmen ihnen diesen sonst ab und geben ihn erst am folgenden Tag zurück. Für den Fall, dass doch
ein Helm verlustig geht, gibt es Helmsammelstellen in der Universität Seliarnaya, der KiptabvalanKaserne und am Platz vor den Zwillingstempeln.
4. Die Fenster der Unterkunft sollten trotz des heissen Wetters fest verschlossen werden, damit der
Geruch nicht in die Teppiche, Matratzen und Polster dringt. Diese Dinge zu reinigen wird dem Gast
meist recht teuer in Rechnung gestellt.
7 1 Stab = 3,88 Meter
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5. Wenn kein Fest stattfindet, obwohl nach demerischem Kalender je nach Schaltjahrsituation der
zwölfte, 13. oder 14. Tag der Zeit der Sonne ist, ist das demerische Jahr ungeradzahlig. Die Jahre des
nevalischen Kalenders, der in Dilnaya gilt, sind doppelt so lang, daher wird nur in geradzahligen
demerischen Jahren gefeiert. Die Reise ist dennoch nicht vergeblich, acht Tage nach dem falschen
Datum findet das Midazzima-Tanzfest statt.
Der Hintergrund des Funkenturmfestes
Man mag sich kaum vorstellen, dass das rauschende Funkenturmfest auf ein
Ereignis zurückgeht, das dem Kaiserreich Dilnaya auf einen Schlag gut die Hälfte
seines Gebietes nahm. Es war am 14. Tag der Zeit der Sonne des Jahres 8102, was
dem vierten der jetzt Turmtage genannten Goldweisstage des nevalischen Jahres
4051 entsprach, dass die kalarischen Truppen unter Speermeister Yabilal Merun
sieben Kontingente der dilnayatischen Armee schlicht überrannten.
Angeblich konnte Kaiser Yaudzabe die Niederlage fünf Tage lang nicht glauben.
Immerhin waren die dilnayatischen Kontingente den Kalariern mehrere Wochen lang
hinterhergejagt und die kaiserlichen Heerführer hatten ihm den Sieg für die nächsten
drei Tage vorausgesagt. Speermeister Yabilal allerdings hatte seine Leute sich den
kaiserlichen Kontingenten immer wieder zeigen lassen, damit diese die Verfolgung
weiterführten und müde, hungrig und unzufrieden wurden, während die meisten
Kalarier weit hinter den Linien in Ruhe ihre Kräfte sammeln konnten.
So hatten die Dilnayater schlussendlich nicht mehr die Kraft, die Kalarier
abzuwehren, und der Kaiser keine andere Wahl, als das besetzte Gebiet abzutreten,
nachdem er sich bekannterweise zunächst zwei Tage lang mit Wein und dann drei
weitere Tage lang mit lavischem Tee betrunken hatte.
Eine kleine historische Randnotiz betrifft den dilnayatischen Grenzturm Kibskebo. Ein
dilnayatischer Grenzwächter war im brennenden Turm eingeschlossen, während
seine Kameraden draussen gegen die Kalarier kämpften. In einem unglaublichen
Anfall von Lebensachtung unterbrachen die Verfeindeten den Kampf, um den
Grenzwächter aus dem Feuer zu holen - und nachher weiterzukämpfen.
Für die Rettung gab es sowohl von Speermeister Yabilal als auch von Kaiser
Yaudzabe nur Tadel, doch das Volk hatte seine Helden und überlieferte die
Randnotiz ausgeschmückt über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Erst im demerischen
Jahr 8444, als das Kaiserreich Dilnaya schon einige Zeit lang nur mehr aus der Stadt
Seliaris und deren Umland bestand, liess Kaiser Kilansvi das erste Funkenturmfest
ausrichten.
"Es mag Kriege geben", sagte er damals, "doch selbst sie sind nicht das Ende für
Achtung und Hilfsbereitschaft."
So einige Dilnayater, die das Land zu altem Glanz bringen wollen, sträuben sich
noch immer, das Funkenturmfest zu feiern, aber sie werden weniger. Immerhin hat
Kaiser Kilansvi ja mit Kalarien auch das aktive und passive kalarische Wahlrecht für
Dilnayater ausgehandelt, während in Dilnaya im Gegenzug mit wenigen Ausnahmen
jedes kalarische Gesetz sofort ebenso gültig ist wie in Kalarien selbst.
Und mit dem demerischen Jahr 8516 zog Kaiser Nerazde sogar als einer von 26
Vertretern von Seliaris ins kalarische Parlament ein.
Nur, warum der Helm erbeutet werden soll, das weiss niemand so genau.
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PFLANZENART
Aufgabenstellung
Diese Pflanze wächst an sehr unzugänglichen Orten, doch in der
Vergangenheit hatte sie einen hohen Stellenwert und durfte zudem nur
von bestimmten Personen geerntet werden. Inzwischen ist ihre
Bedeutung jedoch stark gesunken/ist sie fast unwichtig geworden.
Beschreibe auch, warum es zu dem Wechsel des Stellenwertes
gekommen ist.
Zeit für die Bearbeitung:
27.07. - 02.08.
Teilnehmer:
1. Platz
Veria
Die blaue Gletscherzibbe
(83 Punkte)
2. Platz
Gerion
Die Khalenzblume
(73 Punkte)
3. Platz
Malacai
Die Hochzeitspflanze
(65 Punkte)
Jury:
Gomeck
Mara
Taipan
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Gerion
Die Khalenzblume
Die Khalenzblume ist eigentlich eine recht unscheinbare Erscheinung, und den
Wenigsten bekannt. Dennoch war sie in der Vergangenheit für die Katzenmenschen
von immenser Bedeutung, außerdem ist diese Pflanze eines der vielen Beispiele
dafür, wie die technische Entwicklung der letzten 30 Jahre die Tradition überholt hat.
Die Khalenzblume ist ein maximal ein Spann hohes Gewächs, das immer in
Büscheln aus drei Stängeln wächst, die aus einer einzelnen, etwa
daumennagelgroßen Knolle entspringen. Die Stängel selber sind leicht pelzig und an
ihm entspringen etwa ein Dutzend mit langen Haaren versehene lange, dünne
Blätter, die stark zerfasert sind und in alle Richtungen kreuz und quer wachsen,
wodurch die ganze Pflanze das Aussehen eines dunkelgrünen, pelzigen,
chaotischen Büschels erhält, aus dessen Mitte drei Blüten ragen. Jede dieser Blüten
ist, wenn aufgeblüht, matt gelb, mit sieben spitzen und dünnen Blütenblätter, die
etwa so lang wie ein kleiner Finger sind. Doch die Blume erblüht zu sehen, ist eine
Seltenheit, denn sie blüht nur etwa eine Woche im Jahr, immer mit dem Einsetzen
der Regenzeit.
Die Khalenzblume ist nicht weit verbreitet, hat sie doch sehr spezifische Bedürfnisse.
Sie braucht trockenes, kühles Klima, verträgt nicht allzu oft Frost und benötigt
speziellen, sehr kargen Boden, weshalb sie nur in Steillagen der Steppengebiete ab
einer gewissen Höhe gefunden wird.
Was den wenigen menschlichen Botanikern nicht aufgefallen ist, ist die Tatsache,
dass diese Pflanze in zwei verschiedenen Varianten vorkommt, die sich nur
unwesentlich in kleineren Details wie der Kräftigkeit des Grüntons der Blätter
unterscheiden, wobei beide Varianten Codominant sind, also in etwa gleich häufig
vorkommen. Den Nayu, die ursprünglich aus diesen Steppen kommen, ist diese
Unterscheidung aber bekannt. Sie sehen die Blume als zwei unterschiedliche
Blumen, die sie Karula und Kariga nennen, die wie Schwestern immer zusammen
wachsen. Weil sie aber kaum auseinander zu halten sind, ist sehr viel Übung dafür
notwendig, sie zu unterscheiden. Wenn man ein einzelnes Exemplar sieht, kann man
fast nie sagen, welcher Variante sie angehört, erst im Vergleich mit anderen Pflanzen
kann man sie einordnen. Diese Varianten zu unterscheiden ist Aufgabe der Weber
eines Stammes, die als Einzige die Erlaubnis haben, diese Pflanze zu ernten.
In den Knollen der Karula steckt ein Enzym, das für die Herstellung von Katzenseide
benötigt wird. Es denaturiert bestimmte Eiweißkomponenten und schweißt sie
zusammen, so dass aus der zähen Brühe, die als Ausgangsstoff aus verschiedenen
Substanzen besteht, Fasern gewonnen werden können. Diese Fasern sind sehr
elastisch und reißfest, sie besitzen eine ähnliche Struktur wie diverse moderne
irdische Kunstfasern. Das Problem ist allerdings, dass eben dieses Enzym in den
Knollen der Kariga anders aufgebaut ist, wodurch der Prozess der Faserbildung
unterbrochen wird, was einen ganzen Herstellungszyklus zugrunde richten kann,
sollten zu viele dieser Knollen hinein geraten. Deshalb ist es auch nur dem Weber
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erlaubt, die Knollen zu ernten, da dieser die Pflanzen unterscheiden kann, außerdem
hat er genügend Schulung darin, mit Hilfe der Karigaknollen die Faserbildung zu
kontrollieren, wodurch er unterschiedliche Faserlängen und damit unterschiedliche
Festigkeiten der Stoffe erreicht, je nach geplanter Anwendung.
Da die Pflanze sehr selten ist, zumindest war, und für die Stoffproduktion sehr
wichtig, bestand eine dauerhafte Nachfrage nach den Knollen, so sehr, dass diese
unter Nayustämmen bei Tauschgeschäften sogar als eine Art Währung eingesetzt
wurden, obwohl die Katzenmenschen eigentlich kein Geld kennen. Heute jedoch ist
die Nachfrage nach den Knollen eingebrochen, und Schuld dafür ist die technische
Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
Bei dem Versuch, hinter das Geheimnis von Katzensamt zu kommen, hat ein findiger
menschlicher Chemiker vor einigen Jahren einen Weg gefunden, den Stoff auf
synthetischem Weg herzustellen. Zwar war der Weg schon immer synthetisch,
immerhin wurde letztlich das hergestellt, was man bei uns als Kunstfaser kennt, aber
er kam ohne die Khalenzknollen, ohne die Meisten der benötigten Substanzen aus,
insbesondere ohne Körpersubstanzen der Nayu aus, im traditionellen Rezept waren
nämlich davon einige benötigt. Stattdessen stellte er die Faser vollkommen künstlich,
lediglich aus einigen häufig vorkommenden Pflanzlichen Teilen wie Holz, und einigen
Chemikalien her. Als guter Wissenschaftler, aber nicht sehr findiger Geschäftsmann,
vermarktete er seine Entdeckung nicht, sondern teilte sein Wissen mit einigen
Nayustämmen, die ihm im Gegenzug ein gemütliches Leben finanzierten. Die
Stämme haben das Wissen an andere Stämme weiter gegeben, allerdings nicht an
andere Völker, wodurch zwei Entwicklungen in Gang getreten wurden.
Zum Einen gab es kaum noch Nachfrage nach den Knollen, weil sie für den neuen
Herstellungsweg nicht mehr nötig waren, zum Anderen konnte dadurch Katzensamt
in größeren Mengen hergestellt werden, was zur Folge hat, dass es inzwischen eine
Handelsware wurde, und nicht mehr nur exklusiv von Nayu getragen wird. Dennoch
halten die Nayu die Produktion so niedrig, dass der Samt als seltene Ware gilt, also
recht teuer ist.
Die Nachfrage nach den Knollen ist aber nicht ganz zum Erliegen gekommen. Es gibt
gewisse kleinere Unterschiede zwischen dem klassischen Katzensamt und dem
künstlichen, so dass immer noch, für besondere Kleidungsstücke kleine Mengen des
traditionellen Samts hergestellt wird.
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Malacai
Die Hochzeitspflanze
Die Hochzeitspflanze kommt nur im äquatorialen Regenwald Ossirlacs vor. Da ein
Großteil des Regenwaldbodens mit Wasser bedeckt ist, lebt sie als Aufsitzerpflanze
auf den Ästen größerer Bäume. Sie ist am meisten im oberen Kronenbereich zu
finden, da sie dort die meisten Sonnenstrahlen abbekommt.
Die Pflanze besteht aus einer großen Rosette mit 1 Meter Durchmesser. Die Blätter
sind dick und fleischig und fungieren als zusätzliches Speicherorgan. Am Stamm
sind sie etwa 10 cm breit und verjüngen sich zur Blattspitze hin. Sie sind
trichterförmig angeordnet und lenken somit Regenwasser und herabfallende Blätter
in die Pflanzenmitte. Das Regenwasser wird somit direkt zu den Wurzeln geleitet und
dort von einem Schwammgewebe aufgesogen und an die Wurzeln weitergegeben.
Der 15 cm hohe und eben so breite Stamm der Pflanze ist hohl und von einer
speziellen Ameisenart bewohnt. Hochzeitspflanze und die Ameisen sind eine enge
Symbiose eingegangen. Die Pflanze gibt den Ameisen ein Nest und die Ameisen
säubern die Pflanze von Schädlingen und versorgen sie mit Nahrung. Die Ameisen
legen Blätter und Insekten in eine spezielle Kammer des Stammes. Viele kleine
Wurzelfäden ragen aus den Wänden der Kammer und nehmen die Nährstoffe auf.
Als zusätzliche Nahrungsquelle bildet die Pflanze Scheinblüten aus, welche viele
Nachtfalter anziehen. Die Falter fliegen in die Becherförmige Blüte und landen auf
einem mit klebrigem Sekret bestrichenen Boden. Die Ameisen, die durch bestimmte
Strukturen in ihrem Chitinpanzer nicht kleben bleiben, sammeln die Falter ein und
bringen sie ins Nest, wo die Beute mit der Pflanze geteilt wird.
Die Hochzeitspflanze bildet eine große, becherförmige, weiße Blüte, welche sich in
der Abenddämmerung öffnet. Die Blüte enthält viel Nektar und verströmt einen
fruchtigen Geruch, der Fledermäuse anzieht, welche für die Bestäubung zuständig
sind. Die Blüte ist für Fledermäuse leicht zu orten, da sie durch die Stellung der fünf
Blütenblätter den Schall gebündelt zurückwirft. Trinkt eine Fledermaus von dem
reichlich vorhandenen Nektar krabbeln die Ameisen durch ihr Fell und säubern es
von Milben und Parasiten.
Der Lemgo-Zyklus
Da im Äquatorgebiet die Jahreszeiten nicht merklich ausgeprägt sind, richtet sich die
Hochzeitspflanze nach dem Laubabwurf ihres Wirtsbaumes, dem Lemgobaum.
Wenn der Lemgobaum genug Reserven angelegt hat, wirft er seine Blätter ab.
Zeitgleich legt der Lemgofalter seine Eier an den Astspitzen ab. So schlüpfen die
Raupen grade rechtzeitig um die neuen Blatttriebe zu fressen. Die Raupen wiederum
sind Futter für die Ameisen und die Hochzeitspflanze. Die Raupe des Lemgofalters
bildet einen Giftstoff, der sie vor Fressfeinden schützt. Die Ameisen und die Pflanze
jedoch sind immun dagegen. Bei ihnen regt der Giftstoff das Züchten von
Jungköniginnen und das Bilden von Scheinblüten an.
Haben sich die Raupen dann voll gefressen verpuppen sie sich. In der Zeit bildet der
Lemgobaum neue Blätter und Blüten, welche dann von den Frisch geschlüpften
Lemgofalten bestäubt werden. Einige Falter jedoch verirren sich in den Scheinblüten.
Sie liefern die nötigen Nährstoffe um die große Blüte zu bilden. In der folgenden Zeit
sind Nährstoffe im Überfluss vorhanden, denn der Lemgobaum bildet bis zu einer
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halben Million winziger Beeren. Die Ameisen füllen die „Speisekammer“ der Pflanze
jeden Tag bis zur Decke mit winzigen pfirsichfarbenen Früchten. Diese liefern den
Zucker für den vielen Nektar der Blüte.
Wenn nun Fledermäuse die Blüte besuchen nehmen sie nicht nur Blütenpollen,
sondern auch gleich geschlechtsreife Ameisenmännchen und Jungköniginnen mit.
Fliegt die Fledermaus eine noch unbewohnte Pflanze an, die für ihre erste Blüte noch
auf Nährstoffe von herabfallenden Blättern angewiesen war, gründen die Ameisen
dort eine neue Kolonie. Doch wenn die Fledermaus nun an eine Blüte einer bereits
besetzten Pflanze kommt, versucht die Jungkönigin die alte Königin zu töten und das
Volk zu übernehmen. Die ankommenden Männchen hingegen kämpfen darum wer
sich mit der Königin paaren darf und damit alle Eier befruchten darf, die bis zur
nächsten Blüte der Hochzeitspflanze von der Königin gelegt werden.
Die bestäubten Pflanzen bilden inzwischen schon Samenkapseln mit kleinen Samen
aus. Diese werden vom Seifalkäfer verzehrt, welcher sonst herabgefallene Blätter
oder alte Früchte frisst. Dadurch werden die Samen unverdaut an den Futterstellen
des Seifalkäfers ausgeschieden, wo sich Humus ansammelt und somit gute
Starbedingungen für die Pflanze herrschen.
Inzwischen sammelt der Lemgobaum wieder Reserven für die nächste Blüte.
Der Hochzeitsbrauch
Es war lange Zeit Brauch bei den Menschen Ossirlacs, dass, wenn ein Paar heiraten
wollte der Mann eines Abends auszog um eine blühende Hochzeitspflanze zu
pflücken. Da sie nur hoch oben in den Kronen wächst und zu keiner bestimmten Zeit
blüht war sie sehr schwer zu bekommen. So musste die meisten Suchenden
mehrere sich Meilen durch die Baumkronen kämpfen um ein blühendes Exemplar zu
finden. Fand man eins, musste man die Nacht auf dem Baum verbringen, denn
niemand bei Verstand würde in der Dunkelheit durch die Kronen klettern. Es war so
schon gefährlich genug, denn fleischfressende Insektenschwärme, große
Würgeschlangen, riesige Raubvögel und viele andere Gefahren lauerten in den
Baumkronen. So kam es, dass nicht alle, die auszogen, auch zurückkehrten.
Doch die, die zurückkehrten, überbrachten ihrer Verlobten die Hochzeitsblume zum
Zeichen, dass sie fähig waren, sich in den Baumkronen zurechtzufinden und somit
die Ernährung einer Familie zu gewährleisten. Die Hochzeit wurde dann am
nächsten Morgen von dem Rat der Alten beschlossen. Das frisch vermählte Paar
bezog ihr neues Haus und die Hochzeitspflanze wurde auf den Dachgiebel gepflanzt,
damit sie über die Liebe des Paares wacht und die Harmonie im Haus erhält.
Die Zeit ging ins Land und immer wieder verloren junge Männer ihr Leben bei der
Hochzeitszeremonie. Inzwischen kamen öfters Fremde mit Schiffen an den Küsten
Ossirlacs an um Handel zu treiben. Sie sagten sie würden gerne von der Westküste
zu Ostküste Ossirlacs reisen. So wurde ein großen Steg durch die Baumkronen
gebaut und die Händler versorgten die Einheimischen mit Metallwerkzeugen und
anderen nützlichen dingen und machten das Leben in Ossirlac einfacher. So waren
keine wochenlangen Hetzjagden auf Affenhorden oder Kronenwarane mehr nötig
und es starben viel weniger Männer bei der Jagt. So verlor der Hochzeitsbrauch
allmählich an Bedeutung und wurde aber als Tradition weitergeführt bis Häuptling
Malkan ihn 136 Jahre nach dem Bau des großen Kronenweges verbot.
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„Nie werde ich den Tag vergessen, an dem der Geliebte meiner Schwester nicht von
seiner Suche nach der Hochzeitspflanze zurückkehrte.
Nie werde ich den Schmerz vergessen, der im Blick meiner Schwester lag, als sie
sich in die Tiefe stürzte.
Nie werde ich vergessen, welches Leid dieser nutzlose alte Brauch uns und meiner
Schwester angetan hat. Damals schwor ich mir, diesen Brauch abzuschaffen, sobald
ich Häuptling bin. Nie wieder sollte eine Frau ihren Mann bei der Hochzeitszeremonie
verlieren.
Und so soll es sein! Denn heute werde ich, Malkan, Sohn des Yaltar, durch die
Weisheit der Alten zum Häuptling und von heute an wird niemand mehr ausziehen,
um die Hochzeitspflanze zu suchen!“
Auszug aus dem Buch der Alten, Rede des Häuptlings Malkan
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Veria
Die blaue Gletscherzibbe
Was man auf der Insel isst
Es gibt viele verschiedene Arten Brot auf der Insel. Sie unterscheiden sich nach
Form, Gewürzen und vor allem dem Ursprung des Mehles. In der Wüste Imarai
werden Kaikai-Stengel gemahlen, im Mündungsgebiet der Dilno Yenkame-Körner. In
den Tälern von Varisa und Kevale hingegen wird das Mehl aus Goldsamen gemacht.
Für so dicht besiedelte Städte wie dort ist eine sichere Versorgung sehr wichtig und
so konnten so manche Missernten den Hunger und für viele gar den Tod bringen.
Eine der Gefahren für die Goldsamenfelder ist der schneeweisse Korntod, der durch
winzige fünfschweifige Flusswesen namens Goldweisser ausgelöst wird, wenn die
Flusswesen durch die Mundwerkzeuge einiger keimsaugender Beintierchenarten,
vornehmlich der gelben Kornnadel in das Saatkorn geraten. Die Beintierchen
zerstören nur wenig der Saat, nämlich die schwächsten Körner, doch die Flusswesen
vermehren sich in den wachsenden Pflanzen und setzen sich schliesslich zur Ernte
als zähflüssige weisse und für gelbe Kornnadeln nahrhafte Schicht aussen an den
Körnern ab, wo sie wiederum von ihrem tierischen Transferwirt aufgenommen
werden. Solche schneeweisse Goldsamen können nur mehr zu giftigem Mehl
gemahlen werden und selbst wenn nur der hundertste Teil eines Feldes weiss ist
bringt Brot aus diesem Mehl Schmerzen, innere Blutungen und meist den Tod.
Deshalb wird das Saatgut nun vor der Aussaat blaugebeizt, sodass die GoldweisserFlusswesen darin sterben. Die Pflanze wächst dann ohne die Krankheit heran und
die Ernte enthält keine weissen Körner.
Die Rettung vor dem Gift
Die blaue Gletscherzibbe ist jene Pflanze, aus deren Blättern die echte Blaubeize
gewonnen wird. Sie wächst nur hoch im Vatergebirge in unmittelbarer Nähe der
Gletscherränder auf hartem Boden. Wie alle Zibben, und das ist es, was die Zibben
ausmacht, wächst sie fast nur unter der Oberfläche und wird auch anstatt von
fliegenden Beintierchen von solchen, die sich durch den Boden graben, befruchtet.
Einzig ihre dunkelgrünen, unregelmässig gezackten Blätter zeigen sich dem Licht,
wenngleich sie sich dicht an den Boden schmiegen und häufig sogar ihre Form
herumliegenden Steinen anpassen.
Zibben haben stets weit ausladende Wurzelstrukturen, die aus vier verschiedenen
Wurzeltypen bestehen:
1. Speicherwurzeln haben eine dicke, fast knollenartige Form und sind bei einigen
Zibben sogar essbar, allerdings nicht bei dieser.
2. Männliche Blütenwurzeln haben ein schlauchartiges Ende, das eine faulig
riechende Substanz absondert und so Beintierchen anlockt, die den sogenannten
Geschenkkorb innerhalb der Blüte fressen.
3. Weibliche Blütenwurzeln haben nahezu dieselbe Form wie die männlichen und
locken auch auf dieselbe Art die Beintierchen an, weisen aber keinen Geschenkkorb
auf. Sofern das Tier aber noch nach einem Geschenkkorb riecht, zieht sich die
Blütenwurzel zusammen und verdaut den Gefangenen, bis die Pollen aus dem
Geschenkkorb freigesetzt werden.
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4. Die letzte Art Wurzel schliesslich sind die echten Wurzeln, die Wasser und
Nährstoffe aus dem Boden ziehen, wobei zweifellos auch die weiblichen
Blütenwurzeln ihren Teil zur Ernährung der Pflanze beitragen.
Die blaue Gletscherzibbe blüht in der Jahreszeit des Wachstums bis zu vierzehn mal.
Wann immer die Befruchtung gelingt, bildet die weibliche Blütenwurzel eine süsse,
dunkelblaue Beere aus, die von Beintierchen verspeist wird. Einige Stunden später
scheiden die Tiere die Samen dann an anderer Stelle aus und innerhalb von vier
Tagen entwickeln sich daraus kleine Einwurzler, die noch nur echte Wurzeln und
Blätter haben. Über die warme Zeit des Jahres bilden sich dann Speicherwurzeln,
bevor die jungen Gletscherzibben im Winter ruhen und von den gespeicherten
Nährstoffen zehren. Sie werden erst im folgenden Jahr selbst blühen.
Die Vorgehensweise
Angeblich wurde die Beize von einem Schnapsbrenner entdeckt und das ist
durchaus wahrscheinlich.
Die Blätter der blauen Gletscherzibbe wurden nämlich in kleine Stücke zerrissen und
mehrere Tage lang in Suling-Schnaps eingelegt, dann durch ein Tuch gedrückt und
nochmals gebrannt. Der daraus gewonnene, trotz des Namens farblose, Schnaps
wurde als Blau-Suling bezeichnet und war im Adel recht beliebt, vermutlich wegen
des Preises, den man sich kaum auszusprechen traute.
Dass der kaum mehr alkoholische Rest Körner blau färbt wurde wohl schon früh
beobachtet, die Wirkung auf den Goldweisser ist aber erst seit etwa 6700 bekannt.
Seit damals wurde das Saatgut vier bis acht Stunden in der Beize eingelegt, sodass
die Giftstoffe, die den Goldweisser töten, in das Korn eindringen konnten. Einige der
Körner waren danach zwar nicht mehr keimfähig, doch die Resistenz gegen die
Krankheit hatte eine weit grössere Bedeutung.
Nicht wenige Betrüger nutzten den Wert der blauen Gletscherzibbe aus. Die
Namensgebung der blauen Gletscherzibbe legt es nahe und tatsächlich ist es auch
so: Es gibt noch andere Gletscherzibben. Die meisten unterscheiden sich deutlich,
doch die rote Gletscherzibbe sieht der blauen zum Verwechseln ähnlich, nur die
Form der Blattansätze ist etwas anders und, was man nur selten sieht, ihre Beeren
sind rot anstatt blau. Allerdings ist Beize aus der roten Gletscherzibbe nicht nur
gegen den Goldweisser unwirksam, sondern auch so keimtötend, dass nach einer
solchen Behandlung nur mehr ein Drittel der Saat keimen kann.
Die blaue Beize drohte bald, in Verruf zu geraten, und man hätte wohl aufgehört zu
beizen, wenn nicht König Kernoget im Jahre 6822 erlassen hätte, dass die
Zibbensammler ausgebildet und geprüft werden und die Beize nicht mehr von den
Bauern sondern von königlich geprüften Beizern durchgeführt werden musste.
Sammler oder Beizer ohne königlichen Brief wurden verhaftet und mitunter über
Jahre nicht mehr freigelassen.
Die Bedeutung der Zibbe heute
Die blaue Gletscherzibbe wurde zunehmend selten und viele suchten nach einer
Alternative zur Blaubeize. Es gab hunderte Felder, auf denen Saaten mit anderen
Beizen geprüft wurden, doch sie alle litten vereinzelt am schneeweissen Korntod.
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Im Jahre 8272 schliesslich schaffte es Kularn Nikari von der Universität Piltande, das
gegen die Goldweisser-Flusswesen wirksame Gift strukturell zu erkennen. Vier Jahre
später konnte er das schon zuvor strukturell bekannte Lugvaniagift umwandeln und
das Zibbengift so nachbauen.
Der blauen Gletscherzibbe werden nun schon seit über zweihundert Jahren keine
Blätter mehr ausgerissen und ihr Bestand hat sich erholt. Die Lugvaniabeere ist
schliesslich weitaus häufiger und problemlos zu kultivieren, dass giftiges Mehl nicht
mehr vorkommt.
Esst also unbesorgt, wenn ihr Goldsamenbrot erhaltet. Am besten mit
Blauglöckchengelee.
Meidet aber den Blau-Suling. So teuer er ist, geschmacklich taugte er nie etwas.
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REGIONALE SPEZIALITÄT
Aufgabenstellung
Diese Süß- oder Nachspeise kann an beinahe jeder
Straßenecke/jedem Markt gekauft und verzehrt werden. Die Speise
wird zwar bei der Zubereitung erhitzt, üblicherweise jedoch kalt oder
höchstens lauwarm verzehrt. In einer bestimmten Region schmeckt sie
aufgrund besonderer Umstände außergewöhnlich anders (und viel
besser) als anderswo und gilt als besondere Spezialität.
Zeit für die Bearbeitung:
03.08. - 09.08.
Teilnehmer:
1. Platz
Sturmfaenger
Cjennales, die Kronringe
(79 Punkte)
2. Platz
Gomeck
Kæyal
(77 Punkte)
3. Platz
Veria
Blutende Silberblattecken
(74 Punkte)
4. Platz
Gerion
Katal
(65 Punkte)
Jury:
Jerron
Moordrache
Taipan
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Gerion
Katal
Katal ist eine Süßspeise, die man fast überall dort erstehen kann, wo Honigbienen
kultiviert werden. Selten wird Katal dabei als eine besonders hochwertige oder teure
Ware gesehen, weshalb es im allgemeinen auf der Straße aus Bauchläden oder aus
Buden am Straßenrand verkauft wird.
In irdischen Termen ist Katal schwer einzuordnen. Es ist eine Art Mischung aus
Schaumspeise und Honiggebäck, ähnlich dem irdischen Baizer, doch deutlich
kompakter, fast wie ein Plätzchen und in einer Unmenge an Variationen mit
unterschiedlichsten Zusätzen erhältlich. Hauptzutaten sind dabei Honig, Ei und
Nüsse, sowie, je nach Gusto, diverse Gewürze, wodurch die Geschmacksvariationen
von fast unerträglich süß bis relativ herb gehen.
Die Zubereitung von Katal ist relativ einfach. Man schlägt Eiweiß schaumig und stellt
aus dem Eigelb, dem Honig, Nussmehl sowie Nussstückchen einen lockeren, wenn
auch recht klebrigen Teig her. Anschließend vermischt man beides miteinander,
wodurch ein sehr lockerer und luftiger Teig ersteht. Dieser wird mit Hilfe einer
Spritztülle in die für dieses Gebäck traditionelle Form einer Spirale gebracht.
Anschließend wird das Ganze gebacken. Dadurch wird es fest und hat in etwa die
Konsistenz eines zähen Baisers. (OT: nein, ich habe nicht ausprobiert ob das Rezept
klappt, ich bin eine Niete in der Küche und hätte bei dem Versuch wohl eher den
Backofen explodieren lassen als dass etwas ordentliches herauskommt. Ich habe
das Rezept nach rein theoretischen Gesichtspunkten aufgeschrieben. Sollte es im
RL nicht klappen, liegt dass das Ganze InWorld funktioniert an dem verwendeten
Nussmehl)
Die Form stammt aus alter Zeit aus der Ursprungsregion dieser Köstlichkeit. Dort
wurden früher den Göttern Opfer dargebracht, um sie gnädig zu stimmen. Dabei
wurden einzelne Speisen einzelnen Göttern zugeordnet, und diese Speisen in die
Form des Symbols bzw. Symboltieres des Gottes gebracht. Katal war früher Malgi,
dem Gott der Krankheit zugeordnet, der Zusammenhang zwischen Zucker und
Karies ist bereits seit Jahrhunderten bekannt, und in dessen Zeichen, eine
zusammengerollte Schlange, geformt. Heute ist diese Zuordnung überholt, und um
nicht zu deutlich auf den Gott der Krankheit hinzuweisen, wurde der Schlangenkopf
vom Gebäck entfernt, wodurch eine Spirale geblieben ist.
Katal wird in fast allen Gebieten der gemäßigten Breiten zwischen dem Meer der
treibenden Inseln im Süden und dem Weltenrandgebirge im Norden hergestellt.
Südlicher ist es zu heiß für die Honigbiene, nördlich des Gebirges zu kalt. In
größeren Städten gibt es auf den Märkten immer ein oder zwei Stände, die diese
Spezialität anbieten, ebenso gibt es mehr als genug Bauchladenbesitzer, die durch
die Straßen wandern und das Gebäck an der Tür verkaufen. In Dörfern und kleineren
Städten ist das Gebäck deutlich seltener, dafür aber umso freudiger erwartet, wenn
zu besonderen Anlässen ein kleiner Vorrat hergestellt wird. Trotz der Beliebtheit gilt
Katal als billige Süßigkeit, da die Zutaten in vielen Gegenden weit verbreitet und
selbst der Unterschicht weitgehend zugänglich sind. Katal ist in größeren Städten in
etwa so gewöhnlich wie Eiscreme auf der Erde.
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Eine Ausnahme existiert jedoch: In einigen Randgebieten der freien Lande, genau
genommen den Gebieten, die an die Sümpfe und Moore westlich des Flusses Nibel
angrenzen, gilt Katal als ausgesprochene Delikatesse und ist entsprechend teuer.
Jeder, der aus anderen Gegenden kommt und dort einmal Katal probiert hat, kann
dies bestätigen. Der Geschmack ist anders. Voller, würziger und zugleich fruchtiger.
Der Grund dafür ist recht einfach, jedoch von anderen nicht reproduzierbar. In den
Gebieten kommt eine Baumsorte häufig vor, die anderswo sehr selten ist. Der
Amber, auch Sinnesbaum genannt (Amber mit deutschem A aussprechen, nicht wie
das englische Wort für Bernstein). Die Bienen sammeln die Pollen des Baumes ein
und machen Honig daraus. Deshalb ist bereits der Honig dieser Gegend für seinen
als „wild“ bezeichneten besonderen Geschmack bekannt. Wird aus diesem Honig
nun Katal hergestellt, erhält dieses einen besonderen Geschmack, der es von dem
hergestellt aus normalem Wald- oder Wiesenhonig deutlich unterscheidet.
Leider sind die Gebiete mit genügend hoher Amberpopulation recht klein, und so gibt
es dort nur eine geringe Honigausbeute. Der Großteil wird anschließend wegen
seiner Beliebtheit exportiert, und nur ein kleiner Teil für Katal verwendet. Leider
verdirbt Katal recht schnell, weshalb ein Export des Gebäcks nicht in Frage kommt,
obwohl es sicherlich mehr als Genug Leute gibt, die gerne das Doppelte oder
Dreifache zahlen würden um Amber-Katal zu genießen.
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Gomeck
Kæyal (Elfenscheiße ;-))
Unter den Alben gibt es eine köstliche Nascherei, die man auf jedem Markt und an
vielen Straßenständen findet. Die Alben nennen es Kæyal, Jung wie Alt sind ganz
verrückt danach, und auch Zwerge sind der Leckerei nicht abgeneigt, auch wenn es
nicht ganz billig ist. Es handelt sich um eine klebrige, bernsteinfarbene Masse, die
mit Hilfe von Holzstielen oder -löffeln in die Hand genommen und abgeleckt wird. Der
Geschmack ist sehr süß und leicht würzig, und mitunter werden auch Heißgetränke
damit gesüßt.
Die Herstellung des Kæyal mag für Außenstehende absonderlich wirken, denn es
handelt sich um Ausscheidungen des etwa fingerlangen Kæyalkäfers. Der Käfer
kommt überall in den gemässigten Zonen AEýansmottírs vor, ist kurz und gedrungen
und von tiefschwarzer Farbe, nur die Beine sind intensiv dunkelblau, und auf jeder
Flügeldecke befindet sich ein hellgelber Streifen, der sich vom Kopf bis zum
Körperende zieht. Der Kæyalkäfer lebt in kleinen Gruppen von 10-15 Tieren, wobei
es stets nur ein Weibchen in der Gruppe gibt. Die Käfer ziehen ihre Brut in
natürlichen Baumhöhlungen, ehemalige Nisthöhlen oder Hohlräume unter Wurzeln
auf, die sie zum einen innen mit Kæyal auskleiden, zum anderen die Öffnung
künstlich verkleinern, um Fressfeinde abzuhalten. Dazu zerkauen sie Holz, reichern
es mit Speichel an und verschließen mit der entstehenden Masse die Höhlenöffnung,
bis nur noch ein kleines Loch frei bleibt. Ist die Höhle ausreichend mit Kæyal gefüllt,
legt das Weibchen ihre Eier in die Masse, danach wird die Höhle komplett
verschlossen. Die Männchen sterben daraufhin bald, das Weibchen kann mehrere
Jahre alt werden und vergräbt sich für gewöhnlich im Boden, um zu überwintern.
