Das Ende des „Golden Age of Crime Fiction“ am
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Das Ende des „Golden Age of Crime Fiction“ am
! ! Vorwissenschaftliche Arbeit Das Ende des „Golden Age of Crime Fiction“ am Beispiel von Dorothy L. Sayers’ Lord Peter Wimsey Verfasst von: Michael Lysander Angerer Klasse: 8K Schuljahr: 2015/16 Betreuung durch: Mag. Pia Dorn Linz, Februar 2016 Abstract Crime fiction is to this date a popular form of genre fiction. This paper discusses the interwar “Golden Age of Crime Fiction” in Great Britain and how its mostused genre, the clue puzzle, came to be replaced with other variations of the detective novel. For this purpose, the social history of interwar Britain is compared to the emergence and discardment of characteristics of detective literature in the 1920s and 1930s; Dorothy L. Sayers’ “Golden Age” detective Lord Peter Wimsey serves as an example. Furthermore, a short overview of the succeeding genres is given. It is argued that the detective of the clue puzzle partly embodies the ideal logical and rational Victorian man, representing the nostalgia for pre-war times reigning in the 1920s, and serves an almost purely structural purpose as the reader’s guide through the mystery. In the 1930s, with the abandonment of Victorian stereotypes and a growing female readership, to whom the ideal Victorian man meant little, variations became possible. Sayers’ later novels pertain to the tendency to include more realism in detective stories, consequently making the detective an individual and emotional character. Inhaltsverzeichnis 1! Einleitung 1! 2! Das „Golden Age of Crime Fiction“ 2! 2.1! Die Zwischenkriegsgesellschaft in Großbritannien 2! 2.2! Der Detektiv im „Golden Age of Crime Fiction“ 4! 2.2.1! Der pointierte Rätselroman 4! 2.2.2! Die Persönlichkeit des Detektivs 5! 2.3! Lord Peter Wimsey als typischer Detektiv des „Golden Age“ 2.3.1! Lord Peter Wimsey am Beginn der Romanreihe 2.3.2! Entwicklungen im Charakter Lord Peter Wimseys bis 1930 3! Das Ende des „Golden Age of Crime Fiction“ 8! 8! 12! 16! 3.1! Das Ende der Zwischenkriegsnostalgie 16! 3.2! Die Auflösung des Genres in Großbritannien 18! 3.2.1! Ursachen für die Abkehr von Genrekonventionen 18! 3.2.2! Variationen und Bruch mit dem Genre 20! 3.3! Die Weiterentwicklung des Lord Peter Wimsey 22! 4! Nach dem „Golden Age of Crime Fiction“ 28! 5! Zusammenfassung 29! Literaturverzeichnis 31! 1 Einleitung Das Verbrechen und seine Folgen, Bruch und Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, haben den Menschen seit jeher fasziniert. Im deutschsprachigen Raum schlug sich diese Tendenz zunächst in Form der Verbrechensliteratur nieder, welche sich vor allem mit der Psyche des Kriminellen selbst befasst.1 In der anglophonen Welt hingegen begann im 19. Jahrhundert die Geschichte der modernen Detektivliteratur mit Edgar Allan Poes 1841 erschienener Detektiverzählung The Murders in the Rue Morgue.2 Der wohl stärkste Impuls in der Entwicklung des Detektivromans kam von Arthur Conan Doyle, der mit Sherlock Holmes einen höchst erfolgreichen Serienhelden schuf. Noch bis nach dem Ersten Weltkrieg wurde das von Doyle entwickelte Schema von zahlreichen Autoren aufgegriffen und variiert.3 In der Zwischenkriegszeit aber entstand im „Golden Age of Crime Fiction“ Großbritanniens das Genre des pointierten Rätselromans; dieser war zwar nur eines von verschiedenen Sub-Genres der Zwanziger- und Dreißigerjahre, zu denen auch der Thriller der hard-boiled school gehört, dominierte aber in Großbritannien lange Zeit die Kriminalliteratur, bis er um 1940 von neuen Formen abgelöst wurde.4 Ziel dieser Arbeit ist es, darzustellen, welche Elemente das „Golden Age of Crime Fiction“ ausmachten, wie der sozialhistorische Kontext die Entwicklung des Genres beeinflusste und wie das „Golden Age“ endete. Auch soll ein kurzer Ausblick auf die Weiterentwicklung des Rätselromans gegeben werden. Die Ergebnisse dieser Analyse werden am Beispiel der Figur des Lord Peter Wimsey in den Detektivromanen Dorothy L. Sayers’ konkret dargestellt. 1 vgl. Nusser 2009, S. 1 vgl. Rühl 2010, S. 64 3 vgl. Nusser 2009, S. 89-92 4 vgl. Knight 2010, S. 84f 2 1 2 Das „Golden Age of Crime Fiction“ Da die Entwicklung der komplexen Regeln der Detektivliteratur des „Golden Age“ in Großbritannien unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg geschah, ist die Blütezeit des Genres stark von der vorherrschenden Mentalität der Zwischenkriegszeit beeinflusst. Dies ist umso stärker zu bemerken, als die Kriminalliteratur grundsätzlich als Lektüre für das Volk, als eskapistische Beschäftigung geringen Anspruchs gilt. So lassen sich die Detektivromane jener Zeit als Spiegel der britischen Mittelschicht und ihrer Denkmotive sehen.5 2.1 Die Zwischenkriegsgesellschaft in Großbritannien Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs traten die Konflikte innerhalb des Empire verstärkt hervor. Die Gesellschaft war gespalten in jene, die den Krieg an der Front erlebt hatten und davon nicht sprechen wollten, und jene, die keine Kriegserfahrung hatten und öffentliches Gedenken an die Kriegstoten wünschten. Zudem stellte die