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Foto: Matthes & Seitz Literatur als Zeugenschaft Warlam Schalamows erschütternde »Erzählungen aus Kolyma« III. Von Stefan Möller S Kün Erzä Aus Mit Mat 603 ISB € 29 Hör Bish »Man schreibt es auf – und kann es vergessen …« Schreiben, um zu vergessen – mit diesem Gedanken endet eine der „Erzählungen aus Kolyma“, die im dritten War Band der Werkausgabe von Warlam Schalamow unter dem Titel „Künstler der Schaufel“ versammelt sind. Die Dur Erzählung ist überschrieben mit „Der erste Zahn“. Der erste Zahn, der einem Häftling auf dem Weg ins Lager vonErz einem Begleitposten ausgeschlagen wurde und der sinnbildlich für die Entmenschlichung, für den vollkommenen Aus Her Verlust der Humanität im System Gulag steht. Dieser erste ausgeschlagene Zahn ist Symbol für den Verlust vers jeglicher Würde. Mat 342 22,8 ISB Warlam Schalamow hat fast 20 Jahre seines Lebens in den Lagern der Kolyma, im nordöstlichsten Teil Sibiriens verbracht. 1953, nach Stalins Tod, wird er entlassen, lebte erst bei Kalinin und kehrte einige Jahre später zurück nach Moskau. Schreiben, um zu vergessen – Hör das Vergessen hat Schalamow nicht geschafft, das Lager ließ ihn zeitlebens nicht mehr los. Bereits kurz nach seiner Entlassung beginnt er, das Erlebte in eine Vielzahl von Erzählungen zu W transformieren. In einem Zeitraum von reichlich zehn Jahren - die frühesten Erzählungen sind L E auf das Jahr 1954 datiert, die späten stammen aus den Sechzigerjahren - entsteht mit dem A Kolyma-Zyklus ein Werk, das in seiner Behandlung des Themas – von Gabriele Leupold H v vortrefflich ins Deutsche übertragen –einzigartig in der Literaturgeschichte ist. M 3 2 I Innenleben des Gulags Zwei wesentliche literarische Stimmen haben vom Innenleben des Gulags berichtet. Alexander Solschenizyn, der ungleich bekanntere, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnete Autor, hat mit „Der Archipel Gulag“ eines der wirkungsmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts verfasst und den Alltag w des Lagers in „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ in einer Erzählung kunstvoll verdichtet. Warlam Schalamow hingegen wurde in der russischen und westeuropäischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die Werke beider Autoren unterscheiden sich im Stil fundamental. „Der Archipel Gulag“ trägt den Untertitel „Versuch einer künstlerischen Bewältigung“. Es handelt sich um kommentierende, Fragen aufwerfende Prosa, Solschenizyn unternimmt den Versuch, Motive zu verstehen und aufzuzeigen. Ironie findet sich ebenso wie Spott, da ist vom »herzallerliebsten Staatsanwalt« die Rede, da wird angesichts der Tatsache, dass die Häftlinge auf den Transporten Salziges zu essen, aber kaum Wasser bekamen, sarkastisch die Frage an den Leser gerichtet »Nicht um die Menschen zu quälen, aber – wüssten Sie was besseres vorzuschlagen? Womit hätte man das Pack unterwegs füttern sollen?« Nichts davon bei Schalamow. Durchgehendes Stilmittel der Erzählungen ist die sprachliche Reduktion und das Fehlen jeglicher Empathie. Der Künstler ist im Lager, erfroren, verhungert, das Kunstvolle wurde gestohlen, erschlagen. Schalamow kann dem Erlebten nicht mit den Mitteln der tradierten literarischen Form begegnen, einem Erlebten, dass keinen Millimeter Platz für sprachliche Verzierung lässt. Aber: Gerade im Verzicht auf jegliche moralische Kommentierung des Systems, jegliche (Be-)Wertung des Handelns, jegliches Mitgefühl für die Protagonisten der Erzählungen zwingt den Leser gedanklich in die Welt des Gulags, einem Zwang, dem man sich während der Lektüre oft entziehen möchte, es aber nicht kann. Die Lektüre ist quälend und „quälend“ ist das höchste Lob, dass man dieser Prosa aussprechen kann. Das Unbehagen steigert sich langsam. Die Szenen kommen ohne drastische Effekthascherei aus, ohne allzu detailliert beschriebene Grausamkeit. Es ist die Aneinanderreihung, die ein komplexes Bild der Ausweglosigkeit und des Verlusts der Moral entstehen lassen. Schalamow bietet dem Leser keine Fluchtmöglichkeiten, keine Katharsis deutet sich an. Der Mensch ist seinem Schicksal ausgeliefert und um es ertragen zu können, hört er auf, Mensch zu sein. Es bleibt nur seine äußere Hülle, deren Handeln allein auf das Überleben ausgerichtet ist. Ein Überleben, das von vielen kleinen Faktoren und Zufällen abhängt. Ob man einen wärmeren Schlafplatz ergattert oder die Suppenkelle bei der Essensausgabe nicht nur Wasser, sondern auch etwas Einlage aus dem Kessel fischt. Die Krankenstation wird zum Sehnsuchtsort, hier findet man ein paar Tage Ruhe. Und der Leser wird zum aktiven ‚Zuschauer’, gezwungen, sich selber den elementaren Fragen humanistischen Handelns zu stellen. Schalamow überlebt den Gulag, weil er zum Feldscher, einem Hilfsarzt, ausgebildet wird, ein Posten, der anders als die Arbeit im Bergwerk, Überlebenschancen bot. »Und ich wäre gern ein Klotz.