Die Kæyalmasse wird daraufhin bald recht fest. Die Eier schlüpfen für gewöhnlich
nach 15-20 Tagen, und die Larven ernähren sich dann zunächst von dem Kæyal.
Nach weiteren 30-40 Tagen verpuppen sich die Larven, und die daraus schlüpfenden
Käfer nagen sich schließlich den Weg aus der Höhle. Normalerweise schlüpfen aus
einer Brut fast nur Männchen, doch es sind doch stets auch ein paar Weibchen
dabei. Es überlebt allerdings immer nur das stärkste Weibchen, welches die anderen
bereits im Larvenstadium frisst.
Um die oft sehr versteckten oder unzugänglichen Brutstätten des Kæyalkäfers zu
finden, bedienen sich die Alben übrigens eines Tricks: sie halten sich abgerichtete
kleine Äffchen, die das Kæyal aufspüren und die danach mit einer kleinen Menge
belohnt werden.
Das Kæyal ist, wenn es geerntet wird, meist schon recht hart. Durch vorsichtiges
Erhitzen wird die Masse verflüssigt, die enthaltenen Käfereier oder -larven werden
schlicht und einfach darin gelassen und mitgegessen.
Da pures Kæyal wirklich extrem süß ist, wird ein Teil Kæyal mit fünf Teilen Wasser
gestreckt. Beim Abkühlen wird das Kæyal zur der klebrigen Masse, wie man sie dann
auch kaufen kann, wobei sie zum Teil auch mit Gewürzen und anderen Bestandteilen
versetzt wird.
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Kæyalbäcker, wie man sie nennt, müssen bei der Erhitzung allerdings vorsichtig sein,
denn wird die Masse zu heiß, verändert sich die Konsistenz des Kæyal, sie wird
weißlich und krümelig und ist dann nur noch als minderwertiges Süßungsmittel für
Getränken zu gebrauchen, denn auch der Geschmack leidet unter diesem Prozess.
Es ist ein großer Wertverlust, wenn dies passiert, weshalb es auf jeden Fall von den
Kæyalbäckern vermieden wird.
Im Süden Æýansmottírs, in der Gegend um Ákar-ínam, gibt es allerdings eine
besondere Form des Kæyal - es ist etwas weniger süß, doch dafür einen sehr
würzig-nussigen Geschmack, welcher ganz delikat ist. Darüber hinaus hat es aber
auch eine leicht berauschende Wirkung, was es natürlich umso begehrter macht.
Natürlich sagt man dem Edel-Kæyal auch allerlei positive Eigenschaften nach und
macht es mancherorts zu einer wahren Wunderarznei, vom Mittel gegen
Schlaflosigkeit bis hin zur Potenzsteigerung. Was davon tatsächlich stimmt, sei
dahingestellt.
Warum gerade das Kæyal in dieser Gegend so anders ist, das konnte bis heute noch
nicht geklärt werden.
Zur Erklärung dessen, was die Alben nicht wissen:
Das Geheimnis des Kæyal im Allgemeinen und des Edel-Kæyal aus dem Süden im
Speziellen liegt in der Nahrung der Kæyalkäfer. Denn sie sind bei ihrer
Kæyalproduktion wesentlich von einer weiteren Spezies abhängig: den Elfen! Elfen
ernähren sich, wie jeder weiß, meist von Blütennektar und sind oft auch für die
Bestäubung der Pflanzen zuständig. Auf ihrem flatterhaften Weg von Blüte zu Blüte
scheiden sie von Zeit zu Zeit ein Tröpfchen aus, das dann auf dem Boden unter
ihnen landet.
Diese Flüssigkeit strömt einen etwas stechenden, nicht unbedingt angenehmen
Geruch aus. Der Kæyalkäfer riecht mit seinen sehr empfindlichen Riechorganen
dieses Sekret von weitem und sammelt dieses ein. Doch damit nicht genug. Der
Kæyalkäfer besitzt zwei getrennte Mägen; der eine ist für die Ausscheidungen der
Elfen bestimmt, der andere für einen fadenförmigen Pilz, der fast überall im Boden zu
finden ist, und den der Käfer grabenderweise aufspürt und frisst. Auf Alben wirkt
dieser Pilz übrigens im geringen Maße halluzigen.
Diese beiden "Zutaten" reagieren nun im Innern des Käfers miteinander, heraus
kommt die Nahrung für seine Jungen.
Der wesentliche Unterschied beim Edel-Kæyal liegt nun in einer Pflanze begründet,
die nur dort wächst - eine einstielige, etwa drei Handspannen große Blütenpflanze,
die vor allem auf offenen Wiesen wächst und 3-4 große, magentafarbene Blüten
bildet. Sie ist für Alben giftig, und selbst die Nutztiere der Alben machen um die
Pflanze einen Bogen und fressen drumherum. Der Nektar dieser Blüten ist es, der
den Unterschied ausmacht, aufgesammelt von der Elfe, in ihren Ausscheidungen
weitergegeben, um schließlich vom Kæyalkäfer zu einem ganz speziellen Kæyal
verarbeitet zu werden.
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Sturmfaenger
Cjennales, die Kronringe
In der Gegend von Maedara erzählt man sich heute noch, wie es dazu kam, dass
Hochmagier Delvherren sich entschloss, seine Residenz hier zu errichten statt – wie
ursprünglich geplant – auf einer Anhöhe beim Uyairsee.
Auf dem Weg zur Bauplatzbesichtigung nämlich, so die Legende, reiste Delvherren
vor gut achtzig Jahren mit seinem Gefolge die Reichsstraße entlang durch das
Maedaratal.
Bei all seiner Macht hatte Delvherren eine unglaubliche Schwäche für Süßigkeiten
aller Art. Nach zwei Wochen Reisezeit beschwerte er sich bei seinem Leibdiener
Gulmar, dass seine mitgebrachten Vorräte an kandiertem Obst und Honigschnee zu
Neige gingen, und gab ihm den Auftrag, doch zur Streckung des schwindenden
Vorrats in den Dörfern und Städtchen durch die sie kamen etwas süßes Backwerk
einzukaufen.
Die Gegend war damals allerdings sehr ärmlich, daher waren die Leckereien, die der
in dieser Hinsicht etwas verwöhnte Hochmagier bevorzugte, hier nicht zu bekommen.
In seiner Verzweiflung kaufte der Leibdiener ein halbes Dutzend bereits kalter
Cjennales auf dem Markt des kleinen Städtchens Maedara.
Cjennales wurden wegen ihrer weiten Ringform auch Kronringe genannt. Es gab
keinen Markt auf dem nicht wenigstens ein Kind herumtollte, das sich mit dem
Gebäck selbst zum König gekrönt hatte, und irgendwelchen eingebildeten Schurken
hinterherjagte. Meist sah man diese Kinder später selbstvergessen mit Cjennales in
verschiedenen Stadien des Verzehrs in einer Ecke sitzen und Fruchtstückchen aus
dem Gebäck puhlen.
Die Zutaten waren nichts Besonderes oder Geheimes – ein Teig aus Mehl, Milch und
Eiern, mit zerriebenen Kronenblüten und einem Schuss Pormenensaft. Auf den lang
ausgerollten Teigfladen kam eine dünn aufgetragene Mischung aus Frischkäse, Ei,
den restlichen Kronenblüten und kleingehäckselten Pormenenstückchen. Die Füllung
wurde eingerollt, und die Enden des eingerollten Teigfladens ineinander verdreht,
damit sie beim Backen zusammenhielten. Auf die dickste Stelle der so entstandenen
Ringe wurden zur Dekoration noch ein paar schmale Parmenenstückchen gesteckt,
und das Ganze mit Eigelb bepinselt. Nachdem die Cjennales aus dem Backofen
kamen, waren sie stabil genug, um auf Holzstöcken aufgereiht zu werden, und ihren
Weg in die Verkaufsstände anzutreten.
Das war auch nötig, denn Cjennales schmeckten frisch am besten, und viele
Bewohner aßen sie am liebsten, wenn sie noch nicht einmal ganz kalt waren. Die
älteren Cjennales hingegen wurden innen schnell bitter, wenn die Pormenen mit dem
Frischkäse reagierten. Wegen der Bitterstoffe wurden Cjennales, die älter als einen
Tag waren, gern billig an die Armen verkauft.
Der Leibdiener Gulmar muss wohl sehr verzweifelt gewesen sein, das Risiko
einzugehen, seinem Herren Cjennales vorzusetzen, bei deren Güte er sich auf das
Wort des Händlers verlassen musste.
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Zunächst ging alles gut. Delvherren, der mit den Naschwaren des gemeinen Volkes
nicht viel Erfahrung hatte, behagte der neue Geschmack, und er lobte Gulmar.
Dieser war erleichtert, und der solcherart gestreckte Vorrat reichte aus, bis sie am
nächsten Tag ein etwas größeres Städtchen erreichten, dessen Händler
hochwertigere Süßwaren anboten. Zu Gulmars Verwunderung verlangte Delvherren
wieder nach Cjennales.
Diesmal beeilte sich Gulmar, seinem Herrn garantiert frische Cjennales zu bringen.
Sie waren noch lauwarm. Doch zu Gulmars großem Erstaunen schmeckten sie
Delvherren diesmal nicht so gut. Er erhielt im nächsten Städtchen wieder denselben
Auftrag, doch obwohl er sogar in der Backstube war, als der Bäcker sie aus dem
Ofen nahm, und erst warten musste, bis die Kronringe abgekühlt waren, waren sie
wieder nicht zu Delvherrens Zufriedenheit.
Gulmar verstand die Welt nicht mehr. Er kannte das Gebäck seit seiner Kindheit, und
obwohl er persönlich es nicht besonders mochte, kostete er von allen, die er seinem
Herrn auf der weiteren Reise kaufte. Für ihn schmeckten sie alle genauso wie die,
die er von früher kannte. Delvherren aber beharrte darauf, dass die MaedaraKronringe viel besser gewesen seien.
Nach der Besichtigung des Bauplatzes nahm die Gruppe denselben Weg zurück,
und Gulmar ahnte bereits, dass sie in Maedara Halt machen würden. Er schickte
einen Boten voraus und informierte den Händler, wieder genau die Sorte Cjennales
bereitzuhalten, die seinem Herrn so gemundet hatten.
Und tatsächlich kam es so. Als Gulmar wieder zu demselben Marktstand eilte, und
von einem der Cjennales kostete, ließ er ihn vor Verblüffung beinahe fallen. Sein Herr
hatte Recht gehabt - diese Kronringe schmeckten viel besser als alle anderen, die er
zuvor probiert hatte!
Er berichtete dies umgehend seinem Herren, und sie testeten gemeinsam alle
Cjennales die Gulmar gekauft hatte, bis zum letzten Krümel. Danach waren beide
sehr satt, und kein bisschen schlauer als vorher. Warum schmeckten diese Kronringe
so anders?
Delvherrens Neugier war geweckt, und er schickte Gulmar, ein Treffen mit dem
örtlichen Bäcker auszumachen. Der Mann war nur zu willig, den hohen Herren
Einsicht in seine Backstube zu gewähren, doch nein, Geheimzutaten verwende er
nicht. Das versicherte er ihnen, als sie ihm beim Backen über die Schulter schauten.
Er habe das Rezept nicht abgeändert, das Backbuch habe sein Urgroßvater von
einem Besuch in Elthrea mitgebracht, und seither gäbe es Cjennales in der Region.
Um ganz sicher zu gehen, bat Gulmar den Mann, das Buch zu holen. Während sie
das Rezept studierten und rätselten, kühlten die frisch gebackenen Cjennales auf
dem Küchentisch ab.
Als Delvherren dem köstlichen Duft nicht länger wiederstehen konnte, streckte er
seine Hand nach einem der Kronringe aus, und wurde von dem entrüsteten Ausruf
des Bäckers unterbrochen. Aber nein, niemals dürften die Herren frische Cjennales
essen!
Er führte sie sogleich in seinen Keller, wo in einem kühlen trockenen Raum die
Cjennales von vorgestern darauf warteten, vom Händler abgeholt zu werden.
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Die erstaunten Männer kosteten von dem frischen und von dem älteren Gebäck.
Während das frische genau so schmeckte wie Cjennales zu schmecken haben, war
in den zweitägigen Kronringen keine Spur von Bitterkeit zu finden. Stattdessen
schmeckten sie gut durchgezogen, und einfach nur köstlich. Der Bäcker kratzte sich
am Kopf, und überlegte, was denn seine Cjennales so erfreulich anders machen
könne. Er hatte keine Ahnung. Schon sein Großvater habe ihm als Kind gesagt, daß
Cjennales immer ruhen müssten.
Das Rätsel ließ Delvherren keine Ruhe, und so verlängerte er seinen Aufenthalt in
dem kleinen Städtchen. Nach einigem Überlegen machten sich Delvherren und sein
Diener schließlich auf die Spur der Zutaten, die samt und sonders aus dem
Maedaratal kamen.
So wanderte Delvherren über die Weiden, auf denen das Milchvieh graste, ließ
seinen Blick über die weiten Kornfelder schweifen, auf denen die Bauern ihre
Erntelieder sangen, kletterte zu den steilen Hängen wo die Kronblüten wuchsen, und
fand schließlich heraus, daß es in der ganzen Umgebung keine Pormenenhaine gab.
Wozu auch, gab man ihm zu verstehen, wenn in den nahen Ausläufern des
Gredhiennwaldes so viele wilde Pormenen wuchsen?
An den Waldrändern entlang streiften Delvherren und Gulmar, auf der Suche nach
den Bäumen, und bei all der Wanderei verliebte sich Delvherren in die schöne
Landschaft und die herzliche Art der Leute, mit der sie überall empfangen wurden.
Ein Pormenensammler, der die Händler im Dorf und auch den Bäcker belieferte,
führte sie schließlich zu den Pormenenbäumen, die an lichten Stellen im Wald
wuchsen.
Sie wirkten auch nicht anders als normale Bäume.
Das Rätsel ließ Delvherren nicht los, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass
er beschloss, seine Residenz lieber hier bauen zu lassen, wo ihm die Landschaft
unerwartet gut gefiel, er viele schöne geeignete Bauplätze bei seinen Wanderungen
gesehen hatte, und es rätselhaft leckere Cjennales zu essen gab. Und so geschah
es auch: Die Residenz wurde auf einem Stück offenen Landes errichtet, welches von
zwei Seiten an den Wald grenzte, denn Delvherren hatte entdeckt, daß er beim
Gezwitscher der Vögel entspannter denken konnte. Und die Bewohner des Tals
freuten sich, den Delvherrens Anwesenheit brachte der Gegend Arbeitsplätze und
Ansehen.
Erst als die Residenz fertiggestellt war, und Delvherren die Gewohnheit annahm, in
einem eigens angelegten Waldpavillon auf dem Grundstück alleine mit Magie zu
experimentieren, stieß er zufällig auf des Rätsels Lösung.
Eine seiner Übungen hatte ihn so erschöpft dass er danach eingeschlafen war. Da
Gulmar Anweisung hatte, zu seinem eigenen Besten nicht in die Nähe des
Waldpavillons und seiner Experimente zu kommen, musste er wohl oder übel eine
halbe Meile alleine durch den fast völlig dunklen Wald zum Haus zurücklaufen.
Da sah er ein Stück links des Weges zwischen den lichten Bäumen ein Glimmen auf
dem Boden. Der gesamte Waldboden schien in kaltem Licht zu schimmern, und das
erstreckte sich auch auf die in der Nähe stehenden Bäume – einige davon waren
Pormenen.
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Delvherren bückte sich und sah, dass der ganze Waldboden von winzigen Pilzen
besetzt war. Leise summend stand er da und beobachtete, und dachte darüber nach
was er sah, und was er nicht sah. Da erkannte er, dass die daumennagelgroßen
sichtbaren Pilze nur ein winziger Teil des Pilzgewebes waren, dessen
feingesponnene Fäden den ganzen Waldboden auf mehreren dutzend
Quadratmetern durchzogen – und auch sämtliche Pormenen darauf. Das Pilzmycel
des Sternentaus durchwucherte die Waldpormenen bis in die Spitzen und
beeinflusste dadurch auch die Biochemie des Baumes, unter anderem die
Eigenschaft der reifen Früchte, die zu dem bitteren Geschmack geführt hatte.
Delvherrens Entdeckung sorgte unter den Pormenenhainbesitzern im Rest des
Landes für kurze Zeit für Aufbruchsstimmung, doch stellte sich heraus, daß der
Sternentau nur auf dem Boden des Gredhiennwaldes gedeiht.
Deshalb sind die Cjennales des Maedaratals bis heute eine besondere lokale
Spezialität geblieben.
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Veria
Blutende Silberblattecken
Sie passen in eine Hand, haben meist etwa dreieckige Form und bluten schwarz,
wenn man hineinbeisst. So wird Unwissenden diese beliebte valekische und
varisaländische Süssigkeit erklärt. Manche Leute, die gerne besonders witzig sein
möchten, behaupten gar, es sei das Blut von Kimainden, gefährlichen Raubtieren
aus dem salzigen Wasser des Meeres, das den aussergewöhnlichen Geschmack
ausmacht.
Das stimmt natürlich nicht. Das Rezept geht folgendermassen:
Man messe einen Beutel1 Wasser, vier Handvoll2 Goldsamenmehl und zwei Handvoll
Zucker ab. Das Wasser erhitze man mit einigen Löffeln Öl, dann rühre man den Teig
und gebe den Saft einer grossen Kagia dazu. Sobald der Teig glänzend ist, streiche
man ihn auf ein enges Tuch, gebe mit einem Teilelöffel an einer Seite Kleckse von
schwarzem Kuduri darauf und falte Teig und Tuch in der Mitte, sodass die Kleckse
bedeckt sind. Das Tuch wird nun über einem Topf mit kochendem Wasser
aufgespannt, nach einer Viertelstunde gewendet und eine weitere Viertelstunde
hängen gelassen.
Danach kann das Tuch abelöst werden, aber man sollte noch etwas warten, die
Ecken zu schneiden, denn der gare Teig ist sehr heiss.
Zuletzt werden die Ecken noch mit Silberblattpürree bestrichen.
Kagia
Der Kagia-Baum ist fast auf der ganzen Insel heimisch. Die Früchte sind leuchtend
rot und so gross, dass sie gerade noch von zwei grossen Händen umfasst werden
können. Ihre Schale ist sehr fest, dass man sie die Frucht einem Beil entzweischlägt,
bevor man das Fruchtfleisch leicht auslösen und durch ein Sieb pressen kann.
Der Saft schmeckt leicht herb und schwach süss, als Erfrischung taugt er kaum. Aber
für die Küche ist er unentbehrlich, denn er hindert Wasser und Öl daran, sich wieder
zu trennen.
Silberblatt
Das Silberblatt wächst an den Ufern der grossen Flüsse und Seen der Insel. Wie es
der Name sagt, sind die dicken, fleischigen Blätter silbern, allerdings nur an der
Unterseite. Die Blätter werden früh im Jahr geerntet, solange sie noch süss sind.
Nach der Blüte ist die gesamte Pflanze ungeniessbar bitter.
Silberblätter werden zerdrückt und mit Zucker gekocht, das Pürree ist sehr
wohlschmeckend und durch den Zucker auch sehr lange haltbar.
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Kuduri
Der Kuduri ist eine zähe, rotbraune bis schwarze Masse, die sehr intensiv harzig
riecht und süss und etwas salzig schmeckt. Das soll einen nicht verwundern, denn er
wird aus den Harzstängeln der Nuchainga hergestellt, die in der Mündung des
Kevale im gemischten Wasser wächst. Die Stängel werden zerkleinert und
ausgekocht, der Kuduri schwimmt nach einiger Zeit obenauf und kann abgeschöpft
werden.
Kuduri muss frisch verwendet werden, schon nach zwei Tagen beginnt er, ranzig zu
schmecken, zudem wird er sehr schnell sehr hart. Es haben sich viele daran
versucht, Kuduri haltbar zu machen, gelungen ist es mit mässigem Erfolg. Die beste
Möglichkeit, den Kuduri über weite Strecken zu transportieren, ist es, ihn mit LigtianÖl zu bedecken, allerdings hat das Ligtian-Öl einen markanten Eigengeschmack, der
jenen des Kuduri beinahe überdeckt.
Für die wichtigste Volkssüssspeise allerdings wird das auf sich genommen, die
blutenden Silberblattecken schmecken ja auch mit konserviertem Kuduri
ausgezeichnet. Nur sind sie im Mündungsgebiet doch deutlich besser als überall
sonst, kultivieren als Regionalspezialität die Identität der dortigen Bewohner und
sorgen für rege Besuche aus anderen Gegenden.
Esskultur
Blutende Silberblattecken sind auf jedem Markt, in jedem Gasthof und selbst an
Wegraststellen zu haben. Meist sind sie dreieckig, vereinzelt gibt es sie auch in
Rautenform. Die grosse Backmanufaktur in Piltande fertigt sie gar rund! Runde
Silberblattecken, darüber erhitzen sich so manche Gemüter, schliesslich kann man
sie so ja gar nicht ordentlich essen!
Üblicherweise wird die Silberblattecke auf einer flachen Hand gehalten, ohne
Zuhilfenahme der zweiten Hand werden dann erst die zwei oder drei spitzen Ecken
abgebissen und dann rundherum gegessen, bis man an den Kuduri stösst. Dann
wird die obere Lage mit der freien Hand abgehoben und man beisst abwechselnd
von beiden Teilen ab, bis man fertig ist.
Nur wenige essen die Ecken, indem sie einfach wie von einem Brötchen immer
wieder abbeissen, noch weniger benutzen Besteck.
Mahlzeit!
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RELIGIÖSE ZEREMONIE
Aufgabenstellung
Zur Amtseinführung muss ein geistliches oder weltliches Oberhaupt
diese harte Zeremonie durchlaufen und dabei etwas Wichtiges opfern.
Um was für ein Amt handelt es sich, und wie stellt sich diese
Zeremonie genau dar?
Zeit für die Bearbeitung:
10.08. - 16.08.
Teilnehmer:
1. Platz
Mara
Der Guss der Glocke
(72 Punkte)
2. Platz
Taipan
Amtseinführung des Rassharhohepriesters
(70 Punkte)
3. Platz
Vinni
Ein neuer Anführer bei den Drachenkriegern
(67 Punkte)
4. Platz
Jundurg
Amtseinführung des Grah
(68 Punkte)
Jury:
Gomeck
Jerron
Moordrache
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Jundurg
Amtseinführung des Grah
Im Süden des Kontinents liegt ein weitläufiges Gebiet aus Wüsten und kargen
Ödländern, die von umherziehenden Nomadenstämmen dominiert wird. Obwohl
diese Stämme untereinander praktisch alle ständig Krieg führen, respektieren sie
doch alle als ihr geistiges Oberhaupt den Grah, der auf dem heiligen Berg Rak
Morulen lebt.
Um dieses Amt zu erlangen, musste der Grah seinen Namen ablegen, und nicht nur
diesen, sondern seine gesamte Persönlichkeit, alle seine Wünsche und Ängste. Als
residierender Grah ist er beinahe nicht mehr als Mensch anzusehen, seine
Handlungen wirken oft rätselhaft, was darin begründet ist, dass er keine keine
Motivationen kennt, dass er überhaupt nicht mehr in der Lage ist, eine Seite in einem
Konflikt zu favorisieren, er ist vollkommen neutral, und auch deshalb wird jede seiner
Entscheidungen von den Stämmen akzeptiert. Zudem ist er ein mächtiger Magier,
wenngleich er diese ihm verliehene Macht nur sehr selten einsetzt.
Wenn der Grah das Ende seines Lebens erwartet, so schickt er eine Botschaft aus,
dass sich die würdigen Nachfolger (meist Magier der Stämme, gelegentlich auch
Personen, die sich in Kriegskünsten hervortaten) einfinden mögen. Diese bilden
dann eine Gruppe und ziehen gemeinsam durchs Land.
Überall, wo sie auf Leute treffen, veranstalten sie eine Art Fest, bei dem sie
gemeinsam Worte verkünden, meist mysteriöses bis vollkommen unsinniges
Geschwafel, das aber von möglichst vielen Leuten gehört werden soll. (Die Theorie
besagt, dass auf diese Weise alles, was derjenige in seinem Leben der Welt noch
unbedingt mitteilen muss, in einem Ruck nach außen gelangen soll; es ist aber
wichtig, dass ihre Äußerungen auch von vielen gehört werden, da es sonst so wäre,
als ob sie nie ausgesprochen worden wären.)
Nachdem ihre Botschaft (bestehend aus Unsinn und Geschrei) an alle Stämme
verbreitet worden ist, und sie somit nichts mehr zu sagen haben, besteigen sie den
Rak Morulen, und der Herr des heiligen Berges wählt unter ihnen einen aus, der sein
Nachfolger sein wird.
Der nunmehr Auserwählte muss nun in einem etwa eine Woche dauernden Ritual, in
dem nahezu ununterbrochen entweder gesungen, getrommelt oder geschrieen wird,
den Rest seiner Persönlichkeit ablegen. Zunächst einmal seinen Namen, den er
vergessen muss. Während dieser Zeremonie sind die meisten wichtigeren
Persönlichkeiten der diversen Stämme am heiligen Berg versammelt, um den
Anwärter zu unterstützen.
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Die schwierigste Aufgabe erwartet ihn jedoch noch: Er muss den Grah im Kampf
besiegen und töten. Das kann er nur schaffen, wenn er die Unterstützung der Magie
des Berges erlangt - dazu muss er seine Persönlichkeit vergessen haben. Natürlich
kann es zu einem Zeitpunkt nur einen Grah geben, daher fällt der Tod des alten Grah
exakt mit dem Moment zusammen, da der Auserwählte selbst zum Grah wird und
über den Rak Morulen verfügt. Der Kampf selbst wird ohne Waffen geführt (diese
würden gegen den Grah ohnehin nichts nützen, da die Magie des Berges ihn
schützt).
Der Grah ist dadurch, das er seine Vergangenheit abgelegt hat, eine
vollkommen neutrale Instanz. Üblicherweise kommen die Oberhäupter der Stämme
zu ihm, um ihn um Rat zu bitten, bevor sie einen Krieg beginnen oder vor einer
Hochzeit. Der Grah verfügt über die Macht des heiligen Berges, auf dem er lebt, und
kann damit auch einiges bewirken am Kontinent, allerdings kann er seinen Berg
niemals verlassen. Würde er das versuchen, verlöre er seinen Einfluss sofort und
würde mangels Erfahrung in der Wildnis (die er unwiederbringlich abgelegt hat)
vermutlich sehr schnell verhungern.
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Mara
Der Guss der Glocke
Wenn wir sagen hell, dann denken sie dunkel, wenn wir sagen aufwärts, dann
denken sie abwärts. Und wenn die meisten der Vielen Menschen sagen, dass ihr
Herrscher ein Mann und viril wie ein Vielbeiniger sein soll - dann denken sie auch
hier das Gegenteil.
Es ist und bleibt für alle außerhalb der inneren Kreise der Schwarzbleichen eine der
großen Unbeantworteten, ob die Ahnen der größten Zivilisation des Splitters in ihrer
eigenen Welt ein übliches Beispiel für die Lebensweise dieser Wesen war oder ob
sie einer spezielleren kleinen Gruppe anhingen. Beantwortet ist jedoch die Frage
nach ihren Herrschern - unter der Silberglocke ruht immer eine Herrscherin, kein
Herrscher, und vereinigt in ihren Händen die weltliche und geistige Macht ihrer
Rasse.
Initiation der Matriarchin
Wird nach dem Tod oder der Tötung einer Matriarchin unter den Glockengießerinnen
eine geeignete Nachfolgerin erwählt, so muss sie sich einem Ritual unterwerfen,
dass als 'Der Guss der Glocke' bekannt ist und das die wenigen NichtSchwarzbleichen, die davon wissen, als brutal und erschreckend empfinden.
Nach Fasten und gründlicher Reinigung der designierten Herrscherin durch
Glockenträger und Glockengießerinnen begibt sich diese mit den alten Leibärzten
ihrer verstorbenen Vorgängerin in einen speziellen Raum, wo sie sich entkleidet und
nackt auf einem schlichten Block aus weißem Unstein niederlegt, der noch aus der
Alten Welt der Schwarzbleichen stammt. Jeweils dreizehn Glockenträger und
Glockengießerinnen postieren sich ringsum an den Wänden des runden Raumes
und beginnen mit einem Bannlied, das das gesamte Ritual über andauern wird und
verhindern soll, dass Seelen eindringen oder die der neuen Matriarchin entweicht.
Dann - und ohne Betäubungsmittel oder die designierte Herrscherin anderweitig
ruhig zu stellen - beginnen die Ärzte mit der Operation.
Zunächst öffnen sie die Haut rechts und links vom Kiefer und schaffen so über die
natürlichen Schädelöffnungen für die Nervenbahnen der Fhêatj - eines der wenigen
Unübersetzten Worte der Schwarzbleichen - einen Zugang zum Gehirn der
angehenden Herrscherin. Indem sie sich auf die Selbstkontrolle der Patientin
verlassen, werden hauchfeine erhitzte Drahtspitzen eingeführt und unter Vermeidung
der Fhêatj-Nervenbahnen, über die die Impulse dieser elektrosensitiven
Ampullenorgane in das Gehirn gelangen, an einen bestimmten Punkt gebracht, wo
eine an das Gehirn angehängte gespiegelt auf beiden Seiten vorhandene Drüse
verödet wird. Zuckt die designierte Matriarchin bei diesem ersten Eingriff, so riskiert
sie den Verlust ihres Sinnes für elektromagnetische Felder oder schlimmere Schäden
an ihrem Gehirn. Zweiteres würde auf jeden Fall ihre Disqualifikation bedeuten und in
ihrer Tötung resultieren.
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Nachdem die Öffnungen am Schädel wieder verschlossen sind, wird der untere Torso
von zwei Seiten angestochen und mit löffelartigen Instrumenten mit jeweils einer
scharfen Kante entnehmen die Ärzte zwei kleine, gespiegelte Organe.
Als letzter Schritt setzen sie einen mittig angelegten Schnitt und entfernen ein letztes
Organ, veröden dorthin führende Kanäle und schließen die gesetzten Schnitte wieder
sauber.
Wenn die Patientin bei dem Eingriff beginnt, Laute des Schmerzes von sich zu
geben, so steigert sich die Lautstärke des Bannliedes, um sie zu übertönen. Kann
die baldige Herrscherin sich nicht ausreichend kontrollieren und zuckt oder versucht
sich anderweitig von Messern, Schabern, Sonden und erhitzten Drahtspulen
wegzubewegen, so operieren die Ärzte dennoch weiter und nehmen jeden Schaden
an anderen Organen und Blutgefäßen in Kauf. Sollte sich die Frau dabei selbst
soweit verletzen, dass sie nicht innerhalb der nächsten Tage genesen kann, so wird
sie nach der anschließenden Diagnose getötet und eine neue Wahl abgehalten.
Übersteht sie das Ritual, so wird sie dennoch auf dem Unstein belassen, auch wenn
sie stärkende (aber nicht betäubende) Nährflüssigkeiten erhält. In den nächsten
Tagen wird sie in Meditation und Schlaf sich von der Operation erholen, immer
umgeben von ihren sechsundzwanzig Sängern, die regelmäßig bei Ermatten der
Stimmbänder ausgetauscht werden.
Erst wenn der zweite Teil des Gusses der Glocke vollzogen ist, kann sie als wahre
Matriarchin die Regentschaft antreten.
Guss der Silbernen Glocke
Die entnommenen Organe werden aus der Kammer getragen und zwei
Glockengießerinnen höchsten Ranges überreicht. Diese tragen sie in den Silbernen
Garten zu Füßen des Herscherrinnensitzes, wo die Gießereien liegen. An der
größten der Sandgruben werden nun die Organe mit feinstem Sand zerstoßen bis
sich eine Paste bildet, mit der später der Innenkegel der Glockenform bestrichen
wird, die die Gießerinnen für die Glocke der Herrscherin benötigen.
Die alte Silberglocke der verstorbenen Matriarchin wird zu diesem Zweck
eingeschmolzen und das Material in der neuen Form mit dem Namen - und den
Organen - der neuen Herrscherin gegossen. Der mehrtägige Prozess bis zur
Aushebung, Nachbearbeitung und Politur der Glocke bestimmt die Phase der
Erholung, die die frisch operierte Matriarchin zur Verfügung hat.
Erst wenn die neue Glocke fertig ist und sie das erste Mal im Turm der Herrscherin
erklingt, kann auch die Herrscherin sich unter ihr niederlassen und von diesem
gesegneten uralten Platz aus ihr Volk regieren.
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Geschlechter der Schwarzbleichen
Die entnommenen Organe sind nichts anderes als die Geschlechtsorgane einer
weiblichen Schwarzbleichen. Ähnlich wie bei den Vielen Menschen besitzen sie
einen Hohlmuskel, indem Föten reifen können, und zwei Organe, die Keimzellen
produzieren und in den Hohlmuskel weiterleiten, der einen Zugang über die Kloake
besitzt und Ort der Befruchtung durch männliche Keimzellen ist.
Allerdings ist die Entwicklung des Geschlechtes bei Schwarzbleichen ein anderer
Prozess als der bei den Vielen Menschen. Alle Angehörigen dieser Spezies werden
als ungeschlechtliche Wesen geboren oder besser als Wesen mit der Fähigkeit,
später beiderlei Geschlecht zu entwickeln.
Erst ab einem gewissen Alter, das drei vollen Zyklen des Splitterherzen entspricht
und bei dem entsprechend bei den Vielen Menschen die Pubertät bald einsetzen
würde, bildet sich entweder das männliche oder das weibliche Geschlecht aus. Wie
es zur 'Entscheidung' kommt ist ein komplexer Prozess - offenbar hat die Umgebung
einen Einfluss, denn Kinder unter vielen Frauen neigen dazu, Männer zu werden,
und umgekehrt. Tatsächlich lässt sich eine leichte Schwankung zwischen
Folgegenerationen beobachten, in einer gibt es einen Frauenüberschuss, in der
nächsten Männerüberschuss. Die Schwarzbleichen gehen jedoch fest davon aus,
dass es auch eine unterbewusste eigene Entscheidung zu einem der Geschlechter
ist. Tatsächlich existiert unter den Schwarzbleichen das Phänomen der
Transsexualität, wie sie zuweilen unter den Vielen Menschen auftritt, nicht.
Mit der Ausprägung des Geschlechtes entwickeln sich Organknospen im Körper des
Schwarzbleichen. Aus jeweils einem 'Ableger' zweier spiegelbildlicher
Knospenanlagen wachsen Organe, die entweder männliche oder weibliche
Geschlechtszellen bilden. Bei Frauen bildet sich aus einem weiteren Knospenbündel
eine Art Gebärmutter, bei Männern sinkt das Knospenbündel ab und bildet den
Pseudopenis, eine Höhlung der Kloakenwand die zur Begattung ausgestülpt und
durch verstärkte Blutzufuhr aufgepumpt wird.
Da jedoch immer nur jeweils eine Knospe zum Organ ausreift, besitzen
Schwarzbleiche die Fähigkeit, ihre Reproduktionsorgane neu zu bilden, wenn diese
verletzt oder entfernt wurden - möglicherweise ist die potentielle Mehrzahl von
Geschlechtsorganen auch ein Hinweise auf einen hermaphroditischen oder das
Geschlecht wechselnden Vorfahren der Schwarzbleichen.
Diese Regenerationsfähigkeit bedingt auch den zusätzlichen Eingriff an den Drüsen,
die dem Gehirn angehängt sind. Diese steuern nämlich durch Hormonausschüttung
die Bildung und Neubildung der Geschlechtsorgane und erst wenn sie verödet sind,
ist eine Herrscherin endgültig kastriert.
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Die Glocke als Gefäß der Seelen
Der Grund der Kastration besteht im Denken der Schwarzbleichen, nach dem die
herrschaftliche Glocke und die Herrscherin im Grunde eins sind. Die heiligen
Glocken sind Stimmen und Gefäße zugleich, die umherirrende Seelen rufen und
binden. Nachdem sie beobachten konnten, dass Seelen aus vorbeiziehenden Welt
ohne Körper nach dem Tod auf dem Splitter verbleiben können, werden die
Schwarzbleichen von einer kontinuierlichen Angst geplagt, Seelen zu verlieren. Denn
nur wenn freie Seelen sich um sie befinden, können neue Kinder entstehen. Daher
ist der beständige Dienst an den Glocken ein notwendiges Ritual, um die jeweils
nächste Generation zu garantieren - die heiligen Instrumente binden die Seelen an
den Splitter und halten sie bei den Schwarzbleichen, damit sie nicht verloren gehen.