Modernisierung der Gesellschaft, vor allem für die Kriegsheimkehrer, eine große Verunsicherung dar.6 Als 1923 der Konservative Stanley Baldwin erstmals Premierminister wurde, geschah dies durch die Stimmen der Mittelschicht, die eine Rückkehr zur Normalität wünschte.7 Der Mensch greift in Krisensituationen auf bewährte Konzepte zurück, um Stabilität zu gewährleisten. Gleichzeitig gibt das Gefühl der homogenen Gruppe Sicherheit;8 wachsender Nationalismus und ein konservatives politisches Klima sind eine logische Folge. Im Großbritannien der Zwischenkriegszeit hielt man sich an bewährte Kategorien: „Class and Gender were the most important categories of social identity in twentieth-century Britain“.9 Klasse als Kategorie bestimmte nach wie vor das Leben der Menschen. Der Adel sah nach dem Krieg seinen Einfluss schwinden und verlor weitgehend seine politische Funktion; dafür gelangte er, vor allem die königliche Familie, 5 vgl. Lewis 1994, S. iv vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 16f 7 vgl. Morgan 2010, S. 595-599 8 vgl. Paßmann 2006, S. 16 9 Brooke 2007, S. 42 6 2 durch die Medien zu großer Popularität.10 Die Arbeiterklasse gewann durch die Gewerkschaften an politischer Macht und versuchte sich der Mittelschicht anzugleichen. Doch die sozialen Missstände, unter denen die Arbeiter litten, waren weiterhin enorm; sie lösten schließlich den Generalstreik 1926 aus.11 Die Bürger der urbanen Mittelschicht waren eher unbeteiligte Betrachter der unruhigen Innenpolitik. Dennoch sorgten sie sich ob jener Entwicklungen, und der Wunsch nach Stabilität wuchs.12 Dieselbe Schicht, die für die traditionellen Werte, die Premierminister Stanley Baldwin verkörperte, stand, genoss aber auch die Vorteile der zahllosen technischen und sozialen Innovationen der Zwischenkriegszeit. So endeten die Zwanzigerjahre „in a confused haze of nostalgia and innovation“. 13 Erst die Finanzkrise von 1929, die zwar die Mittelschicht wie frühere Konflikte kaum tangierte, aber das Vertrauen in die Regierung erschütterte, bereitete den Weg für die Koalition des National Government und die Loslösung von viktorianischen Stereotypen.14 Nun war also die Zielgruppe des traditionellen Detektivromans, die Mittelschicht, durch den Krieg zutiefst verunsichert. Daraus resultierte ein verstärktes Klassenbewusstsein, das eine klare Trennung von Unter- und Oberschicht mit sich brachte. Diese genau definierte middle class fand sich umgeben von sozialen Problemen und zugleich davon vergleichsweise unberührt. Die Nöte der Arbeiterschicht wurden kaum beachtet; gleichzeitig war der Adel trotz schwindenden politischen Einflusses populär geworden. Während die Modernisierung der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens eine Realität und durchaus erwünscht war, existierte dennoch im Bewusstsein der Mittelklasse der Wunsch nach einer Rückkehr zu „besseren Zeiten“ wie jener vor dem Krieg. Diese Wunschvorstellungen ließen sich am ehesten in Verbindung mit dem Adelsstand realisieren, die Arbeiterklasse hingegen sah man im Licht der bedrohlichen aktuellen Missstände. 10 vgl. ebenda, S. 45 vgl. ebenda, S. 49 12 vgl. Morgan 2010, S.603-605 13 ebenda, S. 607 14 vgl. ebenda, S. 608-610 11 3 2.2 Der Detektiv im „Golden Age of Crime Fiction“ Passend zur vorherrschenden konservativen Stimmung der Zeit entwickelte sich der Detektivroman des „Golden Age of Crime Fiction“ zu einem Genre mit starken Konventionen: zum pointierten Rätselroman, dem clue puzzle, der sich nach dem Krieg ausgeprägt hatte. Maßgebend beteiligt an der Entstehung dieser Gattung war Agatha Christie. 15 Der pointierte Rätselroman ist von strikten Regeln bestimmt, die auch veröffentlicht wurden, etwa in „A Detective Story Decalogue“ von Ronald A. Knox. Diese Konventionen gilt es auszuloten, ehe die Persönlichkeit des Detektivs betrachtet wird. 2.2.1 Der pointierte Rätselroman Die Regeln des Rätselromans lassen sich als direkte Konsequenz der Verunsicherung der Mittelklasse sehen: 16 Zentral ist das fair play, also die theoretisch existente Möglichkeit für den Leser, den Mörder ohne die Hilfe des Detektivs anhand der gegebenen Hinweise auszumachen; Fakten sind relevant, Psychologie hingegen kaum. 17 Dadurch wird dem Leser das Gefühl der Machtlosigkeit genommen und seine Involvierung in das Geschehen verstärkt, ohne dass komplexe Charakterisierungen für Figuren benötigt würden. Gleichzeitig ist der erscheinende Personenkreis des Rätselromans ein restringierter. Obwohl diese Regel nicht explizit bei Knox aufscheint, so ist der Fokus der Handlung meist auf die obere Mittelschicht gelenkt, mitunter auch auf den Adel, jene Schichten, die den Status quo wie vor dem Krieg leben: The Golden Age fixation with the upper class, or the upper middle class, is further compounded in British fiction of the period by the fact that the physical and social settings are so isolated from post-war depression that it is as if 18 the Great War had never happened […]. Die Arbeiterklasse hingegen findet oft keine Erwähnung, ebenso wenig wie tagesaktuelle Ereignisse. 