Schatten des Untergangs

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Schatten des Untergangs
Schatten des Untergangs
nzwischen hatten sich auch Bloëdhgarm und seine Gefährten
zu Eragon und Saphira in den Hof gestellt, aber er schenkte
ihnen keine Beachtung, sondern hielt Ausschau nach Arya. Als
er sie entdeckte, wie sie neben dem berittenen Jörmundur herlief,
rief er nach ihr und hob seinen Schild, um sie auf sich aufmerksam
zu machen.
Arya bemerkte ihn und kam zu ihm herüber, ihre Bewegungen
so anmutig wie die einer Gazelle. Sie hatte sich inzwischen einen
Schild, einen Vollhelm und ein Kettenhemd beschafft, und das Metall glänzte im grauen Dämmerlicht, das über der Stadt lag.
Als sie vor ihm stehen blieb, sagte er: »Saphira und ich wollen
von oben in den Festungsturm eindringen und versuchen, Fürstin
Lorana gefangen zu nehmen. Willst du mitkommen?«
Arya nickte knapp.
Eragon sprang auf eines von Saphiras Vorderbeinen und kletterte von dort in den Sattel. Die Elfe folgte ihm und setzte sich
dicht hinter ihn, sodass die Glieder ihres Kettenhemds gegen seinen Rücken drückten.
Saphira breitete die samtigen Schwingen aus und hob ab. Bloëdhgarm und die anderen Elfen schauten ihr entgeistert hinterher.
»Du solltest deine Leibwächter nicht so leichtfertig zurücklassen«, murmelte Arya in Eragons linkes Ohr. Dann schlang sie ihren
Schwertarm um seine Taille und hielt sich an ihm fest, während Saphira über den Hof schwebte.
Bevor Eragon antworten konnte, spürte er die Berührung von
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Glaedrs gewaltigem Geist. Einen Moment lang verschwand die
Stadt unter Eragon, und er sah und fühlte nur noch, was Glaedr
sah und fühlte.
Hornissen-Pfeile-klein-und-stechend prallten von seinem Bauch
ab, als er über die verstreuten Holz-Höhlen der Runde-Ohren-zweiBeine aufstieg. Die Luft unter seinen Flügeln war gleichmäßig und
kräftig, ideal für den Flug, den er vor sich hatte. Der Sattel rieb an
seinen Schuppen, als Oromis seine Position veränderte.
Glaedr ließ die Zunge herausschnellen und kostete das verlockende Aroma von Verbranntes-Holz-verschmortes-Fleisch-verspritztes-Blut. Er war schon oft an diesem Ort gewesen. In seiner
Jugend hatte er noch nicht Gil’ead geheißen und damals waren die
einzigen Bewohner die Ernstes-Lachen-flinke-Zunge-Elfen und die
Freunde der Elfen gewesen. Er hatte seine bisherigen Besuche immer genossen, aber jetzt schmerzte ihn die Erinnerung an seine beiden Nest-Gefährten, die hier gestorben waren, umgebracht von den
Gedanken-krank-Abtrünnigen.
Die Sonne schwebte dicht über dem Horizont. Im Norden lag
das Wasser-groß-und-breit-Isenstar wie ein gekräuseltes Blatt
aus glänzendem Silber. Unter ihm hatte die Herde der Spitz-Ohren, angeführt von Islanzadi, die Stadt-zertrampelter-Ameisenhaufen umstellt. Ihre Rüstungen glitzerten wie zerstoßenes Eis. Über
der ganzen Gegend hing eine blaue Rauchwolke, so dick wie kalter
Morgendunst.
Und von Süden her flog Spitzklaue-klein-und-wütend-Dorn auf
Gil’ead zu und brüllte angriffslustig. Auf seinem Rücken saß Morzan-Sohn-Murtagh und hielt in seiner rechten Hand Zar’roc, das
glänzte wie ein polierter Nagel.
Trauer erfüllte Glaedr beim Anblick der beiden jämmerlichen
Küken. Er wünschte, Oromis und er könnten sie verschonen. Einmal mehr müssen Drache gegen Drache und Reiter gegen Reiter
kämpfen, dachte er, und alles bloß wegen Drachenei-Räuber-Galbatorix. Grimmig schlug er mit den Flügeln und spreizte die Klauen,
um seine sich nähernden Feinde zu zerreißen.
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Eragons Kopf wurde in den Nacken geschleudert, als Saphira auf
eine Seite taumelte und zwanzig Fuß absackte, bevor sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Hast du das auch gesehen?, fragte sie.
Habe ich. Besorgt drehte sich Eragon nach den Satteltaschen
um, wo er Glaedrs Eldunarí aufbewahrte, und fragte sich, ob sie
versuchen sollten, Glaedr und Oromis zu helfen. Dann beruhigte
er sich damit, dass es unter den Elfen zahlreiche Magier gab. Seine
Meister würden keine Unterstützung brauchen.
»Was ist los?«, fragte Arya und ihre Stimme dröhnte in seinem
Ohr.
Oromis und Glaedr stehen kurz vor einem Kampf gegen Dorn
und Murtagh, erklärte Saphira.
Eragon spürte, wie die Elfe erstarrte. »Woher wisst ihr das?«,
fragte sie.
»Das erklär ich dir später. Ich hoffe nur, dass sie nicht verletzt
werden.«
»Ich auch«, sagte Arya.
Saphira flog hoch über der Burganlage, schwebte dann auf lautlosen Flügeln abwärts und ließ sich auf der Spitze des höchsten
Turms nieder. Als Eragon und Arya auf das steile Dach kletterten,
sagte Saphira: Ich warte weiter unten auf euch. Das Fenster hier
ist zu klein für mich. Sie hob ab und der Luftzug ihrer Schwingen
schlug ihnen ins Gesicht.
Eragon und Arya ließen sich über die Dachkante hinuntergleiten und landeten auf einem schmalen Mauervorsprung acht Fuß
tiefer. Eragon tastete sich Stück für Stück den Sims entlang, ohne
sich über den Fall aus schwindelerregender Höhe Gedanken zu
machen, der ihn erwartete, sollte er abrutschen. Er erreichte ein
kreuzförmiges Fenster, durch das er sich in einen großen viereckigen Raum zog. An den Wänden standen Bündel aus Bolzen und
Gestelle voller schwerer Armbrüste. Wenn sich hier noch irgendjemand aufgehalten hatte, als Saphira gelandet war, so hatte er inzwischen die Flucht ergriffen.
Arya kletterte hinter ihm durchs Fenster. Sie sah sich um, zeigte
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dann auf die Treppe am anderen Ende des Raumes und schlich hinüber, ohne dass ihre Lederstiefel auf dem Steinboden auch nur
das geringste Geräusch verursacht hätten.
Als Eragon ihr folgte, nahm er unter ihnen eine eigenartige Vereinigung von Energieströmen wahr sowie das Bewusstsein von fünf
Menschen, deren Gedanken ihm versperrt waren. In Erwartung
eines geistigen Angriffs errichtete er einen Wall um sein Bewusstsein und konzentrierte sich darauf, ein paar Zeilen aus einem Elfengedicht zu rezitieren. Er tippte Arya auf die Schulter und flüsterte: »Spürst du das?«
Sie nickte. »Wir hätten Bloëdhgarm mitnehmen sollen.«
Gemeinsam schlichen sie möglichst leise die Stufen hinab.
Das nächste Turmzimmer war viel größer als das erste. Die
Wände waren mehr als dreißig Fuß hoch, und von der Decke hing
eine Laterne mit geschliffenen Glasscheiben herab, in der eine
gelbe Flamme loderte. Hunderte von Ölgemälden bedeckten die
Wände: Porträts bärtiger, prunkvoll gewandeter Männer und ausdrucksloser Frauen, die im Kreis einiger Kinder saßen; düstere,
sturmumtoste Seelandschaften mit ertrinkenden Seeleuten und
Kampfszenen, in denen Menschen Horden bizarrer Urgals abschlachteten. Eine Reihe hölzerne Fensterläden an der nördlichen
Wand zeigte auf einen Balkon mit steinerner Balustrade. Vor der
Wand gegenüber dem Fenster standen etliche runde, mit Schriftrollen übersäte Tische, drei Polstersessel und zwei übergroße Messingvasen mit vertrockneten Blumensträußen. Eine stämmige grauhaarige Frau in einem lavendelfarbenen Kleid saß in einem der
Sessel. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einigen der porträtierten
Männer. Ihr Haupt wurde von einem mit Jade und Topas verzierten
silbernen Diadem geschmückt.
