Täuschendes Erzählen in Tarantinos The Hateful Eight
Transcrição
Täuschendes Erzählen in Tarantinos The Hateful Eight
www.medienobservationen.lmu.de 1 Michael Braun Vom Geheimnis des Glaubens: Täuschendes Erzählen in Tarantinos The Hateful Eight (2015)1* Abstract: Der folgende Beitrag untersucht Strukturen des unzuverlässigen Erzählens in Tarantinos Spielfilm „The Hateful Eight“ (2015) und zeigt dabei nicht nur, wie vielfältig die Figuren des Unzuverlässigen, des Misstrauischen, des Verdachts, des Geheimnisses, der fehlenden oder falschen Information sind, sondern auch, wie sie die Ebene der Erzählung ebenso wie die Ebene der erzählten Geschichte umgreifen. Das Ursprungsdrama des Misstrauens ist Oedipus Rex. Bei Sophokles geht es um einen „halbtragischen Verbrecher“.2 Er kann nicht glauben, was er getan haben soll, Vatermord und Mutterschändung. „Du kennst die Tiefe nicht des Grausens, drin du wohnst“, sagt ihm der Seher Teiresias (in der Hofmannsthalschen Übersetzung). Es wäre aber ziemlich langweilig, würden wir Ödipus nur dabei beobachten, wie er sich selbst beargwöhnt. Deshalb gibt es das Orakel. Seine Aussagen stiften gründliche Verwirrung. Das liegt in der Natur von Orakeln. Als Teil nicht- 1 2 Für Inspiration und das wunderbare 'Kameraauge' danke ich abermals Anja Kindling. Sowie Oliver Jahraus für die stetige Ermunterung und ergänzende Kommentare. Goethe. „Nachlese zur aristotelischen Poetik“. In: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 12. Hg. von Erich Trunz. München: dtv 1982, S. 342-345, hier S. 343. www.medienobservationen.lmu.de 2 menschlichen Wissens3 sind sie konstruktive Misstrauensvoten aus höheren Kreisen. Das Orakel weiß, was die Menschen nicht sehen und nicht begreifen können. Theoretisch gesehen, als Schauspiel des Erzählens also, liegt das Misstrauen des Ödipus somit auch in der Differenz zwischen Sehen und Wissen. Ödipus liest das Orakel so lange, bis er sein Schicksal kennt und es nicht mehr sehen will; sein eigenes Wissen blendet ihn im wahrsten Sinne. Wie das Orakel in den Film kommt Wie Ödipus sind wir Leser von Geschichten, die zu rätseln anfangen, wenn das Vertrauen in die Geschichte auf einmal verunsichert, erschüttert und ins Gegenteil, ins blanke Misstrauen verkehrt wird. Eine Form des Orakels im Film, so kann man sagen, ist das Gedankenspiel. Es spielt mit dem Wissen der Figuren und dem Wissen des Publikums, indem bestimmte Informationen vorenthalten oder gezielt mehrdeutig präsentiert werden. Sogenannte Mindgame movies lassen uns sehen, was wir sehen wollen, um dann am Ende zu zeigen, was wir vorher nicht gesehen haben, aber hätten wissen sollen oder eben gar nicht wissen können.4 Zurückspringendes Erzählen, sich einmischende OffErzähler, verbergende Kamera, tückische Objekte in der miseen-scène, das sind die Orakel des Films, gute Mittel also, um Täuschung und Misstrauen zu inszenieren. 3 4 Art. „Mantik“. In: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Bd. 3. Hg. von Konrad Ziegler und Walter Sontheimer. München: dtv 1979, Sp. 968-976. Vgl. Christian Bumeder. „Mediale Inception“. Zu einer Erzähltheorie des Bewusstseinsfilms. Würzburg: Königshausen&Neumann 2014; Bernd Leiendecker. „They Only See What They Want To See“. Geschichte des unzuverlässigen Erzählens im Spielfilm. Marburg: Schüren 2015. www.medienobservationen.lmu.de 3 In den Filmen über das Thema 'Verdacht' geht es dabei vor allem um das Spiel mit unseren Erwartungen an eine Geschichte, die glaubwürdig sein soll. Wir verzichten zunächst darauf, der Geschichte, die uns da erzählt wird, zu misstrauen, und wir tun das auch noch freiwillig, wenn wir uns auf einen Roman oder einen Film einlassen. Diese „willing suspension of disbelief“ (Coleridge) ist