Für gewöhnlich dürfen nur Männer an einer Glocke dienen. Grund dafür ist, dass der
Glockenträger mit seinem Instrument harmonieren muss und beide im Grunde eins
sind. Wäre eine Frau Glockenträger, so fürchtet man, könnte die Seele voreilig und
aus Versehen in ihre Geschlechtsorgane schlüpfen und versuchen, ohne
Befruchtung ein Kind zu bilden. Im Denken der Schwarzbleichen ein Vorhaben, das
entweder in missgebildeten Kindern oder dem Tod der Mutter enden wird.
Nun muss aber die Herrscherglocke das perfekte Gefäß für Seelen sein wie eine
ewige Gebärmutter, in der die Seelen ruhen können. Sie muss - im Notfall - alle
freien Seelen des gesamten Volkes in sich aufnehmen können. In Verbindung mit
einem Mann scheint diese Aufgabe für die Schwarzbleichen zu groß, ein Mann kann
nichts enthalten, oder wenn, so nur für kurze Zeit. Eine 'normale' Frau allerdings
würde höchste Risiken eingehen, dieser größten und heiligsten aller Glocken zu
dienen.
Und somit wird jede neue Herrscherin kastriert, um in Einheit mit der Glocke den
Seelen Heimat zu bieten. Bis sie geboren werden können, sind alle freien Seelen in
ihr und ihre Kinder - aber sie muss dafür die Fähigkeit opfern, jemals wieder eigene
Kinder zur Welt zu bringen.
Zugleich beweist sie jedoch mit Überstehen der Operation ihre Selbstbeherrschung,
ihre Entschlossenheit und ihre Stärke. Ihres Geschlechtes beraubt, aber zur Glocke
ihres Volkes neu gegossen kann sie so endlich ihren Platz einnehmen und regieren,
über ihrem Haupt die Silberglocke der Herrscherinnen.
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Taipan
Amtseinführung des Rassharhohepriesters
Obwohl der Kriegsgott Rasshar einer der
mächtigsten
und
am
häufigsten
verehrten Götter des Menaismus, ja
sogar der mächtigste des WasserHimmels-Kreises ist, kann man nicht
davon sprechen, dass er zu den
beliebtesten Göttern gehört. Abgesehen
von Soldaten, Söldnern und anderem
Kriegsvolk
und
vor
allem
in
Friedenszeiten kann es in einigen
Gebieten
empfindlich
den
Ruf
schädigen, sich offen zu Rasshar zu
bekennen, denn Rasshar verkörpert die
gesamte Wildheit und Brutalität von
Krieg und Kampf und dies lässt sich
auch in den Priestern und deren mitunter
recht grausamen und gnadenlosen Riten
und Zeremonien erkennen, angefangen
bei den bekannten und gefährlichen
Stierkämpfen, denen sich ein Novize
stellen muss, um Priester zu werde bis
hin zu der unter Laien und sogar
Priestern
praktisch
unbekannten
Amtseinführung eines neuen Rassharhohepriester in Chail, der Hauptstadt von
Norr und gleichzeitig auch dem Zentrum
der
Rassharkirche.
Denn
die
Bezeichnung
Herzlose
für
den
Rassharhohepriester, dem Oberhaupt
der Rassharirche hat nicht nur mit deren
legendären Kaltherzigkeit zu tun.
Menaismus, Wasser-Himmelskreis und
Rasshar
Obwohl es heute nur wenige wissen, handelt es
sich bei dem Menaismus, der wichtigsten
Religion in Alaton und auch noch einer
wichtigen Religion in Meseleth, Itayan und
Kolonor, um ein Konglomerat aus mehreren,
zum Teil sehr unterschiedlichen Religionen, die
1.302 v. MF in Returi, einer kleinen Stadt in
Meseleth mehr oder weniger friedlich
miteinander vereinigt wurden. Um wie viele
Religionen es sich dabei ursprünglich handelte,
ist heute unbekannt, bewiesen sind aber
zumindest zehn, die heute Götterkreise genannt
werden. Den Zusammenschluss haben 42
Gottheiten überlebt, von denen aber einige so
gut wie überhaupt nicht verehrt werden. Die
Kirchen der verehrten Gottheiten agieren
voneinander praktisch unabhängig, führen
untereinander zuweilen sogar Kriege
Zum Wasser-Himmelskreis gehören neben dem
Kriegsgott Rasshar noch Waltarsh (Meer), Rillus
(Pferde, Wettkampf), Sotlime (Schifffahrt,
Matrosen) und Weldrogo. Er entstand in den
Masenen (Meseleth), wo auch heute noch die
Wasser- und Windgötter den anderen
vorgezogen werden. Da es im WasserHimmelskreis üblich ist, den Göttern ein Herz zu
opfern, sei es nun ein echtes oder ein
symbolisches, wird dieser Götterkreis von
Theologen zuweilen auch als Herzkreis
bezeichnet.
Der stierköpfige Kriegsgott Rasshar und sein
Klut gelten als die blutigsten im ganzen
Menaismus. Stiere und vor allem der Kampf mit
Stieren gilt ihnen als heilig. Die Priester gelten
zu Recht als äußerst gefährliche Krieger, die
sich niemand auf dem Schlachtfeld als Gegner
wünscht.
Um Hohepriester des Rasshar zu
werden gibt es mehrere Möglichkeiten.
Bei ersten und eher selteneren stirbt der amtierende Rassharhohepriester eines
mehr oder weniger natürlichen Todes – es kommt eher selten vor, dass ein
Rassharhohepriester friedlich an Altersschwäche stirbt. In diesem Fall tritt der
gesamte Rassharrat zusammen und bestimmt – was eher untypisch für den
Rassharkult ist – durch Wahl einen vorübergehenden Vertreter des verstorbenen
Hohepriesters, der bis zum 19. Senomar, dem Fest des Imoim, die Amtsgeschäfte
übernimmt und sich dann einem Herausforderer stellen muss. Erst wenn er dabei
gewinnt, gilt er als Anwärter für den Posten des Hohepriesters und er geht den Weg
aller Anwärter, wenn sein Herausforderer gewinnt, wird naturgemäß dieser der
Anwärter.
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Die meisten Hohepriester werden aber abgelöst, indem sie einmal im Jahr, am 19.
Senomar, von einem Priester zu einem Zweikampf herausgefordert werden, der
Rang des Priesters spielt dabei keine Rolle. Ursprünglich handelte es sich dabei um
einen Kampf auf Leben und Tod, heute ist man aber selbst im kriegerischen Norr
dazu übergegangen, dass nur bis zur Kampfunfähigkeit eines Kontrahenten
gekämpft wird. Der Kampf findet öffentlich statt und gilt in Chail und ganz Norr als
großes Spektakel. Hat der amtierende Hohepriester gewonnen, ändert sich nichts. Ist
hingegen sein Herausforderer siegreich, gilt dieser offiziell als Anwärter auf das Amt
des Hohepriesters. Um tatsächlich der neue Hohepriester zu werden muss er sich
erst Rasshar selbst stellen und ihm etwas Wichtiges opfern, um was es sich dabei
genau handelt, wissen die Anwärter in der Regel nicht – sonst würden sie wohl nicht
den amtierenden Hohepriester herausfordern.
Der einfache Teil ist das Sich Stellen Rasshars, das nichts weiter als ein Stierkampf
ist, für einen Rassharpriester keine neue Erfahrung, aber durchaus gefährlich. Dies
geschieht im Stiertempel selbst, dem Haupttempel der Rassharkirche, unter
Ausschluss der Öffentlichkeit, ja sogar unter Ausschluss des Großteils der
Priesterschaft. Ist der Stier tot, wird der Anwärter in die Kammer der Geister geführt,
auf einen Altar festgeschnallt, neben ihn wird der tote Stier gelegt, Caldharosen
werden angezündet und dann lässt man den Anwärter alleine. Die Halle der Geister
hat ihren Namen nicht ohne Grund. In ihr sollen die Geister jener hausen, die die
folgende Prüfung nicht überlebt haben, und Rasshar nun als Werkzeug dienen. Denn
ist der Anwärter alleine, kommen die Geister heraus, beginnen den Gefesselten aber
auch den Stier wüst zu beschimpfen und greifen beide schließlich an. Der Gefesselte
kann sich dabei nicht befreien und auch nicht verhindern, dass die Geister ihm und
dem toten Stier schließlich das Herz aus der Brust reißen, um beide zu vertauschen.
Ob der Anwärter die Prozedur überlebt, hängt davon ab, ob ihn Rasshar für würdig
hält oder nicht. Viele spätere Hohepriester glauben sich daran zu erinnern, dass
Rasshar selbst mit ihnen gesprochen hätte. Ist er würdig, wird am nächsten Tag ein
zwar erschöpfter aber lebender Anwärter in der Halle der Geister gefunden, der eine
frische Narbe auf seiner Brust in der Herzgegend trägt und in den meisten Fällen
nicht mehr oder nur mehr teilweise gefesselt ist; vom toten Stier fehlt hingegen jede
Spur.
Ob dies alles tatsächlich geschieht, könnte durchaus bezweifelt werden, denn der
Rauch der Caldharose erzeugt starke Halluzinationen und im Caldharausch kann
ohne weiteres jemand die Kraft entwickeln sich loszureißen und sich die
Verletzungen in der Herzgegend selbst zufügen. Allerdings kann damit nicht erklären,
warum alle Anwärter dieselbe Halluzination haben und was mit dem toten Stier
geschieht.
Auch ohne dass die Herausforderer von dieser Prüfung und der Gefahr, dass
Rasshar sie nicht für würdig hält, wissen, kommt es nicht so häufig vor, dass ein
Hohepriester herausgefordert wird, vor allem kein fähiger in jungen Jahren. Und da
der Verlust des höchsten Amtes in der Rassharkirche heute keinen Verlust im
Ansehen mehr darstellt – und nicht mehr tödlich ist – sprechen sich ältere
Hohepriester zuweilen mit ihren potentiellen Nachfolgern ab, wenn sie amtsmüde
werden, und lassen diese gewinnen, natürlich nicht ohne den Zusehern ein
ordentliches Spektakel zu liefern. Was Rasshar anscheinend von diesen Absprachen
hält, erkennt man leicht daran, wie wenige siegreiche Anwärter in den letzten hundert
Jahren schließlich auch tatsächlich Hohepriester wurden.
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Vinni
Ein neuer Anführer bei den Drachenkriegern
Die Nacht vor der Weihe verbrachte man schweigend, wachend und fastend, um sich
auf das Ritual und den neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Raji hatte sich dazu in
seinHaus zurückgezogen. Er hatte die dunklen Haare zurückgebunden, kniete auf
dem Boden und blickte in die Dunkelheit des Raumes. Vor mehr als 15 Jahren hatte
er schon einmal so in einem dunklen Raum gesessen. Damals ging es um seine
Aufnahme in den Kriegerstand. Er war sehr jung gewesen, sehr aufgeregt, neugierig
und auch nervös wegen des Rituals und der Prüfung, die auf ihn warteten. Heute war
es nicht die Aufregung und Begeisterung eines Halbwüchsigen, die ihn wach hielt.
Heute lastete die Schwere der Verantwortung auf ihm, die er nach dem Ritual würde
tragen. Er sollte der neue tihjanayos sein, der Führer der Krieger. Und er war auch
heute sehr jung für diese Aufgabe. Für die Verantwortung für die Krieger, für die
gesamte Gemeinschaft der Drachenkrieger, und letztendlich auch für König und
Reich. Es waren friedliche Zeiten, in denen sie lebten, doch die Wachsamkeit und
Kampfkraft der Drachenkrieger mussten immer bereit sein. Es gab immer Feinde und
es gab immer Kämpfe, ganz gleich, in welch harmloser Gestalt sie sich zeigten. – So
viele Aufgaben lagen vor ihm, wenn er die Gemeinschaft mit zu führen hatte. Für
König, Volk und Land. Für die Prinzipien der Gemeinschaft. Die Ehre des Drachen.
Er würde alles dafür geben. Leib und Leben, Herz, Instinkt und Verstand. Alles, was
er in die Waagschale werfen konnte, um die Gemeinschaft auf ihrem Weg
weiterzuführen. – Wenn er das Ritual überstand.
Bis zum Morgen hatte sich Raji nicht gerührt. Er saß immer noch so auf dem Boden,
ohne sich auch nur für einen Moment dem Schlaf ergeben zu haben. Er rührte sich
auch nicht mit dem zunehmenden Licht des Tages. Er wartete. Man würde ihn holen.
Draußen klangen bereits Trommeln, leise noch und in langsamem, eintönigem
Rhythmus. Alle würden es hören und alle wussten, was es bedeutete. Es war nicht
nur ein wichtiger Tag für ihn, er war wichtig für die ganze Gemeinschaft.
Raji rührte sich auch nicht, als schließlich die Tür geöffnet wurde. Ein junger Mann
trat ein. Sein Name war Nijân, Raji kannte ihn und wusste, dass er als Helfer der
Meisterin kam. Nijân brachte ein Tablett, das er vor Raji abstellte. Dann verbeugte er
sich förmlich, was Raji mit einem eben so förmlichen Nicken beantwortete. Kein Wort
wurde gewechselt, auch nicht, als der junge Mann sich vor ihm auf die Knie
niederließ. Teil der Zeremonie. Teil der Vorbereitungen. Raji legte das einfache Hemd
ab, das er seit gestern getragen hatte. Für das Ritual erhielt er jetzt ein schwarzes
Tuch mit flammend roten Mustern. Er wickelte es um sich, um die Brust und eine
Schulter. Die rechte Schulter blieb frei, sie würde später mit rituellen Zeichen bedeckt
werden. Zunächst aber wechselten die beiden Männer noch eine Verbeugung. Dann
nahm Nijân mit beiden Händen den mit einer klaren Flüssigkeit gefüllten Becher vom
Tablett. Er hob ihn einen Moment über sich, schloss kurz die Augen, überreichte ihn
dann mit ritueller Anmut an Raji. Der nahm den Becher mit beiden Händen in
Empfang und verbeugte sich wieder. Auch er schloss einen Moment die Augen,
kontrollierte seinen Atem und trank einen Schluck. Es war süß und zugleich bitter
und brennend. Auch das war Vorbereitung für die Zeremonie. Nach einem weiteren
kontrollierten Atemzug reichte Raji den Becher zurück. Nijân nahm ihn in Empfang,
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legte einen Moment die Hand flach darüber und konzentrierte sich. Dann drehte er
den Becher eine Vierteldrehung und reichte ihn mit der gleichen rituellen Geste
zurück. Raji nahm ihn und trank einen weiteren Schluck. Dreimal wechselte der
Becher so zwischen den Männern. Raji spürte mit jedem Schluck mehr, wie der
Trank Macht über ihn gewann. Er spürte es prickelnd in Händen und Füßen, im
ganzen Körper. Er spürte es in seinem Blut. Der Trank berauschte den Körper, nicht
den Geist. Raji kannte das. Er wusste, sein Geist würde eine ungeahnte Klarheit
gewinnen, seine Sinne schärfen, während der Körper langsam und unbedeutend
wurde. Es war eine Prüfung des Geistes, die vor ihm stand. Dass er körperlich
geeignet war, hatte er bereits in vielen Einsätzen bewiesen. In vielen Kämpfen.
Raji lauschte in sich hinein, spürte der Reaktion des Körpers nach und dem Trank,
der sich immer weiter ausbreitete. Nijân war inzwischen an seine Seite gerückt und
begann, die freie Schulter und den Arm mit feinen schwarzen Symbolen zu
beschreiben. Raji hatte längst alles Zeitgefühl verloren. Er wusste nicht, wie lange er
hier schon saß und es kümmerte ihn auch nicht. Der Rhythmus der Trommeln war
inzwischen drängender geworden. Schneller, eindringlicher, lauter. Das Dröhnen
schien in Rajis Blut nachzuklingen. Mitzuschwingen. Das gehörte dazu, auch das war
eine Folge des Trankes. Nijân beendete seine Arbeit auf Rajis linken Handrücken. Er
zeichnete dort als letztes das Drachensymbol, so wie er es schon auf dem rechten
Handrücken getan hatte. Dann schob er das Tablett mit all den Utensilien beiseite
und erhob sich. Raji tat es ihm gleich, und nachdem sie noch eine letzte Verbeugung
getauscht hatten, gingen sie hinaus. Es wurde Zeit.
Das Dorf war das Zentrum der Gemeinschaft. Es lag verborgen im Wald, nicht weit
von der Hauptstadt Tharmalon entfernt – und war doch so viel wichtiger als das
offizielle Hauptquartier in der Stadt am Königspalast. Hier war das Leben der
Gemeinschaft. Hier zog man die Kinder groß, hier wurde gelernt und trainiert. Hier
wurde gelebt. Und das Herz des Dorfes war das Taijin – das Versammlungshaus. Es
war das größte Gebäude des Dorfes, wenn auch nicht viel höher als die anderen. Es
bestand aus einer kunstvollen Holzkonstruktion, die von einem Fundament aus
unbearbeitetem Stein getragen wurde. Das Schindeldach war weit ausladend und
geschwungen. An den Giebeln war es mit stilisierten Drachenköpfen geschmückt.
Der breite Eingang wurde von mächtigen hölzernen Säulen flankiert, die mit
kunstvollen Schnitzereien verziert waren. Von dort kamen die Trommelklänge, und
dort würde die Zeremonie stattfinden. Das ganze Dorf war zu diesem Anlass
zusammengekommen, auch die Drachenkrieger, die nicht ständig hier lebten. Jeder
der irgendwie abkömmlich war, stand hier versammelt. Viele trugen die königliche
Uniform, andere festliche Kleidung. Der yamaij, der Ältestenrat, trug flammendes
Rot, wie es dem Anlass angemessen war. Raji erfasste mehr die Stimmung des
Ortes und der Menschen, anstatt sie wirklich zu sehen. Seine Sinne waren klar und
zeigten ihm jedes Sandkorn, jeden Grashalm, scharf gezeichnet wie durch ein
Brennglas. Und doch war es so viel mehr, als das, was die Augen sehen, die Ohren
hören konnten. Es war die greifbare, fast sichtbare Einheit der Gemeinschaft.
Menschen, die fester zusammengehörten als jede Familie, geeint durch die selben
Ziele und Anschauungen, Jahrhunderte alte, bewährte Traditionen, und die
Gewissheit, dass jeder für den anderen einstand. Raji war Teil davon. Und auch
wenn er heute tihjanayos wurde, ein Anführer, so diente er auch damit zuerst nur der
Gemeinschaft.
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Der Ältestenrat erwartete Raji vor dem Eingang des Taijin. Die Männer und Frauen
waren nicht zwangsläufig die ältesten der Gemeinschaft, sie hatten sich durch ihre
Klugheit und Erfahrung bewährt und ihre Ratschläge waren Richtschnur für die
Gemeinschaft. Die erste unter ihnen war die ordajim, die Meisterin. Sie erwartete Raji
bereits, um die Zeremonie zu leiten und durchzuführen. An ihrer Seite warteten die
drei Anführer. Kyan, der als tihjankhaij die Verantwortung für den Nachwuchs der
Gemeinschaft trug, für Ausbildung und Training. Sjara, die tihjanjûn, die alle
geheimen Aktionen der Drachenkrieger leitete. Und Tijôn, der die Krieger führte. Er
war der tihjanayos – genau der Posten, den Raji nun übernehmen sollte. Die drei
trafen alle wichtigen Entscheidungen, beraten vom Ältestenrat und der Meisterin.
Und weil Tijôn das nicht länger konnte, sollte Raji seinen Platz einnehmen. Es war
nicht immer so, dass einer der ra’tihja die Aufgabe aus den Händen seines
Vorgängers übernahm. Der Posten war mit vielen Gefahren verbunden. Die Anführer
der Krieger wurden selten alt und starben nur selten friedlich im Bett. Auch Tijôn war
noch schwer von der letzten Schlacht gezeichnet. Er hatte ein Auge verloren, das
halbe Gesicht war zerschrammt und zerschnitten. Ein Arm hing noch in einer
Schlinge und die Hand würde er wohl nie wieder richtig benutzen können. Es war
eine Schlacht in den Bergen gewesen, nahezu aussichtslos gegen eine Übermacht
von Gegnern. Eine Schlacht, von der niemand etwas erfahren würde. Das Reich
brauchte Frieden und sicher keine Nachrichten von Kämpfen an den Grenzen. So
heldenhaft sie sich auch geschlagen hatten, Ruhm würden sie mit anderen Einsätzen
erringen, mit spektakulären Aktionen, die den Ruf der Drachenkrieger begründeten.
Raji war dabei gewesen, als es Tijôn erwischt hatte. Er hatte instinktiv das
Kommando ergriffen, und es war ihnen doch noch gelungen, die Gegner in die Flucht
zu schlagen. Und sie hatten Tijôn lebend da raus bekommen. Dieser hatte dann auch
für Raji gesprochen – und so war es nicht zuletzt sein Wort gewesen, das den
Ausschlag gab für die Entscheidung, die sie hier zusammengeführt hatte. Raji sollte
der neue tihjanayos sein.
Das alles zu erfassen und zu bedenken, hatte nur wenige Herzschläge gedauert.
Kaum die Zeit, die es brauchte, zwischen den wartenden Menschen entlangzugehen
bis zur ordajim. Räucherbecken standen auf dem Boden, Schalen mit glühenden
Kohlen. Die Meisterin warf ein Kräuterpulver hinein, so dass Flammen hochloderten.
Die Dämpfe umwehten Raji, als er sich niederkniete. Er atmete sie ein und
zusammen mit dem Trank kreisten sie in seinem Körper. Die Meisterin ergriff das
Wort. Sie sprach zu der wartenden Menge, sprach von der Entscheidung. Von den
Pflichten und Aufgaben. Von der Ehre. Raji wusste das alles. Er hörte nur zu. Tijôn
saß ihm nun gegenüber und es war wichtiger, diesen Blickkontakt zu halten, als auf
die Reaktionen der anderen zu lauschen. Ein leises Schleifen von Metall auf Leder
verriet, dass Kyan und Sjara zu ihren Waffen gegriffen und aus den Scheiden
gezogen hatten. Bereitwillig hob er die Arme und ließ zu, dass sie die Klingen
ansetzten. Sie setzten in jeden Unterarm einen tiefen Schnitt, aus denen in ruhigen,
aber steten Strom sein Blut zu fließen begann. Raji betrachtete es seltsam
distanziert, mit allenfalls mildem Interesse. Es war sein Blut – und es war sein Opfer
für diesen Tag. Blut war eine mächtige Kraft und er war bereit, sein Blut für diese
Zeremonie zu geben. Mehr noch, er war bereit, es mit Blut zu beeiden. Sein
Versprechen, als tihjanayos, alles zu geben.
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Die Trommeln klangen wieder lauter, schneller. Die Meisterin trat herzu und der
Ältestenrat schloss den Kreis um Raji. Der junge Mann senkte den Kopf. Sein Geist
war bereit, ließ sich führen und leiten in die andere Bewusstseinsebene, die für die
Befragung erforderlich war. Es ging darum, seine Einstellung zu prüfen, seine
Wahrhaftigkeit, seine Willensstärke. Und so wurde er befragt. Von der Meisterin und
von den Mitgliedern des Ältestenrates. Von allen gleichzeitig und auf mehr als einer
Ebene des Bewusstseins. Nicht jede Frage wurde laut ausgesprochen und nicht jede
Antwort gab Raji bewusst. Es war jedoch unmöglich zu lügen oder etwas zu
verbergen. Er wurde befragt und geprüft, musste Geist, Herz und Willen offenlegen –
und noch immer rann sein warmes Blut aus den Schnitten an seinen Armen. Wenn
seine Antworten nicht gut genug waren oder die Fragen einfach nur zu lange
dauerten, mochte es gut sein, dass zu viel von seinem Blut verloren ging. Zu viel
geopfert wurde, und er vielleicht den Versuch, sich würdig zu erweisen, mit dem
Leben bezahlte. Jetzt jedoch gab es kein Denken oder Zögern. Jetzt galt nur das
Fragen und Antworten und über allem der dumpfe Rhythmus der Trommeln. Was
denkst du, was glaubst du, was willst du? Warum? Was? Aus welchem Grund?
Schneller immer schneller, bis sich alles um ihn drehte. Fragen, Stimmen und Worte
rot vor seinen Augen kreisten. Der Trommelrhythmus trieb ihn weiter – und dann war
es plötzlich still. „Tihjanayos!“ Es dauerte einen Moment, bis Raji verstand, dass die
Stimme nicht nur in seinem Kopf erklang. Er hob den Blick und sah die Meisterin. Sie
nickte ihm zu. Er sah Kyan, Sjara und Tijôn und erst da verstand er, dass die Anrede
ihm gegolten hatte. Tihjanayos. Tijôn deutete ein Lächeln an, etwas schmerzlich
vielleicht, weil er diese Aufgabe nun nicht mehr erfüllen konnte, nicht mehr erfüllen
würde. Und doch stattgebend und ohne Neid für den jüngeren. Raji erwiderte das
Lächeln mit einem Nicken – dem stummen Versprechen, die Hoffungen nicht zu
enttäuschen. Er bemerkte kaum, dass Kyan und Sjara die Verletzungen verbanden.
Und es kümmerte ihn nicht, dass er in einem See aus Blut saß. Die Prüfung war
bestanden. Er konnte es noch immer nicht ganz glauben, als die Meisterin schließlich
weitersprach, um die Zeremonie zu ihrem rituellen Ende zu bringen. „Wie es seit der
Zeit des Drachen Brauch ist, wurdest du durch Feuer, Blut und Schwert geprüft und
hast dich würdig erwiesen. Raji, erweise dich auch als tihjanayos würdig. Im Namen
des Drachen – im Dienste des Königs – in der Ehre der Gemeinschaft.
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STÄDTISCHES WAHRZEICHEN
Aufgabenstellung
Das städtische Wahrzeichen ist kein Gegenstand und kein Gebäude,
sondern ein besonderer Stand von Personen, der fast nur dort
vorkommt und die Stadt berühmt gemacht hat.
Um wen handelt es sich da und warum gibt es sie fast nur dort? Und
inwiefern sind sie auch visuell so speziell, dass sie als Wahrzeichen
taugen?
Zeit für die Bearbeitung:
17.08. - 23.08.
Teilnehmer:
1. Platz
Sturmfaenger
Die Netzträger von Skhe’ekshi
(80 Punkte)
2. Platz
Jundurg
Die fliegenden Händler von Rontoningus
(71 Punkte)
3. Platz
Moordrache
Die Vnekyu von Heyrée
(66 Punkte)
4. Platz
Ganilh
Die Hutmacher zu Vallalan
(64 Punkte)
Jury:
Gerion
Gomeck
Mara
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Ganilh
Die Hutmacher zu Vallalan
Vitali Virgilius wurde am 5. Jantar des Jahres 1324 in die Zunft der Hutmacher zu
Valallan aufgenommen. Es war ein schöner, sonniger, doch kühler Wintertag. All
seine Freunde und seine ganze Familie waren anwesend; sogar der verhöhnte,
greise Onkel aus Budewiz war am Vortag pünktlich angereist. Am Platz vor dem
Zunfthaus war die ganze Stadt versammelt und folgte gespannt den Reden der
illustren Mitglieder der Zunft, die Vitali zu seinem Beitritt gratulierten. In der Mitte des
Platzes trug die Allan-Statue stolz sein Meisterwerk: des Magiers Aloïs Perte-de-Guy
neuen Zauberhut.
Vitali war 46 Jahre alt und damit bei weitem das jüngste Mitglied der Zunft. Von Kind
auf träumte er, wie viele Kinder in Valallan, eines Tages der bedeutendsten Zunft der
bekannten Welt beizutreten. Er rannte über die Felder um die Stadt, in der Hoffnung,
der Magier Loïc Trouve-Fortune erscheine und erteile ihm seinen ersten Auftrag, wie
damals der große Hutmacher Allan, Gründer der Zunft, ihn erhielt. In seinen
Jugendjahren stibitzte er Stroh von Vaters Feld und flocht seine ersten Hüte für die
Bauern, die unter der harten Sommersonne aufs Feld gingen.
Später, wollte ihn kein Zunftmitglied als Lehrling, da er schier nichts Gescheites aus
Stoff verarbeiten vermochte. Sein Traum erschien ihm unerreichbarer als je zuvor,
als er sich vom Vater verabschiedete um im fernen Süden eine Lehrstelle zu suchen.
In Valallan sprachen die Waschweiber von Exil.
Um seine Reise in den Süden zu bezahlen, flocht er Hüte für die Karrenführer die ihn
mitnahmen. Als er eines Tages in der südlichen Stadt Barrens ankam, wurde ihm
sofort klar, dass er der Erfüllung seinen Kindertraumes einen Schritt nähergekommen
war. In Barrens wurden Hüte aus Agavenstroh hergestellt, die so weich waren, dass
man hätte glauben können sie wären aus Tuch. Er bewarb sich als Lehrling und
erlernte so das Engflechten mit Agavenstroh.
In Barrens trugen reiche Bürger und Adlige diese leichten und komfortablen Hüte um
sich vor der Sonne zu schützten. Es war allerdings auch Mode, zu besonderen
Anlässen diese Hüte zu tragen. Mit dem Gewinn aus dem Verkauf seines
Meisterwerks stellte sich sein Lehrmeister zufrieden, schrieb ihm seinen Lehrbrief
und ließ ihn gehen.
Vitali Virgilius kehrte mit einer vollen Kiste Agavenstroh nach Valallan zurück und
eröffnete seine Hutmacherei. Aus dem lokalem Getreidestroh erzeugte er klassische
Bauernhüte und für die hiesigen Wohlhabenden, die besonderes weichen Hüte aus
Agavenstroh. Er verkaufte nur geflochtene Hüte, doch beriet er seine Kundschaft
einwandfrei zu Physionomie und Silhouette. Er schlug ihnen auch Anlässe vor, bei
denen es sich anbot seine Hüte zu tragen. So wurde er zum Modemacher von
Valallan, aber noch nicht Mitglied der weltberühmten Zunft.
Nur nach Ablieferung eines Zauberhuts konnte man der Zunft beitreten. Doch wie
bekam man einen Auftrag von einem Magier? Seit hundert Jahren war kein Magier
nach Valallan gekommen und die heutigen Zunftmitglieder waren alle nur die
Nachkommen der damaligen Zauberhutmacher. Die Waschweiber munkelten, es
hänge an der minderen Beschaffenheit der Hüte, und kicherten ausgiebig über die
„Beschaffenheit“ der Hutmacher.
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Am Vorabend seines dreißigsten Geburtstags des Vitali Virgilius, kurz vor
Arbeitsschluss, stand ein junger Mann in der Tür. Er schaute sich alle Modelle in der
Hutmacherei genau an, bevor er sich enttäuscht Vitali zuwandte.
„All diese Jahre hast du geflochten, sagte der junge Mann. In guten und in
schlechten Zeiten. Heute bist du ein reicher und geachteter Mann in deiner
Heimatstadt. Aber gibst du dich damit zufrieden, dem Bürgermeister einen deiner
Hüte aufzustülpen, während die Bauern kratzende Strohhüte tragen?“
„Moment, werter Kunde, antwortete Vitali forsch. Wer sind sie überhaupt, dass sie
mir Lektionen zu erteilen? Ich komme von einem Bauernhof und habe schwer
gearbeitet, um heute hier zu stehen.“
„Und, Vitali? Erinnerst du dich, als in deiner Jugend, alle Bauern im Sommer deine
Hüte trugen, fragte der Unbekannte. Sie kratzten schon damals. Doch sie trugen
deine Hüte mit Stolz, denn ein einfacher Bauernsohn flocht sie ihnen, nicht diese
eingebildeten, wichtigtuerischen Hutmacher der Zunft.“
Vitali schaute schamerfüllt zu Boden. Dieser Mann hatte Recht. Er erinnerte sich wie
sein Vater ihm jeden Morgen zuzwinkerte als er seinen Hut aufsetzte bevor er aufs
Feld ging. Bei all dem Streben nach seinem Ziel, hatte er wohl das Wichtigste
übersehen. Vitali erstarrte als der junge Mann fortsetzte:
„Ich heiße Aloïs Perte-de-Guy, Magierlehrling des 3. Ordens von Parathyun. Vitali
Virgilius, Hutmacher zu Valallen, ich erteile dir hiermit den Auftrag meinen Zauberhut
für die Magierreife zu flechten.“
Der junge Magier reichte ihm lächelnd die Hand um den Auftrag zu besiegeln. Vitali
traten vor Glück die Tränen in die Augen, als er das Schütteln erwiderte.
„Dies ist deine Chance, lachte der Magier und nahm den Hutmacher in die Arme.
Denn sei gewarnt: Ich habe nicht vor, mir während meiner Reifeprüfung den Kopf zu
kratzen.“
Da musste auch Vitali lachen. Er lud Aloïs zum Abendessen ein. Der Magier blieb
auch zur Geburtstagsfeier. So lernten sie sich kennen und aus Auftraggeber und
-nehmer wurden Freunde. Am Tag danach verabschiedete sich Aloïs Perte-de-Guy.
Vitali stürzte sich unzählige Tage, Monate, ja Jahre lang in sein neues Projekt, das
Getreidestroh tauglich zum Engflechten zu verarbeiten. Er tüftelte vergeblich an
seiner Engflechtmethode, doch die Halme brachen immer vorzeitig ab. Er versuchte
das Stroh weich zu schlagen, wie die Metzger aufs Fleisch losgehen, doch die Halme
spalteten sich unveränderlich zu Franzen. Er beriet sich mit seinem Vater, um
eventuell jüngeres, bieg festeres Stroh zu nutzen. Doch das Kratzen der so
geflochtenen Hüte ließ nicht nach. Jährlich erkundigte sich Aloïs über die Fortschritte
seines Freundes, munterte ihn auf und half ihm über seine Fehlschläge hinweg. Und
langsam zogen schließlich 16 Jahre ins Land. Doch Vitali gab nicht auf.
Am frühen Morgen nach einem Erntedankfest kam er auf eine neue Idee. Das große
Feuer war erloschen, als Vitali gedankenverloren mit einem Strohhalm in der Glut
rumstocherte. Als die Sonne hoch am Himmel stand, verließ er die Feuerstelle.
Unerklärlicher Weise behielt er den Halm in der Hand. Vor der Tür seiner Werkstatt
hielt er inne. Der Halm war in der Glut nicht komplett verbrannt, sondern nur an einer
Stelle leicht verkohlt. Er pustete die Asche vom Halm und fuhr sachte über ihn. Der
Halm war sanft und geschmeidig.
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Die folgenden Tage verbrachte er in der Stadtbäckerei. Er verbrannte Unmengen an
Stroh, bevor er die richtige Hitze der Glut und Dauer der Verkohlung bestimmen
konnte. Danach machte er sich ans Flechten. Und siehe da! Die Halme brachen
nicht. Endlich war es ihm gelungen. Der Strohhut war so sanft wie die
Agavenstrohhüte.
Im Erfolgsrausch flocht er solche Hüte für alle Bauern und Stadtbewohner. Zum
Neujahr kam, wie jedes Jahr, Aloïs zu ihm. Seine Freude war groß, als er Valallan
erreichte und feststellte, dass die ganze Stadt graue und weiche Strohhüte trug.
Vitali und Aloïs feierten das Neujahr was das Zeug hielt und verkündeten lauthals in
ganz Valallan, dass der Magierlehrling einen grauen Zauberhut in Valallan erstanden
hatte.
Vitali Virgilius wurde am 5. Jantar des Jahres 1324 in die Zunft der Hutmacher zu
Valallan aufgenommen. Es war ein schöner, sonniger, doch kühler Wintertag. Vitali
war 46 Jahre alt und wunschlos glücklich, denn er hatte seine Heimatstadt
verzaubert.
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Jundurg
Die fliegenden Händler von Rontoningus
Hierzu bedarf es einer kurzen quasi-geschichtlichen Erzählung.
Die Stadt Rontoningos wurde zu einer Zeit gegründet, da die Welt noch nicht so
gefestigt war und Magie in großem Stil noch allgegenwärtig war. So konnte es
geschehen, dass hier fliegende Teppiche (oder andere Flugtextilien) Mode wurden,
und beinahe von jedermann verwendet wurden. Sie haben den Nachteil, einerseits
zwar sehr leicht zu bedienen zu sein - ein bloßer Gedanke ist meist genug zur
Bewegung, also einfache Bewegungsmagie, andererseits aber gerade dadurch sehr
anfällig auf Störungen zu sein (denn auch jeder andere in der Nähe kann den
Teppich steuern, was die gewisse Gefahr mit sich bringt, in der Luft von einem
unwohlgesonnenen Nachbarn vom Teppich geschleudert zu werden). Dem kann nur
entgegengewirkt werden, wenn der Teppich über lange Zeit im Besitz einer einzelnen
Person ist, d. h. nur von dieser gelenkt wird (Gegenstände im Besitz werden
widerstandsfähig gegenüber Fremdeinfluss). Auf diese Weise wurde eine
Spezialisierung notwendig, und bald gab es eine ganze Menge unabhängiger
Teppichlenker.