19 Dies mag wohl die apathische Rolle der Mittel- 15 vgl. Nusser 2009, S. 96f vgl. ebenda, S. 98 17 vgl. Knight 2003, S. 78f 18 Scaggs 2005, S. 48 19 vgl. Knight 2003, S. 78 16 4 schicht in den innenpolitischen Konflikten und die daraus folgende Dissoziation mit der Unterschicht reflektieren. In Kombination mit einer der Regeln von Knox, die Figur des Mörders müsse bekannt sein und eine wichtige Rolle in der Handlung übernehmen,20 resultiert aus diesen Vorgaben die notwendige Herkunft des Täters aus dem Milieu der Mittel- oder Oberschicht. Gleichsam wird dieser sozial höhergestellte Kriminelle von den Autoren und Autorinnen zum Spieler, zu einem intellektuellen Gegner stilisiert.21 Aus der Eigenschaft des Täters als Spieler resultiert wiederum die Interpretation des gesamten Rätselromans als Spiel: Der zeitgenössische Autor Austin Freeman nennt den Roman in seiner Regelliste „an argument conducted under the guise of fiction“.22 Hieraus lässt sich auf die überwiegende Bedeutung des Rätsels gegenüber dem Roman schließen – eine Charakteristik der Detektivliteratur des „Golden Age“, der im Bezug auf den Detektiv noch weitere Beachtung zu schenken sein wird. Die Zerstörung der Ordnung geschieht also aus dem gehobenen Kreis selbst heraus, die Auseinandersetzung spielt sich auf einem von der Brutalität des Krieges völlig unterschiedlichen Niveau ab. So kann man im Roman erneut die Motive der Verunsicherung und gleichzeitigen sozialen Abschottung erkennen. Der Rätselroman ist ein in sich geschlossenes Spiel für Mittel- und Oberschicht. 2.2.2 Die Persönlichkeit des Detektivs An diesem Punkt tritt der Detektiv selbst ins Rampenlicht. Diese Figur hat eine ambige Bedeutung: Zum einen ist der Detektiv jene Person, die das Gleichgewicht, den Status quo vor dem die Handlung bedingenden Verbrechen wiederherstellt oder zumindest kittet; zum anderen ist er durch seine speziellen Fähigkeiten und die mit der Ermittlung verbundenen Tätigkeiten von der Gesellschaft ausgegrenzt. 23 Wie der deutsche Philosoph und Soziologe Siegfried Kracauer bemerkt, wird der Detektiv durch seine ultimative Raison20 vgl. Knox 1980, S. 200 vgl. Freeman s.t., S. 265 22 ebenda, S. 264 23 vgl. Brownson 2014, S. 58 21 5 d’être, die Lösung der intellektuellen Aufgabe, welche das Verbrechen darstellt, zur „Unperson“.24 Diese Ausgrenzung ist Teil der notwendigen Überhöhung der Ermittlerfigur, die aber auch mit ihrer Humanisierung, einer realistischeren und damit menschlicheren Darstellung, einhergeht. Typische Merkmale des Detektivs sind seine große Unabhängigkeit als Amateur ohne Beziehung zur Polizei, ein außenseiterischer Lebensstil als Junggeselle sowie exzentrische Angewohnheiten und eine große Intelligenz.25 Solch humanisierende wie auch überhöhende Eigenschaften sind nötig, um die Identifikation des Lesers mit dem Ermittler zu ermöglichen, denn ohne sie wird er zur bloßen Personifikation des Verstands.26 Allfällige Exzentrik bietet dem Leser die Möglichkeit, eigene kapriziöse Angewohnheiten wiederzuerkennen, während die beinahe absolute Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit von sozialen Gruppen den Detektiv zum Ziel der Wunschvorstellungen des Publikums macht.27 Hieraus lässt sich auch die Dominanz männlicher Ermittler erklären: Männer waren im Vereinigten Königreich klar bevorzugt und verfügten über größere politische und persönliche Freiheiten als Frauen.28 Zudem ist der Detektiv als absolut rationaler Mensch nach dem Beispiel Sherlock Holmes’ auch der ideale viktorianische Mann, losgelöst von weiblicher Emotionalität;29 darin findet sich das Element der Nostalgie nach dem viktorianischen Zeitalter vor dem Krieg. Ein Sympathieträger außerhalb der homogenen Gruppe aber ist nicht kongruent mit den zuvor beschriebenen psychologischen Mustern einer krisengeschüttelten Gesellschaft. Vergleicht man konsequenterweise die Ermittler des pointierten Rätselromans mit einer früheren Figur wie Sherlock Holmes, so lässt sich deutlich erkennen, dass diese Charaktere weit weniger überhöht und isoliert dargestellt werden; nur mehr milde Exzentrik und hohe, doch fehlbare 24 Kracauer 1979, S. 51 vgl. Nusser 2009, S. 42f 26 vgl. Rühl 2010, S. 30 27 vgl. Nusser 2009, S. 42f 28 vgl. Brooke 2007, S. 50f 29 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 65 25 6 Intelligenz differenzieren Detektive des „Golden Age“ von der Leserschaft.30 Die Verunsicherung der Kriegsjahre mag dazu beigetragen haben, Detektive zu kreieren, die nicht mehr voll und ganz Herren der Lage sein konnten. Tatsächlich ist eine angepasste Intelligenz wohl auch ein Resultat der Grundregeln des fair play, der Involvierung des Lesers in das Geschehen. Detektive des Rätselromans geraten im Laufe ihrer Ermittlungen oft an einen Punkt, an dem der Erfolg nur durch Intuition, durch Besinnen auf versteckte Indizien möglich ist, während sich der Ermittler bis zu jenem Zeitpunkt mit dem Leser auf vergleichbarem intellektuellen Niveau befunden hat.31 Dies wiederum macht den Detektiv nicht mehr zu einem Außenseiter, sondern vielmehr zu einem herausragenden Mitglied der homogenen Gesellschaft. Bezüglich der gesellschaftlichen Klasse wird deutlich, dass der Detektiv des „Golden Age of Crime Fiction“ klar in den höheren sozialen Sphären