Mitten im Zimmer standen mit zurückgestreiften Kapuzen die
drei Magier, die Eragon zuvor in der Stadt gesehen hatte. Die beiden Männer und die Frau hatten sich im Dreieck aufgestellt und
die Arme seitlich ausgestreckt, sodass sich ihre Fingerspitzen berührten. Sie wiegten sich im Einklang hin und her und murmelten
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dabei eine unbekannte Beschwörung in der alten Sprache. Im Zentrum des Dreiecks saß ein Mann im gleichen Gewand; schweigend
und das Gesicht schmerzverzerrt.
Eragon stürzte sich auf den Geist eines der drei Männer, doch
der Magier war so auf seine Aufgabe konzentriert, dass es Eragon
nicht gelang, in sein Bewusstsein einzudringen und ihn so seinem
Willen zu unterwerfen. Der Mann schien den Angriff nicht einmal
zu bemerken. Arya musste es ebenfalls versucht haben, denn sie
flüsterte: »Sie sind gut ausgebildet.«
»Weißt du, was sie da machen?«, fragte er leise.
Sie schüttelte den Kopf.
In diesem Moment schaute die Frau in dem lavendelfarbenen
Kleid auf und entdeckte Eragon und Arya auf den Stufen. Zu Eragons Überraschung schrie sie nicht um Hilfe, sondern legte den
Finger an die Lippen und winkte sie heran.
Eragon sah Arya verblüfft an. »Es könnte eine Falle sein.«
»Höchstwahrscheinlich«, sagte sie.
»Was machen wir jetzt?«
»Ist Saphira in der Nähe?«
»Ja.«
»Dann lass uns unsere Gastgeberin begrüßen.«
Nebeneinander nahmen sie die restlichen Stufen und schlichen
quer durch die Kammer, wobei sie die in ihren Singsang versunkenen Magier nicht aus den Augen ließen.
»Seid Ihr Fürstin Lorana?«, fragte Arya mit leiser Stimme, als sie
vor dem Sessel stehen blieben.
Die Frau neigte den Kopf. »Das bin ich, holde Elfe.« Dann richtete sie ihren Blick auf Eragon und fragte: »Und Ihr seid der Drachenreiter, von dem wir in letzter Zeit so viel gehört haben? Ihr
seid Eragon Schattentöter?«
»Der bin ich«, sagte Eragon.
Ein Ausdruck der Erleichterung erschien auf den edlen Zügen
der Frau. »Ah, ich hatte gehofft, Ihr würdet kommen. Ihr müsst sie
aufhalten, Schattentöter.« Sie deutete auf die Magier.
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»Warum befehlt Ihr ihnen nicht, aufzuhören?«, flüsterte Eragon.
»Ich kann nicht«, sagte Lorana. »Sie gehorchen nur dem König
und seinem neuen Drachenreiter. Ich habe Galbatorix Treue gelobt – ich hatte keine andere Wahl –, also kann ich gegen ihn oder
seine Diener nicht die Hand erheben. Sonst hätte ich schon selbst
für ihre Vernichtung gesorgt.«
»Warum?«, wollte Arya wissen. »Wovor fürchtet Ihr Euch so
sehr?«
Die Haut um Loranas Augen spannte sich. »Sie wissen, dass sie
die Varden allein nicht vertreiben können, und Galbatorix hat uns
keine Verstärkung geschickt. Darum versuchen sie, einen Schatten
heraufzubeschwören, in der Hoffnung, dass sich das Ungeheuer
gegen die Varden wendet und Schrecken und Leid in euren Reihen verbreitet.«
Eragon packte das Grauen. Er konnte sich nicht vorstellen, gegen einen zweiten Durza kämpfen zu müssen. »Aber ein Schatten
könnte sich genauso leicht gegen sie und alle anderen in Feinster
wenden wie gegen die Varden.«
Lorana nickte. »Das ist ihnen egal. Sie wollen nur noch so viel
Leid und Zerstörung anrichten wie möglich, ehe sie sterben. Sie
sind wahnsinnig, Schattentöter. Bitte, Ihr müsst sie aufhalten, um
meines Volkes willen!«
Als sie geendet hatte, landete Saphira auf dem Balkon, wobei sie
mit dem Schwanz die Balustrade einriss. Mit einem einzigen Prankenhieb fegte sie die Läden vor den Fenstern beiseite, zerbrach die
Rahmen, als wären sie Zunder, und steckte dann knurrend Kopf
und Schultern in den Raum.
Die Magier sangen weiter und schienen sie gar nicht zu bemerken.
»Oh weh«, klagte Fürstin Lorana und umklammerte die Sessellehnen.
»Also los«, sagte Eragon. Er schwang Brisingr und stürzte im selben Moment auf die Magier zu, in dem sich auch Saphira in Bewegung setzte.
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Die Welt wirbelte um Eragon und wieder sah er sie durch Glaedrs
Augen.
Rot. Schwarz. Pulsierende gelbe Blitze. Schmerz … Schmerz-Knochen-schmelzend in seinem Bauch und in der Schulter seines linken
Flügels. Schmerz, wie er ihn seit über hundert Jahren nicht mehr
verspürt hat. Dann Erleichterung, als der Gefährte-seines-LebensOromis seine Verletzungen heilte.
Als er sein Gleichgewicht wiedererlangt hatte, sah sich Glaedr
nach Dorn um. Der Würger-klein-und-rot war durch Galbatorix’
Einmischung stärker und schneller, als er angenommen hatte.
Dorn krachte in Glaedrs linke Seite, seine schwache Seite, wo
er das Vorderbein verloren hatte. Sie wirbelten umeinander herum
und stürzten dabei auf die Erde-Flügel-zertrümmernd zu. Glaedr
wehrte sich mit Zähnen und Klauen, um den kleineren Drachen zur
Unterwerfung zu zwingen.
Mich wirst du nicht kleinkriegen, Jüngelchen, schwor er sich.
Ich war schon alt, als du noch gar nicht geboren warst.
Klauen-wie-Dolche-weiß schrammten über Glaedrs Rippen und
Bauch. Er krümmte den Schwanz und ließ ihn Lang-Zahn-Faucher-Dorn übers Bein peitschen, wobei sich eine seiner Schwanzzacken tief in Dorns Oberschenkel grub. Der erbitterte Kampf hatte
längst ihre Zauber-Schilde-unsichtbar erschöpft, sodass sie nun auf
jede Weise verwundbar waren.
Als die rotierende Erde nur noch ein paar Tausend Fuß entfernt
war, holte Glaedr tief Luft und zog den Kopf zurück. Er straffte den
Hals, spannte den Bauch und ließ den Feuer-Brei aus den Tiefen
seiner Eingeweide aufsteigen. Die Flüssigkeit entzündete sich, als
sie sich mit der Luft in seiner Kehle verband. Er öffnete das Maul
sperrangelweit und hüllte den roten Drachen in einen knisternden
Kokon. Der Strom der Flammen-gierig-zehrend-züngelnd kitzelte
die Innenseite seiner Wangen.
Als er und der sich krümmende, kreischende Drache-mit-Klauenscharf voneinander abließen, verschloss er die Kehle und erstickte
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den Feuerstrom. Von seinem Rücken herab hörte er Oromis sagen:
»Ihre Kraft lässt nach. Ich sehe es an ihrer Haltung. Noch ein paar
Minuten und Murtaghs Konzentration lässt ihn im Stich. Dann
kann ich die Kontrolle über seine Gedanken übernehmen. Entweder das oder wir erlegen sie mit Schwert und Klauen.«
Glaedr knurrte zustimmend und war gleichzeitig verärgert, dass
er und Oromis es nicht wagen konnten, sich wie sonst auf geistiger
Ebene zu verständigen. Von Warmer-Wind-über-beackerter-Erde
ließ er sich höher tragen. Dann wandte er sich dem bluttriefenden
Dorn zu, brüllte und schickte sich an, abermals mit ihm zu kämpfen.
Völlig desorientiert starrte Eragon an die Decke. Er lag im Turm
der Festungsanlage auf dem Rücken. Neben ihm kniete Arya mit
besorgter Miene. Sie packte seinen Arm, zog ihn in die Höhe und
stützte ihn, als er schwankte. Am anderen Ende des Raums sah er
Saphira den Kopf schütteln und spürte ihre Verwirrung.
Die drei Magier standen noch immer mit ausgestreckten Armen
da, wiegten sich und sangen in der alten Sprache. Die Worte ihrer
Beschwörung vibrierten vor Kraft und schwebten noch in der Luft,
lange nachdem sie eigentlich hätten verklungen sein müssen. Der
Mann in der Mitte hielt die Knie umschlungen, zitterte am ganzen
Leib und warf den Kopf hin und her.