Diese Mode hätte sich gewiss auch auf die anderen großen Städte ausgeweitet,
wenn nicht gerade zu dieser Zeit die Familie, der die Stadt gehörte, in Ungnade
gefallen wäre und verbannt wurde. Angeklagt waren sie wegen Gefährdung der
Stabilität der Welt aufgrund übermäßigen Einsatzes von Verwandlungsmagie nebenher bemerkt zu Unrecht angeklagt, aber das gehört nicht hierher. Auf jeden
Fall fiel die Stadt nun unter die Oberherrschaft des Adelsrates, der sofort strenge
Gesetze erließ, unter anderem die fliegenden Teppiche verbot, da sie
möglicherweise ebenfalls eine destabilisierende Wirkung haben könnten.
Die bereits etablierten Teppichlenker beugten sich zunächst dem Verbot, allerdings
kam es in der Folgezeit immer wieder zu Unruhen, die schließlich in einer offenen
Rebellion endeten. Die führenden Gestalten dieser Revolte waren die Teppichlenker,
die allen Gesetzen zum Trotz ihren Beruf wieder aufnahmen. Zum Zeichen des
Aufstands wurde ein silbern-violettes Band (die Wappenfarben der vertriebenen
Adelsfamilie), das sie auch heute noch tragen.
Die Stadt erlangte schließlich die Unabhängigkeit, da sich keine der Adeligen mit der
gesetzlosen Stadt länger herumschlagen wollte, und die Teppichlenker wurden somit
zu einer Art lokalen Helden umfunktioniert. Die meisten Teppichflieger betreiben
zusätzlich zu ihrem Personentransportgeschäft noch weitere, sie fungieren als eine
Art Supermarkt, der zu allen Häusern der Stadt direkt liefert - so gut wie jeder
fliegender Händler kennt einen, der genau die gewünschte Ware verkauft, und
aufgrund ihrer Teppiche funktioniert das System recht schnell, oder zumindest
schneller, als wenn man sich zu Fuß auf die Suche nach den Waren macht, was in
Rontoningos ohnehin schwer fällt, da es nur sehr wenige Straßen gibt, seit die Stadt
sich an den Luftverkehr gewöhnt hat. Viele Häuser haben ausschließlich nach oben
Eingänge.
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Einzelne Teppichflieger versuchten zuweilen ihr Glück in anderen Städten, aber die
meisten davon kehrten bald zurück; entweder ihre Kunst ist verboten oder die Leute
sind es nicht gewohnt, sich durch die Luft zu bewegen, meist ist beides der Fall.
Teppichflieger kann theoretisch jeder werden, der einen Fetzen Stoff hat und
einigermaßen mit Bewegungsmagie zurechtkommt (der durchschnittliche Bürger).
Doch um das Abzeichen der Fliegenden Händler zu erhalten, das silbern-violette
Band, welches von den Trägern an den unterschiedlichsten Stellen getragen wird,
muss der Anwärter eine Prüfung bestehen, die in einer Art Luftduell mit mehreren
erfahrenen Fliegern besteht. Das Ziel ist allerdings nicht, das Duell zu gewinnen,
lediglich, eine Flasche mit einem alkoholischen Getränk sicher von einem Ort zu
einem am anderen Ende der Stadt zu bringen.
Wer immer die Stadt besucht, kommt meist nicht umhin, die Dienste der Fliegenden
Händler in Anspruch zu nehmen. Reisenden empfiehlt man aber, sich nur auf
Händler einzulassen, die ihr silbernes Band sichtbar tragen.
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Moordrache
Die Vnekyu von Heyrée
Heyrée ist zwar nicht die einzige Küstenstadt der Welt, aber mit ziemlicher Sicherheit
die einzige, die an den Ufern zweier Meere liegt. Zumindest ist im hiesigen Teil der
Welt keine vergleichbare Stadt bekannt. Denn Meere – wenigstens solche, die
hauptsächlich Wasser enthalten – sind in dieser Welt ausgesprochene Raritäten und
grundsätzlich als Binnenmeere zu betrachten [dieser Begriff existiert in dieser Welt
jedoch nicht, da gar keine andere Meeresform bekannt ist]. Es grenzte daher an ein
Wunder, wenn irgendwo anders nochmals zwei Meere so eng benachbart wären, wie
es bei Heyrée der Fall ist.
Freilich kennt keiner der Bewohner Heyrées die gesamte Welt. Niemand hat sie in
Gänze jemals bereist oder gar erforscht. Aber einige wenige Wagemutige sind schon
mal ein paar hundert Tagesreisen weit gereist. Und am entferntesten Punkt dieser
Reisen kannten die dortigen Bewohner oft Berichte von ihren eigenen Wagemutigen,
die ihrerseits ferne Länder besucht hatten. Und so weiter. Wasseransammlungen, die
den Namen ›Meer‹ verdient haben, sind daher erwiesenermaßen selten.
Felslandschaften, Hügel- und Ödland, aber auch Sümpfe und Urwälder prägen das
Gesicht der Welt, nicht aber große, freie Wassermassen. Alles in allem kann man
davon ausgehen, dass nirgendwo in der bekannten Welt ein zweites
Meereszwillingspaar existiert.
Daher waren die Heyréer von der Einzigartigkeit ihrer Stadt schon immer überzeugt
und stolz darauf – und sind es bis heute. Zumindest die meisten.
Dieser Einzigartigkeit ist es vermutlich auch zu verdanken, dass die Stadt noch mit
einer weiteren Besonderheit aufwarten kann, die man anderswo vergeblich sucht:
Die große Zahl der das Stadtbild – und faktisch auch die Stadt selbst – nahezu
beherrschenden Vnekyu.
Die Vnekyu sind ein eigentümliches Seefahrervolk. Doch obwohl es, wie bereits
erwähnt, auch noch vereinzelt andere Meere gibt, scheinen sich fast alle dieses
Volkes nur im Umland dieser beiden Meere und vor allem in und um Heyrée
aufzuhalten – oder sie halten sich anderswo sehr erfolgreich versteckt.
Genau genommen gibt es zwei Arten von Vnekyu, die namentlich jedoch kaum
unterschieden werden, verschiedener aber kaum sein könnten: Die eigentlichen
Vnekyu, die eine eigene Spezies darstellen einerseits, und andererseits ein Großteil
von deren Seeleuten, die dieser Spezies nicht angehören sondern ein
›Sammelsurium‹ aller möglichen Rassen und Arten sind, die oftmals nicht aus völlig
freiem Willen für die ›echten‹ Vnekyu arbeiten. Sklaverei ist aber nichts
Ungewöhnliches in dieser Welt. Trotzdem haben sich einige der ›artfremden‹ Vnekyu
bereits bis in mittlere Offiziersebenen heraufgedient, natürlich nur jene, die sich als
ihren Herren treu ergeben und zuverlässig erwiesen haben.
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Die ›echten‹ Vnekyu sind körperlich etwas robuster gebaut als die meisten übrigen
als zivilisiert geltenden Rassen und Spezies8, gehen aber genauso auf zwei Beinen
und haben zwei Arme, ihre Hände verfügen über je einen Daumen und vier weitere
Finger. An ihrem Körperbau deutet nichts auf eine mögliche Herkunft aus dem Meer,
sie haben keine Schwimmhäute oder ähnliches zwischen den Fingern oder Zehen,
auch ihre graubraune, ledrige Haut ist eher rau und wenig wind- oder
›wasserschnittig‹, aber immerhin völlig haarlos.
Auffällig sind jedoch die vier Hörner auf ihrem Schädel. Sie sind hintereinander
angeordnet – mit Ausnahme der beiden vordersten, diese liegen knapp oberhalb der
(theoretischen) Augenbrau-Linie nebeneinander, etwa daumenbreit voneinander
entfernt. Diese beiden Hörner sind an ihren Spitzen leicht nach außen gebogen und
etwa so lang wie eine Hand. Eine halbe Handbreit dahinter befindet sich das dritte,
etwas kürzere, dafür aber schnurgerade Horn, und fast genau in der Schädelmitte
ragt das vierte, nochmal etwas kürzere und minimal nach hinten gebogene Horn
beinahe senkrecht in die Höhe. Hinter vorgehaltener Hand werden die Vnekyu von
den übrigen Heyréer umgangssprachlich auch gelegentlich ›Vierhörner‹ genannt.
Ihr Gebiss ist eindeutig das eines Raubtieres, weist aber ansonsten keine
Besonderheiten, etwa wildschweinähnliche Hauer oder ähnliches, auf.
Trotz der Hörner gelten die Vnekyu als ›relativ normal‹, denn auch einige andere
kulturschaffende Spezies dieser Welt haben Hörner, wenn auch nicht in dieser
speziellen Anordnung und auch nur selten mehr als zwei.
Neben ihren auffälligen Hörnern tragen alle Vnekyu – auch die meisten ›artfremden‹,
bis auf die rangniedrigsten Sklaven – mindestens ein kräftig-gelbes Kleidungsstück,
meist eine Kopfbedeckung (die jedoch die Hörner stets sichtbar lässt) oder ein
großes Halstuch, das zu einer Art locker gewickeltem Seil verdreht wird. Die
ranghöchsten Vnakyu tragen auch häufig gelbe, halblange Umhänge, solange sie
sich an Land bewegen (an Bord der Schiffe sind diese gewöhnlich eher unpraktisch).
Auf andere Art einheitliche Kleidungsstücke – etwa bestimmte Hutformen – kennen
sie anscheinend nicht.
Anderen Bewohnern und Besuchern Heyrées und der Küstenregionen beider Meere
ist das Tragen von gelber Kleidung verboten, daher fallen die Vnekyu meist sofort
auf, auch wenn es sich um die ›Artfremden‹ handelt.
In früheren Zeiten sollen die Vnekyu einfache Piraten gewesen sein, die sich im
Laufe der Zeit ausschließlich im damals noch kleinen Heyrée offen gezeigt haben
sollen. Denn die noch schwachen Herrscher von Heyrée wurden einerseits an den
Erlösen aus den größeren Beutezügen beteiligt, andererseits aber auch auf
unterschiedliche Weise unter Druck gesetzt, um sie von Maßnahmen gegen die
Vnekyu abzuhalten. Zumindest halten sich bis heute entsprechende Legenden und
Gerüchte, welche die Vnekyu natürlich nicht gerne hören. Über die Herkunft und
kulturellen Überlieferungen ihres Volkes oder die Bedeutung ihres Namens
schweigen sich die Vnekyu jedoch hartnäckig aus. Es scheint so, als gäbe es da ein
großes Geheimnis zu wahren – was die Gerüchte natürlich nur noch mehr aufheizt.
Zu den Geheimnissen der Vnekyu zählen zweifellos auch deren Schiffe. Da die
8 Menschen gibt es in dieser Welt nicht, da ein anderer Vergleich jedoch recht schwierig ist, dennoch
dieser hinkende Versuch: Die meisten Rassen usw. sind – im Durchschnitt – ungefähr menschengroß
und von menschenähnlichem Körperbau, würden auf irdische Menschen aber manchmal leicht
dämonenhaft wirken.
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beiden Meere relativ windarm sind – und wenn dann doch mal Wind aufkommt,
entwickelt sich daraus meist ein schwerer Sturm – machen Segelschiffe keinen
großen Sinn. Die Schiffe der Vnekyu haben daher nur einen Mast, der lediglich als
Ausguck dient. Ruder bzw. Riemen jedoch sucht man an diesen Schiffen ebenfalls
vergeblich. Es gehen Gerüchte um, dass die ranghöchsten Vnekyu über
wahrscheinlich magische Artefakte verfügen, mit deren Hilfe sie die Schiffe antreiben
und lenken, andererseits aber auch die seltenen, aber schweren Stürme abmildern
oder gar umlenken können. Bei den Artefakten soll es sich übrigens um etwa
hühnereigroße, gelbe Kristalle handeln. Gesehen hat sie bisher selbstverständlich
noch niemand außerhalb des Vnekyu-Volkes, falls sie denn überhaupt existieren.
Heute gehören die Vnekyu offiziell zum Stadtadel, obwohl sie – ebenfalls offiziell –
nicht an der Herrschaft beteiligt sind. Dass die Wirklichkeit anders aussieht, weiß
praktisch jeder Heyréer, aber es wird nicht offen darüber gesprochen: Im Hintergrund
ziehen die Vnekyu an den Fäden der regionalen Machtgefüge.
Unbestrittene und wenig überraschende Tatsache ist jedoch, dass sie beide Meere
mit ihren Schiffen beherrschen. Angeblich treiben sie zwar nur Handel und führen
Transporte aller (auch kriegerischer) Art durch, aber einerseits glauben manche
Heyréer, dass sie wenigstens ab und zu doch noch auf Raubzüge gehen und dabei
keine lebenden Zeugen zurücklassen und auch mögliche Konkurrenten schnell und
unauffällig aus dem Weg räumen (wozu sonst sollten auf magisch gesteuerten
Schiffen große Mannschaften notwendig sein?), andererseits scheint es den
Heyréern aber durch die ›Geschäfte‹ der Vnekyu allgemein gut zu gehen, begünstigt
natürlich auch durch die einmalige geographische Lage. Solange niemand gegen die
relativ wenigen Ge- und Verbote der Vnekyu verstößt, hat auch niemand um sein
Leben oder Hab und Gut zu fürchten.
Daher wird in und um Heyrée meist gute Miene zum bösen Spiel gemacht und man
mischt sich nicht in die Angelegenheiten der Vnekyu ein, verehrt sie stattdessen
angemessen respektvoll (um vielleicht einmal ein Stück vom Kuchen oder zumindest
noch weniger wahrscheinlich Ärger abzubekommen). Nicht zuletzt deshalb – und
weil ihre ständige und wegen der gelben Kleidungsstücke auffällige Präsenz das
Stadtbild prägt – gelten die Vnekyu als so was wie das Wahrzeichen Heyrées, das
auch in entfernteren Regionen gut bekannt ist. Möglicherweise jedoch auch deshalb,
weil die Stadt selbst sonst nicht viel zu bieten hat, das als Wahrzeichen taugen
könnte. Mit Ausnahme der Zwillingsmeere vielleicht, die als Wahrzeichen aber ein
wenig unhandlich sind...
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Sturmfaenger
Die Netzträger von Skhe’ekshi
Vor mehr als tausend Jahren war Skhe’ekshi eine Monolithenstadt an einer der
menschlichen Handelsrouten durch unsere Wüste. Bis diese Handelsrouten
irgendwann zusammenbrachen, ging es dem Schwarm meiner Ahnen gut, sie hatten
zu Essen, und die vielen Besucher tranken dankbar aus unseren Tiefbrunnen und
kauften unseren Zucker. Sie ließen im Tausch interessante Dinge hier, und neues
Wissen und neue Ideen sickerten unaufhörlich ins Schwarmbewußtsein. Viele
Schlüpflinge krabbelten damals durch die Gänge, und die Luft war erfüllt vom Sirren
der Kinderflügel.
Dann, als hochmütige, unwissende Menschenzauberer einen magischen Gang nach
jener anderen Welt gruben, erschütterte der magische Impuls dieser Tat das gesamte
Magiegefüge in weitem Umkreis. Für meine Ahnen war das eine Katastrophe. Das
Schwarmbewußtsein brach zusammen, jeder Tiraali war auf einmal alleine in seinem
Kopf, ohne das beruhigende Summen des Schwarms im Hintergrund, ohne Zugriff
auf das alte Wissen, und ohne die Absicherung der eigenen Position in der Welt.
Schwärmlinge stürzten erschöpft vom Himmel, weil sie den Weg nach Hause nicht
mehr fanden. Viele Tiraali wurden verrückt, erkannten ihre eigenen Schwarmbrüder
nicht einmal mehr am Geruch. Sie drehten durch und griffen sich gegenseitig an.
Viele starben, und die Erinnerungen derer, die in diesen ersten Stunden ums Leben
kamen, fanden nicht den Weg ins Schwarmbewußtsein - denn es existierte zu
diesem Zeitpunkt nicht.
Die ersten Tiraali in Skhe’ekshi, die wieder zu Besinnung kamen, waren jene, die
zum Zeitpunkt der Katastrophe zufällig gerade unter der Erde gewesen waren. Es
waren ein paar Königinnen, Ganggräber, Wasserträger, Flügler, Zuckertropfer... ihre
Gedanken fanden sich zu einem kleinen Schwarm zusammen, und nach und nach
griffen sie hinaus und holten die versprengten Überlebenden zurück ins
Schwarmbewußtsein.
Die Königinnen waren so verängstigt, dass selbst ein Jahr danach ihre Panik noch
Nachwirkungen auf meine Ahnen hatte. Da die Brüter darauf reagierten, gab es
während dieser Zeit keine Schlüpflinge. Es dauerte lange, bis sich unser gesamtes
Volk von dieser Katastrophe erholt hatte. Selbst heute noch beten wir stets zu den
Göttern, dass sie es nicht noch einmal so weit kommen lassen.
Die Erinnerungen, die der Schwarm von dieser Zeit noch hat, sind chaotisch und
bruchstückhaft, und die hineingewobenen Emotionen machen es nicht einfach, das
Wissen um diese Vorgänge herauszufiltern. Wenn ich - wie es meine Aufgabe als
Historiker des Schwarms ist - so tief in unser Gemeinschaftsbewußtsein
hinuntertauche, muss ich mich an jene Erinnerungen halten, die am wenigsten
verwirrt sind.
Unter all diesen klaren Erinnerungen gibt es eine Gemeinsamkeit: Sirrcte-Befall.
Meinen Ahnen, den Skhe’ekshi-Tiraali, fiel zuerst auf, dass es die Sirrcte-Kranken
waren, deren Geist den Zusammenbruch des Schwarmbewußtseins am besten
verkraftet hat. Sie waren auch diejenigen, die ihm bei seiner Neuentstehung Halt und
Stabilität gaben.
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Jeder Tiraali kennt Sirrcte, diese winzigen, fadenwurmartigen Parasiten, die wir uns
vor langer Zeit von unseren schmackhaften Nutztieren, den Sirrctirri-Käfern
eingehandelt haben. Für uns ist Sirrcte-Befall eher lästig, für die Sirrctirri aber oft
tödlich. Bei den Sirrctirri befällt der Wurm den kompletten Hinterleib des Käfers, der
sich intensiv rötlich verfärbt, wodurch er für Vögel eine wandelnde Zielscheibe wird.
Im Vogeldarm paart sich der Wurm, ehe er abstirbt und seine Eier mit dem Vogelkot
wieder ausgeschieden werden, um von den nächsten Käfern gefressen zu werden,
wodurch sich der Kreis wieder schließt.
Wenn einer von uns Tiraali sich übers Essen mit Sirrcte infiziert, merken wir davon
zuerst nichts. Nach ein paar Tagen jedoch beginnt sich auch unser Hinterleib zu
verändern. Da wir wesentlich größer sind als die Käfer, und die winzigen Würmer in
der Gewebeschicht dicht unter dem Panzer sitzen, breitet sich der Befall gut sichtbar
in Netzform unter dem ganzen Panzer aus.
Man kann bei den ersten Anzeichen der Krankheit schon beginnen, Brei aus
vergorenen Tssikchekirrblättern zu schlucken. Meistens sterben die Würmer dann ab,
ehe man mehr als ein paar spinnennetzgroße Placken auf dem Hinterleib hat. Diese
Stellen verheilen dann recht schnell, und ein paar Wochen später ist vom Befall
nichts mehr zu erkennen.
Tiraali, die gerade keinen Blätterbrei zur Hand haben, müssen die unangenehme
Ausbreitung des Befalls erdulden, bis ihr gesamter Hinterleib eine optisch sehr
auffällige, dichte Netzstruktur aufweist. Je länger ein befallener Tiraali draußen in der
Sonne war, desto intensiver ist es, denn die Würmer strengen sich dann sehr an, ein
besonders kräftiges Rot zu erzeugen, um Vögel anzulocken. (Dass es unnötig ist,
weil kein Vogel groß genug ist, um einen Tiraali zu fressen, wissen die kleinen
Plagegeister natürlich nicht.) Nach ein paar unangenehmen Wochen, spätestens
aber nach drei Monaten, sterben die Würmer von selbst ab, auch ohne Medizin.
Sirrcte-Befallene tun gut daran, währenddessen in den kühlen Bereichen des Baus
zu bleiben. Die Würmer sind dann weniger aktiv, und das Netzmuster wird
großflächiger, und heilt daher auch schneller wieder ab.
Inzwischen hat sich der Schwarm wieder von dem damaligen Unglück erholt. Die
Menschen haben zu sehr mit sich selbst und ihren neuen Herren zu tun, um uns
noch zu besuchen. Sie haben diese Invasion und die Besatzung selbst
heraufbeschworen, und unter uns Tiraali herrscht die einhellige Meinung, daß dies
ihre Strafe für so viel Unvernunft ist. Da wir nicht wissen, ob oder wann es wieder
einen magischen Impuls geben wird (den Menschen ist alles zuzutrauen!), haben wir
in Skhe’ekshi beschlossen, dass wir nicht unvorbereitet sein werden:
Wir haben seither die Kaste der Netzträger, die zu jedem Zeitpunkt mehrere hundert
Angehörige hat. Sie ist die flexibelste Kaste von allen, denn beinahe jeder von uns
hat ihr schon einmal für ein paar Monate angehört. Manche sogar schon mehr als
einmal. Solange man den Bau dabei nicht verlässt, kann man weiterhin seiner
gewohnten Tätigkeit nachgehen. Ein Netzträger kann sich jedoch auch entscheiden,
während des Befalls in andere Berufsfelder hineinzuschnuppern, oder sein Talent in
den verschiedenen bildenden Künsten zu erproben. Viele unserer neuen Ideen
stammen von befallenen Tiraali, die sich auf kreative Weise von ihrem Befall
ablenken.
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Die Tiraali der anderen Monolithenstädte würdigen unsere Anstrengungen zwar,
doch sie finden unser Vorgehen etwas extrem, und nur wenige Tiraali aus anderen
Städten folgen unserem Beispiel, sich absichtlich zu infizieren. Sie haben auch keine
eigene Kaste dafür.
Doch wir sind stolz auf unsere Netzträger. Denn falls wieder eine Katastrophe unser
Volk erschüttert, werden sie es sein, die den Skhe’ekshi-Schwarm zusammenhalten,
damit er nicht auseinanderbricht - ganz wie es die Aufgabe eines Netzes ist.
Die Götter haben uns durch Sirrcte die Möglichkeit dazu gegeben, und jeder von uns
ist gern bereit, ein paar unangenehme Wochen für das Gesamtwohl des Schwarms
zu erdulden.
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TIERART
Aufgabenstellung
Das gesuchte Tier hat in seiner Wildform eine Reihe unangenehmer
Eigenschaften. Dennoch wurde es - obwohl der Verzehr des Tieres
religiös verboten ist - domestiziert und wird vor allem von einem ganz
bestimmten Stand gehalten. Warum wurde das Tier domestiziert, für
wen und wie konnte man seiner Unarten Herr werden?
Zeit für die Bearbeitung:
24.08. - 30.08.
Teilnehmer:
1. Platz
Yelaja
Die rubinrote Speiechse
(77 Punkte)
2. Platz
Taipan
Tuchkaliden
(75 Punkte)
3. Platz
Veria
Das Mütaitzja, das Tier des Lebens
(73 Punkte)
4. Platz
Malacai
Der Aramit
(62 Punkte)
Jury:
Gomeck
Jeron
Mara
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Malacai
Der Aramit
Allgemeines
Der Aramit ist ein sehr sonderbares Tier. Er stammt von den Süßwasserkraken ab,
lebt aber an Land. Er hat wie alle Kraken acht kräftige, mit Saugnäpfen versehene
Arme. Seine Fortbewegung ist der einer Schnecke nicht unähnlich. Dabei „sitzt“ er
auf vier seiner Arme, welche ihn durch eine wellenartige Bewegung langsam nach
vorne schieben, während er sich gleichzeitig mit den anderen vier Armen vorwärts
zieht. In dieser Position ist er etwa 1,50 Meter hoch und seine Arme haben eine
Reichweite von ca. zwei Metern.
Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich über die Wälder und Sümpfe Ossirlacs. In
diesem Gebiet herrscht eine hohe Luftfeuchtigkeit und es regnet sehr häufig. Dies
ermöglichte überhaupt erst den Landgang des Kopffüßers. Denn wie alle Kraken
muss er seine Haut unbedingt feucht halten. Die im Wasser lebenden Kraken haben
damit weniger Probleme, doch der Aramit ist auf ständigen Regen angewiesen.
Jagdverhalten
Der Aramit ist sehr langsam und jagt deswegen aus dem Hinterhalt heraus. Er hat
die Fähigkeit die Farbe zu wechseln, die alle Kraken beherrschen, perfektioniert. Er
verschmilzt komplett mit seiner Umgebung und ist praktisch unsichtbar. Zudem hat
durch Symbiose mit biolimeszierenden Bakterien die Fähigkeit von sich aus zu
leuchten. Dazu hat er die Bakterien in seine Hautzellen integriert. Sie befinden sich,
wie die anderen Farbpigmente auch in kleinen Muskeltaschen, die sich auf Befehl hin
öffnen und somit die Farbe bzw. das Leuchten der Bakterien sichtbar machen. Das
erfordert allerdings, das jede Muskeltasche direkt mit dem Gehirn verbunden ist, was
zu einem riesigen Nervennetz und einem großen Gehirn führt.
Doch die Haut des Aramiten kann noch mehr: sie kann sich ausdehnen oder sehr
stark verdichten. Das ermöglicht die Bildung von Stacheln oder scharfen Hornplatten
an den Tentakelspitzen. Dieser Prozess ist allerdings sehr energieaufwendig,
weshalb der Aramit auf Magie zurückgreifen muss. Diese wird aber ausschließlich für
die Hautmodifikation eingesetzt.
Als Kaltblüter kann er lange Zeit unbewegt auf einer Stelle sitzen, denn er muss
keine Körperwärme produzieren. So verharrt er oft tagelang an ein und der selben
Stelle und wartet auf Beute. Doch wagt sich erst einmal ein Tier in die Reichweite
seiner Arme, so ist es verloren. Der eben noch schmackhafte Beerenstrauch hat
plötzlich Augen und vier starke Tentakeln. Mit diesen zerreißt er seine Beute in
Sekundenschnelle. Größere Beutetiere von bis zu zwei Metern aber werden mit dem
hornigen Schnabel, der zwischen den Tentakeln verborgen ist, gebissen und von
einem schnellwirkenden Gift getötet. Es lähmt erst die Beute und verhindert so, das
die empfindliche Haut des Aramiten verletzt wird, und tötet anschließend das
Beutetier, indem es die Atemmuskeln lähmt. So ist es nur zu verständlich, dass der
Aramit von den Bewohnern Ossirlacs „Arael-mith“, Zorn des Waldes nannten, woraus
sich der heutige Name ableitet.
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Fortpflanzung
In einer Nacht, in der sich beide Monde überschneiden, kehren die Aramiten ins
Wasser zurück. Sie treffen sich in einem großen See im Herzen Ossirlacs. Dort
beginnen sie mit ihrem spektakulären Paarungsritual. Die Männchen bilden
schillernde Muster auf ihrer Haut um die Weibchen zu beeindrucken. Nur wer sehr
komplizierte Muster bilden kann und damit sein Können in der Jagt beweist, darf sich
fortpflanzen. Wenn sich zwei Partner gefunden haben, gleitet ein Samenpaket an
einem Tentakel des Männchens zu Weibchen hinüber, welches damit ihre Eier im
Mutterleib befruchtet. Diese werden dann in einer geeigneten seichten Sumpfstelle
abgelegt und scharf bewacht. Das Weibchen wird in der Zeit vom Männchen
versorgt. Nach fünf Monaten schlüpfen die kleinen und werden nun allein gelassen.
Männchen und Weibchen trennen sich wieder und nehmen ihr gewohntes Leben
wieder auf.
Entdeckung durch die NovanerVor etwa 200 Jahren entdeckte ein unbekannter
novanischer Seefahrer ein Exemplar und war von dessen Fähigkeiten überwältigt. Er
kam auf die Idee, dass dieses Tier wunderbar in die Arenen der freien Stadt Tercan
passte. Nach einigen schmerzlichen Fehlversuchen gelang es ihm einige Exemplare
zu fangen und lebend nach Tercan zu transportieren.
Tercan
Die Stadt besteht aus zwei großen Gesellschaftsgruppen: Die Reichen besitzen
große Handelsimperien und vertreiben sich den Tag in den großen Arenen in Tercan.
Damit die Reichen nicht durch die vielen Bettler und Handwerker gestört weder,
vertrieb man diese kurzerhand aus der Stadt. So bildeten sch große Slumviertel vor
den Stadtmauern. Es bildeten sich zahlreiche religiöse Kulte, die sich an den
Reichen von Tercan bereichern wollten. Der Sachar-Kult z.B. versprachen die
Vollkommenheit, wenn man sich nur von Magie fern hält und täglich spendet oder
man werde zu magisch versklavten willenlosen Hüllen. Es gab ein Haufen solcher
Kulte, doch der Sachar-Kult ist der größte unter ihnen.
Züchtung
Als nun der Aramit in den Arenen vorgeführt wurde, war man begeistert von dem
Farbspiel zweier rivalisierender Männchen. Der betreffende Arenameister, der die
Tiere von dem Novaner für sein gesamtes Vermögen erstanden hatte, war plötzlich
einer der reichsten Bewohner Tercans. Da Arenatiere sowieso nur von speziell
ernannten Arenameistern gezüchtet werden durften hatte er praktisch keine
Konkurrenz, denn der Novaner war unglücklicherweise mit seinem Schiff gesunken,
als ein rätselhaftes Feuer auf seinem Schiff ausbrach.
Der Aramit war nicht leicht zu züchten. Man konnte ihn nicht einfach in einen Stall
sperren, den er war schlau genug, um seine Käfigtür zu öffnen. Auch konnte er sich
fast unsichtbar machen, und den Pfleger, welcher die Zelle nach ihm absuchte dann
von hinten angreifen. In der Zuchthalle musste eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit
herrschen, was man aber durch heiße Steine, auf die man Wasser goss hinbekam.
Pfleger trugen nach den ersten Todesfällen immer einen Beutel mit violettem Pulver
bei sich, das sie in die Zelle warfen um den Aramieten zu enttarnen.
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Ein weiteres Problem war die Paarung. Die Aramiten konnten nun nicht mehr ihren
alten Paarungsort aufsuchen. Man bat ihnen einen künstlichen Teich in der Mitte der
Zuchthalle an, doch er wurde nur vereinzelt angenommen. Doch die wenigen
Aramiten, die dort gezeugt wurden, nahmen ihn breitwillig als neuen Paarungsort an,
denn sie kannten den alten See nicht.
So lief die Züchtung nach den ersten Misserfolgen relativ gut und es wurden sehr
unterschiedliche Varianten gezüchtet. Die einen verfügten über lanzenartige
Tentakelspitzen, andere besaßen lange scharfe Dornen und wieder andere konnten
beides bilden. Die Gegner versuchen einander mit grellen Lichtblitzen oder starken
Warntönen zu beeindrucken. So wurde dem Aramit das beliebteste Arenatier der
Freistadt Tercan.
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Taipan
Tuchkaliden
Generell gibt es in Haagest nur wenige Insekten, die als Haustiere gehalten werden
oder sogar domestiziert worden sind. Doch die sonderbarsten unter ihnen sind die
bizarren Tuchkaliden, die fast ausschließlich von Kalidenweber gehalten werden.
Dabei stammen die Schmetterlinge ursprünglich überhaupt nicht aus Haagest,
sondern wurden von den Auir aus Meseleth eingeführt. Somit ist auch die Wildform
der Tuchkalide, die Kratzende Rotbandkalide, nur noch aus seltenen alten Schriften
bekannt, obwohl sie in Meseleth noch immer häufig vorkommt.
Wie lange die Tuchkalide schon gehalten wird, ist unbekannt, schriftlich erwähnt
werden die Schmetterlinge um 2.800 v. MF in einem Reisebericht eines
nermakäischen Händlers, der das Altkumische Reichs besuchte, was den Schluss
nahe legt, dass die Tiere zuerst dort domestiziert wurden. Um 500 v. MF bis zur
Flucht der Kumerer nach Haagest gehörten Stoffe aus Schmetterlingswolle zu den
wichtigsten Handelsgütern aus dem Kumischen Reich, verständlich dass die
Schmetterlinge bei der Flucht nach Haagest auch mitgenommen wurden. Heute
werden Tuchkaliden neben Haagest noch in vielen anderen Länder in Süd- und
zuweilen auch Mittelalaton gehalten, während sie in Meseleth seit dem Einfall der
Myrethaner bis auf wenige Gebiete wie Nermak nicht mehr zu finden sind.
Giftige Schmetterlinge und gefährliche Nester - Kratzende Rotbandkalide
Die Wildform der Tuchkalide, die Kratzende Rotbandkalide, ist nicht gerade ein
angenehmes Tier, selbst wenn man den Tieren überhaupt nicht nahe kommt. Dabei
sind die Schmetterlinge selbst eigentlich völlig harmlos, was einzigartig unter den
Kaliden ist. Sie bleiben bei einer Größe von 25 bis 30 mm relativ klein und sind
einheitlich ockergelb gefärbt. Nur der Rand des hinteren Flügelpaars ist auffallend rot
und hat der Kalide auch ihren Namen gegeben. Aber viel häufiger als die
Schmetterlinge selbst trifft man ihre Raupen an. Diese können mit einer Länge von
bis zu 50 mm deutlich größer als die Schmetterlinge werden und sind einheitlich
schwarzbraun gefärbt; bei älteren Raupen kommen dazu noch auffallend rote, lange
Haare. Eine Besonderheit der Tiere bildet – wie bei allen Kaliden – das erste
Beinpaar, das auffallend verlängert ist und es den Tieren ermöglicht Nahrung zu
ergreifen und zu transportieren.
Die Kratzende Rotbandkalide ist wie alle Kaliden ein staatenbildender Schmetterling,
die in Baumkronen recht eindrucksvolle Nester errichtet, die einen Durchmesser von
einem Meter erreichen können. Den Großteil eines Nestes machen die zahlreichen
Raupen aus, die man grob in zwei Gruppen unterteilen kann, in die Jungraupen, die
ihre zweite Häutung noch nicht hinter sich haben, und die Altraupen, alle Raupen
nach der zweiten Häutung. Abgesehen von der Größe kann man Altraupen auch an
ihre roten Haare erkennen, die ihres gefährlichen Aussehens nicht giftig sind.
Tatsächlich giftig sind feinste Härchen, die mit freiem Auge fast nicht zu erkennen
sind, aber über die auch schon die Jungraupen verfügen. Während die Jungraupen
im Nest leben und von dem leben, was die Altraupen heranschleppen, gehen die
Altraupen auf Nahrungssuche oder helfen beim Ausbauen und Reparieren des
Nestes. Zu letzterem weben die Raupen nebeneinander leere Kokons, die das Nest
ausgezeichnet isolieren und im Nest für ein relativ konstantes Klima sorgen. Der
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Raum zwischen zwei Kokons wird mit vorverdautem Blattmaterial ausgestopft, das
dank desinfizierender Substanzen vor Pilz- und Bakterienbefall schützt. Anders als
andere Kaliden weben sie zum Schutz vor Feinden nur wenige Gifthaare ein,
sondern verstärken dafür das Nest durch mehrere Kokonschichten, während
anderen Kaliden in der Regel eine Kokonschicht reicht. Trotzdem können die
wenigen Gifthaare noch immer äußerst schmerzhafte, für Menschen aber im
Normalfall nicht lebensbedrohlich Ausschläge und Schleimhautreizungen
verursachen. Die Nester erscheinen wegen der mehreren Schichten daher äußerst
pompös aus und täuschen ein viel größeres Volk vor, als sich tatsächlich im Nest
befindet. Im Nestinneren befinden sich mindestens vier Kammern, eine
Königinnenkammer, in der die Königin des Nestes lebt, eine Eierkammer, in die die
von der Königin gelegten Eier gebracht werden, eine Prinzenkammer, in die jene Eier
gelegt werden, aus denen Königinnen und Könige werden sollen, und schließlich die
riesige Vorratskammer, in der sich neben den herbeigebrachten Pflanzen auch
praktisch alle Bewohner des Nestes aushalten, die nicht gerade draußen auf
Nahrungssuche sind, oder sich um das Nest, die Königin oder die Eier kümmern. Die
Raupen, die die Nester ausbessern und die Königin versorgen, also im Innendienst
arbeiten, sind auch für die Verteidigung des Nestes zuständig.