beheimatet ist; dies bedingt weiter seinen Status als Amateur, doch unterhält er in der Detektivliteratur der Zwischenkriegszeit oft durch Verwandte oder Bekannte Kontakt zur „gewöhnlichen“ Polizei.32 So wird zugleich dem Klassenzwang und der notwendigen Integration genüge getan. Wenn aber auch diese Anpassungen den Detektiv dem durchschnittlichen Leser der Mittel- oder Oberschicht angeglichen haben mögen, so darf man dennoch nicht die Rigidität seiner Position im pointierten Rätselroman vergessen. Der Ermittler ist das Medium, durch das der Autor schließlich dem erstaunten Leser die Lösung im Spiel präsentiert, er ist das Mittel zur Exposition und Erklärung der Fakten.33 Demnach ist die Präsenz des Detektivs von der Handlung abhängig, nicht umgekehrt. Als Reaktion auf den handlungstechnischen Impuls, der innerhalb der Geschichte vom Mörder ausgeht, folgt der Detektiv typischerweise einem standardisierten Modus Operandi, der in einer rhetorischen Rekonstruktion der 30 vgl. Nusser 2009, S. 97 vgl. ebenda 32 vgl. Knight 2003, S. 78 33 vgl. Freeman s.t., S. 267f 31 7 Tat kulminiert, im Zuge derer schließlich die Lösung präsentiert wird.34 Dies ist für gewöhnlich auch das Ende des Romans.35 Hat der Detektiv seinen Zweck erfüllt, den Status quo ante von Ruhe und Gesetzestreue wiederhergestellt, kann er aus der Handlung entlassen werden und somit die Episode abschließen. Diese Abhängigkeit des Ermittlers von der Handlung und das Fehlen einer Existenz außerhalb der ritualisierten Aufklärung von Verbrechen erschwert weiterhin alle Humanisierungsversuche; die „Unperson“36 Kracauers dominiert noch den Detektivroman des „Golden Age“. 2.3 Lord Peter Wimsey als typischer Detektiv des „Golden Age“ Lord Peter Wimsey erscheint erstmals 1923 in Dorothy L. Sayers’ Detektivroman Whose Body?. Am Beginn der Reihe passt sich die Figur hervorragend an die erwähnten Konventionen des Detektivromans der Zwischenkriegszeit an: Lord Peter ist ein unabhängiger Amateurdetektiv der Oberschicht, was ihm große Handlungsfreiheit verleiht, und hat zugleich durch seinen Freund Inspektor Parker Zugang zu Polizeikreisen; zudem lebt er als Junggeselle, geht kostspieligen Zeitvertreiben nach und zeigt leicht exzentrische Züge, wie etwa seinen stereotypen upper-class-Akzent und oft übermäßig heiteren Esprit. 2.3.1 Lord Peter Wimsey am Beginn der Romanreihe Die Zugehörigkeit Lord Peters zur Oberschicht wird deutlich durch seinen Titel und seine Abstammung, die sich bis zu einem Ritter des zwölften Jahrhunderts zurückverfolgen lässt.37 Wimsey selbst ist ein energischer Charakter, der den Befehlston gewohnt ist; demonstriert wird dies an der Leichtigkeit, mit der er in den ersten Seiten von Whose Body? ein Taxi veranlasst, mitten am Picadilly Circus zu wenden, einem der Knotenpunkte des Londoner Straßennetzes.38 Weiters deutet seine geplante Teilnahme an einer Bücherauktion (der Leser 34 vgl. Sparling 2011, S. 204 vgl. Knight 2003, S. 79 36 Kracauer 1979, S. 51 37 vgl. Sayers 1968a, S. 264 38 vgl. Lewis 1994, S. 17 35 8 erfährt später, er besitze eine beeindruckende Sammlung von Erstausgaben39) auf ein beträchtliches Vermögen hin. Wie energisch er auch sein mag, so ist Lord Peter doch in seinen Ermittlungsmethoden weit von der Überlegenheit eines Sherlock Holmes entfernt: Glück und Psychologie spielen neben wissenschaftlicher Beobachtung eine kleine, aber merkbare Rolle. Auch muss Wimsey sich oft auf seinen Diener Bunter und Inspektor Parker verlassen, um essentielle Details zu erfahren. Die Lösung des Rätsels offenbart sich ihm erst in einem Moment der Intuition am Ende des Romans.40 Hierin finden sich die moderaten Elemente der Überhöhung wieder, die typisch für das „Golden Age of Crime Fiction“ sind. Jene Charakteristika werden mit humanisierenden Eigenschaften ausgeglichen. Die offensichtlichsten dieser Art, die sich bei Lord Peter finden, sind sein Akzent und seine ewig scherzhafte Haltung. Letztere ist oft mit etwas obskuren literarischen Anspielungen verbunden und kann Wimsey unseriös erscheinen lassen, wie er selbst in einer der Kurzgeschichten zwischen Bonmots und Allusionen bemerkt. 41 Solche Wesenszüge erscheinen als übliche Mittel der Humanisierung im „Golden Age“, bedenkt man die Attribute anderer zeitgenössischer Romandetektive, etwa Hercule Poirots Akzent und Affektiertheit. Eine weitere Ebene der Charakterisierung öffnet sich in Lord Peters Motiven für seine Ermittlungstätigkeit. In Whose Body? agiert Wimsey seinen eigenen Worten nach aus Leidenschaft für die Detektion.42 Der Auslöser und grundlegende Antrieb für seine Arbeit an dem Fall mag das Ziel sein, Alfred Thipps vom Mordverdacht zu befreien. Inspektor Sugg, der in seiner Unfähigkeit Arthur Conan Doyles Polizisten durchaus ähnelt, verhaftet Thipps wegen des Fundes einer Leiche in dessen Badewanne. Als Wimsey von Thipps’ Verhaftung erfährt, ist er aber geradezu euphorisch. 43 Das Vergnügen des Detektivs steht im Mittelpunkt, und damit auch jenes des Lesers und, nach den Regeln des fair play, sekundären Ermittlers. 