»Was ist passiert?«, fragte Arya leise. Sie zog Eragon näher heran
und raunte: »Wie kannst du über eine so weite Entfernung an
Glaedrs Gedanken teilhaben, wo sein Geist während des Kampfes
selbst Oromis verschlossen bleibt? Verzeih mir, dass ich ohne deine
Erlaubnis in dein Bewusstsein eingedrungen bin, aber ich habe mir
Sorgen um dich gemacht. Welches Band knüpft dich und Saphira
an Glaedr?«
»Später«, sagte er und richtete sich auf.
»Hat Oromis dir ein Amulett oder irgendeinen anderen Gegenstand gegeben, mit dem du Verbindung zu Glaedr aufnehmen
kannst?«
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»Es würde zu lange dauern, es dir zu erklären. Später, ich versprech’s dir.«
Arya zögerte, dann nickte sie. »Ich werde dich daran erinnern.«
Gemeinsam gingen Eragon, Saphira und Arya auf die Magier los
und stachen jeder auf einen anderen ein. Ein metallisches Klingen
erfüllte den Raum, als Brisingr zur Seite wirbelte und Eragon dabei
die Schulter verdrehte, bevor es sein Ziel erreicht hatte. Auch Aryas
Schwert prallte von einem Schutzschild ab, ebenso wie Saphiras
Vorderpranke. Ihre Klauen kreischten über den Steinfußboden.
»Konzentriert euch auf den da!«, rief Eragon und zeigte auf den
größten der drei Magier, einen bleichen Mann mit verfilztem Bart.
»Schnell, bevor die Geisterbeschwörung gelingt.« Zwar hätten Eragon und Arya versuchen können, die Schutzschilde der drei mit
Gegenzaubern zu umgehen oder zu brechen. Es war jedoch immer
gefährlich, Magie gegen einen anderen Magier einzusetzen, dessen
Bewusstsein man nicht kontrollierte, und sie wollten nicht riskieren, von einem Schutzzauber getötet zu werden, von dem sie bis
jetzt nicht einmal etwas ahnten.
Abwechselnd stachen und hieben Eragon, Saphira und Arya auf
den Bärtigen ein, ohne dass sie den Mann auch nur berührt hätten.
Dann, endlich, bemerkte Eragon, wie etwas unter Brisingr nachgab
und das Schwert ungehindert seinen Weg nahm, bis es dem Magier
den Kopf abschlug. Die Luft vor Eragon flimmerte. Im selben Augenblick spürte er, wie ihm Kraft entzogen wurde, als seine Schutzschilde ihn gegen einen Angriffszauber verteidigten. Der Ansturm
brach nach ein paar Sekunden ab und ließ ihn leicht benommen
zurück. Ihm knurrte der Magen. Er verzog das Gesicht und stärkte
sich mit Energie aus dem Gürtel von Beloth dem Weisen.
Die einzige Reaktion der verbliebenen Magier bestand darin,
ihre Beschwörung noch intensiver voranzutreiben. Gelber Schaum
verklebte ihre Mundwinkel, Speichel spritzte von ihren Lippen und
man sah das Weiße in ihren Augen. Aber immer noch machten sie
keinerlei Anstalten, zu flüchten oder sich zu wehren.
Nun stürzten sie sich auf den nächsten Magier, einen dicken
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Mann mit Ringen auf den Daumen, und droschen wieder so lange
auf ihn ein, bis seine Schutzschilde erschöpft waren. Es war Saphira, die den Mann umbrachte, indem sie ihn mit den Klauen
packte und quer durch den Raum fliegen ließ. Er stieß gegen die
Treppe und brach sich an einer Stufe den Schädel. Diesmal folgte
kein magischer Vergeltungsschlag.
Als Eragon auf die Magierin zutrat, schoss eine Wolke vielfarbiger Lichter durch die zerbrochenen Fensterläden ins Zimmer und
hüllte den Mann ein, der auf dem Boden kauerte. Die flackernden
Geister wirbelten mit wütender Bösartigkeit um den Mann herum
und bildeten dabei eine undurchdringliche Mauer um ihn. Er riss
abwehrend die Arme hoch und schrie. Die Luft summte und knisterte vor Energie, die die flimmernden Kugeln ausstrahlten. Ein
säuerlicher, metallischer Geschmack legte sich auf Eragons Zunge
und seine Haut kribbelte. Der Magierin standen die Haare zu
Berge. Ihr schräg gegenüber machte Saphira fauchend einen Buckel, jeder Muskel in ihrem Körper zum Zerreißen gespannt.
Eragon fuhr die Angst in die Glieder. Nein!, dachte er und ihm
wurde schlecht. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Er war stärker als damals, als er Durza in Tronjheim
gegenübergestanden hatte. Doch dafür war es ihm jetzt umso bewusster, wie gefährlich ein Schatten sein konnte. Nur drei Krieger
hatten es je überlebt, einen Schatten zu töten: die Elfe Laetri, der
Drachenreiter Irnstad und er selbst – und er war sich nicht sicher,
ob er diese Heldentat noch einmal vollbringen konnte. Bloëdhgarm, wo seid ihr?, rief er verzweifelt. Wir brauchen eure Hilfe!
Und dann blendete sich alles um ihn her aus und er sah stattdessen:
Weiß. Nichts als Weiß. Das Wasser-des-Himmels-kalt-und-weich tat
gut nach der erdrückenden Hitze des Kampfes. Glaedr streckte die
Zunge-trocken-und-klebrig heraus und labte sich an dem frischen
Nass.
Er schlug noch einmal mit den Flügeln und das Himmels-Was829
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ser teilte sich vor ihm und enthüllte die Sonne-sengend-grell und
die Erde-grün-braun-neblig. Wo ist er denn?, dachte Glaedr und
hielt nach Dorn Ausschau. Der Würger-klein-und-rot hatte sich in
schwindelnde Höhen geflüchtet, in die kein Vogel aufstieg, wo die
Luft dünn war und der Atem Wasser-Rauch.
»Glaedr, hinter uns!«, rief Oromis.
Glaedr wirbelte herum, aber er war nicht schnell genug. Der rote
Drache krachte in seine rechte Schulter und ließ ihn schwanken.
Knurrend schlang Glaedr sein verbliebenes Vorderbein um das Küken-wild-schnappend-und-kratzend und versuchte, das Leben aus
Dorns zappelndem Körper zu quetschen. Der rote Drache brüllte,
befreite sich halb aus der eisernen Umarmung und schlug Glaedr
die Klauen in die Brust. Glaedr bog den Hals nach unten, grub die
Zähne in Dorns Hinterlauf und hielt ihn fest, obwohl der rote Drache sich wand und um sich schlug wie eine Wildkatze in der Falle.
Blut-heiß-und-salzig strömte in Glaedrs Maul.
Im Fallen hörte Glaedr das Klirren von Schwertern auf Schilden, als Oromis und Murtagh sich einen kurzen Schlagabtausch
lieferten. Dorn krümmte sich und Glaedr erhaschte einen Blick auf
Morzan-Sohn-Murtagh. Auf Glaedr wirkte der Mensch verängstigt,
aber er war sich nicht sicher. Obwohl er schon so lange mit Oromis
verbunden war, fiel es ihm immer noch schwer, in den weichen, flachen Gesichtern der Keine-Hörner-zwei-Beine zu lesen; vor allem
da sie auch keinen Schwanz hatten.
Das Klirren brach ab und Murtagh rief: »Sei verflucht dafür,
dass du dich nicht eher gezeigt hast! Sei verflucht! Du hättest uns
helfen können! Du hättest …« Einen Moment lang schien Murtagh
an seiner Zunge zu würgen.
Glaedr stöhnte, als eine unsichtbare Kraft ihren Sturz so abrupt
abfing, dass ihm Dorns Bein fast aus dem Maul gerissen wurde,
und sie dann alle vier aufwärtstrug, immer höher und höher, bis
die Stadt-zertrampelter-Ameisenhaufen unter ihnen nur noch ein
verschwommener Fleck war und selbst Glaedr in der dünnen Luft
kaum noch atmen konnte.
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Was macht das Jüngelchen da?, fragte sich Glaedr besorgt. Will
er sich etwa umbringen?
Da ergriff Murtagh wieder das Wort, und seine Stimme klang
voller und tiefer als zuvor und hallte, als stünde er in einem leeren
Saal. Glaedr standen die Schuppen an den Schultern zu Berge, als
er die Stimme ihres Erzfeindes erkannte.