Bei den Altraupen, die schließlich ganz das Nest verlassen, handelt es sich meist um
wirklich Veteranen, die schon mehrere Wochen am Leben sind. Sie suchen in
Gruppen besonders ergiebige Blattquellen und tragen die sorgfältig
zurechtgeschnittenen Blätter ins Nest. Bei der Auswahl der Blätter sind die Raupen
nicht besonders wählerisch. Nur gerbstoffhältige Blätter wie die von Eichen, die in
Haagest ohnehin kaum vorkommen, und Nadeln rühren sie nicht an. Vor Feinden
verteidigen sie sich, indem sie zuerst eine übel riechende Substanz auf sie spritzen.
Sollte das nicht reichen, um ihn zu verjagen, hat der Räuber noch keine Erfahrung
mit ihnen und gelingt es ihm, eine oder mehr Raupen zu fressen, macht er
Bekanntschaft mit den gefährlichen Gifthaaren. Die Folgen sind Ausschläge,
Schleimhautreizungen und können bei kleinen Wirbeltieren durchaus auch zum Tod
führen – vorausgesetzt das Tier ist nicht immun gegen das Gift oder gegen geringe
Giftmengen, was bei einigen Tieren, vor allem Vögeln durchaus der Fall ist. Wenig
effizient erweist sich die Verteidigungsart bei anderen Insekten. Diese werden
vertrieben, indem die Raupen einander zu Hilfe eilen und den Feind mit der Kraft der
Mehrheit in die Flucht schlagen.
Die zentrale Figur eines Nestes ist aber die Königin. Sie ist normalerweise das
einzige erwachsene und somit fortpflanzungsfähige Tier der Kolonie und wird
dementsprechend von ihren Untertanen auch umsorgt. Diese Füttern sie mit
vorverdautem Nahrungsbrei, das sie ihr Vorwürgen, damit sie ihn mit ihrem kurzen
Rüssel aufsaugen kann. Sie wird auch von ihren Arbeitern ständig geputzt, um
Krankheiten vorzubeugen, in ihrer Kammer herumgetragen – selbst kann sie
normalerweise nicht mehr laufen – und bei Gefahr sofort in Sicherheit gebracht.
Dafür legt die Königin ständig Eier, die von den Arbeitern entweder in die Eier- oder
in die Prinzenkammer getragen werden.
Solange die Königin lebt, gibt sie Duftstoffe ab, die verhindern, dass sich die Raupen
verpuppen und selbst zu Schmetterlingen werden. Aber nicht das ganze Jahr über
bleibt die Duftkonzentration gleich, sondern nimmt von Anfang Perlquetan bis Ende
Tedmuin kontinuierlich ab. Denn Anfang Perlquetan legt die Königin ganz besondere
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Eier, die in die Prinzenkammer gebracht werden. Die Raupen, die hier schlüpfen und
abgeschieden von den anderen Jungraupen großgefüttert werden – damit sie
möglichst wenig mit dem Königinnenduft in Kontakt kommen, selbst wenn dieser nur
schwach ist – verpuppen sich nämlich nach ihrer letzten Häutung und schlüpfen
Ende Tedmuin als fertige Schmetterlinge. Zu Hunderten schwirren sie dann aus dem
Nest, sobald ihre Flügel getrocknet sind, und vermischen sich mit den Schwärmen
aus anderen Nestern; man spricht von einer Kalidenblüte. In diesen
Schmetterlingswolken, die stets ein beeindruckender Anblick sind und hungrige
Vögel und andere Insektenjäger in Scharen anlockt, findet die Paarung statt, nach
der die Männchen sterben. Die Weibchen landen auf einem Baum, wo sie einen
großen Kokon spinnen und ihre ersten Eier legen. In dieser Zeit ist das Weibchen
noch sehr aktiv und geht durchaus auf die Suche nach nektarhältigen Blüten. Sind
die ersten Raupen geschlüpft, können sie anders als spätere Jungraupen nicht von
dem zehren, was andere Raupen bringen und müssen selbst auf Nahrungssuche
gehen, was für viele wegen ihrer geringen Größe und Zahl oft tödlich endet und
mitunter zu einem Untergang des gesamten noch kleinen Nestes führen kann. Gibt
es genug Altraupen, verlässt die Königin immer seltener ihr Nest. Sie verliert ihre
Flügel und ihr Hinterleib schwillt von der Eiproduktion so stark an, dass sie sich kaum
bis gar nicht mehr bewegen kann. Die Raupen bauen das Nest so weit aus, dass es
alle erforderlichen Kammern besitzt, und erst dann gilt ein Nest erst als
Überlebensfähig. Die meisten Königinnen überleben diese harte Zeit nicht, in guten
Jahren kommt nur ein Weibchen aus einem Nest mit dem Leben davon,
normalerweise aber deutlich weniger.
Entschärfte Hausform – Tuchkalide und ihr Nutzen
Vom Aussehen und auch vom Verhalten gibt es kaum Unterschiede zwischen der
Kratzende Rotbandkalide und der Tuchkalide – und auch die Schmetterlingswolle
beider Formen scheint zumindest optisch gleich zu sein. Der einzige Unterschied
liegt darin, dass die Tuchkaliden keine Gifthaare in ihre Nester einweben, was zwar
nicht unbedingt bedeutet, dass die Nester absolut frei von Gifthaaren sind, aber sehr
wohl, dass man nach einigen Reinigungsschritten mit großer Sicherheit sagen kann,
dass eventuell noch vorhandene Gifthaare unschädlich gemacht worden sind. Die
Raupen selbst bleiben weiterhin giftig, obwohl auch hier das Gift mittlerweile nicht so
stark ist wie bei der Wildform.
Eine Tuchkalidenkultur sieht im Grunde so aus, dass sich in den Ästen größer
Bäume mehrere Nester befinden, durchaus auch mehr als ein Nest pro Baum. Das
Nest ist in der Regel auf einer Holzplatte gebaut, die auf den Stamm genagelt oder
gehängt wird und zur Not auch wieder ab- und auf einem anderen Baum wieder
aufgehängt werden kann. Diese Platte beherbergt praktisch die Urzelle des Nestes,
die erste Kammer der Königin. Denn nach einer Kalidenblüte werden die Königinnen
eingesammelt und dazu gebracht, hier ihr Nest zu bauen. Die ersten Wochen wird
die Königin mit wasserverdünntem Honig gefüttert, bis das Nest groß genug ist, um
auf einen Baum befestigt zu werden. An die Bäume werden dann noch große Körbe
gehängt, die jeden Tag mit frischen Blättern, manchmal auch mit Heu gefüllt werden.
Einmal im Jahr, meist kurz nach der Kalidenblüte, wird eine Kalidenschur
durchgeführt. Dazu klettert jemand zu dem Nest – oder hängt es herab – und löst
vorsichtig die äußeren Kokons vom Nest. Die inneren, hinteren deren Wände sich die
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eigentliche Kolonie befindet, bleibt dabei unangetastet und geübte Kalidenweber
können sehen, wann sie zu einer inneren Schicht kommen. Die Aufgabe ist egal ob
am Baum oder am Boden nicht gerade die angenehmste. Die Kalidenweber werden
zuerst mit Gestank und Gifthaaren attackiert, die in der Regel erst nach einigen
Stunden ihre volle Wirkung zeigen. Die Schutzkleidung, die bei der Prozedur
getragen wird, ist meist unzureichend. Neben den unvermeidlichen Ausschlägen
kommt es daher nicht selten zu einem gefährlichen Anschwellen der Nasen- und
Rachenschleimhäute, das im schlimmsten Fall zum Ersticken führen kann, einer der
Gründe, warum abgesehen von Kalidenwebern niemand mit den durchaus
gewinnträchtigen Raupen hantieren will. Die Kokons werden daraufhin grob in
fließendem Wasser ausgespült – und da die Tuchkaliden keine Gifthaare in ihre
Nester einweben, werden dabei auch die meisten Gifthärchen entfernt. Dann werden
die Kokons gekocht, wobei sich die Fäden lösen und schließlich die Fäden von acht
Kokons zusammengesponnen werden. Diese so genannte Schmetterlingswolle wird
dann zu edlen Stoffen verarbeitet, die trotz der Zartheit des Gewebes ausgezeichnet
gut gegen Kälte und Hitze schützt und recht strapazierbar ist. In Haagest wird
Schmetterlingswolle auch zum Herstellen von Mückennetzen verwendet.
Besonderheiten
Der einstige Konflikt zwischen dem Kumischen Reich und der Soraskirche – und
einigen anderen Kirchen des Meledischen Kreises – und nicht zuletzt das Geschenk
der Kumerer an einige hochrangige Priester des Soras, nämlich wertvolle
Kleidungsstücke aus Wilder Schmetterlingswolle – hat zu einem Verbot von Kaliden
und allen Kalidenprodukten durch die Soraskirche geführt. Dieses Verbot umfasste
neben dem Handel mit und den Besitz von Schmetterlingswolle und Kaliden auch –
unsinnigerweise – den Verzehr von diesen. Nach späteren Versöhnungsversuchen
wurden diese Gesetze gelockert und schließlich ganz abgeschafft. Lediglich der
Kalidenverzehr ist bis heute noch verboten, ein Gesetz, das heute in Haagest
ohnehin keine Gültigkeit hätte. Allerdings würde wohl kaum jemand, der nicht wirklich
schlimmsten Hunger leiden müsste, auf den Gedanken kommen, die stinkenden
Giftraupen oder die zerbrechlichen Schmetterlinge zu essen. Es kommt aber
durchaus vor, dass nach einer Kalidenblüte die toten Schmetterlinge den Schweinen
zum Fraß vorgeworfen werden.
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Veria
Das Mütaitzja, das Tier des Lebens
Es hat kurze Beine, braunes Fell und eine spitze Schnauze. Von der Stirn über den
Rücken bis zur Schwanzspitze zieht sich ein weisser Strich. Das Mütaitzja ist
wahrlich hübsch anzusehen, doch es ist ein Wunder, dass es von seinen Haltern
nicht verjagt wird.
Man darf es nicht essen, denn es ist das Haustier der Göttin des Lebens, es nagt
Möbel, Türen und sogar Wände an, es schreit des Nachts und weckt die ganze
Nachbarschaft. Wenn es sich fortpflanzen möchte, stinkt es zudem bestialisch.
Ich möchte keines haben, doch in Kereb ist man als Arzt nicht anerkannt ohne eines.
- Tierforscher Saydiz Mora aus Nessa im heutigen Lavien, 4224 nach dem
Feuerinferno
Die Göttin des Lebens
In Kereb im heutigen Tuibe glaubte man damals an die Götter der NükaichabiAmapetaiza, darunter die Göttin Chibedze, die dem Glauben nach von ihrem Bruder
Kadaloi gebaute, leblose Puppen mit einem Finger anstubste und ihnen so das
Leben schenkte. Zweifellos war das Mütaitzja die erste belebte Puppe, denn bei ihm
konnte sie noch nicht einschätzen, wieviel sie gab, und so übernahm es etwas von
ihrer göttlichen Macht.
Das Mütaitzja kann selbst die schlimmsten Krankheiten heilen! Es war gesegnet von
Beginn an.
Es zu töten oder nur von seinem Tod zu profitieren, indem man es isst, ist eine
Sünde, die Chibedze nicht verzeihen wird.
Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte wandelte sich die Religion natürlich. Tausend
Jahre später war Chabete eine gütige Göttin des Lebens, die das Mütaitzja
absichtlich derart beschenkte, um es den Bewohnern der Insel leichter zu machen.
Gegessen wird das Tier freilich immer noch nicht, denn selbst wenn Chabete
verzeiht, man beleidigt eine Göttin einfach nicht!
Während die meisten anderen Götter auf dem Weg zur Nobia-Dinantaiza
verschwanden, blieb Kibjit erhalten. Sie stand ab der Mitte des siebten Jahrtausends
für das Leben, die Liebe und das Licht, während ihre Götterkollegen Zetaoz und
Kirda für Tod, Dunkelheit und Krieg respektive Zeit, Entwicklung und Magie zuständig
waren. Das Mütaitzja gilt nun als Bote der Göttin und wird entsprechend verehrt,
noch immer.
Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, ein Mütaitzja zu halten
Was Saydiz aus Nessa schrieb, entspricht der Wahrheit, wenn man ein Mütaitzja aus
der Steppe fängt. Doch die Mütaitzja, die bereits bei den Verwandelbaren geboren
wurden, sieht es anders aus. Zwar ist es schwierig, es zu halten, doch wenn man
einige Punkte beachtet, sind Mütaitzja gute Haustiere:
1. Lass das Mütaitzja nachts gehen. Es ist bei dir zuhause, du hast es aufgezogen,
es wird morgens nach seiner Jagd zurückkehren.
2. Gib ihm Holz zum zernagen in sein Nest.
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3. Gib einem brünftigen Mütaitzja-Weibchen genug Früchte, jedoch niemals eine
Kogiai.
4. Falls es selbst eine Kogiai gesucht hat, weil seine Brunft früher als erwartet
begann, bürste sein Fell mehrmals täglich nass durch.
Aussehen des Tieres
Ein erwachsenes Mütaitzja ist etwa sechs Handbreit lang, wenn es rennt. Im Stehen
hebt es jedoch den Kopf an, was das Tier für das Auge um fast eine Handbreit
verkürzt. Sein Körper gleitet gut durch die Luft, es gibt keine abstehenden
Körperteile, selbst die Ohren sind
unter dem glatten, aber dichten Fell
verborgen.
Junge Mütaitzja haben helles Fell, im
Alter wird es immer dunkler, jedoch
ist es stets braun, abgesehen vom
weisen Strich, der sich an der
Oberseite des Tieres von zwischen
den dunklen Augen bis zur
Schwanzspitze zieht. Der Kopf ist
heller als der Körper, eine dunkle Zeichnung zwischen Nase und Beginn des weissen
Striches macht die Mütaitzja für ihre Halter leicht unterscheidbar.
Beine und Schwanz sind vergleichsweise kurz, Krallen hat das Mütaitzja keine.
Auch die Schnauze sieht ungefährlich aus, doch man sollte sich nicht täuschen: Das
Mütaitzja hat zwei, manchmal sogar drei Zahnreihen und versteckt die inneren,
scharfen Zähne gerne hinter der Zunge.
Lebensart des Tieres in der Wildnis ...
Mütaitzja leben in der tuibischen Steppe, einzelne findet man auch weiter westlich in
der Wüste Imarai, aber dort sind sie zweifellos nur zur Jagd.
Die Tiere gründen Familien und achten Verwandtschaft hoch. Sie greifen
Familienmitglieder nicht an, sondern stehen ihnen spontan gegen fremde Tiere bei.
Es herrscht Arbeitsteilung im Nestbau, gemeinsam wird Holz zerkleinert und in die
Höhlen getragen, ebenso wird gemeinsam der Nachwuchs aufgezogen und nachts
die Beute gejagt.
Die Tiere sehen ausgesprochen gut, hingegen sind Gehör und Geruch weniger gut
ausgeprägt.
Geschlechtsreife Weibchen ändern in der Brunftzeit ihr Fressverhalten und nehmen
zusätzlich zu Fleisch auch Früchte zu sich, um dem Nachwuchs alle nötigen
Nährstoffe zu bieten. Dabei verspeisen sie auch die Kogiai-Früchte, deren Duftstoffe
in den Schweiss des Tieres dringen und den Männchen unzweifelhaft, und stinkend,
klar machen, dass sie ein brunftiges Weibchen vor sich haben. Die Männchen
verfolgen das ausdauerndere Weibchen, schliesslich herrscht Damenwahl. Dennoch
paaren sich die Weibchen mit verschiedenen Partnern.
Mütaitzja gebären etwa zwei Monate später kurz nach den Nebeltagen drei bis vier
Junge, die mangels Zähnen erst noch mit vorgekautem Fleisch gefüttert werden.
Nach einem halben Jahr allerdings haben die Jungen eine voll ausgebildete
Zahnreihe und beginnen sich an der Jagd und dem Nestbau zu beteiligen.
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Durch die andauernde Belastung werden die Zähne schnell stumpf, dem entgegnen
die Mütaitzja dadurch, dass ihre Zähne auswärts wandern und schliesslich ausfallen,
während am Gaumen neue Zähne hervorbrechen. Naturgemäss sind die Zähne
allerdings nur vergleichsweise lose am Kiefer befestigt.
In der Wildnis werden Weibchen mit drei Jahren geschlechtsreif, Männchen mit fünf.
Es sind zwanzigjährige Tiere bekannt, jedoch selten, da ihnen keine Zähne mehr
nachwachsen und sie verhungern.
... und in Gefangenschaft
Die Halter bieten dem Tier ein Nest im Haus für ein Tier.
Ein Junges wird gehegt, gestreichelt, unterhalten und mit Fleischbrei gefüttert, bis es
auf die Jagd geht. Alleine wird das Tier keinen sehr grossen Jagderfolg haben, man
muss es weiterhin füttern. Um seine Zähne abzunutzen, muss man ihm auch Holz
zum zernagen geben.
Hat man ein geschlechtsreifes Weibchen, muss man ihm genug Früchte geben, denn
sonst sucht es sich nachts draussen welche und wird auch Kogiai fressen, was den
fürchterlichen Gestank auslöst. Wenngleich der Gestank auf Mütaitzja-Männchen
sehr anregend zu sein scheint, finden die Weibchen meist auch ohne Kogiai einen
Partner.
Dadurch, dass eine bei Verwandelbaren aufgewachsene Mütaitzja-Mutter ihren
Halter als Familienmitglied ansieht, sträubt sie sich schliesslich auch nicht, wenn er
ihr die Jungen nimmt. Allerdings müssen sich Halter von Männchen damit abfinden,
wenn es zu seinem Weibchen zieht, ebenso wie Halter von Weibchen damit rechnen
müssen, mitunter mit der Brunft einige Männchen in der tierischen Familie zu
begrüssen. Die Männchen bleiben mindestens bis zur nächsten Brunft ein Jahr
später.
Wenn ein altes, zahnloses Mütaitzja gefüttert wird, kann es auch dreissig Jahre alt
werden.
Nutzen des Tieres
Wie schon Saydiz Mora schrieb, wird das Mütaitzja in Tuibe von Ärzten gehalten.
Trotz der schwierigen Haltung ist es das wert, nicht nur, um die Gunst einer Göttin zu
erbitten, an deren Existenz nicht einmal alle glauben. Nein, der Speichel des Tieres
tötet Krankheitserreger ab. Vermutlich ist dies bei der ständigen Verschiebung der
Zahnreihen nötig, damit sich nicht das ganze Gebiss entzündet. Vereinzelte Tiere mit
Speichelmangel leiden nämlich an schnellem Zahnausfall von noch scharfen Zähnen
und stark blutendem Zahnfleisch.
Der Speichel wird vom Halter, also dem Arzt, regelmässig direkt an der Drüse
abgesogen und in einer Unzahl von Salben verarbeitet oder auch, besonders bei
Erkrankungen im Mundraum, direkt aufgetragen.
Die Schwierigkeiten der Haltung lohnen sich also und auch derjenige, der erstmals
ein Junges aus einem Mütaitzja-Nest raubte, dabei riskierte, von den scharfen
Zähnen der Familie verletzt zu werden, und das Junge dann selbst aufzog, wird
vermutlich den Erfolg gesehen haben.
Sofern er dabei kein Mütaitzja verletzt hat - denn dann wäre er zu jener Zeit, in der
die Domestikation wahrscheinlich stattgefunden hat, zur Strafe getötet, zerteilt und
der Mütaitzja- Familie als Nahrung geboten worden.
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Yelaja
Die rubinrote Speiechse
In den schwülheißen Dschungeln von Delani lebt eine Echse, die vom Kopf bis zum
Rumpf etwa 30cm lang ist. Mit dem langen nach hinten immer dünner werdenden
Schanz erricht das Tier noch einmal die doppelte Länge. Die schuppige Haut der
Echse ist überwiegend in einem grauen Ton gehalten, weißt aber auf dem Rücken
vier längs verlaufende leuchtend rote Streifen auf. Den abgeplatteten dreieckigen
Kopf des Reptils ziert ein imposanter Hornkamm. Sowohl die mit scharfen Krallen
bewehrten, stämmigen Gliedmaßen als auch das kräftige Maul, in dem sich eine
Reihe spitz gezackter Zähne aneinanderreiht, weisen die rubinrote Speiechse als
Jäger aus.
Wenn delanische Waldarbeiter auf einem ihrer Streifzüge durch den Urwald einer
dieser Echsen begegnen, treten sie schnell den Rückzug an. Denn wie der Name
Speiechse schon vermuten lässt, ist sie in der Lage Gift aus speziell angepassten
Giftzähnen mit hoher Treffgenauigkeit auf Angreifer oder Störenfriede zu spritzen.
Die Speiechse ist ein Allround-Talent bei der Nahrungsbeschaffung. Sie verschmäht
weder fette Schmetterlingslarven noch die Eier unbewachter Vogelnester, die sie auf
ihren Klettertouren durch die Baumkronen findet. Doch neben diesen
Zwischenmahlzeiten kann die Speiechse auch Beutetiere erlegen, die um einiges
größer sind als die Echse selbst. Die Speiechse bewegt sich während solcher
Beutezüge in den Bäumen, indem sie mit an den Ästen entlang klettert und von
Baum zu Baum springt. Währenddessen züngelt die Echse unentwegt um den
Geruch einer potentiellen Beute zu entdecken. Wenn die Echse tatsächlich ein
passendes Beutetier geortet hat, setzt sie zu einem Sprint an und legt die restliche
Entfernung mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit zurück. Schließlich überwindet
sie die letzten Meter zwischen sich und ihrem Beutetier durch einen kraftvollen
Sprung direkt aus den Bäumen auf das Beutetier und injiziert dem Opfer durch einen
schnellen Biss ihr tödliches Gift.
Die Speiechsen leben einzelgängerisch und durchstreifen die Wälder auf der Suche
nach Nahrung. Dieses Verhalten ändert sich jedoch zwischen Vorsommer und
Gerstensommer, wenn die Zeit der Brautwerbung, Brut und Aufzucht der Jungtiere
gekommen ist. Zu dieser Zeit werden die Männchen sesshaft und beginnen ein
ausgeprägtes Revierverhalten zu zeigen. Dabei suchen sich die Männchen ein
Gebiet aus, das für die Aufzucht ihres Nachwuchses alle notwendigen Bedingungen
erfüllt. Hat das Männchen einen Landstrich mit einem geeigneten Nistplatz sowie
ausreichendem Nahrungsangebot gefunden, beginnt es damit die Grenzen seines
Reviers zu markieren, indem es seine Kloake an verschiedenen erhabenen Stellen
reibt und diese so mit einem Duftstoff markiert. Der für Menschen kaum zu
ertragende Gestank der Markierung informiert Artgenossen schon in einiger
Entfernung darüber, dass der kommende Waldabschnitt bereits besetzt ist.
Doch nicht immer lassen sich Neuankömmlinge vom Geruch eines Konkurrenten
abschrecken und dringen in das fremde Revier ein. Das fremde Männchen stößt
abwechselnd laute Quak- und schrille Pfeifgeräusche aus und fordert so den Besitzer
des Reviers zu einem Duell heraus. Wenn die Duellanten aufeinander treffen,
umkreisen sie sich zunächst und züngeln aufgeregt um den Geruch des jeweils
anderen aufzunehmen und dessen Stärke abzuschätzen. Nach dieser ersten
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Einschätzung stellen sich die Konkurrenten auf die Hinterbeine und strecken die
Vorderbeine von sich, um möglichst groß zu erscheinen. Der Schwanz dient dabei
als Stütze. Ist einer der Rivalen deutlich unterlegen, endet das Zusammentreffen
schon zu diesem Zeitpunkt mit dem Rückzug eines der Männchen. Sind jedoch beide
Tiere etwa gleich stark, folgt ein kurzer aber heftiger Schlagabtausch. Dabei
versuchen sich die Rivalen gegenseitig zu beißen und gleichzeitig den Biss des
Gegners abzuwehren. Da die Speiechse gegen ihr eigenes Gift nicht immun ist,
endet der Kampf in diesem Stadium für einen der Gegner tödlich. In sehr seltenen
Fällen werden beide Kämpfer verletzt und das umstrittene Revier wird wieder ganz
frei.
Nach der Zeit der Revierkämpfe beginnt für die Speiechsen die Zeit der
Brautwerbung. Die Männchen beginnen mit dem Nestbau und graben dafür eine
Mulde in die Erde und schaffen Zweige und Gräser herbei um das Nest später
abzudecken. In der Abenddämmerung rufen die Männchen nach den Weibchen um
ihr Revier und ihr Nest zu präsentieren und damit die Gunst des Weibchens zu
gewinnen. Erscheint ein Weibchen, angelockt durch den trillernden Pfeiflaut der
Männchen, im Revier, eilt das Männchen sofort zu ihr. Nachdem sich die Tiere eine
Weile bezüngelt haben, zupft das Männchen an der Schwanzspitze des Weibchens
und rennt dann davon. Das Weibchen verfolgt das Männchen sofort. Nach der
kurzen Verfolgungsjagd begutachtet das Weibchen die Umgebung, bevor das Ritual
aus Bezüngeln, Schwanzzupfen und Verfolgen erneut beginnt. Schließlich gelangen
die Tiere so zum Nistplatz. Was wie ein neckisches Spiel erscheint, ist eine Führung
durch das Revier des Männchens. Gefällt dem Weibchen das angebotene Revier
wird es die Partnerin des Männchens und die beiden vollenden gemeinsam den
Ausbau des Nestes.
Anfang bis Mitte des Hochsommers paaren sich die Speiechsen und das Weibchen
legt 4 bis 7 Eier in das vorbereitete Nest. Das Speiechsenpaar bleibt nach der
Eiablage in der Nähe des Nestes und ist bereit es gegen Angreifer und Feinde zu
verteidigen. Nach etwa 19 Tagen schlüpfen aus den Eiern die jungen Speiechsen,
Miniaturversionen ihrer Eltern. Da die Jungtiere noch kein Gift produzieren können,
geht jeweils ein Elternteil auf die Jagd, während das andere zur Verteidigung der
Jungen am Nest bleibt. Nach weiteren 12 Tagen sind die Jungtiere kräftig gewachsen
und haben sich dreimal gehäutet. Auch die Entwicklung der Giftdrüsen ist nun
abgeschlossen und die Jungtiere können sich alleine verteidigen und für sich selbst
jagen. Zu diesem Zeitpunkt endet die Fürsorglichkeit der Eltern, die, ebenso wie ihre
Jungen, das Revier verlassen und bis zum nächsten Sommer wieder als
Einzelgänger durch die Wälder streifen.
Einem religiösen Verbot zufolge, darf die rubinrote Speiechse nicht verspeist werden.
Dieses Verbot gründet auf der Vorstellung der Delani, dass Edelsteine ebenso wie
edelsteinfarbene Dinge Sitz göttlicher Mächte und somit heilig sind. Obwohl damit die
Nutzung als Fleischlieferant ausfällt und trotz der unangenehmen Angewohnheit der
rubinroten Speiechse, Angreifer mit ihrem Gift zu blenden, des enormen Gestanks
und des ohrenbetäubenden Lärms, den die Männchen während der Sommermonate
verursachen, wurde die Speiechse inzwischen domestiziert.
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Wen dieser Umstand verwundert, der hat offensichtlich noch nie eine Speiechse bei
der Jagd beobachtet. Wer jedoch schon erlebt hat, mit welcher kraftvollen Eleganz
die Speiechse auf ihr Opfer zuschnellt und in einer einzigen geschmeidigen
Bewegung den Tod bringt, wundert nicht, dass die Adeligen der Delani diese Tiere
inzwischen zähmen und zur Jagd abrichten.
Da die Speiechsen durchaus lernfähig sind, gelang es im Laufe der Zeit immer
besser, sie für die Jagd zu dressieren.
Die Ausbildung der Tiere beginnt direkt nach dem Schlupf, bei dem der Ausbilder die
Jungtiere anstatt der Eltern in Empfang nimmt und so auf den Menschen prägt.
Durch diesen Vorgang nimmt die Speiechse den Menschen als Artgenossen wahr
und die Gefahr, von den Tieren mit Gift bespuckt zu werden, ist deutlich verringert.
Auch die Fütterung der Jungtiere bis diese reif sind das Nest zu verlassen übernimmt
der Echsner.
Im Anschluss daran beginnt mit dem so genannten Festsitzen die eigentliche
Dressur der Speiechsen. Dabei wird ihnen beigebracht ruhig auf der Schulter ihres
Trägers zu sitzen. Am einfachsten ist diese Übung, wenn der Träger steht. Später
wird die Schwierigkeit erhöht indem der Echsner umhergeht und schließlich wird die
Speiechse sogar daran gewöhnt, auf der Schulter eines Reiters zu verharren.
Die nächste Lektion ist das Retourtraining, bei dem die Speiechse lernt, auf
Kommando aus immer weiterer Entfernung zu ihrem Herrn zurück zu kehren. Wenn
die Speiechse auch diese Übung beherrscht, wird sie schließlich noch auf ihre
zukünftige Beute eingejagt, das heißt die Speiechse wird darauf trainiert, ein
bestimmtes Beutetier zu schlagen.
Bei der Echsjagd wird die Echse zunächst auf der Schulter des Jägers transportiert.
Der Träger wird dabei durch einen ledernen Schulterpanzer vor den Krallen der
Speiechse geschützt. Die Echse selbst trägt eine kleine Lederhaube vor der
Schnauze, die vor der Jagd mit einigen Tropfen Duftöl versetzt wurde. Dies soll
verhindern, dass die Speiechse zu früh die Witterung von Beutetieren aufnimmt,
damit die Echse ruhig bleibt. Unverzichtbarer Teil der Echsjagd sind speziell
ausgebildete Hunde, die Beute aufspüren und anzeigen. Wenn die Hunde
anschlagen und mit ihrem stummen Signal ein Beutetier anzeigen, nimmt der Jäger
der Speiechse die Dufthaube ab, worauf die Echse ebenfalls Witterung aufnimmt,
sofort in die Bäume klettert und Jagd auf die Beute macht. In den lichten Wäldern, in
denen die Echsjagd durchgeführt wird, kann der Jäger den todbringenden Sprung
der Speiechse auf ihr Opfer auch in einiger Entfernung gut beobachten. Nach der
Injektion des Giftes ruft der Jäger die Speiechse zurück und überlässt ihr einen
mitgebrachten Fleischbrocken als Belohnung für die erfolgreiche Jagd.
Da die Männchen während der Sommermonate ihr Revier- und Balzverhalten zeigen
und während dieser Zeit durch den ihrer Art eigenen unerträglichen Gestank und das
ohrenbetäubende Geschrei auffallen, werden von den Echsnern hauptsächlich
Weibchen gehalten und für die Jagd ausgebildet.
Die meisten Adeligen Delanis gehen der schwierigen, zeitaufwendigen und
kostspieligen Echsjagd nach. Entsprechend sind in jedem Haushalt ein oder mehrere
Echsner angestellt, die mit der Versorgung und Pflege der Tiere betraut sind.
Besonders wohlhabende Adelige haben ihr Interessengebiet von der Jagd mit den
Speiechsen auch auf deren Zucht ausgeweitet und unterhalten auf dem Land
außerhalb der großen Städte Echsenzuchten. Hier, wo Lärm und Gestank weniger
stören, werden in ausgedehnten Gehegen auch einige Zuchtmännchen gehalten.
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Die Prägung der Speiechsen auf den Menschen hat für die Zucht den Nachteil, dass
die Speiechsen ihresgleichen nicht mehr als Artgenossen ansehen und folglich auch
kein natürliches Balzverhalten zeigen. Es obliegt deshalb dem obersten und
erfahrensten Echsner der Zucht, dem Mh’arq-Echsner, den Samen der Männchen zu
gewinnen und Zuchtweibchen künstlich zu besamen, indem der Samen mit einer
speziellen Glasspritze in deren Kloake eingebracht wird. Besamte Weibchen werden
in ein Gehege mit einer von den Echsnern vorbereiteten Nistgelegenheit gebracht,
wo sie kurze Zeit später ihre Eier ablegen. Danach folgt der heikelste Teil der
Speiechsenzucht, wenn die Echsner versuchen die Speiechsenmutter von ihrem
Gelege zu trennen, denn durch die gesteigerte Aggressivität der Echse verhindert
auch die Prägung auf den Menschen nicht, dass Eindringlinge zur Verteidigung des
Nestes mit Gift bespuckt werden. So mancher unerfahrene Echsner zahlte als
Lehrgeld für einen allzu leichtfertigen Umgang mit den Speiechsenweibchen so mit
seinem Augenlicht.
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TRACHT / KLEIDUNG
Aufgabenstellung
Angehörige einer bestimmten Bevölkerungsschicht tragen dieses
auffällige Kleidungsstück, das man nicht ohne Hilfe anlegen kann. Es
wird als unschicklich angesehen, es in der Öffentlichkeit nicht zu
tragen.
Zeit für die Bearbeitung:
31.08. - 06.09.
Teilnehmer:
1. Platz
Mara
Die weiße Haut der gefangenen Geister
(87 Punkte)
2. Platz
Gerion
Die Uhrenweste
(75 Punkte)
3. Platz
Vinni
Der Kouro
(68 Punkte)
4. Platz
Sturmfaenger
Der Shilgae
(67 Punkte)
4. Platz
Veria
Die Amtskleidung der Tijiyain
(64 Punkte)
Jury:
Jeron
Neyasha
Taipan
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Gerion
Die Uhrenweste
Die Uhrenweste ist ein Beispiel dafür, wie aus Notwendigkeit ein Kleidungsstück
entstand und dieses Kleidungsstück im Laufe der Zeit durch Gewohnheit erst zum
Erkennungszeichen, dann zur Mode, letztlich zur Tracht eines ganzen Standes
wurde.
Wir befinden uns frühmorgens in einer kleinen Bäckerei, am Rande einer nicht allzu
großen Stadt in einem der vielen Kleinstaaten Fyrnhaims. Mit einer nicht ganz zu
leugnenden Arroganz bedient der Bäcker die Kundschaft, die in erster Linie aus
Bediensteten reicherer Häuser besteht. Doch plötzlich ändert sich das Verhalten des
Verkäufers schlagartig, wird auf einmal fast kriecherisch, nachdem ein Mann den
Laden betreten hatte. Er scheucht die anderen Kunden beiseite um den verschlafen
wirkenden jungen Mann bevorzugt zu bedienen. Er spricht ihn mit „wohlgelehrter
Herr“ an, liest ihm fast jeden Wunsch von den Augen ab und kümmert sich erst
wieder um die anderen Kunden, die sich nicht über diese Bevorzugung beschwerten,
nachdem diese Person zufrieden den Laden verlassen hatte. Und all das wegen
einem Kleidungsstück, das diese Person trug und seinen Ursprung in der
Vergangenheit hatte.
Einige Jahre zuvor gab es einen dramatischen Sprung in der technologischen
Entwicklung des Kontinents, und eine neue Berufsgruppe, quasi ein neuer Stand
entstand. Sie nannten sich Technologisten oder Technomanten und waren in der
Lage, mit Technischen Mitteln an Magie grenzende Effekte zu erzeugen, oder Magie
und Technologie zu verschmelzen. Doch die ersten Mitglieder dieser Gruppierung
lebten gefährlich. Oft passierte es, dass etwas falsch funktionierte oder gar
explodierte. Öl, Metallstaub, Funken, scharfe Kanten, all dies waren, und sind bis
heute, zusätzliche Gefahren des Berufes.
Es bestand also die Notwendigkeit nach einer Schutzkleidung. Einige Tüftler fanden
diese in einer Sportart, dem Fechten. Dort wurde eine gepolsterte Weste getragen,
die nicht vorne geschnürt wurde, sondern am Rücken. Dadurch waren Brust und
Bauch lückenlos geschützt, allerdings mit dem Nachteil dass man jemanden
benötigte, der die Weste schnürte. Die Technomanten übernahmen diese Weste und
verstärkten sie zusätzlich durch Metallplatten im Inneren. Gab es nun Säureunfälle,
Stichflammen, herausspringende scharfe Zahnräder oder ähnliches, wurde meist nur
die Weste beschädigt und nicht der Tüftler darunter.
Doch es kam wie es kommen musste. Gelehrte sind oftmals etwas
Geistesabwesend, vergesslich oder einfach nur schusselig und so passierte es
immer wieder, dass sie vergaßen ihre Schutzkleidung auszuziehen und so sind sie
mit den meist fleckigen, schlicht weißen Schutzwesten nach draußen gegangen.
Nicht lange, und die Bevölkerung assoziierte die meist recht angesehenen aber oft
spleenigen Tüftler mit diesem Kleidungsstück.