« Die Erzählungen sind sorgfältig, ja bis zur Perfektion strukturiert und konstruiert. Es entsteht ein komplexes Textwerk, das bedrückender kaum wirken kann. Der Leser findet sich in einem Spannungsfeld zwischen der Sogwirkung des Textes und dem Wunsch, sich ihm zu entziehen. Eine der eindrucksvollsten Textpassagen findet sich am Schluss der Erzählung „Die Grabrede“. Die Erzählung nimmt ihren Anfang mit dem Satz »Alle sind sie tot …« Es folgt eine Aufzählung, die jeweils mit den Worten »Tot ist« beginnt. Am Schluss sitzen Häftlinge beieinander und überlegen, was sie tun würden, wenn sie nach Hause kämen. Von wartenden Ehefrauen, vom Sattessen wird geträumt. Schlussendlich ist noch ein Häftling an der Reihe, seinen Traum vom Nachhausekommen zu erzählen. »Und ich wäre gern ein Klotz. Ein menschlicher Klotz, versteht ihr, ohne Arme, ohne Beine. Dann würde ich in mir die Kraft finden, ihnen in die Fresse zu spucken für alles, was sie mit uns machen.« Nur als Objekt sieht er sich in der Lage, wütend zu sein, als Mensch fehlt ihm die Kraft. An dieser Passage verdeutlicht sich auch: Schalamow benennt nicht die Verantwortlichen für das Lagersystem, er klagt nicht wörtlich das stalinistische System an. Es sind „sie“, und „sie“ sind eine ferne, nicht greifbare Macht. »Nicht-Menschen« An die „Erzählungen aus Kolyma“, die im vorliegenden Band ihren Abschluss finden, schließen sich als zweiter Teil die „Skizzen aus der Verbrecherwelt“ an. In den Lagern gab es zwei Gruppen von Gefangenen, die politischen Häftlinge und die Kriminellen. Wohl dem, der als Krimineller ins Lager kam. Privilegiert und von stalinistischen System zu Handlangern bei der Ausrottung der Trotzkisten gebraucht, installierten sie ein, zusätzliches, System der Unterdrückung ihrer Mithäftlinge. Sie lebten in ihrem eigenen, nach strengen Regeln funktionierendem System, dass auf bedingungslosem Respekt und absoluter Unterdrückung der Anderen beruhte. Ihre Chancen, die Haft zu überleben, waren ungleich höher als die der politischen Häftlinge, die der Brutalität hilflos gegenüberstanden. Verzichtet Schalamow in den „Erzählungen“ auf jegliche Wertung, verleiht er seiner Verachtung gegenüber der Verbrecherkaste in den „Skizzen“ in aller Deutlichkeit Ausdruck. Hier spricht er jegliche Menschlichkeit ab. Im Unterschied zum ‚normalen’ Lagerinsassen, der häufig den Kampf gegen das Lager und damit seine Menschlichkeit verlor, hatten die Kriminellen nie Menschliches an sich, sie sind »Nicht-Menschen«. In den „Skizzen“ beschreibt Schalamow interne Strukturen, Auseinandersetzungen der verschiedenen Verbrecherströmungen und Handlungsweisen. Hier legt der Autor stärkeren Wert auf den chronistischen Aspekt der Prosa. Dass sich derartige Strukturen bis heute erhalten haben, kann man in Nicolai Lilins „Sibirische Erziehung“ nachlesen, im Frühjahr bei Suhrkamp erschienen. Im Eingangskapitel rechnet er mit der Romantisierung des Verbrechers durch die russische Literatur ab. Er hat die Verbrecher überlebt und hat nichts romantisches finden können. Nur Unmenschlichkeit. So enden die „Skizzen aus der Verbrecherwelt“ auch mit dem Ausruf»Karthago muss zerstört werden! Die Welt der Ganoven muss vernichtet werden!« Es gibt wenige Werke, bei deren Lektüre sich der Leser so unwohl fühlen wird, deren Wirkung so intensiv so intensiv ist. Man weiß nicht, wie oft in den letzten Jahren eine Veröffentlichung als „literarisches Ereignis“ angepriesen wurde. Über die „Erzählungen aus Kolyma“ war dies nicht zu lesen. Selten aber wäre dieses Prädikat treffender. Dem Verlag Matthes & Seitz für die Veröffentlichung zu danken – ach, geschenkt! Matthes & Seitz muss man sowieso immer danken. Ein Glücksfall für jeden, der unter Literatur nicht Nicholas Sparks versteht. Dessen neuester Erguss ist bei Thalia aktuell „Buch des Monats“ (Kostenpunkt für den Titel „Buch des Monats“: 50 000 EUR). Verlagsvertreter von Matthes & Seitz werden bei Thalia nicht mehr empfangen. Keine Vampire im Programm und überhaupt zu wenig massenkompatibel. Und hätte diese Einstellung nicht auch finanzielle Auswirkungen – ein größeres Lob kann ein Verlag doch eigentlich nicht bekommen!