das Erfolgsrezept, auf das sich gute epische Geschichtenerzähler stets verlassen können. Ödipus ist vielleicht der erste misstrauische Held der Literaturgeschichte, und mit Freud haben wir gelernt, in sein Misstrauen psychologische Konflikte hineinzulesen. Quentin Tarantino ist ein täuschender Erzähler erster Güte. Er liebt es, seine Geschichten ungerade und mit bösen Überraschungen, mit plot twists und unhappy horizons, zu erzählen. Es ist der Argwohn des Hausdieners Stephen in Django Unchained (2012), des Obersts Hans Landa und des SS-Manns Hellstrom in Inglourious Basterds (2009), der jeweils die Handlung kippen lässt. Tarantinos achter Film The Hateful Eight, Ende 2015 in den amerikanischen Kinos angelaufen, treibt diese Dramaturgie des fälschenden Erzählens auf die Spitze. Jede Figur erzählt eine Geschichte und enthüllt oder verschweigt eine andere. Meine These ist, dass der Film uns in eine Schule des Misstrauens schickt und uns zugleich die Mittel vorexerziert, mit denen eine allgegenwärtige Stimmung von Fälschung und Verdacht hergestellt wird. Anders gesagt: Tarantino zeigt uns, How Fiction Works (James Wood) – im Film: täuschend und irreführend, und damit immer wieder inspirierend. The Hateful Eight tut am Anfang alles, um ein genrestabiles Vertrauen in die erzählte Geschichte aufzubauen. Mehrere klassische Einstellungen stellen das Milieu fest: ein Panorama auf eine verschneite Bergkette (Abb. 1), ein weiteres auf eine schneebe- www.medienobservationen.lmu.de 4 deckte Prärie, eine Totale auf einen kahlen Winterwald (Abb. 2), alles gezeigt in dem extremen Breitwandformat Ultra Panavision 70 mm, das zur Hochzeit des Westerns und des Monumentalfilms, in den 1950er und 1960er Jahren, beliebt war und das in besonderer Weise dazu angetan ist, eine Landschaft als Handlungsrahmen und –ort zu etablieren. Aus den Bildern lässt sich jeweils die Matrix einer Bewegung herauslesen, so als ob einmal die dunkle Horizontale der nicht schneebedeckten Hänge und die bei der nächsten Einstellung die hellere vertikale Fluchtlinie durch den Birkenwald das Koordinatennetz einer Geschichte ergäben. www.medienobservationen.lmu.de 5 Kein Zweifel, das soll uns glauben machen, in Tarantinos achtem Film5 biete der Western noch einmal alle Mittel auf, die ihn zu einem der berühmtesten Genres der Filmgeschichte gemacht haben. Western als Kammerspiel Die Kamera konzentriert sich nach den Establishing Shots zügig auf ein bewegtes Objekt. Eine Postkutsche, sechsspännig, fährt durch die winterliche Steppe – eine hingebungsvolle Hommage an einen Westernklassiker, Stagecoach (1939). John Fords Film inszeniert den Western als Kammerspiel, in einer Kutsche. Neun Personen, eine Notgemeinschaft in hoher Gefahr, es gibt keine good guys und bad guys, weil niemand so recht weiß, wie er den anderen einzuordnen hat. Die scheinbar Anständigen lügen und sind gemeingefährlich, die Gesetzlosen beweisen Mut und Anstand. „In der Not entpuppen sich die wahren Charaktere.“6 In Tarantinos Kutsche auf dem Weg in die nächste Stadt, Red Rock, geht es ähnlich zu. Sieht man einmal von dem braven Kutscher O.B. ab, sind es vier Personen, die in den ersten drei Kapiteln eine Rolle spielen, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Kopfgeldjäger John Ruth (Kurt Russell), ein Raubein mit 5 6 Aus den deutschen Kritiken: „ambitioniertes Konstrukt aus Dialogen und Dialektik“ (Andreas Borcholte. „Tarantino-Western 'The Hateful 8': Spiel mir das Lied vom Hass.