39 vgl. Sayers 1968b, S. 4 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 24 41 vgl. Sayers 1974a, S. 85 42 vgl. Sayers 1968b, S. 124 43 vgl. ebenda, S. 33 40 9 Humanisierend wirken in diesem Kontext Lord Peters Selbstzweifel, die im Laufe des Romans erscheinen. Die Tatsache, dass sein Zeitvertreib einen Menschen, den Mörder, das Leben kosten wird, konsterniert ihn. Inspektor Parker diskutiert seine Zweifel und seine Verpflichtungen mit ihm: You want to hunt down a murderer for the sport of the thing and then shake hands with him […]. Life’s not a football match. You want to be a sportsman. 44 You can’t be a sportsman. You’re a responsible person. Dieses Eingeständnis ist bereits ein Schritt zu einer realistischeren Darstellung, als im „Golden Age“ gemeinhin üblich war, auch wenn es nur vergleichsweise kurz im Fokus der Handlung steht. Noch viel wichtiger allerdings ist der psychologische Hintergrund, den Sayers für Lord Peter geschaffen hat. Laut der biographischen Notiz, die 1935 zur Figur veröffentlicht wurde, war der Erste Weltkrieg für ihn genauso ein Trauma wie für die Mehrheit der Briten. Während der Kriegsjahre heiratete seine ehemalige Verlobte einen Offizier, Wimsey selbst erlitt nach seiner Beförderung zum Major durch einen Granateneinschlag eine Kriegsneurose.45 Die Entscheidung, den Mörder der Polizei auszuliefern, löst in Whose Body? eine Panikattacke aus, während der Wimsey sich wieder im Schützengraben wähnt.46 Ein eminenter Nervenarzt erklärt ihm später, er habe Schwierigkeiten, große Verantwortung auf sich zu nehmen. 47 Hier lässt sich im Grunde ein Konflikt zwischen humanisierenden und überhöhenden Eigenschaften orten: Humanisierend ist die Angst vor einer diffizilen Entscheidung, überhöhend wirkt die Schnelligkeit, mit der sie überwunden wird. In Whose Body? wird die Episode dieses Rückfalls innerhalb weniger Seiten abgeschlossen. Wimseys Kriegsneurose ist seine einzige tatsächliche Schwäche, und indem sie ein beständiger Teil seiner Persönlichkeit ist, trägt sie viel zu seiner realistischen Darstellung bei. Sie dient auch teilweise zur Erklärung seiner Exzentrizi- 44 ebenda, S. 126f vgl. ebenda, S. 211 46 vgl. ebenda, S. 137 47 vgl. ebenda, S. 177 45 10 tät und lässt Lord Peters Charakter unter den Detektiven des „Golden Age“ als besonders realistisch hervorstechen.48 Durch sein Vertrauen auf die Zukunft und seine gleichzeitige tiefe Verunsicherung durch frühere Erfahrungen erscheint Lord Peter als Repräsentant der Bürger der Zwanzigerjahre. Er hat wenig mit dem konservativen Adel seiner Zeit zu tun, der umfangreiche Landgüter vom Familiensitz aus verwaltet; gerade diese Klasse der Gesellschaft verschwand langsam in der Zwischenkriegszeit.49 In dieser Hinsicht lassen sich kaum nostalgische Tendenzen in seiner Charakterisierung finden. Kombiniert werden diese modernen Züge aber mit einem viktorianisch anmutenden Lebensstil: Seine Junggesellenwohnung in London mit einem Hausdiener erinnert an Sherlock Holmes. Zudem verkörpert er als vernunftbetont ermittelnder Detektiv, frei von störenden Emotionen, das Ideal des logischrationalen viktorianischen Mannes. 50 Auch unterscheidet er sich in seinen Handlungen und Gewohnheiten von den Ausschweifungen der jüngeren privilegierten Generation, der „Bright Young Things“. 51 Diese verklärte Darstellung zeigt Wimsey als einen Vertreter nicht nur seiner Generation, sondern auch des idealisierten früheren viktorianischen Zeitalters. Somit wird ein ambiger Eindruck von Lord Peter vermittelt, einer Figur „embracing the best aspects of the lost prewar world while facing the uncertain future with determined cheerfulness“. 52 Im Charakter Wimseys halten sich Nostalgie und Glaube an die Zukunft die Waage; im Grunde ein weiterer Konflikt zwischen Überhöhung – der Darstellung nostalgisch verklärter Werte – und Humanisierung – der realistischen Repräsentation des modernen Menschen. Diese gegensätzlichen Tendenzen reflektieren aber auch die Wünsche und Lebensrealität der britischen Mittelklasse der Zwanzigerjahre.53 48 vgl. Lewis 1994, S. 21 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 23f 50 vgl. ebenda, S. 65 51 Lewis 1994, S. 19 52 McGregor/Lewis 2000, S. 22 53 siehe S. 3-4 49 11 Schließlich kann die Struktur des ersten Wimsey-Romans zur Analyse der Figur herangezogen werden. Lord Peter steht ab dem ersten Satz im Mittelpunkt der Handlung und begleitet den Leser beinahe konstant durch das clue puzzle; ausgenommen sind zwei Szenen, in denen Wimseys Diener Bunter und Inspektor Parker Ermittlungen vornehmen, sowie eine reine Expositionsszene vor dem Untersuchungsgericht. Einblick in Lord Peters Privatleben wird dem Leser nur en passant gewährt, da alle Szenen mit der Ermittlung in Korrelation stehen. Nach der Überwindung seiner Panikattacke entlarvt Wimsey den Mörder, das Verbrechen wird durch dessen Geständnis voll aufgeklärt. Der Roman endet unmittelbar danach. Hierin findet sich das typische Muster des pointierten Rätselromans: Der Detektiv besitzt als Personifizierung des Verstandes außerhalb der Aufklärung des Rätsels keine Existenz. Resümierend lässt sich feststellen, dass in Whose Body? zwar ein realistischer, aber für das „Golden Age of Crime Fiction“ durchaus typischer Detektiv präsentiert wird. Sein hoher