»Ihr seid also noch am Leben, Oromis, Glaedr«, sagte Galbatorix. Seine Worte waren geschliffen und klar wie die eines glänzenden Redners und sein Tonfall war von ausgesuchter Liebenswürdigkeit. »Schon lange habe ich vermutet, dass die Elfen einen
Drachen oder Reiter vor mir verstecken. Wie erfreulich, dass sich
mein Verdacht jetzt bestätigt.«
»Fort mit dir, elender Schwur-Brecher!«, rief Oromis. »Du sollst
an uns wenig Freude haben!«
Galbatorix lachte in sich hinein. »Was für eine schroffe Begrüßung. Schäm dich, Oromis-Elda! Wo bleibt die berühmte Höflichkeit der Elfen? Ist sie euch in den letzten hundert Jahren etwa abhandengekommen?«
»Du verdienst nicht mehr Höflichkeit als ein tollwütiger Hund.«
»Aber, aber, Oromis. Denk an das, was du zu mir gesagt hast, als
ich vor dir und den anderen Ältesten stand: ›Zorn ist ein Gift. Du
musst es aus deinem Herzen verbannen, sonst verdirbt es das Gute
in dir.‹ Du solltest deine eigenen Ratschläge beherzigen.«
»Du kannst mich nicht mit deiner Schlangenzunge aus der Fassung bringen, Galbatorix. Du bist ein Ungeheuer, und wir werden
dich auslöschen, selbst wenn es uns das Leben kostet.«
»Aber warum sollte es das, Oromis? Warum willst du dich gegen mich auflehnen? Es stimmt mich traurig, dass dein Hass deine
Weisheit verzerrt, denn du warst einmal weise, Oromis, vielleicht
das weiseste Mitglied unseres Ordens. Du warst der Erste, der den
Wahnsinn erkannte, der meine Seele zerfraß, und du warst es auch,
der die anderen Elfen überredet hat, meinen Wunsch nach einem
neuen Drachenei abzulehnen. Das war sehr klug von dir, Oromis.
Vergeblich, aber klug. Und irgendwie hast du es geschafft, Kialandí
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und Formora zu entkommen, obwohl sie dich bereits gebrochen
hatten. Dann hast du dich so lange versteckt, bis all deine Feinde
tot waren, bis auf einen. Auch das war klug von dir, Elf.«
Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: »Es gibt keinen Grund
mehr, mich zu bekämpfen. Ich gebe freimütig zu, dass ich in meiner
Jugend schreckliche Verbrechen begangen habe. Aber das ist lange
vorbei, und wenn ich an das vergossene Blut denke, quält mich mein
Gewissen. Aber was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich kann
meine Taten nicht ungeschehen machen. Mein ganzes Streben gilt
nur einem Zweck, meinem Reich Frieden und Wohlstand zu bringen. Siehst du nicht, dass mein Durst nach Rache versiegt ist? Die
Raserei, die mich so viele Jahre angetrieben hat, ist zu Asche verbrannt. Wer ist denn für den Krieg verantwortlich, der über Alagaësia hinwegfegt, Oromis? Doch nicht ich! Die Varden haben diesen Konflikt heraufbeschworen. Ich wäre damit zufrieden gewesen,
mein Volk zu regieren und die Elfen, Zwerge und Surdaner sich
selbst zu überlassen. Aber die Varden haben einfach keine Ruhe gegeben. Sie sind es, die Saphiras Ei gestohlen haben und die Erde
mit Leichenbergen übersäen. Nicht ich. Du warst einmal weise,
Oromis, besinne dich auf diese Weisheit. Gib deinen Hass auf und
komm mit mir nach Ilirea. Gemeinsam können wir diesen Konflikt
beenden und ein Zeitalter des Friedens einläuten, das für tausend
Jahre und länger Bestand haben wird.«
Glaedr war nicht überzeugt. Er biss so fest mit seinen Fängenmalmend-und-bohrend zu, dass Dorn aufjaulte. Der SchmerzSchrei schien unerträglich laut nach Galbatorix’ schmeichelnden
Worten.
Mit fester, klarer Stimme sagte Oromis: »Nein. Du kannst uns
nicht mit deinen honigsüßen Lügen einlullen und deine Gräueltaten
vergessen machen. Gib uns frei! Du hast nicht die Mittel, uns hier
oben noch viel länger festzuhalten, und ich weigere mich, weitere
Belanglosigkeiten mit einem Verräter wie dir auszutauschen.«
»Pah! Du bist ein seniler alter Trottel«, sagte Galbatorix und
seine Stimme war jetzt hart und verärgert. »Du hättest mein An832
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gebot annehmen sollen. Du wärst der Erste unter meinen Sklaven
geworden. Dein törichtes Festhalten an dem, was du Gerechtigkeit
nennst, wird dir noch leidtun. Übrigens irrst du dich. Ich kann euch
hier so lange hängen lassen, wie ich will, denn ich bin so mächtig
wie ein Gott und niemand kann mich aufhalten!«
»Du wirst nicht über uns triumphieren«, sagte Oromis. »Selbst
Götter bleiben nicht ewig bestehen.«
Galbatorix stieß einen wüsten Fluch aus. »Deine Philosophie
zwingt mich nicht in die Knie, Elf! Ich bin der mächtigste aller Magier und bald werde ich noch mächtiger sein. Der Tod wird mir nichts
mehr anhaben können. Du jedoch wirst sterben. Aber erst wirst du
leiden. Ihr werdet beide unvorstellbare Qualen erleiden. Dann werde
ich dich töten, Oromis, und dir werde ich deinen Seelenhort entreißen, Glaedr, damit du mir bis ans Ende aller Tage dienst.«
»Niemals!«, rief Oromis.
Und Glaedr hörte erneut Schwerter klirren.
Glaedr hatte seinen Geist für die Dauer des Kampfes vor Oromis verschlossen, doch ihre Verbindung ging tiefer als das bewusste
Denken, und so spürte er, wie sich der Elf plötzlich unter dem sengenden Schmerz seiner Knochen-Brand-Nerven-Fäulnis krümmte.
Erschrocken ließ Glaedr Dorns Bein los und versuchte, den roten
Drachen von sich wegzustoßen. Dorn brüllte, blieb jedoch, wo er
war. Galbatorix’ Verwünschung fesselte die beiden an Ort und
Stelle, sodass sie sich nicht mehr als ein paar Flügelschläge in jede
Richtung bewegen konnten.
Oben traf erneut Metall auf Metall, dann sah Glaedr, wie Naegling an ihm vorbei in die Tiefe fiel. Das goldene Schwert blitzte und
schimmerte, während es dem Erdboden entgegentaumelte. Zum
ersten Mal spürte Glaedr den eiskalten Würgegriff der Angst. Der
größte Teil von Oromis’ Wort-Wille-Magie ruhte in seinem Schwert
und seine Schutzzauber waren mit der Klinge verbunden. Ohne die
Waffe war er wehrlos.
Glaedr warf sich gegen die Schranken von Galbatorix’ Zauber
und versuchte, mit aller Kraft freizukommen, doch es war vergeb833
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lich. Und gerade als Oromis anfing, sich zu erholen, spürte Glaedr,
wie Zar’roc ihn von der Schulter bis zur Hüfte aufschlitzte.
Glaedr brüllte.
Er brüllte, wie Oromis gebrüllt hatte, als Glaedr sein Bein verlor.
Gnadenlose Wut ballte sich in Glaedrs Bauch zusammen. Ohne
zu überlegen, ob er überhaupt fähig dazu war, setzte er eine magische Explosion frei, die Dorn und Murtagh davonfliegen ließ wie
Blätter im Wind. Dann legte er die Flügel an und stürzte auf Gil’ead
hinab. Wenn er schnell genug dort ankam, würden Islanzadi und
ihre Magier Oromis noch retten können.
Doch die Stadt war zu weit entfernt. Oromis’ Bewusstsein
wankte … wurde schwächer … entglitt ihm …
Glaedr leitete seine eigene Kraft in Oromis’ vernichteten Körper,
um ihn am Leben zu halten, bis sie den Boden erreichten.
Aber er konnte die Blutung nicht stillen, die schreckliche Blutung.
Glaedr … lass mich, murmelte Oromis in seinen Gedanken.
Und kurz darauf flüsterte er mit noch schwächerer Stimme:
Traure nicht um mich.
Und dann glitt der Gefährte von Glaedrs Leben in die große
Leere hinüber.
Fort.
Fort!
FORT!
Dunkelheit. Leere.
Er war allein.