“ In: Der Spiegel, 25.2.2016; “Fast alle also aus der weiteren Tarantino-Familie, und alle liefern ab, wofür sie bezahlt werden: lässiges Abwarten, schnellfeuergewehrartige Dialogsequenzen, ungerührten Waffeneinsatz, langsames, oft schmerzhaftes, aber nicht unwilliges Sterben.” (Verena Lueken. “An der Schlachtplatte der Kinogeschichte”. In: FAZ, 27.1.2016); Wenke Husmann. „Gewalt als Jux und Popzitat: Rache ist eine lustige Blutwurst”. In: Die Zeit, 26.1.2016. Thomas Koebner. „Ringo / Höllenfahrt nach Santa Fe“. In: Filmgenres. Western. Stuttgart: Reclam 2003, S. 86-92, hier S. 89. www.medienobservationen.lmu.de 6 verwildertem Hercule Poirot-Schnurrbart, wird „Der Henker“ genannt, weil er seine Gefangenen lebendig auszuliefern pflegt. Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh), auf die ein Kopfgeld von 10.000 Dollar ausgesetzt ist, wird nie anders als Verbrecherin bezeichnet; sie wird mit den übelsten Schimpfwörtern bedacht und schlimm misshandelt. Der Dritte im Bunde, der dazu kommt, weil angesichts des aufziehenden Schneesturms die Kutsche den einzigen Schutz weit und breit bietet, ist ebenfalls ein Kopfgeldjäger. Major Marquis Warren (Samuel Jackson), ein Afrikaner in der Kavallerieuniform der Nordstaaten. Mitten auf der Straße sitzt er auf seinem Ledersattel, darunter drei erfrorene Leichen, auf deren Überstellung 8.000 Dollar Prämie ausgestellt sind. „Ist hier noch Platz für einen mehr?“ Der Filmdialog beginnt mit seiner Frage. Den Auftrag der Steckbriefe, die gesuchten Verbrecher dem Gericht „tot oder lebendig“ auszuliefern, legen die Kopfgeldjäger konträr aus. Vor dem Gesetz sind eben nicht alle gleich. Die lebendig ausgeliefert werden sollen, haben eine Chance, befreit zu werden oder zu entkommen. Insofern ist Ruth höchst misstrauisch. Er fürchtet, dass jemand mit seiner Gefangenen unter einer Decke steckt. „Wer hat gesagt, dass der Job leicht sein muss?“ sagt Ruth, worauf Warren entgegnet: „Hat aber auch keiner gesagt, dass er anstrengend sein muss.“ Und der Vierte in der Kutsche, der ebenfalls wie aus heiterem Himmel auf der Straße auftaucht, ist Chris Mannix, redseliger Sohn eines Südstaaten-Marodeurs, der behauptet, der neue Sheriff von Red Rock zu sein. Einen Beweis bleibt er schuldig. So weiß niemand, wer der andere wirklich ist und was er im Schilde führt. Ein Klima des Verdachts breitet sich aus, vergiftet durch rassistische Ressentiments. www.medienobservationen.lmu.de 7 Kleider machen Helden Die Handlung wird aristotelisch klar konturiert. Die Personen haben eine Geschichte, die Kutschfahrt hat ein Ziel, die Handlung wird durch die Neuankömmlinge verzögert. Spannung entsteht aber erst, weil man den Geschichten, die die Figuren mit sich herumtragen, nicht so recht traut. Liegt das an den Kostümen? Die Figuren legen ihre Kleider nie ab, und das nicht nur der Kälte wegen. Besonders auffällig, und an die Requisiten des Spaghetti-Westerns erinnernd, dem Tarantino mit Django unchained ein Denkmal gesetzt hat, sind die Kostüme der ersten Personen, die wir in der Kutsche sehen. Ruth trägt einen zehn Pfund schweren Bisonpelz aus Winter- und Sommerhäuten mit einer kanadischen Dachsfellmütze, Daisy ein adrettes Unterkleid aus Gabardine mit einem Bärenfellmantel und einer Mütze aus Fuchspelz (Abb. 3).7 So wild sind die Kostüme zusammengeschustert und so dick aufgetragen, dass es schon wieder System hat. Ruth und Daisy sind, als Jäger und Gejagte, aneinander gekettet und, von entgegengesetzter Seite des Gesetzes aus, ähnlicher, als sie sich gegenseitig zugestehen würden: eine Hassliebe, in der die latente Gewalt jeden Anflug von Erotik unterdrückt. 