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Kurz darauf trugen junge Technomanten, oft noch während der Ausbildung, mit Stolz
die schlichte Weste mit hohem Kragen, um nach außen zu zeigen welcher
Profession sie angehören. Nahezu zeitgleich begannen sie auch die ursprüngliche
Schutzfunktion zu erweitern. Zusätzliche Taschen und Halterungen für alles
Mögliche, sowie die obligatorische eingebaute Taschenuhr, nach der die Weste
inzwischen ihren Namen hat, begannen die Weste zu zieren, ebenso Stickereien und
unterschiedliche Farben, die bei Kennern eindeutig beweisen, dass diese Westen
noch nie eine Werkstatt von innen gesehen haben.
Heute, wenige Jahrzehnte später, ist es Usus geworden, die Uhrenweste von dem
Zeitpunkt an in der Öffentlichkeit zu tragen, an dem man in die Universität eintrat, sie
ist ein Zeichen dass man in den Stand der Akademiker gehört. Da dieser Stand in
den fyrnhaimischen Staaten sehr angesehen, ja fast verehrt wird, wird dieses
Erkennungszeichen von den Mitgliedern sehr gerne getragen, es wird sogar so sehr
als selbstverständlich angesehen, dass man von anderen Gelehrten schief
angesehen wird, wenn man die Weste nicht trägt. Es wird in dem Fall davon
ausgegangen, dass man etwas zu verbergen hat, unfähig ist oder gar aus
irgendeinem Grund den Stand verlassen musste.
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Mara
Die weiße Haut der gefangenen Geister
...und Hand-im-Feuer tauchte weiter hinab bis auf den Grund der Sternensee. Dort
stand ein Palast aus gefrorenem Feuer und vor dem Tor begrüßten ihn hunderte und
aberhunderte Diener der Goldenen Frau. "Gesegnet sei der Auserwählte!", schrien
sie und warfen ihre Hände der fernen Welt entgegen. "Gesegnet sei der Mann der
Goldenen Frau!" Von vieler Gestalt waren sie und wann immer Hand-im-Feuer den
Kopf drehte, änderten sich ihre Gesichter. Manche waren blau wie der Himmel im
späten Sommer mit Augen aus Lapislazuli, andere trugen stolz eine Krone aus
Blättern anstelle von Haaren.
"Komm mit mir", sprach die Goldene Frau und führte Hand-im-Feuer in den Palast.
"Trink dies", sprach sie. "Iss von diesem Fleisch und diesem Brot." Und Hand-imFeuer tat wie ihm geheißen und er lebte ein Jahr an ihrer Seite, zu jeder Zeit bedient
von den Wandelbaren Dienern der Goldenen Frau teilte er das Bett der Herrscherin
und verblieb in dem Palast tief in der Sternensee. Wann immer sie auszog und mit
ihren Ärmeln Licht und Wasser schöpfte, um es zu den Wäldern zu bringen, blieb er
zurück und sah nur hinauf zur Welt, die er verlassen hatte.
Nach einem Jahr war er des Lebens im Palast der Goldenen Frau überdrüssig. Als
sie von einer ihrer Reisen wiederkehrte, verkündete er, dass er zu den Wäldern
zurückkehren wollte.
"Du bist nicht mehr von den Wäldern", sagte sie. "Zuvor hast du Tiere aus ihrer Welt
gegessen und Brot aus dem Korn von ihren Feldern und das Bett mit den Frauen der
Städte dort geteilt. Hier aber hast du gegessen, was in der Sternensee gedeiht, und
bei mir gelegen. Blut aus der Sternensee hat das Blut der Waldwelt ersetzt, dein
Samen hat sich mit mir vermischt. Du bist nicht länger von ihnen."
Wütend stürmte Hand-im-Feuer aus dem Palast und die Goldene Frau folgte ihm,
voller Bedauern hob sie ihn zurück empor zur Welt aus Wald und Hand-im-Feuer
eilte zur Stadt seiner Geburt.
"Ich bin zurück!", rief er. Er legte seine Hand auf den Balken über der Tür seines
Hauses und das Holz begann zu brennen. Unter seinen Füßen zerfielen die Steine
zu Staub. Als er nach seiner Familie rief, wurden seine Worte zu wütenden Stürmen.
Rings um ihn flohen ihn die Menschen.
"Was ist dies!?", fragte er die Goldene Frau.
"Du bist mein Gatte", sagte sie. "Und nun fürchten sie dich wie mich und mit Recht."
"Lass mich heimgehen", bat er. "Lass mich wieder ein Mensch sein."
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Die Goldene Frau seufzte und weinte, aber sie nahm Bündel von der Knotenpflanze
und wob aus ihnen eine Menschenhaut. Geschickt zog sie sie über Hand-im-Feuer.
"Nun siehst du aus wie ein Mensch", sagte sie. "Aber lege sie niemals ab, denn sie
ist alles, was an dir Mensch ist."
- Märchen der Cojocalawpeh
Die Höchsten der Tocoidapnisitsdavpeh
In den größeren Städten des Reiches der Cojocalawpeh kann man zuweilen
seltsame Gestalten beobachten - einige klein und gedrungen, andere groß und
unnatürlich dünn, aber alle ansonsten unkenntlich gemacht durch Kapuzen, Masken
und etwas, das auf den ersten Blick wie gemusterte weiße Haut wirkt, über der
normale Tracht getragen wird. Diese weißen Männer - und Frauen, auch wenn das
Geschlecht praktisch nicht erkennbar ist bei den seltsamen Gestalten - sind die
höchstrangigen Mitglieder der Tocoidapnisitsdavpeh, der 'Geister in Menschenhaut
gefangen'.
Das ist der lange Name für die exklusive Kaste der Wanderer und Traumläufer unter
den Cojocalawpeh, die sich in den unteren Rängen durch ihre aufwändige
Körperbemalung und Selbstverstümmelung auszeichnen. Angeblich, so sagt man,
verändert sie ihre flüchtige Kunst mit der Zeit und sie werden zum Teil zu Tieren oder
Pflanzen oder gar Feuer und Stein, während sie ihre Menschlichkeit verlieren. Die
immer gleichen Gesichter aus Farbe, die abgeschnittenen Ohrmuscheln und
ausgerissenen Fingernägel sollen angeblich verbergen, dass sie nicht mehr
aussehen wie es Menschen sollten.
Und die Ältesten und Mächtigsten unter ihnen sollen sich bereits soweit verändert
haben, dass auch alle Farbe und aller Einsatz von scharfen Messern und Zangen
nicht mehr übertünchen kann, dass sie etwas Fremdes geworden sind. Wie sie sich
ihren Familienmitgliedern in den festungsähnlichen Häusern der Geister-inMenschenhaut-gefangen zeigen weiß niemand außerhalb der angsteinflößenden
Reihen von bemalten, unnatürlichen Gestalten. Aber wenn sie die Straßen betreten
oder sich auch nur auf einer Sänfte durch die Städte tragen lassen, so legen sie auf
jeden Fall die Weiße Haut an, die ihren Körper gänzlich umhüllt und verbirgt.
Dabei handelt es sich um Stoff aus den Fasern der Knotenpflanze. Um die Weiße
Haut herzustellen, müssen die Stängel der Pflanze erst getrocknet werden und dann
Tage bis Wochen in Wasserbecken langsam verrotten, bis sich die holzigen
Bestandteile zu zersetzen beginnen. Die Handwerker, die daraus nicht nur für die
Tocoidapnisitsdavpeh Stoffe herstellen, aber für diese sehr spezielle, zerschlagen
danach die Stängel mit Ruten oder legen sie unter die Walzen von Kollermühlen, um
das Holzige daran endgültig zu zerquetschen. Danach werden die übrig gebliebenen,
langen und widerstandsfähigen Fasern der Pflanze gekämmt und zu einem feinen,
festen Garn versponnen.
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Fenstervorhänge, Laken und Kopftücher werden daraus hergestellt, aber auch
Keilriemen für die Mühlen daraus gewoben. Zwei Dinge haben aber alle diese
Produkte gemeinsam: sie werden nicht gebleicht und sie werden in Leinenbindung
oder in Abwandlung als Rips gewoben und bilden auf ihrer Oberfläche keine Muster
außer den Reihen und Spalten von Kett- und Schussrips.
Für die Weiße Haut wird in Köperbindung gewoben - als Diamantköper. Das heißt die
Schuss- und Kettfäden bilden gemeinsam ein Muster von Rauten oder Diamanten,
die die Form der Welt nachahmen sollen, die mit zwei Spitzen zu den Ankern der
Himmelsringe und mit zwei Spitzen in jeweils rechtem Winkel zu den Ankern
verschoben zu den Säulen der sich drehenden Sterne zeigen. So ist jeder dieser
Stoffe mit aberhunderten, bei feiner Qualität mit tausenden winzigen Modellen der
korrekt funktionierenden Welt des Waldes und des Menschen bedeckt. (Im
Gegenzug dazu hat die Sternensee, das Reich der Anderen, der Äußeren und
Unteren, vor denen sich die Cojocalawpeh vielleicht zu recht fürchten, eine runde
Form im Denken der Menschen der Waldstädte.)
Die Tücher werden nach Angaben der Familien der Gefangenen Geister angefertigt doppelte Körperlänge des zukünftigen Trägers und in der Breite zwei Kopflängen
mehr als die Armspanne - und anschließend in der Sonne gebleicht, bis die Faser
nahezu rein weiß ist.
Alles weitere ist Arbeit der Familienmitglieder selber. Bevor einer ihrer Älteren - wann
man in diese besondere Kaste wechselt und warum ist ihre private Angelegenheit das Haus verlässt, wird er von jüngeren Verwandten in seine Weiße Haut eingenäht.
Zunächst wird eine Öffnung für den Kopf geschnitten und versäumt und dann der
Stoff wie ein Überwurf angezogen. Mit ausgestreckten Armen muss der
Einzunähende nun warten, während die Näher eilig den Stoff entlang der Arme eng
absteppen, den Stoff mit zwei Fingerbreit Nahtzugabe zuschneiden, die Nähte legen
und einklappen und vorsichtig als Doppelnaht fixieren. Ähnlich verfahren sie entlang
des Körpers. Ab der Hüfte müssen sie vorsichtig verfahren, das Tuch zu
Hosenbeinen teilen und schließlich die Füße in Stoff einschlagen. Die Hände bleiben
unter dem darüber fallenden Stoffüberstand verborgen.
Anschließend wird wenigstens eines der unter den Armen als überflüssig
weggeschnittenen Rechtecke verwendet, um es als Kapuze gefaltet über den
Schädel zu legen, bevor die Maske mit dem Muster der Familie, das die Jüngern als
Farbe tragen, angebracht wird. Erst jetzt kann der so in einen unbequem engen
Anzug eingenähte Gefangene Geist die übliche Kleidung einer Person seines
Standes anlegen, vom Lendenschurz über das fein geknüpfte Brustnetz mit Perlen
aus Gold und Silber bis hin zu reich geschmückten Sandalen über den eingenähten
Füßen.
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Zweifellos ist der Prozess des Einnähens unangenehm und nimmt einen nicht
geringen Zeitraum ein, in dem bis zu sechs Helfer an der Weißen Haut nähen.
Dennoch würde es für die Familienmitglieder und alle anderen Menschen der Städte
Entsetzen und Scham bedeuten, würden sie sich nicht dieser Prozedur unterziehen,
bevor sie sich in der Öffentlichkeit zeigen.
Die Wanderer und ihr Dilemma
Wie auf allen Kontinenten und bei allen Völkern gibt es unter den Cojocalawpeh
solche, die Dinge vermögen - oder es wenigstens behaupten - die anderen
Menschen schier unvorstellbar erscheinen. Angeblich kann die Familie der
Totenschädelmasken das Licht selber vom Himmel herab rufen und als Waffe
verwenden, die Schmetterlingsgesichter bewegen sich lautlos in Schatten und
belauschen ungesehen und die Affenköpfe können Feuer ausatmen. Und alle von
ihnen können unaufhaltsam in die Träume anderer wandern und dort Schaden
anrichten. Zum Glück haben alle ihrer Familien den Herrschern von Gold und Silber
geschworen, nur ihnen zu dienen, und der höchste von ihnen, der Capratsjiri, das
Brennende Herz, untersteht direkt den Herrschern.
Dennoch bezahlen die Traumwanderer und Geisterläufer einen Preis für ihre Gaben.
Je mehr sie sie verwenden, desto weniger sind sie Menschen, so heißt es. Aber es
bedeutet für sie große Scham, sich so zu verlieren und zu verändern. Deswegen
bemalen sie sich und deswegen trägt ihre obere Kaste die Weißen Häute in der
Öffentlichkeit.
Und wenn man genau darauf achtet sieht man zuweilen Beunruhigendes unter den
Weißen Häuten... Strukturen wie Schuppen, zu lange Gliedmaßen, zu wenig Finger
unter den Falten über den Händen. Und manche, so gehen die Gerüchte, sind nur
leere Häute und der Mensch darin hat sich lange schon in der Sternensee zu etwas
Unsichtbarem, Unfasslichen verändert. Wie anders könnte man sich erklären, dass
sie selbst in größter Hitze und über Stunden hinweg in der Hülle aus Stoff verbleiben
können? Es sind keine Menschen mehr, soviel ist klar, und menschliche Bedürfnisse
und Schwächen des Körpers sind ihnen fremd. Allein der Wunsch, ihre
Andersartigkeit zu verbergen und sich eine künstliche Menschenhaut überzuziehen,
ist ihnen verblieben.
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Sturmfaenger
Der Shilgae
Tief in den Wäldern Nôkans leben die fremdartigen Aiphnal, deren starke Seite in der
Magieanwendung der Umgang mit jeglicher Art von Flüssigkeit ist.
Dieses Volk, dem Wald und Bäume mehr bedeuten als die Menschen jemals
verstehen können, hat wenig Interesse am Kontakt mit den anderen intelligenten
Völkern der Welt. Nur wenigen Menschen war es bisher vergönnt, sich ihren
Túehainen zu nähern oder gar einen der riesigen Bäume zu erklimmen, die ihnen
Heimat sind.
Jedoch kann ein Reisender, dessen Weg durch das Randgebiet der großen Wälder
führt, gelegentlich einen Blick auf sie erhaschen. In der Sonne blitzende, silberne
Schemen sind sie. Sie huschen hoch oben zwischen den Baumkronen dahin, mit
einer Leichtigkeit, die es beinahe so erscheinen lässt, als würden sie nicht springen,
sondern fliegen.
Bei diesen unternehmungslustigen Gesellen handelt es sich ausschließlich um
männliche Aiphnal, denn die etwas größer gewachsenen weiblichen Aiphnal, die
man - oft angetan mit herrlichen Mänteln - aus Märchen und Sagen kennt, tanzen nur
im Kindesalter durch die Kronen der siedlungsnahen Bäume.
Gruppen junger Aiphnalmännchen schließen sich kurz nach Erreichen der
Geschlechtsreife zusammen, um gemeinsam nach einem wild aufgegangenen
Túesprössling zu suchen, und mit ihrem Fund die Weibchen zu beeindrucken. Dabei
überschreiten sie gelegentlich die Territorialgrenzen, und werden von Reisenden
erspäht.
Man kann sich gut vorstellen, dass bei den magieunterstützten Sprüngen von Baum
zu Baum jeder Fetzen Stoff hinderlich wäre.
Da es sich jedoch nicht schickt, wenn sich die jungen Männchen den Weibchen und
den älteren Männchen nackt zeigen (dies gilt außerhalb der Ersten Paarungsriten als
aufdringliche Herausforderung und ungeziemendes Angeben), mussten sich die
Aiphnal etwas einfallen lassen.
Es gibt in den Wäldern einen Baum, den sie Kaunkéu nennen. Dieser ist das
bevorzugte Opfer der Larven des Blaudornspinners, einer Schmetterlingsart, die im
Frühjahr schlüpft, und deren Larven sich bis in den Herbst hinein von Baumsäften
ernähren. Um genügend Nährstoffe zu bekommen, müssen sie sehr viel davon
aufsaugen, und scheiden die Flüssigkeit danach in Form von feinblasigem Schaum
wieder aus. Dieser Schaum bietet der Larve einen guten Sichtschutz vor
Fressfeinden, muss jedoch ständig erneuert werden.
Die Aiphnal züchten die Larven seit langem, und achten dabei vorzugsweise auf
Menge, längere Haltbarkeit und Konsistenz des Schaums. Die Kaunkéubäume
werden im Wechsel mit Blaudornspinnerlarven besetzt, und der Schaum abgeerntet.
Mit beiden Händen wird die weißlich-schaumige Masse auf dem gesamten Körper zu
einer dünnen, blickdichten Schicht verstrichen. Nur Kopf, Hände und Füße bleiben
frei. Unbesungen würde diese Hülle aus Schaum nach einer Weile vergehen, doch
dank der Magie der Aiphnal wird der Shilgae festgesungen.
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Dazu stellt sich der neu eingekleidete Aiphnal in die Mitte eines Kreises anderer
junger Aiphnalmänner, und sie manipulieren singend die Flüssigkeit aus der der
Schaum besteht, bis er zu einem weichen, elastischen Gewebe aushärtet, das
Hautatmung zulässt, aber gleichzeitig eng wie eine zweite Haut anliegt und bei den
weiten Sprüngen weder hinderlich ist, noch schnell reißt. Der Shilgae ist fertig.
Da auch Aiphnalmännchen nicht gegen Eitelkeit gefeit sind, werden dem Aiphnal
während des Hartsingens gerne noch verschieden große Kettchen aus
Samenkörnern, schillernden Käferpanzern und dergleichen um Hals, Hand- oder
Fußgelenke gelegt, und in den sich härtenden Schaum gepresst. So sind sie nicht
lose und können sich auch nicht in Zweigen und dergleichen verfangen.
Ein Shilgae hält nur so lange, bis ein Aiphnal sein nächstes Bad nimmt, also
höchstens ein bis zwei Wochen. Meist ist er bis dahin ohnehin nur noch
mattglänzend und staubig, und beginnt sich von alleine von der Hautoberfläche zu
lösen. Abgelegte Shilgae finden als Dünger den Weg zurück zu den
Kaunkéubäumen.
Sollte einem Aiphnalmännchen der Shilgae während einer Reise reißen oder aus
hygienischen Gründen abgelegt werden müssen, bewegt er sich meist nackt in der
Gruppe, solange er mit seinen Altersgenossen unter sich ist. Sobald ältere Aiphnal
sich der Gruppe anschließen, oder weibliche Aiphnal in Sicht kommen, muss
entweder ein Kleidungsstück aus geflochtenen Blättern improvisiert werden, oder ein
minimalistischer Shilgae aus wild vorkommendem Blaudornlarvenschaum
festgesungen werden.
Während der kalten Jahreszeit bleiben die verschiedenen Gruppen der Aiphnal unter
sich, und sind wegen der Kälte ohnehin so träge, daß Kleidung und Nacktheitstabus
bis zum Frühjahr keine Rolle spielen.
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Veria
Die Amtskleidung der Tijiyain
Es ist nicht möglich, die Amtskleidung der Tijiyain ohne Hilfe anzulegen.
Der Volksmund sagt, das sei so, damit sich niemand fälschlich als Tijiya
ausgeben kann, aber genau genommen ist es ganz andersherum.
Das Tuch ist dreimal so lang, wie der Tijiya, der es tragen soll, gross ist,
die Breite variiert, reicht aber meist von den Achseln bis über die Knie. Ein
Ende des Tuches ist geschmückt, das andere läuft in fransenartige
Streifen aus. Nicht ganz in der Mitte ist ein Bereich, der ebenfalls zu
Streifen geschnitten ist, doch das Tuch nicht ganz aufschneiden. Die
Farbgebung ist recht frei, meist ist das Kleidungsstück aber in dunkleren
Farben gehalten.
Das morgendliche Ritual
Das Tuch wird zunächst auf dem Boden ausgebreitet und der Tijiya legt sich am
kurzen Stück quer darüber. Dann tragen die Helfer das lange Stück über ihn und
überkreuzen die Nijab wie verschränkte Finger. Das bedeutet, dass die Streifen vom
Ende durch die Schnitte in der Mitte geführt werden, die Anzahl stimmt genau.
Nun rollt sich der Tijiya auf den Bauch und die Helfer führen die Streifen am Rücken
ein zweites Mal durch die Schnitte und verknoten sie dann. Der restliche Stoff des
Tuches wird längs gefaltet, über die Schulter, um den Kopf und an der Schulter unter
sich selbst hindurchgeführt. Eine Fibel hält die Stofflagen dann an der Schulter
beisammen.
Die Tijiyain
Die Tijiyain sind die traditionellen Richter der Keraie im Mündungsgebiet der Dilno.
Manche von ihnen tragen durchaus auch das staatliche Richteramt im Namen des
kalarischen Volkes, doch die meisten gehen ihrem traditionellen Beruf nach, indem
sie Streitigkeiten schlichten, ohne verbindliche Urteile zu sprechen.
Es liegt kaum die Möglichkeit darin, besonders viel Geld zu verdienen, also sind
falsche Tijiyain sehr selten – und wenn es sie gibt, richten sie zumeist auch keinen
Schaden an, sondern schlichten ebenso wie echte Tijiyain. Nur Ansehen, davon gab
und gibt es reichlich, und das war das Problem.
In jeder Berufsgruppe gibt es welche, die auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. In
manchen Berufen offensichtlicher, in anderen weniger. Bei den Tijiyain war es sehr
verborgen, allerdings waren einst nicht wenige in übelste Verbrechen verwickelt:
Korruption, Diebstahl, sogar Mord und Sklavenhandel. Doch das Ansehen schützte
die Tijiyain und sie wurden kaum verdächtigt und noch weniger verurteilt.
Zumindest bis Kalarien gegründet wurde und die staatliche Justiz aufmerksam
wurde.
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Die neue Regelung
Die Gesamtheit der Tijiyain war vom neuen, schlechten Eindruck beschämt. Die
meisten waren ja doch anständig. Gemeinsam mit der Zunft der Schlüsselverwalter,
die eine zuverlässige Form der gegenseitigen Kontrolle praktizierte, wurde ein
ähnliches Vorgehen für die Tijiyain ausgearbeitet:
1. Die alte Kleidung der Tijiyain, eine Art einfacher Wickelrock in spezieller
dunkelroter
Farbe, der leicht mit wenigen Handgriffen anzulegen war, kennzeichnet keinen
Tijiya mehr.
Es darf sie nun jeder tragen.
2. Ein Tijiya trägt seine Amtskleidung ausserhalb seines Hauses immer.
3. Nur Ankleidehelfer sind berechtigt, einem Tijiya seine Kleidung anzulegen.
4. Ein Tijiya, der seine Kleidung ausserhalb seines Hauses ablegt, verliert sein
Amt, ausser es gab gewichtige Gründe für sein Handeln.
Auf diese Art kann ein Tijiya nicht mehr in der Menge untertauchen, denn seine
Kleidung fällt
stets auf. Er hat es schwer, sich im Geheimen mit jemandem zu treffen. Tijiya zu
werden hat nun für
Kriminelle keinen Anreiz mehr.
Sagt man jedenfalls. Angeblich ist der Patron des Deltas aber dennoch ein Tijiya.
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Vinni
Der Kouro
Die Coreni sind ein Seefahrervolk, das in den warmen Gefilden der corenischen
Inseln lebt. Ihr „Staat“ ist jedoch mehr ein lockerer Zusammenschluss unabhängig
verwalteter Inseln und Inselchen, Städte und anderer Herrschaftsgebiete. Ihre Häfen
sind Treffpunkte für Reisende, so dass sich dort viele kulturellen Einflüsse
vermischen – und die Bevölkerung generell sehr aufgeschlossen ist.
Das traditionelle Kleidungsstück der Coreni ist der Kouro. – Dabei handelt es sich um
ein Wickelgewand, das ursprünglich aus Kitarien stammt. Bevorzugt werden leichte
Stoffe und bunte Farben, wobei ältere Menschen eher gedeckte Muster bevorzugen.
Einfarbig weiße oder schwarze Gewänder werden nur zum Zeichen der Trauer
getragen. Es gibt verschiedene Wickelmethoden für einen Kouro, teilweise auch aus
mehrlagigen Stoffbahnen. Die Wickelgewänder werden von Männern und Frauen
gleichermaßen getragen, einzige Ausnahme ist, dass bei den Frauen die Brust
bedeckt wird, während das bei den Männern nicht zwangsläufig erforderlich ist.
Die große Besonderheit dieser Bekleidung ist, dass man an der Länge der Röcke
bzw. Kleider den gesellschaftlichen Stand des Trägers ablesen kann. Je länger der
Rock, um so höher der Stand – äußerliches Zeichen dafür, dass der Besitzer sich
nicht mit schweren körperlichen Arbeiten abplagen muss. Hafenarbeiter,
Lastenträger, Bauarbeiter, Bauern tragen kaum mehr als einen Lendenschurz. Wenn
Frauen diese Berufe ausüben, tragen sie zum Lendenschurz jedoch noch zumindest
ein Brusttuch. Bei Kaufleuten oder Beamten (männlich wie weiblich) reicht der Kouro
auch schon mal bis zu den Knien oder eben je nach Reichtum und Position bis zu
den Knöcheln. Für Fremde mag es nur eine Modeerscheinung sein, Einheimische
können an der Rocklänge jedoch viel über Bedeutung und Position des Gegenübers
ablesen – und dies im Gespräch mit den entsprechenden Anredeformen und
Höflichkeitsregeln nutzen.
Auf die Spitze getrieben wird diese Tradition bei der Bekleidung der Adligen. Die
jeweiligen Herrscher der Inseln tragen farbenfrohe Gewänder, die oft so lang sind,
dass sie noch Meter über die Füße des jeweiligen Trägers hinausreichen. Dies zeigt
die besondere herausgehobene Stellung des jeweiligen Herrschers – er hat es
schlicht nicht nötig, sich zu bewegen. Er wird in einer Sänfte getragen und hält Hof,
indem er auf einer bequemen Liege ruht und die endlosen Stoffbahnen um sich
drapieren lässt. Und wenn er doch einmal zu Fuß gehen sollte, sorgen die
gewickelten Stoffbahnen dafür, dass er sich aufrecht hält, nur kleine Schrittchen
machen kann und sich somit ohne Hast und elegant und vornehm bewegt.
Wenig bekannt sind jedoch die praktischen Umstände, die ein so überlanger Kouru
mit sich bringt: man ist nicht mehr in der Lage, sich selbst ordnungsgemäß
anzukleiden. Der oder die Adlige ist daher gezwungen, auf einen Hocker zu steigen,
während Dienstboten die bunten Tücher um ihn oder sie herumwickeln. Absteigen ist
nur umständlich möglich – meist stehen Träger bereit, die den Adligen herunterheben
oder einen Tragsessel bereitstellen.
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Würde, Anstand, Eleganz und Wohlstand sind mit den langen und edlen Gewändern
verbunden. Kein Adliger würde jemals einen kurzen Rock tragen – oder auch nur die
Knöchel zu zeigen. Das wäre eine unschickliche, ja geradezu unmögliche
Entgleisung. So wird auch heute noch voller Spott die Geschichte erzählt, wie Orilaio
di Verina während eines Attentates angstvoll seine Röcke raffte und in wilder Panik
floh. Damit gab er sich und seine ganze Familie der immer währenden Lächerlichkeit
preis – lieber hätte er ruhig und gefasst in Würde sterben sollen, als sich so zu
blamieren.
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HISTORISCHES EREIGNIS (REGIONAL)
Aufgabenstellung
Ein bestimmtes Dorf, weit ab von jeglichem strategischen Punkt, ist
Pilgerort für Soldaten des ganzen Landes. Dort fand ein historisches
Ereignis statt, das die Wende in einem Krieg für das Land bedeutete.
Allerdings handelte es sich nicht um eine Schlacht oder andere
kriegerische Handlung.
Zeit für die Bearbeitung:
07.09. - 13.09.
Teilnehmer:
1. Platz
Ehana
Der Tod von Dar Kitanas
(77 Punkte)
Sturmfaenger
Kydlaers Einsicht
(77 Punkte)
3. Platz
Gomeck
Die Vereinigung der Tajarek
(59 Punkte)
Jury:
Gerion
Mara
Taipan
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Ehana
Der Tod von Dar Kitanas, 568 n. Rgr.9
In den Jahrhunderten seiner Geschichte sah das Großreich Okro schon so manchen
bemerkenswerten Herrscher und noch mehr schicksalhafte politische Wendungen.
Aber es gibt kaum ein ungewöhnliches Ereignis, das noch heute so im Bewusstsein
der Okroer verankert ist wie der Tod von Dar Kitanas, die von 545–568 n. Rgr.
Herrscherin des Landes war. Aus einfachen Verhältnissen stammend, trat sie früh
der okroischen Armee bei. Vielfältige Talente und Weitblick brachten ihr schnell
Ansehen und Respekt ein, und schnell wie kaum ein zweiter vor ihr stieg sie in der
Rängehierarchie der okroischen Armee auf. Sie wurde Kommandantin einer
Garnison in der Nähe der Hauptstadt Aberra und ließ es sich auch nicht nehmen,
zum Widerwillen so mancher Hofschranze kräftig in der örtlichen Politik
mitzumischen.
Nachdem 544 n. Rgr. der junge Herrscher des Landes plötzlich verstarb, ohne einen
Nachkommen zu hinterlassen, drängten politische Verbündete und enge Vertraute
die charismatische Offizierin, sich der Wahl zum höchsten Amt im Staat zu stellen.
Dar versuchte es – und gewann. 545 n. Rgr. trat sie ihre Regentschaft an, die,
obwohl sie als gewählte Herrscherin bei Amtsantritt naturgemäß deutlich älter war als
viele ihrer durch Geburt eingesetzten Vorgänger, mit 23 Jahren10 bemerkenswert
lange dauern sollte.
Als Resultat ihrer militärischen Ausbildung führte sie die Geschicke des Staates mit
strenger Hand, das aber überaus erfolgreich. Unter ihrer Herrschaft konnten die
Okroer die Stadt Anam, um die sie sich seit Jahrhunderten mit ihren Nachbarn, den
Nayodi, bekämpften, wieder einmal zurückerobern. Was nicht heißt, dass sich die
Situation an der Grenze zu Nayod deswegen entschärft hätte. Im Gegenteil – auch
mehrere Jahre, nachdem Anam offiziell wieder okroisch geworden war, tobten dort
immer noch heftige Kämpfe.
Dar, inzwischen weit jenseits der Blüte ihres Lebens und mit zahlreichen Enkeln und
Urenkeln gesegnet, ließ es sich dennoch nicht nehmen, die Geschicke ihres Volkes
zu lenken. Eines Tages begannen heftige Hustenanfälle, sie heimzusuchen, und sie
wurden von Tag zu Tag schlimmer. Auch begann sie, Blut hochzuhusten. Selbst als
die Krankheit ihren Körper so geschwächt hatte, dass sie die meiste Zeit des Tages
im Bett verbringen musste, verlangte sie die neuesten Berichte von der Grenze sofort
zu hören und diktierte Briefe mit Durchhalteparolen für ihre Grenztruppen.
Aber der Zustand der Herrscherin verschlechterte sich mit jedem Tag, und keine
Medizin verschaffte ihr dauerhaft Linderung. In ihrer Verzweiflung rieten ihre
Leibärzte ihr, die Hauptstadt zu verlassen und das abgelegene tapalische Bergdorf
Kshetal aufzusuchen, das im ganzen Land für seine gute Luft bekannt ist, der
heilsame Wirkung zugeschrieben wird. Dar weigerte sich zunächst, dem Rat zu
folgen – als Herrscherin, die sich immer sehr volksnah gegeben hatte und der vor
allem die Soldaten des Reichs viel bedeuteten, war es ihr zuwider, sich an einen Ort
9 Nach Reichsgründung; selbige ist Bezugspunkt der okroischen Zeitrechnung.
10 Das entspricht ca. 43 irdischen Jahren.
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fernab aller Grenzen zurückzuziehen, wo sie nicht so schnell von den
Geschehnissen an der Front erfuhr und die Truppen nicht moralisch aufbauen
konnte. Eine halbe Woche später jedoch beugte sie sich den Ärzten, als alles
Verdrängen nichts mehr half und sie sich eingestehen musste, dass es ihr immer
schlechter und schlechter ging.
Während der ersten Tage in Kshetal verbesserte sich Dars Gesundheitszustand. Die
Abgeschiedenheit der Berge, die vielgepriesene gute Luft und vor allem die Ruhe vor
gewichtigen Entscheidungen schienen zu helfen. Rasch verbreitete sich die
Nachricht von der Erholung der Herrscherin durch das Reich und war bald an der
Front angekommen. So unerklärlich es klingen mag – aber das Eintreffen der
Nachricht ließ die Soldaten an der Grenze zu Anam wieder neuen Mut fassen und
sie boten den Nayodi erbitterter denn je Paroli. Die Besserung sollte jedoch nur von
kurzer Dauer sein. Rasch begann sich Dars Zustand wieder zu verschlechtern. So
sehr die Krankheit den Körper der Herrscherin schwächte – ihr Geist war noch voll
da. Sie ließ die Handvoll Berater und Angehörige, die mit in Kshetal weilten, kommen
und drängte sie, zum Wohl des Reiches nichts mehr darüber nach draußen zu
lassen, wie es wirklich um die mächtigste Frau im Staat stand. So geschah es. Drei
Wochen nach der Entscheidung erlag Dar Kitanas, Herrscherin von Okro, ihrer
Krankheit, nachdem sie Tage heftigster Hustenanfälle hatte durchleiden müssen.
Noch am Totenbett bestimmte Tevit, Dars älteste Tochter und damit Nachfolgerin,
dass der Tod ihrer Mutter erst recht nicht öffentlich bekanntgegeben werden dürfe,
um die Moral der Grenztruppen aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil: Sie ordnete an,
dass das Gerücht von einer baldigen Genesung ihrer Mutter in die Welt gesetzt
werde. Während die verstorbene Herrscherin im Keller des einzigen Tempels in
Kshetal aufgebahrt wurde und ihre Kinder drei Tage neben ihrem Leichnam wachten,
machte sich einer der eingeweihten Berater auf den schnellsten Weg nach Aberra,
um den Rat über die knifflige Lage zu informieren. Eigentlich bedurfte es aller
Ratsmitglieder, um einen Thronfolger am Ende der Totenwache für seinen Vorgänger
zum Großfürsten von Okro zu ernennen – dem Titel, den der Herrscher des Landes
für die Dauer des Trauerjahres für seinen Vorgänger innehatte –, aber der Rat durfte
der Kriegssituation und nicht zuletzt der Tarnung wegen die Hauptstadt nicht
verlassen. Und Tevit Kitanas hatte darauf bestanden, in Kshetal zu bleiben, um den
schönen Schein zu wahren, dass sich ihre Mutter auf dem Weg der Genesung
befand.
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In Aberra kam es zu einer Eilsitzung des Rates, in der er seinen Sprecher dazu
ermächtigte, Tevit Kitanas allein zur Großfürstin zu ernennen. Noch nie war ein
okroischer Herrscher außerhalb der Ratsresidenz in der Hauptstadt eingesetzt
worden, aber besondere Situationen erforderten besondere Maßnahmen. Sofort
machte sich der Ratssprecher auf den Weg in die tapalische Provinz und vollzog den
Ratsbeschluss. Im Namen ihrer Mutter fertigte Tevit Beschlüsse aus, die den Krieg
an der Grenze betrafen. Dort hatte sich zwischenzeitlich die Situation deutlich zu
Gunsten der Okroer gewendet – als ob es nur ihre Herrscherin wäre, für die die
Grenztruppen Leib und Leben riskierten, schienen sie die Nachrichten aus Kshetal
zu beflügeln und ihnen neuen Kampfgeist einzuhauchen. Schließlich gelang es
ihnen, einen wichtigen nayodischen Stützpunkt auf der anderen Seite der Grenze zu
überrennen, was den Feind endgültig dazu brachte, sich – zumindest vorerst – aus
dem nun okroischen Gebiet um die Stadt Anam zurückzuziehen.
Nach dem Abzug der nayodischen Truppen hielten der Rat und die Eingeweihten in
Kshetal ihr Schauspiel noch ein paar Wochen aufrecht, bis sich die Lage in der
Provinz Anam etwas stabilisiert hatte. Dann beschlossen sie, den Tod von Dar
Kitanas in einer öffentlichen Erklärung bekanntzugeben, und verkündeten auch den
wahren Todestag, um sich nicht tiefer in ein Geflecht aus Lügen zu verstricken. Das
Volk reagierte geschockt, dass ihm ein so wichtiges Ereignis über Wochen
vorenthalten worden war. Tagelang hagelte es Vorwürfe und Proteste auf den Rat
ein, vor allem aus den Kreisen der hohen Militärs aus dem Zentralbezirk, Dars
Wirkungskreis vor dem Antritt ihres Amtes. Sie fühlten sich um die Möglichkeit
betrogen, der Totenwache am aufgebahrten Körper beizuwohnen.