Ein roter Schleier legte sich über die Welt, der im Rhythmus seines Blutes pulsierte. Er schlug mit den Flügeln und drehte um, auf
der Suche nach Dorn und seinem Reiter. Er würde sie nicht entkommen lassen. Er würde sie in der Luft zerreißen und zu Asche
verbrennen, bis er sie vom Angesicht der Erde getilgt hatte.
Als Glaedr den Würger-klein-und-rot auf sich zukommen sah,
brüllte er seine Trauer heraus und verdoppelte sein Tempo. Dorn
wich im letzten Moment aus, um ihm in die Flanke zu fallen, aber er
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war nicht schnell genug, um Glaedr zu entkommen, der ausholte, zuschnappte und dem roten Drachen die letzten drei Fuß von seinem
Schwanz abbiss. Eine Blutfontäne spritzte aus dem Stumpf. Dorn
heulte auf vor Schmerz, wand sich davon und schoss in Glaedrs Rücken. Glaedr wollte sich zu ihm umdrehen, aber der kleinere Drache
war flinker und wendiger. Glaedr spürte einen stechenden Schmerz
im Nacken, dann flackerte seine Sehkraft und schwand.
Wo war er?
Er war allein.
Er war allein in der Finsternis.
Er war allein in der Finsternis, er war blind und er konnte sich
nicht rühren.
Er spürte die Gedanken anderer Lebewesen in seiner Nähe, aber
es waren nicht Dorn und Murtagh, sondern Arya, Eragon und Saphira.
Und da wusste Glaedr, wo er sich befand. Grauen erfasste ihn
und er brüllte in die Dunkelheit. Brüllte und brüllte und ergab sich
besinnungslos seinem Schmerz. Für ihn gab es keine Zukunft, denn
Oromis war tot und er war allein.
Ganz allein!
Ruckartig kam Eragon wieder zu sich.
Er lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Sein Gesicht war
tränenüberströmt. Keuchend rappelte er sich auf und blickte sich
nach Saphira und Arya um.
Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er sah.
Eben war er noch im Begriff gewesen, die Magierin anzugreifen; jetzt lag sie vor ihm, von einem einzigen Schwerthieb niedergestreckt. Die Geister, die sie und ihre Gefährten gerufen hatten,
waren nirgends zu sehen. Fürstin Lorana saß noch immer reglos in
ihrem Sessel. Am anderen Ende des Turmzimmers kämpfte sich
Saphira auf die Beine. Und der Mann, der zwischen den drei Magiern auf dem Boden gesessen hatte, stand neben ihm und hielt Arya
an der Kehle in die Höhe.
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Seine Haut hatte alle Farbe verloren und war knochenweiß. Das
ehemals braune Haar leuchtete rot, und als der Mann ihn ansah
und lächelte, bemerkte Eragon, dass seine Augen kastanienbraun
geworden waren. Er erinnerte ihn stark an Durza.
»Unser Name ist Varaug«, sagte der Schatten. »Wir werden euch
das Fürchten lehren.« Arya trat nach ihm, aber er schien es nicht
einmal zu bemerken.
Der Geist des Schattens bohrte sich glühend heiß in Eragons
Bewusstsein und versuchte, seinen Schutzwall niederzureißen. Die
Gewalt des Angriffs lähmte Eragon. Er vermochte kaum die tastenden Fühler abzuwehren, geschweige denn, zu gehen oder ein
Schwert zu schwingen. Aus irgendeinem Grund war Varaug noch
stärker als Durza, und Eragon wusste nicht, wie lange er dem Schatten würde standhalten können. Dann sah er, dass auch Saphira unter Beschuss stand. Sie saß steif und reglos in der Nähe des Balkons
mit einem Zähnefletschen, das wie gemeißelt schien.
Die Adern an Aryas Stirn traten vor und sie wurde langsam puterrot. Ihr Mund stand offen, aber sie atmete nicht. Mit der rechten Handkante hieb sie gegen Varaugs Ellbogen und brach ihm das
Gelenk mit einem vernehmlichen Knacks. Sein Arm sackte herab
und Aryas Zehen berührten kurz den Boden, doch im nächsten Augenblick sprangen die Knochen wieder zurück und der Schatten
hob sie höher als zuvor.
»Ihr werdet sterben«, knurrte Varaug. »Ihr werdet alle sterben,
dafür dass ihr uns in den kalten, harten Lehm gesperrt habt.«
Das Wissen, dass Arya und Saphira in Lebensgefahr schwebten,
erfüllte Eragon mit einer wilden Entschlossenheit, die jedes andere
Gefühl auslöschte. Mit Gedanken, so klar und scharf wie eine Glasscherbe, stürzte er sich auf das brodelnde Bewusstsein des Schattens. Varaug war zu mächtig, und die Geister, die ihn erfüllten, waren zu unterschiedlich, als dass Eragon sie in seine Gewalt hätte
bringen können, also versuchte er, den Schatten abzuschirmen.
Er umgab Varaugs Bewusstsein mit seinem eigenen: Immer wenn
der Schatten sich nach Saphira oder Arya ausstreckte, fing Eragon
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den Angriff ab, und immer wenn Varaug eine Bewegung machen
wollte, sandte Eragon ihm einen Gegenbefehl.
Sie kämpften gedankenschnell und trieben sich gegenseitig vor
und zurück, immer am Rand von Varaugs Geist entlang, der so irre
und bizarr war, dass Eragon Angst hatte, verrückt zu werden, wenn
er zu lange daraufblickte. Er verlangte sich das Äußerste ab und
versuchte stets, die nächsten Schritte des Schattens vorauszuahnen,
auch wenn er wusste, dass dieser Zweikampf nur mit seiner eigenen Niederlage enden konnte. So schnell er auch sein mochte, am
Ende würden sich die zahllosen Intelligenzen, die in Varaug hausten, als schneller erweisen.
Schließlich ließ Eragons Konzentration nach, und Varaug nutzte
die Gelegenheit, um tiefer in seinen Kopf einzudringen, ihn in die
Falle zu locken … zu lähmen … seine Gedanken zu unterjochen, bis
Eragon den Schatten nur noch in stummer Wut anstarren konnte.
Ein unerträgliches Prickeln bemächtigte sich seiner Glieder, als die
Geister durch jeden einzelnen Nerv seines Körpers rasten.
»Dein Ring ist voller Licht!«, rief Varaug und seine Augen flackerten gierig. »Schönes Licht! Davon werden wir lange zehren!«
Dann knurrte er wütend, als Arya sein Handgelenk packte und
in drei Teile brach. Sie entwand sich seinem Griff, bevor er sich
heilen konnte, und ließ sich, nach Luft schnappend, zu Boden fallen. Varaug trat nach ihr, doch sie rollte sich weg und langte nach
ihrem heruntergefallenen Schwert.
Eragon zitterte, während er darum rang, die erdrückende Gegenwart des Schattens abzuschütteln.
Aryas Hand schloss sich um das Heft ihres Schwertes. Ein wortloser Schrei entfuhr dem Schatten. Er stürzte sich auf sie und sie
wälzten sich über den Boden. Als Varaug die Hand nach der Waffe
ausstreckte, schrie Arya auf und donnerte ihm den Schwertknauf
gegen die Schläfe. Er erschlaffte für einen Moment. Arya robbte
rückwärts und stieß sich vom Boden ab, um auf die Beine zu kommen.
Blitzschnell befreite sich Eragon von Varaug. Ohne an sich zu
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denken, ging er erneut zum Angriff auf das Bewusstsein seines
Gegners über, erfüllt von dem einen Ziel, ihn lange genug außer
Gefecht zu setzen.
Varaug erhob sich auf ein Knie, schwankte jedoch, als Eragon
seine Anstrengung verdoppelte.
»Schnapp ihn dir!«, rief er.
Arya machte einen Satz vorwärts, ihr dunkles Haar flatterte …
Und dann stieß sie dem Schatten das Schwert ins Herz.
Eragon zuckte zusammen und zog sich aus Varaugs Geist zurück,
genau in dem Moment, als der Schatten von Arya zurückzuckte
und dabei von ihrer Klinge glitt. Varaug öffnete den Mund und
stieß einen schrillen Klagelaut aus, der die Glasscheiben in der Laterne über ihnen zum Zerspringen brachte. Er streckte die Hand
nach Arya aus, kam schwankend auf sie zu und blieb schließlich stehen. Seine Haut verblasste, wurde durchsichtig und gab den Blick
auf die zahllosen glitzernden Geister in seinem Innern frei. Die
Geister pulsierten und schwollen an, dann platzte Varaugs Haut
über den Muskeln auf. Mit einem letzten Aufflammen sprengten
die Geister den Schatten und flohen aus dem Turmzimmer, als wären die Wände Luft.