7 Julie Miller. „How Quentin Tarantino Paid Homage to Hollywood Westerns with His Hateful Eight Costume. In: Vanity Fair, 29.12.2015. www.medienobservationen.lmu.de 8 Geheimnis des Glaubens im Erzählen Am Anfang des vierten Kapitels – der Film hat sechs – gibt es eine merkwürdige Eröffnung. Zwei Kapitel („Die letzte Kutsche nach Red Rock“ und „Schweinehund in der Pfanne“) hat die Kutschfahrt eingenommen, das dritte Kapitel führt in „Minnies Miederwarenladen“, eine Zwischenstation auf dem Weg nach Red Rock. Dort treffen die Insassen der Kutsche aber nicht auf Minnie, sondern auf ein zweites Quartett. Es besteht aus dem schweigsamen Cowboy Joe Gage, dem dandyhaften britischen Henker Oswaldo Mobray, dem verschlagenen mexikanischen Ladenhüter Bob und einem alten grummligen Südstaatengeneral namens Sandy Smithers. Wir wissen nicht, ob die Geschichten stimmen, die diese Figuren von sich erzählen, ob Oswaldo wirklich der Henker von Red Rock ist, ob Bob tatsächlich schon seit vier Monaten bei Minnie arbeitet und ob Joe Gage allen Ernstes seine Mutter zu Weihnachten besuchen will. Auch die Uniform des Generals beweist nicht viel. Vielleicht leidet John Ruth, der seine Waffe nur aus der Hand gibt, um sich einen heißen Kaffee einzuschenken, unter Verfolgungswahn, vielleicht aber macht Daisy auch mit einem der vier, oder mit mehreren, bei „Minnie's“ gemeinsame Sache. Das jedenfalls vermutet Warren. Aber viele Figuren scheinen sich untereinander zu kennen. Backstory wounds verbinden sie. Warren kennt die meisten. Er hat auf Seiten der Konföderierten gekämpft und Bürgerkrieg, Rassismus, Gewalt am eigenen Leibe erlebt. Darum provoziert er den General, der sich keine Sekunde lang aus seinem tiefen Sessel erhebt, so lange mit einer drastischen Geschichte über dessen Sohn, einen „Negerhasser“, den er aus Rache gedemütigt und getötet hat, bis der Vater zum Revolver greift und „in Notwehr“ von Warren erschossen wird. So endet das dritte Kapitel. www.medienobservationen.lmu.de 9 Nach Schwarzblende und Kapitel-Insert folgt nun die Überraschung. „Domergue hat ein Geheimnis“: Die Überschrift des vierten Kapitels fragt nach diesem Geheimnis, und ein Voice OverErzähler, im amerikanischen Original kein geringerer als Tarantino, gibt die Antwort. Jemand hat Gift in den Kaffee geträufelt. Nur Daisy hat das gesehen. Warren hat also keine Paranoia, und der Zuschauer wird nun mit den Kopfgeldjägern herumrätseln müssen, vor wem sie sich schützen müssen. Die Kaffekanne (Abb. 4), die blau ist wie der Militärmantel von Warren, der die Giftattacke aufklären wird, dominiert das Bild vom Rand aus; der Hintergrund ist verschwommen. Die Einstellung ist so gewählt, dass sie schwerlich mit der Blickachse einer der Figuren übereinstimmt, zu nah, um mit einer anderen Beobachtungsinstanz als der Kamera gezeigt zu werden. So sagt das Kameraauge, was vom Zuschauer zu sehen ist und was die Figuren im Gespräch erst noch herausfinden müssen. Dies ist ein ästhetisches Prinzip dieses Films. Das Bild ist dem Ton um einige logische Längen voraus, aber es ist, auch aufgrund des Breitwandformats, schwer für den Zuschauer, auf alle Einzelheiten www.medienobservationen.lmu.de 10 während der Wortgefechte zu achten. Es geht streckenweise mehr ums „guess-'em-up“ als ums „shoot-'em-up“.8 Die Details außer Dienst warten auf ihren Einsatz Die Einstellung auf die Kaffeekanne ist exklusiv. Nur der Zuschauer kann sie sehen. Und er soll das hier offenbar tun, denn der kleine Seh-Vorsprung, der eigentlich nur eine andere als die vorhergehende Kameraeinstellung auf die Szene ist, verschafft uns einen Wissens-Vorsprung gegenüber den Figuren. Das ist Suspense, wie Hitchcock sie erklärt hat: „Man muß dem Zuschauer eine Information geben, die die Figuren des Films nicht haben. Dann weiß er mehr als die Helden und kann sich intensiv die Frage stellen: wie wird sich die Situation auflösen?“9 Sie wird sich auflösen, in Gewalt, soviel ist sicher, zumal in einem Film von Tarantino. Wir bangen, ob Mannix aus der Tasse trinkt, und warten, bis die Wirkung bei O.B. und Ruth einsetzt, die davon getrunken haben. Die Kamera hat aber nur ein Detail gezeigt, keine Person, insofern bleibt die Frage nach dem Who dunnit? erhalten. 