Schließlich beschloss Varal Itenas, einer der hochrangigsten Offiziere der
Grenztruppen, für die sich Dar Kitanas zeit ihrer Herrschaft immer so eingesetzt
hatte, symbolisch für alle okroischen Soldaten nach Kshetal zu reisen und drei Tage
im Tempelkeller Wache zu halten. Um zu das kleine Dorf in den Bergen vor weiterer
Aufmerksamkeit zu bewahren, verschwieg er sein Vorhaben und machte sich bei
Nacht und Nebel dorthin auf. Erst als er mit einer großen okroischen Flagge ähnlich
der, die den aufgebahrten Körper der Herrscherin bedeckt hatte, und einem Teil ihrer
Asche in seine Grenzgarnison zurückkehrte, erzählte er allen, was er getan hatte.
Von der Hingabe des Offiziers beeindruckt, taten sich in der Folgezeit immer wieder
Grüppchen von Soldaten zusammen, um den Tempel von Kshetal aufzusuchen und
die Totenwache für ihre Herrscherin symbolisch nachzuholen. Irgendwann machten
sich selbst junge Rekruten, die die heftigen Gefechte im Jahr 568 gar nicht mehr
miterlebt haben, auf den Weg in das entlegene Bergdorf. Und noch heute, mehrere
hundert Jahre nach Dar Kitanas’ Tod, fühlen sich viele okroische Soldaten in die
Pflicht genommen, einmal während ihrer Dienstzeit nach Kshetal zu reisen und im
Keller des dortigen Tempels drei Tage lang Wache zu halten, im Gedenken an die
große Heerführerin, die für die Moral ihrer Truppen auf die ihr zustehenden
ehrenvollen Bestattungsriten in der Hauptstadt verzichtet hatte.
129 / 159
Gomeck
Die Vereinigung der Tajarek
In Saam-Tey, der westlichen Landspitze des Nordkontinents, lebt das Volk der
Tajarek, bei denen die religiöse und die militärische Macht im Land sehr eng
miteinander verflochten bzw. in großen Teilen sogar identisch ist.
Die Geschichte des Landes ist noch nicht sehr alt. Vor etwa 200 Jahren wurde in
einem Bergdorf im nördlichen Teil des heutigen Landes ein Keniau mit dem Namen
Kona-Tau geboren, der sich für die Zukunft des Volkes als äußerst wichtig
herausstellen sollte. Als Kind des geistlichen Oberhauptes des Dorfes wuchs er
schon früh in eine Führungsposition hinein, zumal er der einzige männliche
Nachkomme blieb. In jungen Jahren wurde er allerdings bereits seiner Familie
beraubt, als das Dorf von feindlichen Stämmen des Inlandes von Aikatun überfallen
wurde.
Kona-Tau jedoch überlebte, zog sich mit den übrigen seines Dorfes zur Küste zurück
und ließ sich dort nieder. Mit viel taktischem Geschick und später auch harter
militärischer Hand baute er in den nachfolgenden Jahren kontinuierlichen seinen
Machtbereich dort aus. Es gelang ihm, die nachrückenden Horden des Inlandes
aufzuhalten, und machte sich so bei der Bevölkerung der Küste mehr und mehr
einen Namen.
Nur fünf Jahre später vereinte der charismatische Keniau die zersplitterten Dörfer der
Küste und vertrieb schließlich Stück für Stück die Eindringlinge und eroberte das
Land, das ihren Vorfahren einst gehörte, wieder zurück, was einem Wunder
gleichkam, denn seine Feinde waren ihm zahlenmäßig überlegen. Die Bevölkerung
hielt ihn deshalb von den Göttern begünstigt und verehrten ihn schon zu Lebzeiten.
Vor allem jedoch seine ihm untergebene Armee vergötterte ihn geradezu.
Deshalb pilgern auch heute noch, mehrere Generationen nach seinem Tod im hohen
Alter, viele Soldaten der Berufsarmee regelmäßig in das Heimatdorf des Kona-Tau,
wo dem Landesgründer eine gewaltige Statue errichtet worden war, um ihn dort zu
ehren.
--Anmerkung: es ist in der Aufgabenstellung nicht zwingend herauszulesen, dass das
historische Ereignis in dem Dorf (hier: die Geburt des Kona-Tau) zeitlich direkt im
Anschluss die Wende in einem Krieg zur Folge haben muss ... es können auch
durchaus ein paar Jährchen dazwischenliegen, wie ich finde. Außerdem geht mir die
Zeit aus, und was anderes fiel mir jetzt nicht mehr auf die Schnelle ein *g*
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Sturmfaenger
Kydlaers Einsicht
Im Dörfchen Tardamoree, ein dutzend Tagesreisen von der bekannten Winzerstadt
Yednee entfernt, gibt es außer Weiden und Vieh nicht wirklich viel zu sehen. Ein paar
Bauernhäuser, ein kleines Gasthaus, einen Schrein der Siebzehn, und einen
Tiefbrunnen. Außerdem gibt es eine große, nur von niedrigem Gras bewachsene
Fläche, auf der die Bauern ihre Herden für den jährlichen Viehtrieb nach Yednee
sammeln.
In den Wochen zuvor dient dieses Feld jedoch einem ganz anderen Zweck:
Der gesamte Rekrutenjahrgang der Armee schlägt hier seine Zelte auf. Die jungen
Soldaten, die dem Ende ihrer Ausbildung entgegensehen, werden von Offizieren
begleitet, die sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet haben.
Die jungen Männer werden eine Woche lang auf verschiedene Gewaltmärsche
geschickt, die durch die nahen Wälder, das sumpfige Gelände in der Senke bei
einem kleinen Flüsschen, und die steilen Hänge der ersten Ausläufer der Fordlaer
Berge führen.
Wenn sie dann schmutzig und zerschlagen wieder im Lager sind, lässt man sie noch
gegeneinander kämpfen, bis sie vor Müdigkeit kaum mehr laufen können. Dann treibt
man sie in der Mitte des Platzes zusammen.
Jetzt, so erklärt man ihnen, hätten sie eine Ahnung, wie sich Kydlaer Fordes gefühlt
haben muss, der vor etwa hundertsiebzig Jahren in der Armee des Reiches als
gemeiner Soldat diente. Damals befand sich das Land im Krieg mit dem Königreich
Nomndur, und die Nomndaner waren am Gewinnen. Man munkelte, der Abtrünnige
Gott wäre auf Seiten des Feindes, und es stünden einige Schwarzmagier in den
Diensten der Nomndaner.
Das Land ächzte unter den ständigen Angriffen, und die hastig rekrutierten Soldaten
wurden einer kurzen, harten Ausbildung unterzogen, ehe sie in die Schlacht zogen.
Viele starben schnell und blutig, und es wollte einfach nicht gelingen, die Oberhand
im Krieg zu gewinnen.
Kydlaer Fordes war unter der frisch gebackenen Soldaten, die ihre erste Schlacht mit
viel Glück überlebt hatten, und er beschloss, lieber ein lebendiger Deserteur als ein
toter Held zu sein. Er lief davon, und erreichte schließlich ein Bauerndorf namens
Tardamoree. Es ist nicht überliefert, warum die Dorfbewohner Kydlaer Zuflucht
gewährten, doch sie erlaubten ihm zu bleiben.
An diesem Punkt der Erzählung lässt man die taumelnden Rekruten für gewöhnlich
in ihre Zelte, damit sie sich ausschlafen können. Am nächsten Vormittag versammelt
man sie wieder auf dem Platz, und die Geschichte von Kydlaer geht weiter.
Kydlaer Fordes hatte seiner eigenen Familie schon seit jeher beim Yessit-hüten
geholfen, deshalb übertrug man ihm nun die Sicherheit einer Herde.
Und da begannen die Träume.
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In der ersten Nacht träumte Kydlaer, seine Herde würde von Raubtieren angegriffen,
immer, und immer wieder. Auf der Wiese, im Wald, am Bach, egal wohin er die Herde
im Traum brachte, die Raubtiere fanden ihn. Er trieb seine Yessit bald hierhin, bald
dorthin, und bald stieg eine große Wut in ihm hoch, wenn er die Raubtiere sah. Und
die Wut vertrieb seine Angst vor ihren scharfen Fängen. Da verwandelten sich einige
seiner Yessit in große Jyrdahunde. In dem Augenblick als er träumte, dass seine
Jyrda die Raubtiere besiegten, schreckte Kydlaer von seinem Lager auf. Vor ihm
stand eine leuchtende Gestalt, die fragte ihn: „Hast du verstanden?“ Kydlaer
verneinte. Dann verschwand die Gestalt, und er wußte nicht, ob es ein Traum
gewesen war.
In der zweiten Nacht träumte Kydlaer von seinem Elternhaus. Er war ein Kind, und all
seine Verwandten waren dort, um ein Fest zu feiern. Im Traum hatte er viel mehr
Geschwister als normal, und sie alle hatten Hunger. In der Küche waren große
Schalen und Töpfe mit Essen, doch die Erwachsenen dort sangen so laut, dass es
den Kindern in den Ohren wehtat, und sie nicht näher kommen konnten. Kydlaer
überlegte sich tausend Pläne, wie er und seine Geschwister an das Essen kämen,
doch alle schlugen fehl. Bis er auf den Gedanken kam, sich die Ohren mit Wachs zu
verstopfen, und seine Geschwister zugleich die Erwachsenen ablenken zu lassen. In
dem Moment als er sich das Essen in die Taschen stopfte, wachte er auf. Und wieder
stand die Gestalt vor ihm, die fragte ihn: „Hast du verstanden?“ Und Kydlaer
antwortete: „Ich weiß nicht.“
In der dritten Nacht träumte er wieder, und diesmal saß er im Schatten eines
Baumes, der direkt neben einem sprudelnden Bächlein wuchs. Das Bächlein verlief
am Rande eines wogenden Getreidefeldes, und und in der Ferne stiegen qualmende
Wolken aus Rauch in den Himmel. Kydlaer wußte, dass er sein Feld vor dem Feuer
schützen musste, doch er wußte nicht, wie. Er versuchte viele Male, das Feld zu
retten, doch das Wasser des Bächleins wollte nicht ausreichen, um das Feuer zu
löschen. Da rannte er direkt auf das Feuer zu, und riss alle Halme zu Beginn des
Getreidefeldes aus. Und die Flammen konnten nicht über diese Schneise springen,
und zehrten sich selbst auf. In dem Moment da er sah dass sein Feld gerettet war,
wachte er auf.
Und wieder stand die Gestalt vor ihm, die fragte ihn: „Hast du verstanden?“ Und
Kydlaer antwortete: „Ja.“ Denn er hatte erkannt dass es einer der Siebzehn war, der
zu ihm sprach. Und der Hohe lächelte, und er legte seine strahlenden Hände auf
Kydlaers Haupt, und sagte: „Dann geh hin und erfülle dein Schicksal.“
Und Kydlaer fühlte sich voll froher Zuversicht, und kehrte zurück zu seiner Truppe.
Und er stieg so schnell im Rang auf wie selten ein Soldat vor ihm, und bald flüsterte
man, dass er von den Göttern berührt sei. Unter seiner Führung kämpften die
Soldaten mit neuem Mut, und heute noch erzählt man sich, wie er mit List und
Geschick die gegnerischen Magier überlistete, und ihnen Vorräte stahl und
Nachschubrouten abschnitt.
Und so wendete sich das Kriegsglück, und in den letzten Stunden nach der
Entscheidungsschlacht, als Kydlaer verwundet auf dem Boden lag, sahen Zeugen
beider Kriegspartien wie ein leuchtender Schutzschild sich über ihn legte und ihn
kein Speer und kein Pfeil mehr erreichen konnte.
132 / 159
Zeit seines Lebens blieb Kydlaer bescheiden, denn er konnte sich nicht erklären
warum ausgerechnet er, der Deserteur, von den Göttern erwählt worden war. Und als
der Krieg vorüber war schied er aus der Armee aus und zog nach Tardamoree, um
dort ein ruhiges Leben zu führen, und er gab sein Wissen an jene weiter, die zu ihm
kamen. Er wehrte sich noch Jahre danach gegen die Leute, die hinter seinem
Rücken das Wort „heilig“ flüsterten, und ihn dazu bringen wollten, als Berater am Hof
des Königs zu leben.
Die Dorfbewohner erzählen noch heute, dass in der Nacht seines Todes eine
leuchtende Gestalt in der Nähe seines Hauses gesehen wurde, und sie begruben ihn
direkt im heiligen Boden des Dorfschreins der Siebzehn.
Die jungen Soldaten werden daraufhin zum Schrein geführt, wo sie den Göttern und
dem heiligen Kydlaer ihren Respekt erweisen. Die Geschichte soll ihnen klar
machen, dass selbst ein einfacher Soldat, der seine Pflicht trotz aller Widrigkeiten
erfüllt, ein Instrument der Götter in ihrem Kampf gegen das Böse in der Welt sein
kann. Anschließend gibt es ein Festessen, bei dem einige den Bauern abgekaufte
Yessit geschlachtet, am Spieß gebraten und verspeist werden. Solcherart gestärkt
treten die Soldaten am nächsten Tag den Rückweg an – nach Erreichen der
Heimatkasernen gilt ihre Grundausbildung als abgeschlossen.
Es gibt viele Soldaten, die sich von den Bäumen des Tardamoree-Schreins ein
Blättchen abzupfen, und als Glücksbringer behalten. Denn es heißt, dass Kydlaer
noch immer nicht vollständig ins nächste Leben übergewechselt ist, sondern die Nöte
der Soldaten hört und an die Götter weiterleitet, damit sie ihnen helfen. Mehr als ein
Soldat hat schon mitten im Kampf auf einmal ein plötzliches Gefühl der Zuversicht
erlebt. Und jene, denen es so geht, sprechen einen kurzen Dank an St.Kydlaer und
pilgern zu seinem Grab, entweder alleine oder mit dem nächsten Rekrutenzug.
Wie bei allen Legenden weiß man heute nicht mehr genau, wie viel von der Legende
des Heiligen Kydlaer wahr ist, und wie viel mit der Zeit hinzugedichtet wurde. Fakt ist
jedoch, dass es einen Kydlaer Fordes gegeben hat, der kurze Zeit desertierte und
nach Tardamoree flüchtete, ehe er zurückkehrte, begnadigt wurde und eine steile
Karriere hinter sich brachte. Fest steht auch, dass er einer der wenigen aus dem
einfachen Volk aufgestiegenen Militärführer war, die den Krieg entschieden, und dass
er in jenem Dörfchen seinen Lebensabend verbrachte.
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GESETZ
Aufgabenstellung
Dieses Gesetz verbietet es, an einer bestimmten Stelle einen
bestimmten Laut von sich zu geben. Welcher Laut ist das, warum ist er
verboten, und wie wird die Einhaltung des Gesetzes kontrolliert und ein
Verstoß dagegen bestraft?
Zeit für die Bearbeitung:
14.09. - 20.09.
Teilnehmer:
1. Platz
Taipan
Das Ikreekverbot
(78 Punkte)
2. Platz
Gerion
Das Pfeifverbot
(65 Punkte)
3. Platz
Lakyr
Zreunoktinische Gesetze
(59 Punkte)
Jury:
Ehana
Jerron
Mara
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Gerion
Das Pfeifverbot
oder: Das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung gegen Bahnpferde“
Einige Jahre ist es nun her, dass die freie Stadt Cormas, größte Metropole des
zentralen Kontinents, eines der bis Dato ungewöhnlichsten Gesetze erließ, das
jedoch wohl in der nächsten Zeit von vielen anderen Städten übernommen werden
wird.
Vor über 20 Jahren begann die Stadt wie ein Moloch über die alten Mauern hinaus
zu wachsen. Industriegebiete wuchsen aus dem Boden, ebenso erweiterten sich die
Universität und die Akademie drastisch. So zogen tausende Menschen und andere
Völker in die Stadt und sie wuchs auf ein bisher unbekanntes Niveau von über 1
Million Einwohner an. Die Folge war unvermeidlich: ein Kollaps des Verkehrs, der
jeden Tag die halbe Stadt lahm legte.
Die Regierung musste also etwas tun. Und so wurde ein bisher einzigartiges System
eingeführt, um mit den Bevölkerungsströmen fertig zu werden. Auf den Straßen
wurden Schienen verlegt und Bahnen wurden eingesetzt, die von jeweils zwei
Pferden gezogen einen Waggon für etwa 20 Personen hinter sich her zogen, die
erste Straßenbahn wurde geschaffen. Doch mit dieser Geburt eines öffentlichen
Personennahverkehrs ging ein Problem einher. Pferde sind ein derartiges Chaos und
den Lärm einer so großen Stadt nicht gewohnt und so sind die benutzten Pferde trotz
Trainings ständig nervös und neigen dazu, leicht zu erschrecken.
So geschah es, dass es in der Anfangszeit der Straßenbahn immer wieder Probleme
mit den Pferden gab. Durch irgendetwas erschreckt gingen sie durch und rissen sich
dabei gerne von den Geschirren los oder kippten die Wagen um. Dadurch gab es
immer wieder Sachschäden und Verletzte. Natürlich passierte das auch des öfteren
mit Pferden, die Wagen von Bauern oder Händlern transportierten, aber dennoch
begann die Bevölkerung langsam aber sicher das Nahverkehrssystem mit Unfällen in
Verbindung zu bringen. Und so musste etwas getan werden.
Nach kurzer Beratung im Senat wurde daraufhin das „Gesetz zum Schutz der
Bevölkerung gegen Bahnpferde“ verabschiedet. Um Pferde nicht mehr zu
erschrecken, wurden scharfe Pfiffe in Hörweite um Bahnschienen verboten. Auch
wenn Pfiffe nur einer der vielen Auslöser für Unfälle waren, ging die Zahl der
Verletzten und der Schadensfälle dennoch drastisch zurück und so war die
Bevölkerung zufrieden.
Zur Durchsetzung des Gesetzes wurden drei Strafmaße eingeführt. Ein leichtes
Strafmaß, wenn das Pfeifen keine Auswirkungen hatte, ein mittleres wenn es
Sachschäden gab und ein schweres Strafmaß bei Personenschäden.
Im leichten Strafmaß muss der Betreffende nur eine Geldstrafe zahlen, die zwar nicht
unbeträchtlich ist, aber zumindest anhand des Einkommens der Person berechnet
wird, wodurch niemand dadurch ruiniert werden kann. Im mittleren Strafmaß ist
neben einer schweren Geldstrafe auch noch Schadensersatz fällig, der je nach
Schaden beträchtlich sein kann. Das schwere Strafmaß geht nicht ohne
Gefängnisstrafe vonstatten
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Als problematisch hat sich anfangs die Durchsetzung des Gesetzes herausgestellt.
Anfangs waren die Polizisten für die Kontrolle zuständig, doch konnten diese nicht
überall sein. So wurden die Straßenbahnführer gleichzeitig zu Kontrolleuren ernannt
und entsprechend geschult. Wenn ein Fahrer entsprechende Pfiffe hört, ist er dazu
berechtigt den Wagen anzuhalten und die Personalien der Person zu erfragen, damit
er diese der Wache melden kann. Sollte es zu Personenschäden kommen, hat er
sogar das Recht, die Person so lange fest zu halten bis sie der Wache übergeben
werden kann.
Immer mehr Städte wachsen aufgrund der Industrialisierung immer schneller und es
gibt bereits einige Metropolen, die wegen dem Wachstum dasselbe Problem haben
wie einst Cormas und wohl ähnliche Lösungen anstreben werden. Dennoch ist das
Gesetz bereits jetzt zumindest teilweise veraltet. Die heutigen Zugpferde sind gut
trainiert und sind in der Stadt aufgewachsen, wodurch sie den Lärm und das Chaos
gewohnt sind. Seit einiger Zeit ist kein Tier mehr durch gegangen und so sind nur
noch die Tiere von Bauern und Händlern, die weder trainiert noch die Stadt gewohnt
sind Ursache für solche Art von Schäden. Doch diese Tiere werden durch das
Gesetz nicht abgedeckt.
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Lakyr
Zreunoktinische Gesetze
Die enorme Komplexität der zreunoktinischen Gesellschaft spiegelt sich auch in ihren
Gesetzen wider.
So haben die Zreunokt wohl auch das mit Abstand detaillierteste Rechtssystem aller
Völker. Würde man alle Gesetze aller Völker niederschreiben, so würden die
Gesetze der Zreunokt über 90% dieser Sammlung einnehmen.
Die Rechtslage ist derart komplex, dass ein normale Zreunokt an einem
durchschnittlichen Tag mindestens ein Dutzend Gesetze bricht, die meisten jedoch
ohne davon zu wissen und die allermeisten davon ohne dass es irgend jemanden
stören würde.
Als Beispiel für eine solche Regelung soll das im folgenden beschriebene Gesetz
herhalten.
Es wurde auf Initiative des Schichtmeisters einer Mine verabschiedet, der bei einer
Grubengasexplosion in einer benachbarten Mine schwere Verletzungen erlitten hatte.
Da diese Explosion vermutlich durch Feuersteinfunken zustande kamen, ließ er in
diesem Gesetz nicht nur die Nutzung von Feuerstein verbieten, sondern auch
jegliches andere aneinander schlagen von Steinen.
§1
Es ist verboten Feuerstein in der Mine zu benutzen.
§2
Es ist verboten
1. zwei Feuersteine oder
2. einen Feuerstein und einen anderen Stein oder
3. zwei andere Steine
in der Mine aneinander zu schlagen.
§7
Es ist verboten mittels Körperteile oder Gegenstände das Geräusch zu imitieren,
welches durch das nach § 2 verbotene Aufeinanderschlagen verursacht werden
würde.
§3
Eine Ausnahme von § 2 Abs. 3 kann durch den Bergmeister oder den zuständigen
Schichtmeister erteilt werden. Sie gilt jeweils für einen Schlag und ist danach neu
einzuholen.
§4
Ein Verstoß gegen dieses Gesetz wird bestraft.
§5
Die Schwere der Strafe richtet sich nach dem Willen der Bergleute.
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§6
Der Wille der Bergleute wird durch das Berggericht festgestellt.
§8
Es wird unwiderlegbar vermutet, dass es der Wille der Bergleute ist, dass der
erstmalige Verstoß nur mit einer Verwarnung und jeder weitere Verstoß mit einer
Verwarnung oder einer Buße in Höhe maximal eines Tageslohns geahndet wird.
Anfangs bestand das Gesetz nur aus den §§ 1-6.
Den zusätzlichen § 7 ließ der Schichtmeister einfügen nachdem er wiederholt von
jüngeren Bergleuten aufgrund seiner Empfindlichkeit gegen dieses Geräusch gezergt
wurde, meist indem sie ein ähnliches Geräusch mit ihrem Kiefer imitierten.
Nachdem der Schichtmeister jedoch über die Stränge geschlagen hatte und den
Gesetzesbrechern sehr schwere Strafen angedroht hatte, ließ der Bergmeister den §
8 hinzufügen um dem ein Ende zu setzen.
Nachdem der Schichtmeister einige Jahre später verstarb verstaubt das Gesetz in
den Archiven des Bergwerkes und ist nicht mehr zur Anwendung gekommen. Offiziell
aufgehoben worden ist es indes nicht.
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Taipan
Das Ikreekverbot
An jenen kuriosen Gesetzen, die
keiner in Haagest – mehr –
braucht, steht das Ikkreekverbot
ziemlich an der Spitze. Trotzdem
denkt heute niemand ernsthaft
daran, es endlich abzuschaffen,
obwohl es immer wieder ganz
bewusst gebrochen wird.
Das Ikkreekverbot ist verbietet es
im Großen Rat und da auch nur
während der Sitzungen, den Schrei
einer Scheckelster, nämlich ein
unangenehm klingendes Ikkreek
nachzuahmen.
Das auf dem ersten Blick doch
recht
unsinnig
erscheinende
Verbot hat einen guten Grund,
denn in der Vorstellung der Bindin
verkörpert die Scheckelster Streit
und Zwietracht. Gibt es keinen
Streit, ist das Auftauchen von
Scheckelstern
ein
sicheres
Zeichen, dass es bald welchen
geben wird. Gibt es jedoch Streit
innerhalb der Gruppe, sorgt das
Auftauchen von Elstern dafür, dass
dieser sofort beigelegt wird. Der
Glaube daran war lange Zeit in den
Köpfen der Bindin so tief
verwurzelt, dass sie tatsächlich
jeglichen Streit einstellten, wenn
eine Scheckelster auftaucht oder
sie nur deren Ruf hörten, egal wie
festgefahren dieser war.
Jeder, der weiter stritt, musste
fortan mit dem Schimpfnamen
Ikkreek - Elster - leben, was in den
Augen der Bindin eine große
Schande war.
Diesen Aberglauben hat auch
Batraal
mindestens
einmal
ausgenutzt, als er noch im
Scheckelster oder Ikkreek
Dieser in ganz Alaton häufig anzutreffende Vogel, der
durch sein schwarz-weiß geschecktes Gefieder und
vor allem seine geteilte schwarz-weiße Gesichtsmaske
auffällt, gilt zu Unrecht als ein ausgesprochen
zänkischer Vogel. Denn die Schreigefechte
untereinander – der Name der Bindin für die
Scheckelster, nämlich Ikkreek, beschreibt ihren Ruf am
besten – und das Austeilen von Schnabelhieben dabei
wirkt in den Augen von niemandem friedfertig, sind
allerdings Teil ihres Verhaltens und haben meist
überhaupt nichts mit Aggression zu tun –
Schnabelhiebe gehören sogar fest zum
Begrüßungsritual.
Verständlich, dass er derart auffälliger Vogel fest in der
Mythologie aller Haagest verwurzelt ist, und zwar bei
fast allen Kulturen. So betrachtet der Menaismus das
auffällige schwarz-weiße Gefieder und die
Gesichtsmaske als Zeichen dafür, dass einst die
Götter Nordaron und Sihsetra beide Anspruch auf die
Scheckelster als heiliges Tier erheben wollten und sich
nicht einig wurden. Die Elster war über diesen Zwist
nicht glücklich, verdankte sie diesem doch ihr
Gefieder, und beschloss fortan keinem Gott mehr
Untertan zu sein.
Darunter, dass sie aus Streit geboren wurde, hat auch
ihr Charakter gelitten. Sie stehle, lege Brände und
greife andere selbst deutlich größere Wesen, auch
Menschen, aus reiner Bosheit an. Kleinere Tiere wie
Jungvögel töte sie aus Mordlust und nicht aus Hunger.
Der einzige Gott, mit dem sie daher heute im
Menaismus noch in Verbindung gebracht wird, ist
daher der verbrecherische Dityr, für den sie manchmal
einen Botendienst verrichte.
Das Auftauchen einer Scheckelster wird daher oft als
Zeichen gedeutet, dass in
der Nähe bald ein
Verbrechen verübt wird.
Aus genau diesem Grund
ist sie auch oft das Symbol
für die Stadtwache. Noch
negativer sehen sie die
Bindin. Ihr weit hörbares
Gezänke und vor allem ihr
Ikkreek-Schrei hat sie in den Augen der Bindin als
Symbol für Streit und Zwietracht gemacht. Die Grobor
sehen die Scheckelster nicht ganz so negativ. Nach
ihrer Vorstellung bringen sie nämlich Geschenke,
zumindest erzählen das Groboreltern ihren Kindern.
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Unabhängigkeitskrieg während einer besonders heftigen Auseinandersetzung mit
einigen Bindinstammesführern Scheckelstern aussetzen ließ. Batraal blieb
hartnäckig bei seinen Forderungen, weshalb die Stammesführer einlenken mussten,
um nicht das Gesicht zu verlieren, auch wenn sie lange Zeit Batraal als Elster
beschimpften.
Als 1219 n. MF das Bindinschutzgesetz11 abgeschafft wurde und die Bindin als
vollwertige Bürger Haagest galten, erließ Batraal 1222 n. MF – also ein Jahr vor der
ersten Wahl des Großen Rats – dieses Gesetz, um den Bindin seinen guten Willen
zu zeigen und auch um zu verhindern, dass irgend jemand während einer
Ratssitzung wie auch er einst die Bindin nur mit einem einzigen Laut manipulieren
könnte. Die Anwesenheit von Tieren egal welcher Art war nämlich ohnehin
grundsätzlich verboten. Das Gesetz fand viel Anklang bei den Bindin und stimmte sie
fast noch milder als die Aufhebung des Bindinschutzgesetzes, sorgte allerdings bei
den anderen Haagestern für einiges Kopfschütteln. Und es zeigte sich auch, dass es
in den ersten Jahren durchaus seine Berechtigung hatte, denn tatsächlich
versuchten einige die Bindinabgeordneten mit Elsternrufen zu verängstigen, was die
Störenfrieden dank des Gesetzes allerdings nie öfter als zweimal wagten.
Heute sind nur noch wenige Bindin so abergläubisch sich von dem nachgeahmten
Schrei einer Scheckelster verunsichern zu lassen und die Meinung zu ändern, ja
nicht einmal die Anwesenheit einer Scheckelster, die schließlich in Kulturland und
Siedlungen kein seltner Anblick sind, entlockt einem Bindin mehr als ein müdes
Achselzucken. Doch es war eines der ersten Gesetze, die zum Schutz der Bindin
eingeführt wurden, nachdem 1219 n. MF, also eine Errungenschaft, auf die kein
Bindin verzichten will, der nur eine vage Ahnung über die Geschichte Haagests hat.
Trotzdem wurde es einige Zeit lang regelmäßig ganz bewusst vor allem von
jungen/neuen Mitgliedern des Großen Rats gebrochen, um für Aufmerksamkeit zu
sorgen, bis dies zu sehr in Mode kam. Heute darf man nach der ersten Ermahnung,
die bis auf einen Ordnungsruf vom Ratvorsitzenden keine direkten Auswirkungen
hat, mit einem einmonatigen Redeverbot rechnen und einer für die meisten
schmerzhaften Geldstrafe.
Die stets anwesende Ratswache sorgt dafür, dass wiederholte Verstöße auch
geahndet werden.
11 Gesetz, das 1157 n. MF zum Schutz vor den in Massen in die Städte strömenden Bindin
beschlossen wurde und den Bindin praktisch nur eine Existenz in Sklaverei erlaubte.
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BRAUCH / SITTE
Aufgabenstellung
Einmal im Jahr versammeln sich die Bewohner eines kleinen
Landstriches, um, anders als üblicherweise bei der Geburt, allen
Kindern die seit dem letzten Ereignis geboren wurden ihre Namen, und
noch etwas anderes, eigentlich nicht Schmeichelhaftes zu geben.
Wann findet es statt? Weshalb findet es nicht bei der Geburt statt, wie
läuft der Ritus ab und was erhält das Kind dabei neben seinem Namen
(und warum) und inwiefern ist es nicht schmeichelhaft (und warum
macht man es trotzdem)?
Zeit für die Bearbeitung:
21.09. - 27.09.
Teilnehmer:
1. Platz
Sturmfaenger
Das Parthortcinium von Selye Hälyesse
(81 Punkte)
2. Platz
Taipan
Beschenkung der Neugeborenen von Senai
(66 Punkte)
Jury:
Gerion
Mara
Veria
141 / 159
Sturmfaenger
Das Parthortcinium von Selye Hälyesse
VORBEMERKUNG
Ich muss etwas weiter ausholen, da die Eigenheiten von Landschaft und Tierwelt mit
der Sitte untrennbar verbunden sind.
DER LANDSTRICH
Der Wald von Gadessla Nawweve liegt auf der Unterseite des Weltenbrösels
Arseyya. Er ist kein Moos- oder Farnwald, sondern gehört zur Klasse der so
genannten „hängenden Wälder“, die man sich ungefähr vorstellen kann wie die
Seetangwälder unserer Meere (selbstverständlich ohne Meer), nur in umgekehrter
Wuchsrichtung, da der Boden zugleich die Decke ist, und das Sonnenlicht von
seitlich und unten kommt.
Viele dieser hängenden Pflanzen haben hohle Stängel und Fruchtkörper, die mit
Gasblasen gefüllt sind, welche leichter als Luft sind, und somit einen Teil des
Gewichtes tragen, und die pflanzentragende Decke entlasten. Dadurch können die
hängenden Wälder zu beeindruckenden Längen von bis zu sechzig Metern pro
Baumsprössling heranwachsen. Natürlich sind auch diese Wälder von den
menschenähnlichen Chyinn bewohnt, sofern die Landschaft dies zulässt.
Die Hangzunge Selye Hälyesse ist eine dieser Regionen mitten im Nawwevewald.
Rechts und links von einem dichten Vorhang aus Wäldern gesäumt, schwingt sich
die knapp zwanzig Kilometer breite Hangzunge sanft abfallend etwa neunzig
Kilometer weit in die Leere hinein.
Der Abstand zur unregelmäßig über der Hangzunge verlaufenden Felsdecke bleibt
bis auf die letzten dreißig Kilometer recht niedrig, und schwankt zwischen lediglich
fünfundzwanzig bis achtzig Metern Abstand, ehe die Decke wieder zum
Felsenhimmel ansteigt, der sich mehrere hundert Meter über der auslaufenden
Hangzunge wölbt.
Der niedrige Teil dieser Felsdecke ist ebenfalls zum Großteil von Wald bedeckt, und
hat Selye Hälyesse seinen Namen gegeben, denn es bedeutet soviel wie „Die den
grünen Schleier trägt“. Die N’Okko übersetzen es in ihre Sprache als
„Grünschleierhang“.
Die Bäume hängen bis dicht über den Dörfern, und müssen regelmäßig gestutzt oder
zurechtgeflochten werden, damit der Luftraum über den Dörfern einigermaßen frei
bleibt, und Raubtieren das Eindringen nicht ermöglichen.
Über den Landweg ist Selye Hälyesse nur auf einem schmalen, in den Fels
gehauenen Pfad und über eine - aus den lebendigen Zweigen geflochtene Hängebrücke von mehreren Kilometern Länge zu erreichen.
DIE BEWOHNER
Die bedeutendsten Chyinndörfer der Region sind Helsse, Ivsse und Sinsse, und an
der Spitze der Hangzunge das Wehrdorf Odasshvia, das über einen Lufthafen
verfügt, an dem Botenreiter auf Flederkattus, Blasenflöße und –kähne sowie
gelegentlich eines der schwebenden Dörfer Halt machen.
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Ebenfalls eine Erwähnung wert sind die tierischen Bewohner des Nawwevewaldes.
Da gibt es die krakenähnlichen Mayymi, welche sich ausschließlich von Früchten
ernähren, die emsig wuselnden Torrlakäfer, die frechen räuberischen Kashlevvi und
vor allem die alles fressenden Chyätti, die dem Grünschleierhang seinen unschönen
Spitznamen gegeben haben: Selye Kenchyättkieyu. Was soviel heißt wie „Die, über
die man die Nase rümpft“. N’Okko übersetzen das etwas freier aber ebenso treffend
als „die stinkenden Gestade“.
Die Chyätti sind kurzlebige, alles fressende Säugetiere, die in Rudeln
zusammenleben und ihre Baue - oder Horte, wie sie auch genannt werden - in die
Decke des Waldes hinein graben. Dabei nutzen sie zur Stabilisierung ihrer
Deckenbaue die Luftwurzeln der Bäume, die sie mit viel Eifer in ihre Baue
hineinziehen, damit sie sich in den Wänden verwurzeln. Als Gegenleistung versorgen
sie die Wurzeln mit reichlich Nährstoffen – indem sie ihren intensiv riechenden Kot
äußerst großzügig an vielen Stellen im Bau verteilen – und nicht nur dort. Sie nutzen
ihn auch zur Reviermarkierung, indem sie ihr Geschäft über die Grenzbäume ihres
Reviers hinunter machen. Die Stinkdrüsen, welche zum Erkennen der eigenen
Rudelmitglieder dienen, runden die betörende Geruchskomposition des
Rudelgeruchs ab, die zusammen mit der verdunstenden Feuchtigkeit des Waldes im
gesamten Revier mehr oder weniger intensiv zu erschnuppern ist.
EIN WENIG SCHMEICHELHAFTER RUF
Chyätti gibt es natürlich nicht nur im Wald von Gadessla Nawweve, sondern auch in
den meisten anderen hängenden Wäldern. Da ihr Fleisch schlecht schmeckt, ihr Fell
nicht ansehnlich ist, sie in den Plantagen und Feldern der Chyinn wildern und sie zu
alledem noch so widerlich stinken, haben sie nicht gerade einen guten Ruf:
Will man jemanden beleidigen, so nennt man ihn einen räudigen Chyätti. Verdächtigt
man jemanden einer Straftat und hat keine Beweise, so sagt man „Ich kann den
Chyätti förmlich riechen, der mir das angetan hat“, und wenn jemand vom Haus
eines anderen nicht beeindruckt ist, dann ist das Haus „der reinste Chyättibau“.