Nach und nach beruhigte sich Eragons Herzschlag. Mit dem Gefühl, sehr alt und sehr müde zu sein, ging er zu Arya, die an einem
Sessel lehnte und sich mit der Hand den Hals hielt. Sie hustete und
spuckte Blut. Da sie offenbar nicht sprechen konnte, legte Eragon die Hand auf ihre und sagte: »Waíse heill.« Als die heilende
Energie aus ihm herausströmte, wurden ihm die Knie weich und
er musste sich am Sessel abstützen.
»Besser?«, fragte er, als die Beschwörung ihr Werk getan hatte.
»Ja«, flüsterte Arya und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.
Sie deutete auf die Stelle, wo Varaug eben noch gestanden hatte.
»Wir haben ihn getötet … Wir haben ihn getötet und sind nicht
tot.« Sie hörte sich überrascht an. »So wenige haben einen Schatten
niedergestreckt und es überlebt.«
»Sie haben allein gekämpft, nicht zusammen wie wir.«
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»Ja, nicht so wie wir.«
»In Farthen Dûr hast du mir geholfen und hier habe ich dir geholfen.«
»Ja.«
»Nun muss ich wohl dich Schattentöter nennen.«
»Wir sind beide …«
Sie schraken zusammen, als Saphira plötzlich ein herzzerreißendes Wehklagen anstimmte und mit ihren Klauen tiefe Furchen
in den Steinboden grub. Ihr Schwanz peitschte hin und her, zertrümmerte die Möbel und fegte die finsteren Bilder von den Wänden. Fort!, jammerte sie. Fort! Für immer fort!
»Saphira, was fehlt dir?«, rief Arya. Als der Drache nicht antwortete, richtete sie die Frage an Eragon.
Eragon hasste die Worte, die zu sagen waren. »Oromis und
Glaedr sind tot. Galbatorix hat sie umgebracht.«
Arya wankte, als hätte man sie geohrfeigt. »Oh!«, wimmerte sie
und umklammerte die Sessellehne so fest, dass ihre Handknöchel
weiß hervortraten. Ihre schräg stehenden Augen füllten sich mit
Tränen, die ihr die Wangen hinabliefen. »Eragon.« Sie streckte die
Hand aus und berührte ihn an der Schulter, und ohne dass er recht
wusste, wie es dazu kam, nahm er sie in die Arme. Dann wurden
auch ihm die Augen feucht. Aber er biss die Zähne zusammen, um
die Tränen zurückzudrängen, denn wenn er erst einmal anfing zu
weinen, würde er nicht mehr aufhören.
So aneinandergeschmiegt standen sie eine ganze Weile da und
trösteten sich gegenseitig, dann löste sich Arya von ihm und fragte:
»Wie ist das passiert?«
»Oromis hatte einen seiner Anfälle, und während er gelähmt
war, hat Galbatorix Murtagh dazu benutzt …« Eragons Stimme
brach und er schüttelte den Kopf. »Ich erzähle es dir und Nasuada
zusammen. Sie sollte davon erfahren und ich will es nicht mehr als
einmal erzählen müssen.«
Arya nickte. »Dann lass uns zu ihr fliegen.«
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Ein neuer Tag
ls Eragon und Arya Fürstin Lorana aus dem Turmzimmer nach unten begleiteten, kamen ihnen Bloëdhgarm
und der Rest der Elfengarde entgegengerannt, immer
vier Stufen auf einmal nehmend.
»Schattentöter! Arya!«, rief eine Elfe mit langem schwarzem
Haar. »Seid ihr verletzt? Wir haben Saphiras Klageruf gehört und
dachten, einer von euch sei vielleicht tot.«
Eragon warf Arya einen fragenden Blick zu. Fürstin Lorana
stammte nicht aus Du Weldenvarden, deshalb durfte er in ihrer
Gegenwart nicht über Oromis oder Glaedr sprechen. So verlangte
es das Schweigegelübde, das er Königin Islanzadi gegenüber abgelegt hatte. Nur sie, Arya oder wer auch immer Islanzadi auf den
Thron in Ellesméra folgen würde, konnte es ihm erlauben.
Arya nickte und sagte: »Ich entbinde dich von deinem Eid, Eragon, euch beide. Du kannst über sie reden, mit wem du willst.«
»Nein, wir sind nicht verletzt«, sagte Eragon. »Aber Oromis und
Glaedr sind gerade gestorben, gefallen im Kampf über Gil’ead.«
Wie aus einem Munde schrien die Elfen auf und fingen an,
Eragon mit Dutzenden von Fragen zu überhäufen. Arya hob eine
Hand. »Haltet euch zurück. Dies ist weder die Zeit noch der Ort,
eure Neugier zu befriedigen. Es streifen immer noch Soldaten umher, und wir wissen nicht, wer uns vielleicht zuhört. Haltet eure
Trauer in euren Herzen verborgen, bis wir in Sicherheit sind.« Sie
hielt inne und sah Eragon an. »Ich werde euch über die Umstände
ihres Todes unterrichten, sobald ich sie selbst kenne.«
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»Nen ono weohnata, Arya Dröttningu«, murmelten sie.
»Habt Ihr meinen Hilferuf empfangen?«, fragte Eragon den
Wolfkatzenelf.
»Habe ich«, sagte Bloëdhgarm. »Wir sind gekommen, so schnell
wir konnten, aber viele Soldaten waren uns im Weg.«
Eragon drehte nach Elfenart die Hand vor der Brust. »Ich muss
mich entschuldigen, dass ich euch einfach zurückgelassen habe,
Bloëdhgarm-Elda. Die Hitze des Gefechts hat mich übermütig
und leichtsinnig gemacht und dieser Fehler hätte uns beinahe das
Leben gekostet.«
»Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen, Schattentöter. Auch
wir haben heute einen Fehler gemacht. Er wird sich nicht wiederholen, das verspreche ich. Von jetzt an werden wir ohne Vorbehalt
an Eurer Seite kämpfen und an der Seite der Varden.«
Gemeinsam marschierten sie die Treppe zum Hof hinunter. Die
Varden hatten die meisten feindlichen Soldaten in der Burganlage getötet oder gefangen genommen, und die wenigen, die noch
kämpften, ergaben sich, als sie sahen, dass sich Fürstin Lorana in
Gewahrsam der Varden befand. Da das Treppenhaus für Saphira
zu eng war, hatte sie es vorgezogen, sich von ihren Schwingen nach
unten tragen zu lassen, und wartete schon auf sie.
Eragon blieb mit Saphira, Arya und Fürstin Lorana im Hof stehen, während einer der Varden Jörmundur holte. Als der Befehlshaber der Varden zu ihnen trat, unterrichteten sie ihn über die
Ereignisse im Festungsturm – die ihn in höchstes Erstaunen versetzten – und übergaben ihm dann Fürstin Lorana.
Jörmundur verbeugte sich vor ihr. »Seid versichert, Fürstin, dass
wir Euch mit dem Eurer Stellung gebührenden Respekt behandeln werden. Wir mögen Eure Feinde sein, aber wir sind doch zivilisiert.«
»Ich danke Euch«, erwiderte sie. »Es erleichtert mich, das zu hören. Aber meine Hauptsorge gilt jetzt der Sicherheit meiner Untertanen. Wenn es ginge, würde ich deshalb gerne mit eurer Anführerin Nasuada sprechen, um zu erfahren, was sie mit ihnen vorhat.«
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»Ich denke, dass sie ebenfalls mit Euch sprechen möchte.«
Zum Abschied sagte Lorana: »Ich bin Euch äußerst dankbar,
Elfe, und auch Euch, Drachenreiter, dass Ihr das Ungeheuer getötet habt, bevor es Elend und Zerstörung über Feinster bringen
konnte. Das Schicksal hat uns in dieser Auseinandersetzung auf
entgegengesetzte Seiten gestellt, doch das bedeutet nicht, dass ich
Eure Tapferkeit und Euren Mut nicht bewundern könnte. Vielleicht sehen wir uns nie wieder, deshalb lebt wohl, alle beide.«
Eragon verbeugte sich und erwiderte: »Lebt wohl, Fürstin
Lorana.«
»Mögen die Sterne über Euch wachen«, fügte Arya hinzu.
Bloëdhgarm und sein Elfentrupp begleiteten Eragon, Saphira
und Arya, während sie sich auf die Suche nach Nasuada machten.
Sie fanden sie auf ihrem Hengst irgendwo in Feinsters grauen Straßen, wo sie die Schäden an der Stadt inspizierte.