8 9 Michael Phillips. „Quentin Tarantino's Western a widescreen dullard“. In: Chicago Tribune, 23.12.2015. François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? Hg. von Robert Fischer. Aus dem Französischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. München: Heyne 2003, S. 102. In Hitchcocks Film Suspicion (1941) ist dieser „Spannungshalter“ (Anja Kindling) das Glas Milch, das Cary Grant die Treppe hinaufträgt. Die Milch ist besonders fokussiert, weil Hitchcock eine Lampe ins Glas hineingetan hat (vgl. ebd., S. 133). Das soll den Zuschauer glauben machen, der Held wolle seine Frau vergiften. Im Roman Before the Fact von Francis Iles, der die Vorlage für den Film lieferte, geschieht genau dieser Mord, wovon der Zuschauer aber weiß, weil die Frau herausgefunden hat, dass ihr Mann ein Mörder ist. In Hitchcocks Film ist es ein Verdacht ohne Beweis, wir rätseln mit der Frau. www.medienobservationen.lmu.de 11 Man kann in solchen Details, die zum Publikum sprechen, aber nicht zu den Figuren, überschüssige oder überflüssige Informationen sehen. Sie spielen keine Rolle in der Filmhandlung, wohl aber für die Handlung. James Wood nennt sie details off duty, „Details außer Dienst“, die auf „unbedeutende Weise bedeutend“ sind.10 Anders als die sprechenden Details, die von Autoren stammen, die es an nichts fehlen lassen wollen, sind die nichtsprechenden oder stillen Details von Autoren, die uns etwas suchen und finden lassen wollen. Wir sind ja realistisches Erzählen gewohnt, das uns in der Sicherheit eingebürgerter Codes wiegt, mit denen wir das, was wir für wahr und wirklich halten, erklären können. Aber die blaue Kaffeekanne wird auf einmal zu einem ultrarealistischen Störfaktor im Geschehen. In dem folgenden (fünften) Kapitel „Vier Passagiere“ bekommt dieses Detail demzufolge einen anderen filmsprachlichen Anstrich. Inzwischen sind Ruth und O.B. an dem Gift elend krepiert, von den „vier Passagieren“ bei „Minnie's“ leben nur noch zwei, der schwer verletzte Gambray und der unbewaffnete Cowboy, der sich als Giftmischer geoutet hat. Der Mexikaner ist erschossen worden. „Vier Passagiere“ erzählt in einer Rückblende, wie es zu der Situation am Abend gekommen ist. Die Ankömmlinge gehören zu einer Bande, die fünf Personen im Laden, darunter Minnie, umbringen. Der vierte Passagier ist Daisys Bruder. Er lässt den General im Sessel am leben, weil das „authentischer“ aussehe, und versteckt sich dann im Keller, um auf eine günstige Gelegenheit zum Eingreifen zu lauern. Wir wissen aus dem vorhergehenden Kapitel, dass er es ist, der Warren in die Hoden geschossen und ihn einstweilen bewegungsunfähig gemacht hat. Auch in dieser 10 James Wood. Die Kunst des Erzählens. Aus dem Englischen von Imma Klemm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011, S. 81 und 85. www.medienobservationen.lmu.de 12 Heckenschützenszene von unten ist die Kamera das Instrument, das dem Zuschauer eine zusätzliche Information gibt. Wie in Inglourious Basterds, Tarantinos Nazi-Western, fährt sie unter den Fußboden und zeigt dem Zuschauer, was die Figuren im Film nicht zu sehen bekommen. Die Kaffeekanne ist also ein stilles Detail, das im fünften Kapitel zu sprechen beginnt, ohne dass es befragt worden wäre. Das geschieht auf eine eigentümlich ironische Weise. Man könnte ja spätestens in diesem Kapitel sicher sein, es seien die Waffen, die einen Hinweis auf den Überfall geben. Aber das wäre kommerzieller Western-Realismus. Tarantino setzt nicht auf die Pistolen, die in allzu auffälliger amerikanischer Einstellung ins Bild gesetzt werden, als die Banditen