sozialer Status, sein Reichtum und seine etwas nostalgisch viktorianische Persönlichkeit machen Wimsey zur Projektionsfläche für Wunschvorstellungen; Selbstzweifel und Kriegstrauma gestalten die Figur realistischer und erleichtern die Identifikation mit ihr. Lord Peters Freude am Ermitteln als seine zentrale Motivation und die konventionelle Struktur des Romans gliedern Whose Body? fest in die Tradition des pointierten Rätselromans ein. 2.3.2 Entwicklungen im Charakter Lord Peter Wimseys bis 1930 Clouds of Witness erschien 1926 als zweiter Roman der Reihe. Die Handlung dreht sich um Wimseys Familie: Sein Bruder, der Herzog von Denver, wird des Mordes am Verlobten seiner Schwester, Lady Mary, verdächtigt. Der Fokus der Persönlichkeitsentwicklung liegt primär auf dem Herzog, seiner Frau, der Herzoginmutter und Lady Mary. Wimsey selbst entwickelt sich in Clouds of Witness nur minimal. Wie auch im ersten Roman ist er von Anfang bis Ende nahezu ständig präsent. Von jedweden Skrupeln ob seiner Involvierung befreit kann er der Ermittlung höchst 12 energisch nachgehen, was in einer sensationellen Überquerung des Atlantik in einem Flugzeug kulminiert. Sein aktionistischer Ermittlungsstil in diesem Roman gleicht eher den Abenteuern des literarturgeschichtlich früher anzusiedelnden Detektivs Sexton Blake.54 Sayers hatte Wimsey 1920 tatsächlich zunächst als Nebencharakter für Blake konzipiert. 55 Die Rückkehr zum aktionistischen Schema lässt sich mit der unglücklichen Lebensperiode voller Liebesleid erklären, die Sayers gerade durchmachte; mit Abenteuer und Eskapismus wollte sich die Autorin wohl in ihrem Werk trösten.56 Innerhalb der Reihe und auch des „Golden Age” stellt dies einen Rückschritt in Richtung Sherlock Holmes dar. 1927 erschien Unnatural Death, ein Jahr später The Unpleasantness at the Bellona Club. Letzterer Roman beschäftigt sich intensiv mit den psychologischen Folgen des Ersten Weltkriegs für die Veteranen: Die jüngeren Mitglieder des Bellona Clubs für Militärangehörige leiden alle stark unter ihren Erfahrungen, darunter auch die Enkel des Mordopfers, Robert und George Fentiman. Lord Peter gerät damit auch in den Konflikt zwischen Kriegsheimkehrern und jenen ohne Kriegserfahrung. Er versteht seine Kameraden und sucht sie vor der Öffentlichkeit zu beschützen. Dies führt unter anderem zu Spannungen zwischen Lord Peter und Inspektor Parker. Parkers Mangel an Kriegserfahrung verhindert eine reibungslose Zusammenarbeit: „[…] for the first time, Wimsey was seeing [Parker] as the police.“57 Dadurch wird er gedrängt, die meisten Aspekte der Ermittlung selbst zu übernehmen, da nur er über die nötige Menschenkenntnis verfügt. 58 In diesem Punkt weicht das Schema des Romans bereits etwas vom typischen „Golden Age“-Roman ab, in dem Psychologie meist nur am Rande relevant 54 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 55f vgl. ebenda, S. 21 56 vgl. ebenda, S. 57 57 Sayers 1968c, S. 214 58 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 79 55 13 ist.59 Lord Peter entfernt sich vom viktorianischen Ideal des logisch-rationalen Mannes, der von Sherlock Holmes repräsentiert worden war.60 Einen Wendepunkt in Lord Peters Entwicklung stellt Sayers’ 1930 (ein Jahr nach dem Börsenkollaps) erschienener Roman Strong Poison dar. Die viktorianische Geschlechtertrennung, die im pointierten Rätselroman de facto noch existiert hatte, wird auf mehreren Ebenen ausgehebelt. Zum einen rät Lord Peter Chefinspektor Parker emphatisch und trotz Parkers viktorianischer Angst vor sozialem Aufstieg zur Heirat mit Lady Mary.61 Am Ende des Romans erfährt der Leser von ihrer Verlobung. Zum anderen aber wird eine Konvention des Genres gebrochen, indem sich Wimsey selbst in die des Mordes angeklagte Harriet Vane verliebt. Vane stellt die wohl modernste Frau in Sayers’ Werk dar. Sie lebt von ihrem eigenen Einkommen als Autorin von Detektivromanen, „independent by the creativity of the individual and free from tradition.“ 62 Über die Dauer des Romans wartet Harriet im Gefängnis auf ihren Prozess: Sie wird beschuldigt, ihren Liebhaber Phillip Boyes vergiftet zu haben. Diese Affäre reflektiert auch Dorothy L. Sayers’ eigene Enttäuschung mit ihrem Liebhaber John Cournos, sodass Vane zum Teil als eine Selbstdarstellung der Autorin interpretiert werden kann.63 Lord Peter, der sich im Gerichtssaal auf den ersten Blick in Harriet verliebt, wird durch seine unglückliche Liebe stark verändert, ein Prozess, der sowohl innerhalb der Handlung als auch erzähltechnisch nötig ist. Lord Peter ist über große Teile des Romans in einer beinahe hilflosen Position, abhängig von seinen Ermittlungshelfern, und wird durch die besondere emotionale Komponente unter Druck gesetzt, was für ihn einmalig ist.64 Seine Gedanken hierzu werden dem Leser offenbart, was einen starken humanisierenden Effekt hat, während die Überhöhung durch die Hilflosigkeit reduziert wird. 59 vgl. Knight 2003, S. 78 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 65 61 vgl. Sayers 1968a, S. 186 62 vgl. Lewis 1994, S. 69 63 vgl. Knight 2015, S. 112-113 64 vgl. Sayers 1968a, S. 99 60 14 Auf der Metaebene ist dieser Wandel notwendig, um