Sie begrüßte Eragon und Saphira mit offensichtlicher Erleichterung. »Ich bin froh, dass ihr endlich zurück seid. Wir hätten euch
hier in den letzten Tagen gebraucht. Wie ich sehe, hast du ein
neues Schwert, Eragon. Das Schwert eines Drachenreiters. Haben
die Elfen es dir gegeben?«
»Auf indirekte Weise, ja.« Sein Blick streifte die Umstehenden
und er sprach leiser: »Nasuada, wir müssen allein mit dir reden. Es
ist wichtig.«
»In Ordnung.« Sie musterte die Gebäude in der Straße und
zeigte dann auf ein Haus, das leer zu stehen schien. »Gehen wir
dort hinein.«
Zwei ihrer Nachtfalken liefen voraus und verschwanden im Haus.
Kurz darauf tauchten sie wieder auf und verbeugten sich vor Nasuada. »Es ist verlassen, Herrin.«
»Gut. Danke.« Sie stieg ab, übergab die Zügel einem ihrer Männer und ging hinein. Eragon und Arya folgten ihr.
Die drei streiften durch das heruntergekommene Haus, bis sie
einen Raum fanden – die Küche –, dessen Fenster groß genug war,
dass Saphiras Kopf hindurchpasste. Eragon stieß die Fensterläden
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auf und sie legte ihr Kinn auf den hölzernen Arbeitstisch. Ihr Atem
erfüllte die Küche mit dem Geruch nach verschmortem Fleisch.
Nachdem sie einen Zauber gewirkt hatte, der sie vor Lauschern
schützte, verkündete Arya: »Jetzt können wir unbesorgt reden.«
Nasuada rieb sich fröstelnd die Hände. »Was hat das alles zu bedeuten, Eragon?«
Eragon schluckte und wünschte, er müsste nicht darüber sprechen, was Oromis und Glaedr widerfahren war. »Nasuada … Saphira und ich waren nicht allein … Noch ein anderer Drache und
sein Reiter kämpften gegen Galbatorix.«
»Ich wusste es«, hauchte Nasuada mit glänzenden Augen. »Es
war die einzig sinnvolle Erklärung. Sie waren eure Lehrer in Ellesméra, nicht wahr?«
Ja, das waren sie, sagte Saphira, aber jetzt nicht mehr.
»Nicht mehr?«
Eragon presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf,
Tränen verschleierten seinen Blick. »Sie sind heute Morgen über
Gil’ead gestorben. Galbatorix hat Murtagh und Dorn benutzt, um
sie zu töten. Ich habe gehört, wie er mit Murtaghs Zunge zu ihnen
sprach.«
Die Erregung wich aus Nasuadas Gesicht, stattdessen breitete
sich eine dumpfe Leere darauf aus. Sie sank auf den nächstbesten
Stuhl und starrte in die Asche des kalten Kamins. Stille senkte sich
über die Küche. Schließlich fragte sie: »Bist du sicher, dass sie tot
sind?«
»Ja.«
Nasuada wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Erzähl
mir von ihnen, Eragon. Bitte.«
Also erzählte Eragon die nächste halbe Stunde von Oromis und
Glaedr. Er erklärte, wie sie den Untergang der Drachenreiter überlebt und warum sie sich anschließend versteckt gehalten hatten.
Er schilderte ihre jeweiligen Gebrechen und beschrieb ausführlich
ihre Persönlichkeiten und wie es gewesen war, von ihnen zu lernen. Das Herz wurde ihm noch schwerer, als er an die vielen Tage
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dachte, die er mit Oromis auf den Felsen von Tel’naeír verbracht
hatte, und an alles, was der Elf für ihn und Saphira getan hatte. Als
er bei ihrem Kampf über Gil’ead angelangt war, hob Saphira den
Kopf und stimmte erneut ihr leises, nicht endendes Klagelied an.
Seufzend erklärte Nasuada: »Ich wünschte, ich hätte Oromis und
Glaedr kennengelernt, aber es sollte leider nicht sein … Eins verstehe ich immer noch nicht, Eragon. Du sagst, du hättest gehört,
wie Galbatorix mit ihnen geredet hat. Wie war das möglich?«
»Ja, das wüsste ich auch gern«, sagte Arya.
Eragon sah sich suchend nach etwas zu trinken um, aber in der
Küche gab es weder Wasser noch Wein. Er räusperte sich und
stürzte sich dann in den Bericht über ihren letzten Besuch in Ellesméra. Saphira machte hin und wieder eine Zwischenbemerkung,
doch zum größten Teil überließ sie ihm das Erzählen. Er begann
mit der Wahrheit über seine Herkunft und fasste dann in schneller
Folge die Ereignisse während ihres Aufenthalts zusammen: Wie sie
den Sternenstahl unter dem Menoa-Baum entdeckt und daraus mit
Rhunöns Hilfe Brisingr geschmiedet hatten bis hin zu seinem Besuch bei Sloan. Zu guter Letzt erzählte er Arya und Nasuada vom
Seelenhort der Drachen.
»So«, sagte Nasuada, stand auf und schritt einmal die gesamte
Länge der Küche ab und wieder zurück. »Du bist also Broms Sohn,
und Galbatorix saugt die Seelen der Drachen aus, deren Körper gestorben sind. Es ist fast zu viel, um es zu begreifen …« Sie rieb sich
erneut die Hände. »Immerhin kennen wir jetzt die Quelle von Galbatorix’ Macht.«
Arya stand wie betäubt da und rührte sich nicht. »Die Drachen
leben noch«, hauchte sie und faltete ehrfürchtig die Hände vor der
Brust. »Sie leben noch nach all den Jahren. Ach, könnten wir es dem
Rest meines Volkes nur offenbaren. Wie groß wäre ihre Freude!
Und wie schrecklich ihr Zorn, wenn sie von der Versklavung der
Eldunarí erführen. Wir würden geradewegs nach Urû’baen laufen
und nicht eher ruhen, bis wir die Seelen aus Galbatorix’ Gewalt befreit hätten, ganz gleich wie viele von uns dabei umkämen.«
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Aber wir können es ihnen nicht offenbaren, sagte Saphira.
»Nein«, erwiderte Arya und senkte den Blick. »Aber ich wünschte,
wir könnten es.«
Nasuada sah sie an. »Bitte nimm es mir nicht übel, aber ich
wünschte, deine Mutter, Königin Islanzadi, hätte es für angebracht
gehalten, dieses Wissen mit uns zu teilen. Es hätte uns schon einige
Male genützt.«
»Stimmt«, sagte Arya stirnrunzelnd. »Auf den Brennenden Steppen hat Murtagh euch beide besiegt, weil ihr nicht ahnen konntet,
dass Galbatorix ihm einige Eldunarí mitgegeben hatte, und deshalb nicht vorsichtig genug wart. Hätte sich Murtaghs Gewissen
nicht geregt, wärt ihr jetzt Galbatorix’ hilflose Sklaven. Oromis und
Glaedr und auch meine Mutter hatten triftige Gründe dafür, das
Geheimnis der Eldunarí zu bewahren. Aber ihre Verschwiegenheit
wäre fast unser Verderben gewesen. Bei der nächsten Gelegenheit
werde ich mit meiner Mutter darüber reden.«
Nasuada schritt zwischen dem Kamin und dem Fenster auf und
ab. »Du hast mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben, Eragon …«
Sie tippte mit der Stiefelspitze auf den Boden. »Zum ersten Mal in
der Geschichte der Varden wissen wir von einem Weg, Galbatorix
zu töten, der tatsächlich erfolgreich sein könnte. Wenn wir ihn von
diesen Eldunarí trennen, verliert er den größten Teil seiner Macht,
und dann können du und unsere anderen Magier ihn überwältigen.«
»Ja, aber wie sollen wir das machen?«, fragte Eragon.
Nasuada zuckte mit den Schultern. »Das kann ich dir nicht sagen, aber ich bin sicher, dass es möglich ist. Von nun an arbeitest
du daran, einen Plan zu entwickeln. Das ist wichtiger als alles andere.«
Eragon bemerkte, dass Arya ihn aufmerksam betrachtete. Er sah
sie fragend an.
»Ich habe oft darüber nachgedacht«, sagte sie, »warum Saphiras
Ei bei dir aufgetaucht ist und nicht irgendwo auf einem leeren
Acker. Es schien mir immer zu bedeutsam für einen bloßen Zufall
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zu sein, aber ich habe nie eine plausible Erklärung dafür gefunden.