sich zum Morden rüsten. Es ist die Situation des Kaffeetrinkens, auf die unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird. Jeder Hinweis auf das willkommene Heißgetränk, jede Einstellung auf Kanne und Tasse steigert die Erwartungsspannung: Wann explodiert die Situation? Sie tut es bald, und obwohl den Banditen genug Zeit bleibt, ihre Spuren zu verwischen, wie der Erzähler versichert, fällt der stets skeptische Blick Ruths auf ein liegengebliebenes Bonbon am Fußboden (Abb. 5). Mit solchen Einstellungen öffnet Tarantino den „Sarg der toten Konventionen“11 und haucht dem Westernkino neues Leben ein. Die Wirklichkeit im Film hat einen doppelten Boden, und die Kamera ist die Geheimwaffe, ihn zu durchleuchten. Rot wird der Boden vom Blut von sechs Leichen am Ende sein, es gibt kein Entkommen, auch nicht für die Überlebenden, Warren und Mannix. Das genau in der Bildmitte platzierte Bonbon ist ein Fremdkörper und zugleich ein ironisches corpus delicti des geschehenen Massakers, deutlich genug, um einem vagen Verdacht 11 Wood. Die Kunst des Erzählens, S. 198. www.medienobservationen.lmu.de 13 weiter Nahrung zu gaben, zu unspezifisch aber, um etwas zu beweisen. Der Anschein bestimmt das Bild, nichts weiter passiert fürs erste. In money we trust In dem Film gibt es kein Geld. Jedenfalls nicht sichtbar. Keine Handvoll Dollars für die Kopfgeldjäger. Noch eine Merkwürdigkeit also. Soviel auch geredet und verhandelt wird über die Prämien, die sagen, wie viel ein steckbrieflich gesuchter Kopf wert ist, das Geld gehört einfach nicht ins Bild. Nur einmal sehen wir, wie Joe Minnie einen Nickel in die Hand drückt, für fünf Pfefferminzstangen. Der Nickel ist eine 5 Cent-Münze, mit dem Kopf Thomas Jeffersons auf einer Seite, des fünften Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ist das einer der dezenten Hinweise, die Tarantino uns auf eine symbolische Schicht des Plots geben will? Wir sollten den Regisseur, der vorhat, nach zehn Filmen als Schriftsteller weiterzuar- www.medienobservationen.lmu.de 14 beiten, nicht unterschätzen.12 Geld ist – so argumentiert Jochen Hörisch – ein paradoxiesensibles Medium, das in der Nachfolge der Religion eine Menge tut: es verschafft Geltung, erzeugt oder tilgt Schuld und ist dabei auf Kredit, also auf Glaubwürdigkeit und Vertrauen angewiesen. Dieses Vertrauen ist vorhanden, wenn der Wert des Geldzeichens, den es trägt, 'gedeckt' ist. Da Geld aber, als Metall oder Papier, an sich wertlos ist, gibt es ein ungelöstes „Zahlungsversprechen“. Es gibt nun, folgen wir Hörisch, eine plausible, wenn auch „zumutungsreiche, (post)moderne, nämlich autopoeitische Lösung des Deckungsproblems“: Geld ist gedeckt durch den Glauben an Geld.13Die „Hateful Eight“ vertrauen also auf Geld, nicht auf Gott. Das muss man aber erst einmal bekommen, wenn man nach der Prämie jagt, die auf Köpfe ausgesetzt ist. Des Geldes wegen nimmt Ruth Warren und Mannix mit in die Kutsche. Der eine ist ein Komplize mit Standesehre. Der andere, als neuer Sheriff von Red Rock, ist die sichere Bank. Kein head hunter, eher ein hedge hunter. Deshalb lässt sich Willox zu Warrens Schrecken am Ende auf einen heiklen Disput mit Daisy ein. Sie pokern um Köpfe: Wer verdient am meisten? Wenn Mannix Ruth erschösse, die toten Banditen ausliefere und die überlebenden laufen lasse, könne er sich den Stern gut anstecken. Meint Daisy. Aber Mannix ist ein Spieler, kein Verräter. Niemand wird am Ende des Films einen Cent sehen, die Banditen nicht und nicht ihre Jäger. Das Geld, „Effekt einer diabolischen Zweitcodierung der Welt“,14 ist im wahrsten Sinne zum Teufel. 12 13 14 Vgl. Hanns-Georg Rodek. “'Ich habe noch zwei Filme. Mehr steckt nicht drin'. Gespräch mit Quentin Tarantino”. In: Die Welt, 31.1.2016. Jochen Hörisch. Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 110f. Ebd., S. 114. www.medienobservationen.lmu.de 15 „Wenn Du in die Hölle fährst, grüß' sie von mir“, sagt Daisy zu ihrem Jäger. Meine Beobachtung ist: Das Geld in Tarantinos Film verleiht keine Autorität und keine Geltung. Es ist unsichtbar, weil es nicht gedeckt ist. Was es gilt, steht nur auf dem Steckbrief. Und der wird ja oft genug als geldwerte und glaubwürdige Leistung vorgezeigt. Aber die Geschichten kann man den Figuren, von denen sie erzählt, überprüft, falsifiziert oder affirmiert werden, dennoch schlecht abkaufen. Unter dieser Voraussetzung wird es auch erklärbar, dass der Regisseur seine Figuren unangenehme Aufgaben nicht durch das übliche Mittel des Münzwurfs entscheiden lässt, sondern durch Streichhölzerziehen. Auch so erzählt der Film auf symbolische Weise von der Farbe des Geldes. „Kopf oder Zahl“: Das wäre eine Betrachtung von zwei Seiten der Medaille. Hier aber steht der Kopf – auf dem Steckbrief – für die Zahl, und am Ende ist die Zahl der Köpfe, die rollen – der body count –, identisch mit der Zahl der mitspielenden Figuren. Die Differenz zwischen Kopf und Zahl steckt in den Geschichten hinter den Geschichten, in den Kamerafahrten und Erzählstimmen außerhalb des diegetischen Raums. Der Lincoln-Brief als falsches Orakel Zu den Fiktionen, die der Film als harmlose Tatsachen aufbaut, um sie dann umso genüsslicher als Lügen zu entlarven, gehört ein Blatt Papier. In der Kutsche fragt Ruth seinen Kollegen, ob er den Brief von Abraham Lincoln bei sich trage. Von dem Lincoln, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, der als Abschaffer der Sklaverei in die amerikanische Geschichte eingegangen ist. Wenn das Raubein Ruth den Brief laut vorliest und dabei gesteht, gerührt zu sein, muss etwas dran sein an dem Brief. Wie ein Orakel ist er: das Dokument einer unglaublichen Wahrheit, www.medienobservationen.lmu.de 16 die erhaben ist über den Rassismus des amerikanischen Bürgerkriegs. Aber das Orakel bekommt Flecken. Dreimal taucht der Brief auf im Film auf, zweimal sichtbar als handbeschriebenes Blatt Papier, einmal im Gespräch, und jedes Mal lässt es die Handlung umkippen. Beim ersten Mal spuckt Daisy verächtlich auf das Blatt und wird von Warren aus der Kutsche gestoßen. Praktischerweise fliegt Ruth gleich mit hinaus, die Handschellen sind schuld. Das wiederum bringt die Kutsche zum Stehen und dem hinzukommenden Mannix die Chance, um eine Mitfahrgelegenheit zu bitten. Beim zweiten Mal kommt Mannix in Minnies Hütte auf den Brief zu sprechen. Sein Spott hat Methode. Er bezweifelt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten einem schwarzen Nordstaatenmajor einen persönlichen Brief geschrieben hat. Und dann stellt sich heraus: Er hat recht. Warren gibt zu, dass der Brief gefälscht ist. Er hat ihn benutzt, um Diskriminierungen auszuweichen und seine Identität zu stärken. Der Brief ist ein Fake, ein falsches Orakel, aber ein Steckbrief seines Besitzers. Warren ist kein Deut besser als die anderen, auch er lügt, wenn auch nicht gerade aus niederen Motiven. Am Ende des Films hat Mannix, schwer verwundet, den Brief in der Hand. Er liest den vollständigen Wortlaut vor. Lincoln schreibt dem Nordstaatensoldaten, seine Taten ehrten die Schwarzen. Doch der Satz „Ich hoffe, ich treffe Sie bei guter Gesundheit an“ klingt in der Schlussszene des Films sarkastisch. Denn Warren liegt, todgeweiht, im Bett. Die Abschlussformel des Briefes „Meine geliebte Mary Todd ruft, ich denke, ich muss zu Bett“ wird schließlich von Mannix so kommentiert: „Ein schöner Einfall“. Das ist der letzte Satz des Films. Letzte Sätze haben besonderes Gewicht. Hier ist es das Lob der Lüge und