eine Heirat zwischen Lord Peter und Harriet zu ermöglichen: Um Harriet als Wimsey ebenbürtig erscheinen zu lassen, muss er in seiner Dominanz der Situation reduziert werden, da sie im Roman eine passive Rolle einnimmt.65 Zu diesem Zweck also verringert Sayers die logisch-rationale und überhöhende Überlegenheit des Detektivs als Herr seiner Lage. Sayers hatte Harriet als Ehepartnerin für Lord Peter kreiert, um seine Popularität einzudämmen und so ihre literarische Abhängigkeit von ihm zu mindern.66 Eine emotionale Involvierung widerspricht dem beliebten Schema des clue puzzle, in dem rationale Deduktion anhand von Fakten zentral für das Element des fair play ist;67 Strong Poison steht damit am Anfang der Weiterentwicklung des Genres nach Sayers’ Vorstellungen. Am Ende des Romans, nachdem der wahre Mörder ermittelt ist, steht aber keine Hochzeit des Paares. Sayers weigerte sich, den Text in solch einer Weise abzuschließen: Trotz aller Humanisierung bleibt Wimsey Vane durch die Lösung des Rätsels und somit ihrer Rettung zu sehr überlegen; die Beziehung muss komplett neu aufgebaut werden, um paritätisch zu sein.68 Erst nach fünf weiteren Romanen kommt es schließlich zu ihrer Verlobung. Viele der anfänglichen überhöhenden Charakteristika Lord Peters werden in Strong Poison abgeschwächt: Seine energisch-verspielte Ermittlungsart wirkt durch den emotionalen Druck verbissen, seine rationale Deduktion wird durch denselben gestört, und die Angst um Harriet ersetzt sein gewöhnliches Handlungsmotiv; dieser Fall ist für Lord Peter keine Hobby-Ermittlung mehr. Einige Merkmale verbleiben aber, welche die Ungleichheit zwischen Wimsey und Vane bedingen: Noch ist er, trotz seiner Unsicherheit, die zentrale Figur der Ermittlung und damit der Handlung. Nur er kann die gesammelten Indizien zusammensetzen und so zur Lösung gelangen. Wie im typischen Rätselroman begleitet er den Leser als Expositionsmedium der Autorin vom Anfang bis zum 65 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 99 vgl. Lewis 1994, S. 70 67 siehe S. 4 68 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 105 66 15 Ende des Textes, während Harriet passiv bleibt und nur in wenigen Szenen persönlich erscheint. Außerhalb der Ermittlung scheint Lord Peter weiterhin wenig Privatleben zu besitzen. Eine solche „Unperson“ kann Harriet Vane nicht heiraten. 3 Das Ende des „Golden Age of Crime Fiction“ Ab den Dreißigerjahren wurden die starren Konventionen des pointierten Rätselromans infrage gestellt, eine realistischere Tendenz trat hervor. 69 Die Fragmentierung des Genres, die der Auflösung einengender Regeln folgt, muss ebenso wie die Genese des clue puzzle in Korrelation mit den sozialen Veränderungen am Ende der Zwischenkriegszeit gesehen werden. 3.1 Das Ende der Zwischenkriegsnostalgie Der Börsenkollaps 1929 und die folgende Finanzkrise bedingten die rasch sinkende Popularität von Ramsay MacDonalds progressiver Labour-Regierung, die erst im selben Jahr gewählt worden war. 1931 formierte sich unter MacDonalds Führung eine Koalitionsregierung, das National Government. Aber obwohl der Premierminister im Amt blieb, wurde diese Regierung von konservativen, betriebswirtschaftlich denkenden Technokraten dominiert. Unter Finanzminister Chamberlain wich die Verwaltung von überholten viktorianischen Konzepten ab und setzte auf Investitionen in Wohnbau und langlebige Konsumgüter, womit der wirtschaftliche Aufschwung des Königreiches eingeleitet wurde.70 Für die fortschreitende Verelendung der alten Industriegebiete fand das National Government keine Lösung. Die wachsende Mittelklasse aber wurde ob der begrenzten Ausdehnung jener Gebiete nicht regelmäßig daran erinnert. Sie profitierte vom Ausbau der öffentlichen Transportmittel, den fallenden Automobilpreisen und vor allem den neuen preiswerten Wohnhäusern in den 69 70 vgl. Rühl 2010, S. 154 vgl. Morgan 2010, S. 609f 16 Vorstädten. So zogen sich die von Krisen beinahe unberührten bürgerlichen Schichten in suburbane Wohnräume zurück.71 Während in kontinentaleuropäischen Ländern Faschisten die Macht ergriffen, blieb Großbritannien eine stabile und traditionsbedachte Demokratie, in der alte Machtstrukturen aufrechterhalten wurden; radikale Gruppen konnten nur bescheidene Anhängerzahlen vorweisen. Die öffentliche Meinung tendierte bis 1937 gegen eine Involvierung des Königreichs in die Politik des Kontinents.72 Stattdessen zog man sich auf das Land zurück. Viele der neuen Automobilbesitzer nützten ihre Mobilität, um am Land die Wurzeln des traditionellen Englands zu erkunden; dabei brachten sie auch Modernisierung und, nach anfänglichen Protesten, eine wachsende Tourismusindustrie mit sich.73 Weitere Freizeitaktivitäten fanden in den immer erschwinglicheren Eigentumshäusern statt: Männer erlernten das Heimwerken, Frauen die Haushaltsführung und man kümmerte sich um den eigenen Garten. 