Dabei haben die Chyätti auch gute Eigenschaften: Trotz ihres Gestanks sind sie sehr
reinlich, und achten darauf, sich nicht selbst mit ihrem Kot zu bekleckern, und ihre
Häufchen nur an die dafür vorgesehenen Stellen zu machen. Die meisten
hängenden Wälder sind unbewohnbar durch die Chyinn, und hier stören die Chyätti
niemanden. Zudem fressen sie mit Vorliebe Torrlakäfer, die durch ihre Gefräßigkeit
ganze Hängehaine zum Abstürzen bringen können. Und sie halten ihren
Rudelmitgliedern unverbrüchlich die Treue, komme was da wolle. Selbst das
rangniederste Tier wird vom ganzen Rudel mit Krallen und Zähnen gegen
Fressfeinde verteidigt.
Wenige Siedlungen sind so nah an Chyättibauen wie die Dörfer von Selye Hälyesse was sich durch die ungewöhnlich niedrig verlaufende Felsdecke der Region erklärt.
Man sollte meinen, die Chyinn hätten ihr Möglichstes versucht, um die Chyätti in der
Region auszumerzen. Tatsächlich ist fast das genaue Gegenteil der Fall – nichts
beweist dies besser als der jüngste Chyättibau der Gegend, der sich fast parallel
über dem Dörfchen Ivsse befindet. Wie kommt es zu dieser für Chyinn einzigartigen
Toleranz?
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DAS PATHORTCINIUM - EIN SELTSAMER BRAUCH
Einmal im Jahr, im Frühling, ziehen die Bewohner der Dörfer zum zentralen
Versammlungsplatz, auf dem sonst immer die Anrufungen der großen Göttin Ynggt
stattfinden. Es ist die Zeit, in der die Chyätti ihre Jungen werfen. Die Zeit des
Pathortciniums. Die Mütter haben die Kinder dabei, die im Laufe des letzten Jahres
geboren wurden. Sie hatten bisher Kosenamen, die jedoch ab heute nicht mehr
gelten.
Kranke Kinder, oder Säuglinge die jünger als ein Dreivierteljahr sind, sind allerdings
nicht zugelassen sondern werden dem Ritus des nächsten Jahres zugerechnet, denn
sie sind zu jung um die Zeremonie seelisch unbeschadet zu überstehen – man geht
davon aus, dass der Seelenfaden eines Kindes erst dann fest im Gewebe des
Lebenden verwebt ist, wenn das Kind der Göttin neun Mal im Abstand von jeweils 28
Tagen präsentiert wurde. Das ist zumindest die mythologische Begründung – die
wahren Gründe, warum man damit so lange wartet, sind gesundheitlicher Natur. Man
kann noch kleineren Kindern das Ritual in seiner Gesamtheit noch nicht zumuten.
Bei den Chyinn in der Region des Nawwevewaldes ist es Sitte, die Namen der
Verstorbenen an die neu geborenen Kinder weiterzugeben - man glaubt nämlich, die
Göttin würde ihre Seelenfäden nach einer Weile wieder ins Reich der Lebenden
einweben. Die Kinder sind hierbei zwar nicht die Wiedergeburt derjenigen, deren
Namen sie erhalten, aber da man wünscht, die Seelen der Verstorbenen wieder
unter sich zu haben, wählt man sie als Namenspaten, um ihre Seelenfäden in der
Nähe des Dorfes zu halten. Dann ist es wahrscheinlicher, dass Ynggt sie an Ort und
Stelle wieder verwendet, statt sie woanders einzuweben. Da dies nicht mit der Göttin
selbst, sondern nur mit den Positionierung der Seelenfäden der Verstorbenen zu tun
hat, ist bei dem Ritus kein Gadoorpriester anwesend, es sei denn als Privatperson
inmitten der Menge.
Jeder Name kann nur einmal vergeben sein - und deshalb müssen sich die Mütter
untereinander absprechen. Der Hochrat der Dorfältesten vermittelt zwischen ihnen,
wenn ein Name zweimal gewünscht wird.
Sobald die Kinder den Namen erhalten haben, funktionieren sie quasi als Gewichte,
die den Seelenfaden an Ort und Stelle halten. Um dies nun zu festigen, sind die
Chyätti da. Jedes Kind bekommt nun seinen Hortnamen, und gleich darauf einen
leichten Schlaftrunk eingeflößt. Die Ältesten jedes Dorfes haben Chyätti aus ihrem
dorfnächsten Chyättibau dabei, pro Kind einen Chyätti im Käfig, den man durch mit
Schlafmitteln versetzte Früchte ruhig hält. Jedes Kind wird nun mit einer Mischung
aus Chyättikot und Drüsensekret sein Hortzeichen auf den Kopf gemalt,
anschließend legt man es zum Chyätti in den Käfig, damit sich die Gerüche
vermischen.
Die einzelnen Delegationen kehren nun in einem feierlichen Festzug in ihr jeweiliges
Dorf zurück, wo die Chyätti freigelassen werden, und schnurstracks in ihrem
jeweiligen Bau verschwinden – wobei sie den Geruch des Kindes im Bau verteilen.
Nun werden den älteren Kindern des Dorfes – oft die Geschwister oder Cousins der
Babys, vorsichtig die Kinder in Trägekörbchen huckepack auf den Rücken geschnürt,
und sie hangeln sich chyättigleich zwischen den hängenden Bäumen nach oben, bis
sie im Chyättibau sind.
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Da der Geruch der Babys den Tieren durch den vorgesandten „Boten“ schon bekannt
ist, werden sie nicht als Bedrohung oder potentielles Nahrungsmittel angesehen,
sondern es wird den größeren Kindern erlaubt, die Babys in die Brutkammer zu den
neugeborenen Chyättiwelpen zu bringen. Hier werden die Kleinen von den
Chyättimüttern ausgiebig beschnüffelt, und anschließend tun die Chyättimütter das,
was sie auch mit ihren eigenen Welpen tun: sie beißen sie einmal – vorsichtig,
lediglich die Eckzähne benutzend – in die Schulter, und lecken das Blut ab. Die
älteren Kinder warten, bis das geschehen ist, binden die Wunde zu und treten mit
den Babys den Rückweg ins Dorf an. Die Chyätti werden nun darüber wachen, daß
der Seelenfaden des Verstorbenen und das Kind, an das dieser Seelenfaden
geknüpft wurde, an Ort und Stelle bleiben.
HINTERGRÜNDE
Die Hortnarbe, die jeder auf Selye Hälyesse geborene Chyinn von dem Ritus
zurückbehält, ist schon seit hunderten von Jahren das Erkennungszeichen eines
jeden Hälyesse-Chyinn. Sie hat in der Vergangenheit – und gelegentlich auch heute
noch – viele Kinder davor bewahrt, verschleppt zu werden.
Selye Hälyesse wurde früher nämlich oft von Sklavenjägern der N’Okko überfallen,
die hauptsächlich Jagd auf Kinder und Jugendliche machen.
Zunächst rieben die Chyinn ihre Kinder während der schlimmsten Häufung der
Überfälle mit Chyättisekret ein, damit sie jederzeit in die Baue flüchten konnten,
deren Gänge weit verzweigt sind und gute Fluchtmöglichkeiten boten – sowie
Chyätti, die ihre „Rudelgenossen“ bis aufs Blut vor den Sklavenhändlern verteidigten.
Dann fanden sie heraus, dass die Chyättimütter ihre Kinder nicht ohne Grund
beißen. Da die Chyätti keine Inzucht betreiben sondern sich stets mit Mitgliedern
anderer Rudel paaren, und dafür eine Weile beim fremden Rudel leben, nehmen sie
nach einer Weile dessen Geruch an.
Die Hortnarbe jedoch, die zu einem wulstigen Knötchen verheilt, enthält eine
chronische Entzündung aus Bakterien vom Speichel der Chyätti. Ähnlich wie ein
Gerstenkorn beim menschlichen Auge bleibt die Entzündung vom Immunsystem in
Schach gehalten und ortsgebunden, und damit sie nicht aus Versehen abheilt lecken
die Chyätti sich gegenseitig gern immer wieder darüber, um die Bakterien an Ort und
Stelle zu halten.
Sofern das Immunsystem eines Chyätti oder eines Chyinn mit einer Hortnarbe nicht
durch eine andere Krankheit geschwächt ist, ist sie relativ harmlos. Und der
Geschmack scheint hortspezifisch zu sein. Durch Ablecken der Hortnarbe können
die Chyätti Rudelmitglieder herausschmecken – und das kommt Chyinnkindern
zugute, die keine Zeit hatten sich einzureiben, sondern schnell in den Bau flüchten
müssen. Die Chyätti knurren sie zwar an, aber sobald sie an die Hortnarbe
herangelassen werden und durch Ablecken die Rudelzugehörigkeit feststellen, sind
die Chyinnkinder in Sicherheit.
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DIE TROTZREAKTION
Erwachsene Chyinn sind zu groß, um noch in die Baue hineinzupassen. Auch sind
für einen Erwachsenen die Chyätti trotz ihrer scharfen Zähne und Klauen selten
gefährlich, wenn man sie nicht zu einer Rudelattacke reizt oder bedroht – das
Hortmal ist für sie also nicht mehr zwingend notwendig. Aber die wenigsten
Erwachsenen lassen es abheilen oder wegschneiden, wenn sie nicht durch eine
andere ernste Krankheit dazu gezwungen werden - denn mittlerweile ist es zu einem
festen Bestandteil ihrer Kultur geworden.
Fremde Chyinn machen sich gerne über die Chyättichyinn lustig, wie sie sie nennen.
Und selten siedeln neue Chyinn sich in den „stinkenden Gestaden“ an.
Auch wenn die Chyinn des Grünschleierhangs das nicht gerne hören, so beißen sie
doch die Zähne zusammen. Denn man weiß aus Erfahrung, dass die
N’Okkostämme, die in den Weiten über dem Felsenhimmel wohnen, alle paar
Jahrzehnte auf die Idee kommen, sich Chyinnsklaven zu nehmen.
Bei den meisten Chyinnsiedlungen ist die Decke zu weit weg, oder nicht bewaldet.
Aber die ungewöhnlich niedere Decke des Grünschleierhangs und die Rudeltreue
der Chyätti bietet den Kindern die sicherste Zuflucht, die man sich nur wünschen
kann – sei es bei Überfällen, oder in Friedenszeiten, wenn ein Kind im Wald vor
einem Kashlavvi oder einem anderen Raubtier flüchten muss, und auf den Beistand
der Chyätti zählen kann. Diesen Standortvorteil geben die Einheimischen nicht
freiwillig auf, auch wenn sie dafür verspottet werden.
146 / 159
Taipan
Beschenkung der Neugeborenen von Senai
Jener mutigen oder verzweifelten Reisende, den es am neunten Nissin nach Senai
oder auch nur ans Kap von Senai verschlägt, wird sich wohl über die leeren Straßen
und Gassen in der Stadt wundern, vorausgesetzt er kommt nicht zum Ratsplatz.
Denn dort wird an diesem Tag ein seltsamer Brauch praktiziert, der sonst im Rest von
Haagest entweder völlig unbekannt ist oder als götterlästerliches Dämonenwerk
beschimpft wird. Denn an diesem Tag versammeln sich die Bewohner von Senai am
Ratsplatz um allen Kindern, die im vergangenen Jahr geboren sind, einen Namen zu
geben.
Die Anwesenheit von Priestern ist dabei ausdrücklich nicht erwünscht und wird nur
toleriert, wenn der Priester ein Angehöriger des namenlosen Kindes ist. Es handelt
sich schließlich um kein religiöses Fest, genau genommen handelt es sich nicht
einmal um ein Fest. Ausdrücklich erwünscht sind allerdings Schreiber, denn obwohl
theoretisch alle in Haagest zumindest rudimentär schreiben und lesen können
sollten, gibt es in der Praxis noch immer viele Analphabeten oder man will einfach
nur eine derart wichtige Aufgabe in die Hand eines Experten geben. Denn neben
seinem Namen erhält das Kind noch etwas, nämlich eine Liste mit Ratschlägen.
Allerdings handelt es sich dabei nicht um Ratschläge, die das Kind auch tatsächlich
einmal befolgen soll, sondern um solche, die man besser völlig ignoriert, will man
nicht ein sehr ungemütliches bis gefährliches Leben führen. Was auf dem Stück
Papier oben steht, hängt ganz vom Verfasser ab und beinhaltet einfache – negative –
Regeln fürs Leben bis hin zur Aufforderung zu Verbrechen jeglicher Art. Letzteres
kann so weit gehen, dass das Kind etwa zum Mord an bestimmte Personen
aufgefordert wird, was dann oft schnell für böses Blut sorgt. Das Kind wird nicht
einfach nur aufgefordert, dies alles zu tun, es bekommt auch erklärt, was für
positiven Folgen seine Taten haben werden, also dass man sich zum Beispiel durch
Diebstahl rasch bereichern kann. Die negativen Folgen werden dabei ganz bewusst
nicht genannt. Im Laufe des Tages tritt jede Mutter oder ein anderer naher
Verwandter mit dem Kind und den niedergeschrieben schlechten Ratschlägen an
eine Feuerstelle mitten auf dem Ratsplatz in Senai – in ländlichen Gebieten ist es
meist ein abgeerntetes Feld – zeigt das Kind der Menge, nennt seinen Namen und
liest – oder lässt lesen – ihm die Ratschläge vor. Die Menge hat dann die Aufgabe zu
schimpfen, je lauter und empörter desto ein besseres Omen soll es sein.
Anschließend wird die Liste verbrannt und mit ihr sollen auch alle künftigen Sünden
und Fehltritte des Kindes verbrennen. Eine feste Rangfolge, wer wann an die
Feuerstelle tritt, gibt es nicht und irgendwann am Abend zerstreut sich auch wieder
die Menge. Es kommt aber durchaus vor, dass auch noch in der Nacht jemand mit
dem Kind ans Feuer treten kann, ohne natürlich noch mit viel Publikum rechnen zu
können.
Für die Kinder bleibt das Fest nicht ohne spätere Folgen, da gar nicht so selten
einige dieser Ratschläge zu unangenehmen Spitznamen wie Onkelmörder führen
können, die die Betroffenen in der Regel nie wieder los werden.
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Heute weiß so gut wie niemand in und um Senai, welche Wurzeln der Brauch
eigentlich hat. Hochrangige Priester – und auch solche ohne besonderem Rang –
protestieren regelmäßig dagegen, allen voran die Nidde- und die Soraskirche, die in
diesem einen Fall eine besondere Einigkeit zeigen, die man beiden Kirchen
angesichts ihrer Feindseligkeit in der Vergangenheit nicht zutrauen würde. Doch wo
Niddepriester
in
den
Schlechten
Ratschlägen
eine
Einengung
der
Entscheidungsfreiheit der Kinder sehen, kritisiert die Soraskriche die offensichtliche
Aufforderung zum Gesetzesbruch. Da Senai schon seit jeher eine Stadt ist, die es –
harmlos gesagt – mit Gesetzen nicht allzu genau nimmt und in Haagest so etwas wie
ein rechtsfreier Raum ist, da Batraal es mittlerweile aufgegeben hast gegen die
Verbrechensorganisationen in Senai etwas zu unternehmen, fühlen sich zumindest
die Sorasanhänger völlig im Recht. Der Brauch hat aber nichts mit den Zuständen in
Senai zu tun, sondern hat seine Wurzeln im Relatnur Ornet der Grobor, einem
ähnlichen Fest für ihre Groborkinder, das allerdings am zweiten Geburtstag des
Kindes gefeiert wird, also wenn ein Neugeborenes den Lebensabschnitt der Ersten
Kindheit erreicht, ist also am tatsächlichen Geburtstag des Kindes gebunden und
findet auch im Kreis der Familie statt. Der Grund warum die Grobor das Relatnur
Ornet so spät feiern liegt an der ehemals hohen Kindersterblichkeit. Es galt wohl als
schlechtes Omen, einem Kind zu früh einen Namen zu geben, wenn noch gar nicht
richtig entschieden ist, ob es überhaupt dazu bestimmt ist weiter zu leben, eine
Anschauung, die wohl auch die Senaier übernommen haben. Anders als bei der
Beschenkung der Neugeborenen bekommen Kinder hier gute und schlechte
Ratschläge. Wie das Fest von den Grobor zu den Senaiern gekommen ist und
warum man in Senai irgendwann die guten Ratschläge weggelassen hat, darüber
kann heute wirklich nur mehr spekuliert werden.
148 / 159
GILDE / VEREIN / BÜNDNIS
Aufgabenstellung
Diese Gruppierung ist keine Gilde oder Zunft, sondern eine
Vereinigung von Leuten mit einem gemeinsamen privaten Interesse.
Sie besteht lediglich innerhalb einer bestimmten Stadt, und ihre
Mitglieder erkennt man nach außen hin stets an einer bestimmten nicht
dauerhaften Körpergestaltung (z.B. Frisur, Körperbemalung usw.; nicht
z.B. echtes Tattoo). Der Verlust derselben kommt der Person teuer zu
stehen (das muss nicht zwingend etwas mit Geld zu tun haben).
Zeit für die Bearbeitung:
28.09. - 04.10.
Teilnehmer:
1. Platz
Taipan
Die Radhüter von Rezzar
(71 Punkte)
2. Platz
Gerion
Die Gesellschaft der Gentleman Straßenräuber
(59 Punkte)
Jury:
Ehana
Gomeck
Moordrache
149 / 159
Gerion
Die Gesellschaft der Gentleman Straßenräuber
Südlich der Festungsstadt Arlas liegt der Dorn, ein breiter Fluss, der zumindest
theoretisch die Grenze zwischen zwei Staaten darstellt. Doch in der Praxis sieht das
ganz anders aus. Die Gegend beiderseits des Flusses ist letztendlich seit
Jahrzehnten weitgehend rechtsfreies Gebiet. Dennoch leben entlang des Flusses
mehrere tausend Personen in etwa einem Dutzend Dörfer. Das Größte unter ihnen
ist die Kleinstadt Dornfurt, letztlich eine Siedlung aus zwei Dörfern die beiderseits der
einzigen passierbaren Engstelle des Flusses entstanden sind und sich vor etwa 30
Jahren zu einer Stadt zusammenschlossen.
Handel war lange Zeit jedoch schwierig in diesem Gebiet. Jahrelang terrorisierten
Flusspiraten und Straßenräuber die wenigen Wege und die Dörfer drohten dadurch
von der Versorgung abgeschnitten werden. Insbesondere der Grenzübergang bei
Dornfurt drohte in Vergessenheit zu geraten, da die Händler stattdessen lieber einen
längeren, dafür aber sicheren Weg in Kauf nahmen.
Das änderte sich vor etwa 15 Jahren, als sich einige Bürger Dornfurts und der
Umgebung zusammenschlossen, um eine ungewöhnliche Gesellschaft zu gründen.
Wobei „Bürger“ in Dornfurt ein sehr weit gefasster Begriff ist. Bürger ist in dieser
rechtsfreien Zone derjenige, der einen Vertrag unterschrieben hat der Stadt, die
dereinst von Vogelfreien und Flusspiraten gegründet wurde, nicht zu schaden.
Das Interesse der Gruppierung ist Profit. Dafür steckte zu Beginn jedes Mitglied
kurzzeitig etwas Geld in das Projekt, um die Mitglieder ordentlich auszurüsten und
gegen konkurrierende Banden vorzugehen. Im Gegenzug erhält jedes Mitglied die
Lizenz der Gesellschaft selbst „Straßenzoll einzutreiben“ wie sie es nennen und er
wird selbst nicht von anderen Mitgliedern der Straßenräuber überfallen.
Nach nicht einmal 5 Jahren hat die Vereinigung mit Sitz in Dornfurt die Straßen
entlang des Dorn so sicher gemacht, dass die Händler sich wieder in das Gebiet
trauten. Die Meisten haben nicht wirklich etwas gegen die gelegentlichen Überfälle
der Gesellschaft, denn im Gegensatz zu anderen Straßenräubern sind diese echte
Gentlemen. Sie töten niemanden und nehmen immer nur einen gewissen
Prozentsatz, der dem Räuber selbst genug Profit einbringt, den Händler aber nicht
ruiniert. Außerdem erhält der Händler eine Quittung, die er bei eventuellen weiteren
Überfällen vorzeigen kann und ihm freien Abzug gewährleistet.
Inzwischen ist die Gesellschaft der Gentleman Straßenräuber in dem Gebiet sogar
so etwas wie die Rechtsgewalt inne. Das führt gelegentlich natürlich zu dem kleinen
Problem, dass eine überfallene Person rein theoretisch das Vergehen bei denen
anzeigen müsste die ihn überfallen haben, aber im allgemeinen kommt es nur zu
kleineren Problemen, denn die Gesellschaft genießt einen großen Rückhalt in der
Bevölkerung.
Als äußeres Erkennungszeichen haben die Mitglieder der Gesellschaft eine
besondere Haartracht gewählt. Sie alle tragen einen gewachsten Schnurrbart,
dessen Spitzen nach oben ragen, ähnlich wie ihn Dali auf der Erde getragen hat.
150 / 159
Besonderheit ist, dass sie diesen mit einem farbigen Wachs bearbeiten, so dass der
Bart, ganz wie das Haupthaar mancher ehemaliger Räubergruppen, in einem
graublauen Ton eingefärbt sind. Dieser Bart ist Erkennungszeichen, Ausweis und
Lizenz in einem. Die Bevölkerung um Dornfurt erkennt ihn und begegnet
entsprechenden Personen mit Respekt, andere Mitglieder wissen, dass sie diese
Person in Ruhe lassen sollen und Überfälle einer solchen Person werden
geflissentlich ignoriert.
Problematisch ist es nur, wenn ein Mitglied seinen Bart verlieren sollte. Zum Einen
verliert er damit die Lizenz Straßenzoll einzutreiben. Das bedeutet zum Einen dass
er Verluste erleidet, zum Anderen dass er, wenn er trotzdem Überfälle durchführen
sollte, von Mitgliedern als konkurrierender Räuber identifiziert und angegriffen wird.
Es ist Usus dass dies geschieht, auch wenn sich die Personen untereinander
kennen, denn so wird dafür gesorgt, dass Händler nicht wieder das Vertrauen in die
Straßen verlieren, weil es scheinbar wieder andere Räuber gibt.
Eine solche Person die ihren Bart verloren hat, kann natürlich wieder in die
Gesellschaft eintreten. Dafür muss sie allerdings wieder das Eintrittsgeld zahlen, die
Eingangszeremonien über sich ergehen lassen, die nicht gerade als angenehm
empfunden werden da sie unter anderem recht schmerzhafte Prozeduren beinhaltet.
Außerdem muss solch eine Person ein weiteres Mal die Lehrlingszeit hinter sich
bringen, wiederum mindestens 2 Jahre, die kaum Profit bedeuten. Deshalb versucht
jedes Mitglied unter allen Umständen seinen Bart zu behalten und sie zu rasieren
entspricht einer ähnlichen Beleidigung wie wenn man einen Zwergen rasieren würde.
Aus den Restriktionen folgt natürlich, dass nicht jede Person des Kontinents Mitglied
der Gesellschaft werden kann. Zum Einen ist es eine rein männliche Gesellschaft.
Tatsächlich haben sie sich für eine Barttracht entschieden um keine Frauen zulassen
zu müssen, denn die werten Gentlemen möchten gerne unter sich bleiben. Ebenso
sind z.B. Elfen nicht erlaubt, da deren Bartwuchs schlichtweg nicht vorhanden ist. So
kommt es, dass derzeit die gesamte Gesellschaft nur aus männlichen Menschen
besteht, eine hochgradig exklusive Gesellschaft also.
151 / 159
Taipan
Die Radhüter von Rezzar
Reisende, die es jemals in die Kleinstadt Manden (1.500 Ew.) im Herzen
Haagests verschlagen sollte, werden sicherlich irgendwann einige Leute
mit einer eigentümlichen Stirnbemalung bemerken. Dieses Zeichen
erinnert an ein Rad mit Ausbuchtungen und wird hauptsächlich von
wohlhabenden Bürgern Mandens getragen – und viele Mandner sind
auch der Meinung, dass genau dieses Zeichen auch für den Wohlstand der Träger
verantwortlich ist, denn es ist das Zeichen der Radhüter von Manden, den Herren
des Räderpalasts von Rezzar, unter dem sich ein sagenhafter Schatz befinden soll.
Die Radhüter von Manden sind fast genauso alt wie das heutige Manden und
entstanden wohl in jenem Augenblick, als die ersten Siedler der Stadt auf die Ruinen
des alten Manden stießen, als die Stadt noch von den Sinierern bewohnt war und –
so wie die Historiker nur aus alten Garudalegenden herleiten konnten – noch Rezzar
hieß. Besonders ein Bauwerk hatte es wohl einigen dieser Stadtgründern wohl
angetan, nämlich ein palastähnliches Gebäude, das als einziges noch überraschend
gut erhalten war und ein ausgedehntes Tunnelsystem vorweisen konnte. Die
Gründerin der Radhüter, Cassi, die Wunderliche, war die erste, die schließlich 664 n.
MF, also noch während der politisch äußerst ungemütlichen Messerzeit, das
auffällige Gebäude betrat, das Tunnelsystem erkundigte und unverletzt an den dort
verborgenen Fallen vorbeikam, um schließlich eine riesige unterirdische Bibliothek zu
entdecken. Die schon betagte Frau holte rasch einige interessierte Freunde hinunter
und begann mit ihnen diese Bibliothek, die nach dem blauen Radsymbol am Eingang
den Namen Blaue Bibliothek bekam, genauer zu erforschen. Doch die gefährliche
Zeit machte auch vor dem noch nicht wirklich gegründeten Manden keinen Halt und
schließlich überfielen Söldner, die um ihren Sold geprellt wurden, die werdende
Stadt. Viele Bewohner kamen um, doch jene, die sich im Räderpalast aufhielten,
bemerkten von dem Überfall überhaupt, denn die wenigen, die sich in das Gebäude
und die Tunnel wagten, fielen den Fallen dort zum Opfer. Erst jetzt erkannten die
Forscher unter dem Räderpalast, wie gefährlich dieser und das Labyrinth eigentlich
waren, und dass ihnen der Palast wohl aus einem unerklärlichen Grund
wohlgesonnen war. Als Zeichen, um sich gegenseitig zu erkennen, aber auch als
Zeichen an den Palast, dass sie zu jenen Auserwählten gehörten, tätowierten sie
sich jenes Symbol am Eingang zur Bibliothek auf die Stirn, das Blaue Rad. Danach
fuhren die frisch gegründeten Radhüter von Manden fort, die sonderbare Bibliothek
und ihre Schriften zu erforschen. Das erwies sich anfangs als unmögliche Aufgabe,
war doch von den Gründern des Palastes, den Sinierern, praktisch nichts bekannt,
geschweige denn von deren Schrift und Sprache. Als aber der erste Garuda den
Radhütern beitrat, änderte sich dieses, denn diesem waren die Sinierer aus den
Legenden seines Volks durchaus bekannt, genauso wie noch rudimentäre
Wissensbrocken über die Sprache und Schrift der Sinierer bekannt waren. Trotzdem
blieb die Erforschung der Bibliothek eine praktisch unlösbare Aufgabe, die noch
Generationen der Radhüter beschäftigte und wohl auch noch Generationen
beschäftigen wird.
152 / 159
In den folgenden Jahrhunderten wurden die Radhüter von den Mächtigen in Haagest
in der Regel ignoriert. Galten sie doch nur als Verrückte, die vielleicht etwas
Wertvolles in einer Ruine entdeckt hatten. So überstanden sie die Gründerzeit, die
Königszeit und hätten wohl auch die Zeit der Tanibedischen Besatzung ohne
Schaden überstanden, wäre nicht Hellnar von Oril 1158 zum neuen Eparchen von
Haagest ernannt worden. Denn Chitra Arvi war ehrgeizig und schaffte es eine von
Hellnars Beratern zu werden, ein Umstand, der ihr 1167 das Leben kosstete, als sich
der Eparch – zu Recht – von ihr betrogen fühlte. Um mögliche zukünftige Verräter
abzuschrecken und um Chitras noch mehr zu demütigen, ließ er sie öffentlich rädern,
in Andenken an das Zeichen auf ihrer Stirn. Damit begründete Chitra mit ihrem
grausamen Tod jene Tradition aller nachfolgenden Eparchen, tatsächlich und
mögliche Gegner der Besatzung durch Rädern öffentlich zu beseitigen, eine
Hinrichtungsmethode, die 1212 nach dem Ende der Besatzung sofort verboten
wurde. Chitras Tod führte aber auch dazu, dass Hellnar alle anderen Radhüter
verfolgen ließ, was schließlich leicht war, stammten doch alle aus Manden, lebten so
gut wie immer auch dort und trugen alle das Blaue Rad auf der Stirn. Diejenigen, die
die Verfolgung überlebten, verboten schließlich das Eintätowieren des Rades und
begnügten sich damit, es nur auf ihre Stirn zu malen, um es im Falle einer Verfolgung
wieder abwischen zu können.
Trotz des Schreckens, den die Radhüter während der tanibedischen Besatzung
unfreiwillig über Haagest gebracht haben, hat ihr Ruf während und auch nach dieser
Zeit praktisch keinen Schaden genommen, was aber vielleicht daran liegt, dass die
meisten Mitglieder zu Mandens Oberklasse gehören und somit reich an Geld und
politischem Einfluss sind. Woher dieser Reichtum stammt, ist jedem Mandner
natürlich bekannt: er stammt von dem Schatz unter dem Rädertempel. Dass es mit
der Blauen Bibliothek und ihren unzähligen Pergamentrollen zwar einen Schatz gibt,
allerdings keinen, mit dem man im materiellen Sinn reich werden kann, ist hingegen
fast niemandem außer den Mitgliedern bekannt. Dass dank dieser Gerüchte
Einbrecher angelockt werden, beunruhigt die Radhüter nur wenig; bis jetzt ist
niemand außer den Radhütern an den Fallen im Labyrinth unter dem Palast
vorbeigekommen. Doch der Glaube, dass die Radhüter über einen unermesslichen
Schatz verfügen, verschafft ihnen noch mehr Einfluss, als sie ohnehin schon haben.
Die Anzahl der Radhüter von Manden schwankt ständig zwischen einem Dutzend
und bis zu hundert Mitgliedern – und liegt derzeit bei vierundzwanzig. Bis jetzt hat es
noch niemand außerhalb von Manden geschafft, Mitglied der Gruppe zu werden,
obwohl es durchaus einige ernste Versuche in der Vergangenheit gegeben hat, die
Rathüter zu unterwandern und Agenten einzuschleusen. Doch bei all diesen
Unterwanderern scheint das Blaue Rad auf der Stirn nicht zu wirken, bis jetzt kamen
alle im Labyrinth ums Leben. Eine innere Hierarchie bei den Radhütern gibt es nicht.
Egal was die Mitglieder in Manden sind, innerhalb des Räderpalasts sind sie alle
gleich. Das Zeichen wird nach wie vor nur noch aufgemalt, um jederzeit wieder
abgewaschen werden zu können. Ob sie es außerhalb des Palastes tragen, ist an
und für sich egal, kann aber einem Radhüter seinen Ruf kosten, innerhalb des
Palastes ist das Zeichen aber nach der Vorstellung der Radhüter unverzichtbar.
Denn nur dieses Zeichen soll den Träger sicher durch den Palast und vor allem
durch das Labyrinth führen, das Fehlen des Blauen Rads würde daher dem Träger
das Leben kosten wie jedem anderen Eindringling. Da es sich nach neusten
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magischen Untersuchungen bei dem Räderpalast um eine gigantische magisches
Artefakt handelt – was es bewirken soll ist noch immer ein Rätsel – könnte es
durchaus möglich sein, dass das Zeichen tatsächlich dazu dient, Mitglieder der
Radhüter vor den Fallen zu schützen.
154 / 159
Weltenbastler-Olympiade
2009
Übersicht der Gewinner
&
Medaillenspiegel
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DIE GEWINNER
Nach Disziplin haben gewonnen:
Handelsware (3)
1. Platz: Gomeck
2. Platz: Jundurg
3. Platz: Ganilh
städtisches Wahrzeichen (4)
1. Platz: Sturmfaenger
2. Platz: Jundurg
3. Platz: Moordrache
landschaftlich markanter Punkt (5)
1. Platz: Vinni
2. Platz: Sturmfaenger
3. Platz: Veria
Tierart (4)
1. Platz: Yelaja
2. Platz: Taipam
3. Platz: Veria
lokale Persönlichkeit (4)
1. Platz: Sturmfaenger
2. Platz: Taipan
3. Platz: Neyasha
Tracht/Kleidung (5)
1. Platz: Mara
2. Platz: Gerion
3. Platz: Vinni
nicht-religiöser Feiertag (4)
1. Platz: Mara
2. Platz: Taipan
3. Platz: Veria
historisches Ereignis (3)
1. Platz: Sturmfaenger & Ehana
2. Platz: nicht vergeben
3. Platz: Gomeck
Pflanzenart (3)
1. Platz: Veria
2. Platz: Gerion
3. Platz: Malacai
Brauch/Sitte (2)
1. Platz: Sturmfaenger
2. Platz: Taipan
3. Platz: nicht vergeben
religionale Spezialität (4)
1. Platz: Sturmfaenger
2. Platz: Gomeck
3. Platz: Veria
Gesetz (3)
1. Platz: Taipan
2. Platz: Gerion
3. Platz: Lakyr
religiöse Zeremonie (4)
1. Platz: Mara
2. Platz: Taipan
3. Platz: Vinni
Gilde/Verein/Bündnis (2)
1. Platz: Taipan
2. Platz: Gerion
3. Platz: nicht vergeben
(hinter jeder Disziplin steht in Klammern, wie viele Teilnehmer es gegeben hat)
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DER MEDAILLENSPIEGEL
Anzahl und Art der Medaillen pro Bastler:
Gomeck (3)
1. Platz: 1
2. Platz: 1
3. Platz: 1
Vinni (3)
1. Platz: 1
2. Platz: 0
3. Platz: 2
Ganilh (2)
1. Platz: 0
2. Platz: 0
3. Platz: 1
Moordrache (1)
1. Platz: 0
2. Platz: 0
3. Platz: 1
Jundurg (4)
1. Platz: 0
2. Platz: 2
3. Platz: 0
Taipan (7)
1. Platz: 2
2. Platz: 5
3. Platz: 0
Ehana(1)
1. Platz: 1
2. Platz: 0
3. Platz: 0
voguish (1)
1. Platz: 0
2. Platz: 0
3. Platz: 0
Sturmfaenger (7)
1. Platz: 5
2. Platz: 1
3. Platz: 0
Mara (3)
1. Platz: 3
2. Platz: 0
3. Platz: 0
Veria (6)
1. Platz: 1
2. Platz: 0
3. Platz: 4
Gerion (5)
1. Platz: 0
2. Platz: 4
3. Platz: 0
Neyasha (2)
1. Platz: 0
2. Platz: 0
3. Platz: 1
Yelaja (1)
1. Platz: 1
2. Platz: 0
3. Platz: 0
Malacai (2)
1. Platz: 0
2. Platz: 0
3. Platz: 1
Lakyr (1)
1. Platz: 0
2. Platz: 0
3. Platz: 1
(hinter jedem Bastler steht in Klammern, an wie vielen Disziplinen er
teilgenommen hat)
157 / 159
Weltenbastler-Olympiade
2009
Statistik
158 / 159
STATISTIK
Teilnehmerzahlen
Anzahl angemeldeter Teilnehmer
19
Anzahl tatsächlicher Teilnehmer
(und davon unangemeldet)
16
(1)
Anzahl Juroren
(abgesprungen / kurzfristig neu dazugekommen)
13
(2 / 1)
Anzahl Disziplinen
14
Anzahl angemeldeter Beiträge
88
Anzahl tatsächlicher Beiträge
(und davon unangemeldet)
48
(6)
Teilnehmer pro Disziplin angemeldet / teilgenommen
Handelsware
5/3
Landschaftlich markanter Punkt
11 / 5
Lokale Persönlichkeit
6/4
Nicht-religiöser Feiertag
6/4
Pflanzenart
9/3
Regionale Spezialität
6/3
Religiöse Zeremonie
6/4
Städtisches Wahrzeichen
9/4
Tierart
7/4
Tracht / Kleidung
7/4
Historisches Ereignis (regional)
7/3
Brauch / Sitte
4/2
Gesetz
2/3
Gilde / Verein / Bündnis
3/2
Maximalste Gesamtwertung:
Minimalste Gesamtwertung:
87
39
159 / 159

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