ihre Verteidigung als Phantasie. In einem gefälschten Brief, der be- www.medienobservationen.lmu.de 17 spuckt und verschmiert, verhöhnt und zerknüllt worden ist, kehrt das Orakel zurück in die Geschichte und rehabilitiert das Misstrauen. Es ist egal, von wem der Brief geschrieben worden ist, wozu er gut ist, das ist entscheidend. Der Brief verleiht eine Autorität, doch diese Autorität ist erschlichen. Es kommt nicht auf den Autor und das Geld an. Es sind Schrift und Stimme, die den Kopfgeldjägern ihre durchaus zweideutige Autorität verleihen. Man kann alles von zwei Seiten aus sehen. Die häufigen Achsbrüche der Regie unterstreichen das. Charaktere stehen sich auf einmal spiegelverkehrt gegenüber (Abb. 6 und 7). Das Kamerafeld, das Feld der Beobachtung, wird auf einmal selbst beobachtet. Der Achsenbruch stellt die Kopfgeldjäger auf Augenhöhe einander gegenüber und suggeriert dem Zuschauer, dass sie – obwohl der eine bewaffnet ist und der andere nicht – jenseits von Gute und Böse agieren, jedenfalls ohne jeden Hinweis auf eine vorweggenommene Auflösung der Handlung. Das wiederum wäre zwar postmoderne „Ironie, ohne Unschuld“,15 aber nicht tarantinoesk. Deshalb gehört der Schluss im Film dem Bild, nicht der Stimme. Die Kamera fährt von dem brieflesenden Mannix hoch Richtung Decke und zeigt im Vordergrund die dort aufgeknüpfte Daisy Domergue (Abb. 8). Auch hier hat sich die Kamera selbständig gemacht, eine makabre Instanz der god's eye-Perspektive, und lässt eine Leiche den „schö- 15 Umberto Eco. Nachschrift zum 'Namen der Rose'. Ins Deutsche übersetzt von Burkhart Kroeber. München: dtv 1986, S. 78. www.medienobservationen.lmu.de 18 nen Einfall“ des sterbenden Marodeurs, der seinen Sheriffstern wohl nie bekommen wird, kommentieren. Der provisorische Galgen am Ende korrespondiert mit dem Steinkreuz am Anfang (Abb. 9). Einsam steht es inmitten der verschneiten Landschaft, die Kamera bringt es in Großaufnahme in den Fokus und entfernt sich dann langsam wieder. Beide Einstellungen, der Galgen am Ende und das Kreuz am Anfang, zeigen die Doppelstruktur des Zeichens, seine „Zeichenkraft“,16 mit Innen und Außen, Dunkelheit und Helle, Symbolik (der Galgen als Instrument der Sühne) und Magie (das Kreuz als Zeichen der Verwandlung). Am Ende stellt sich heraus: Keiner der Hateful Eight hat das Format eines Ödipus. Dafür sind ihre Geschichten nicht zuverlässig genug. Keine der Figuren des Films hat am Ende eine lupenreine backstory, alle sind tot oder sterbend, wenn auch im Leiden lachend wie Warren.17 Golgatha ist hier ein tarantinoesker Kampfplatz.18 16 17 18 Ich entlehne den Begriff Aleida Assmann. Im Dickicht der Zeichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 61. Wenigstens in einer Fußnote soll auf die theatrale Qualität der tarantinoesken Auf- und Abtritte hingewiesen werden. So wie die Kutsche, die stagecoach, eine Bühne ist, ein „Kopfgeldjägerpicknick” on stage, wie Mannix scherzt, so ist Minnies Laden Salon und Theater: „He not only turns the saloon into a theatre set but makes it into a theatre in which things aren't what they seem” (Richard Brod. „'The Hateful Eight'. Tarantino's Playfully Adolescent Filmmaking”. In: The New Yorker, 1.1.2016). Anderes Beispiel: Die mordlustigen Gangster haben den Türverschluss von Minnies Hütte demoliert. Dumm gelaufen: Jetzt muss die Tür von innen mit zwei Brettern zugenagelt und von außen aufgetreten werden. Das sorgt für Slapsticks inmitten der Schocks. „Tarantinismus ist die freche Aneignung der Popkultur durch die Verwandlung vom Mythos zum Material” (Georg Seeßlen. Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über “Inglourious Basterds”. Berlin: Bertz + Fischer 2010, S. 233.). www.medienobservationen.lmu.de 19