Jetzt ist mir alles klar. Ich hätte darauf kommen müssen, dass du
Broms Sohn bist. Ich habe ihn zwar nicht besonders gut gekannt,
aber ich kannte ihn, und du siehst ihm in gewisser Weise ähnlich.«
»Wirklich?«
»Du kannst stolz darauf sein, dass Brom dein Vater ist«, sagte
Nasuada. »Nach allem, was ich gehört habe, war er ein bemerkenswerter Mann. Ohne ihn gäbe es die Varden nicht. Nichts wäre passender, als dass du sein Werk fortführst.«
Dann fragte Arya: »Eragon, dürfen wir Glaedrs Eldunarí sehen?«
Eragon zögerte, dann ging er nach draußen und holte den Beutel aus Saphiras Satteltasche. Sorgsam darauf bedacht, den Eldunarí nicht zu berühren, knotete er den Beutel auf und ließ den
Stoff an dem goldenen Stein hinabgleiten. Anders als beim letzten
Mal war Glaedrs Seelenhort nur von einem fahlen, matten Schimmern erfüllt, so als wäre der Drache kaum noch bei Bewusstsein.
Nasuada beugte sich vor und blickte ins flimmernde Zentrum
des Steins. In ihren Augen tanzten funkelnde Lichtreflexe. »Und
Glaedr ist wirklich da drin?«
Ja, sagte Saphira.
»Kann ich mit ihm sprechen?«
»Du kannst es versuchen, aber ich bezweifle, dass er reagieren
wird. Er hat gerade seinen Reiter verloren. Vielleicht erholt er sich
nie mehr von diesem Schock, auf jeden Fall wird es viel Zeit brauchen. Lass ihn bitte in Ruhe, Nasuada. Wenn er mit dir sprechen
wollte, hätte er es bereits getan.«
»Natürlich. Es war nicht meine Absicht, ihn in seiner Trauer zu
stören. Ich werde so lange warten, bis er sich gefasst hat.«
Arya rückte näher an Eragon heran und hielt die Hände dicht
an den Eldunarí. Sie betrachtete den Stein ehrfürchtig und schien
sich in seinen Tiefen zu verlieren. Dann flüsterte sie etwas in der
alten Sprache. Glaedrs Bewusstsein reagierte mit einem schwachen
Aufflackern.
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Sie ließ die Hände sinken und sagte: »Eragon, Saphira, euch
wurde die Verantwortung für ein anderes Leben übertragen. Das
ist eine schwere Bürde. Was auch geschieht, ihr müsst Glaedr beschützen. Jetzt, wo Oromis nicht mehr da ist, brauchen wir seine
Kraft und Weisheit mehr als je zuvor.«
Mach dir keine Sorgen, Arya, wir werden ihn vor allem Unheil
bewahren, versprach Saphira.
Eragon zog den Stoff wieder über den Seelenstein und versuchte
sich an einem Knoten, aber die Erschöpfung machte ihn unbeholfen. Die Varden hatten einen wichtigen Sieg errungen und die
Elfen hatten Gil’ead eingenommen, doch er konnte sich darüber
nicht so recht freuen. Er sah Nasuada an und fragte: »Und jetzt?«
Nasuada reckte das Kinn. »Jetzt«, erklärte sie, »marschieren wir
Richtung Norden nach Belatona, und wenn wir es eingenommen
haben, ziehen wir weiter und erobern Dras-Leona. Von dort geht
es nach Urû’baen, um Galbatorix zu stürzen oder zu sterben. Das
machen wir jetzt, Eragon.«
Nachdem sie sich von Nasuada und Arya getrennt hatten, beschlossen Eragon und Saphira, nicht in Feinster zu bleiben, sondern ins
Lager der Varden zu gehen, wo sie sich abseits vom Lärm der Stadt
ausruhen konnten. Umgeben von Eragons Elfengarde, machten sie
sich auf den Weg zum Haupttor Feinsters. Eragon hielt noch immer Glaedrs Seelenstein im Arm und keiner von beiden sagte ein
Wort.
Eragon starrte auf den Boden vor seinen Füßen. Er achtete nicht
auf die Männer, die an ihnen vorbeikamen. Seine Rolle in dieser
Schlacht war zu Ende und er wollte sich nur noch hinlegen und das
Leid dieses Tages vergessen. Die letzten Empfindungen, die er von
Glaedr empfangen hatte, hallten noch immer durch seinen Geist:
Er war allein. Allein in der Finsternis … Allein! Ihm stockte der
Atem, als eine Welle der Übelkeit in ihm aufstieg. So fühlt es sich
also an, seinen Reiter oder seinen Drachen zu verlieren. Kein Wunder, dass Galbatorix darüber wahnsinnig geworden war.
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Wir sind die Letzten, sagte Saphira.
Eragon runzelte die Stirn, denn er verstand nicht, was sie
meinte.
Der letzte freie Drache und sein Drachenreiter, erklärte sie. Außer uns ist keiner mehr übrig. Wir sind …
Allein.
Ja.
Eragon stolperte über einen losen Pflasterstein. Vom Elend
überwältigt, schloss er für einen Moment die Augen. Allein schaffen wir das nicht, dachte er. Wir schaffen es nicht! Wir sind noch
nicht so weit. Saphira pflichtete ihm bei und ihre Trauer und Angst,
zusammen mit seiner eigenen, waren beinahe zu viel für ihn.
Bei den Stadttoren angekommen, blieb Eragon stehen, denn er
schreckte davor zurück, sich durch die Menschenmenge zu schieben, die sich dort drängte, in dem Versuch, aus Feinster zu fliehen. Er hielt nach einem anderen Weg Ausschau, und als sein Blick
über die äußere Stadtmauer glitt, packte ihn ein plötzliches Verlangen, die Stadt bei Tageslicht zu sehen.
Er ließ Saphira stehen und lief eine Treppe hinauf, die auf die
Mauer führte. Saphira knurrte verdrossen und folgte ihm. Die Flügel halb geöffnet, sprang sie mit einem Satz von der Straße auf die
Brustwehr.
Dort standen sie fast eine Stunde lang und blickten auf die Stadt,
während die Sonne aufging. Die fahlen goldenen Lichtstrahlen von
Osten streiften einer nach dem anderen über die grünen Felder
und beleuchteten die unzähligen Staubkörnchen, die durch die
Luft schwebten. Wo die Lichtstrahlen auf eine Rauchsäule trafen,
glühte der Rauch rot und orange und stieg mit neuer Heftigkeit
auf. Die Feuer zwischen den Hütten außerhalb der Stadtmauern
waren größtenteils erloschen. Doch seit Eragons und Saphiras Ankunft waren durch die Kämpfe zwanzig oder mehr Häuser in Brand
geraten, und die Flammen, die aus den einstürzenden Gebäuden
emporschlugen, verliehen der Stadt eine schauerliche Schönheit.
Im Hintergrund erstreckte sich das schimmernde Meer bis zum
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fernen Horizont, wo gerade die Segel eines Schiffes auftauchten,
das auf dem Weg nach Norden durch die Wellen pflügte.
Während die Sonne Eragon durch seine Rüstung hindurch
wärmte, verschwand seine Traurigkeit nach und nach wie die Nebelfetzen über dem Wasser. Er atmete tief ein und aus und seine
Muskeln entspannten sich.
Nein, sagte er, wir sind nicht allein. Ich habe dich und du hast
mich. Und dann sind da Arya und Nasuada und Orik und noch
viele andere, die uns auf unserem Weg zur Seite stehen werden.
Und Glaedr, sagte Saphira.
Ja.
Eragon sah auf den Eldunarí hinab, der eingehüllt in seinen Armen lag, und große Zuneigung für den in seinem Seelenhort gefangenen Drachen erfüllte ihn sowie der brennende Wunsch, ihn zu
beschützen. Er presste den Stein fester an die Brust und legte Saphira die Hand auf den Hals, dankbar, dass sie zusammen waren.
Wir können es schaffen, dachte er. Galbatorix ist nicht unverwundbar. Er hat einen Schwachpunkt und den werden wir gegen
ihn verwenden … Wir können es schaffen.
Wir können und wir müssen, sagte Saphira.
Für unsere Freunde und unsere Familie …
… und für ganz Alagaësia …
müssen wir es schaffen.
Eragon hob Glaedrs Eldunarí hoch über seinen Kopf und
streckte ihn der Sonne und dem neuen Tag entgegen, und er lächelte, begierig auf die kommenden Schlachten – begierig darauf,
dass er und Saphira am Ende Galbatorix gegenüberstehen und das
Schicksal des finsteren Königs besiegeln würden.
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