74 Diese räumliche Isolation von sozialen Problemen wurde durch Zeitungen und Romane verstärkt, die der kritischen Lage wenig Beachtung schenkten, um die (meist weiblichen) bürgerlichen Kunden der vielerorts eröffneten Leihbüchereien nicht zu verschrecken.75 Erst 1937 änderte sich die öffentliche Meinung zugunsten einer aktiveren Außenpolitik des Vereinigten Königreichs. Der Spanische Bürgerkrieg und die aggressive Expansionspolitik des Deutschen Reiches riefen tiefe Verunsicherung hervor. Als Hitler trotz des 1938 geschlossenen Münchner Abkommens im Frühjahr 1939 in Prag einmarschierte, wurde der inzwischen unbeliebte Premierminister Chamberlain gegen seinen Willen bewegt, die Sicherheit Polens zu garantieren.76 Die verbitterte Öffentlichkeit distanzierte sich von ihrer früheren Passivität und unterstützte die nationalkonservativen Gegner Chamberlains und seiner 71 vgl. ebenda, S. 612f vgl. ebenda, S. 613-617 73 vgl. O’Connell 2007, S. 121 74 vgl. Strange 2007, S. 207f 75 vgl. Watson 1987, S. 36-39 76 vgl. Morgan 2010, S. 615-619 72 17 Appeasement-Politik. Als das Vereinigte Königreich 1939 in den Krieg eintrat, geschah dies auf den Wunsch einer geeinten Gesellschaft; der Zweite Weltkrieg, empfunden als ein Kreuzzug gegen das Böse, schuf einen gemeinsamen Fokus für alle Klassen und Regionen.77 In den Dreißigerjahren blieb die Mittelschicht wie in den Jahren zuvor von den Effekten der Missstände, die die Unterschicht betrafen, weitgehend verschont. Anders aber als im vorigen Jahrzehnt waren weder Sehnsucht nach viktorianischen Idealen noch urbane Modernität eine zentrale Hoffnung, vielmehr suchte man Schutz im Individualismus der neuen suburbanen Einfamilienhäuser und in als idyllisch empfundenen ruralen Regionen. 1937 aber kippte die Stimmung; die außenpolitischen Krisen machten eine eskapistische Haltung unmöglich, und 1939 war der Willen zum Krieg durchaus präsent. 3.2 Die Auflösung des Genres in Großbritannien Die Dauer des „Golden Age of Crime Fiction“, dominiert vom Genre des pointierten Rätselromans, ist in der Fachliteratur nicht exakt eingegrenzt. Oft wird sein Ende mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs angesetzt. Die Schwierigkeit einer Periodisierung scheint darin zu liegen, dass weitere parallele Untergattungen, wie etwa die hard-boiled school, neben dem clue puzzle existierten und daher die Verfolgung einer linearen Entwicklung der Gattung erschwert wird. Zudem schrieben viele Autoren des Rätselromans noch bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg typische clue puzzles. So lässt sich ein rasches Abklingen der Dominanz dieses Genres kaum belegen.78 3.2.1 Ursachen für die Abkehr von Genrekonventionen Howard Haycraft, ein früher Literaturkritiker, unterscheidet in seiner 1941 erschienen Monographie Murder for Pleasure zwischen den Schriftstellern des „Golden Age“ und den Moderns. Letztere Gruppe sieht er als jene Autoren der Dreißigerjahre, die sich weniger dem rigiden Rätselroman verschreiben als der 77 78 vgl. ebenda, S. 619f vgl. Knight 2010, S. 84f 18 „detection-cum-character“.79 Zentrales Unterscheidungsmerkmal ist für Haycraft der Schwerpunkt auf Charakterisierung und literarischem Wert; dadurch verletzen sie teilweise die Konventionen des clue puzzle und können für kontemporäre Kritiker befremdlich erscheinen. 80 Während auch eine solche klare Trennung nicht universell gelten kann, so ist der Ansatz der Differenzierung ohne eine generalisierende Einordnung in ein teilweise obsoletes Genre nicht zu verwerfen. Gründe für Abweichungen vom traditionellen Schema werden in der Literaturkritik kaum diskutiert. Der Amerikaner Charles Brownson, der gegen Ende der Zwischenkriegszeit eine Wende zum psychologischen Detektivroman ortet, sieht als deren Ursache die Unangemessenheit des Rätselromans gegenüber der internationalen Krisenlage ab Beginn der Dreißigerjahre: Post-war nostalgia for the old stability had abated. Economical depression, post-war debts and the failure of the Versailles Treaty, looming prospects of a new war, all made the genteel country-house mystery seem irrelevant and 81 the police procedural inadequate. Statt der in sich geschlossenen rationalen Denksysteme des clue puzzle erforderte, so Brownson, diese Situation komplexere Systeme, in denen auch Psychologie und Empathie einen gebührenden Platz fänden; diese Systeme äußerten sich in Variationen des „Golden Age“-Detektivromans der Dreißigerjahre.82 Brownsons Erklärung erscheint unzureichend, bedenkt man, dass sich die Bürger der Mittelschicht in den Dreißigerjahren in die kleine Welt der englischen Dörfer und ihrer Eigenheime zurückzogen und mit diesem Eskapismus die politischen Konflikte fernhielten. Dies gilt zumindest bis 1937; ab dann begannen die von Brownson genannten Gründe ob der vermehrten Anteilnahme der Öffentlichkeit an politischen Krisen wohl stärker ins Gewicht zu fallen. Mehrere Anstöße zur Weiterentwicklung des Detektivromans finden sich in der gesellschaftlichen Psyche Großbritanniens: Die betriebswirtschaftliche Politik des National Government bedeutete eine Abkehr von viktorianischen Prinzipien, 79 Haycraft 1941, S. 183 vgl. ebenda, S. 183f 81 Brownson 2014, S. 73 82 vgl. ebenda, S. 77f 80 19 deren logisch-rationale Ideale der Detektiv im Rätselroman noch partiell verkörperte; das Lesen von Detektivromanen war eine der beliebtesten Beschäftigungen der modernen Hausfrau geworden,83 welcher das Ideal des rationalen und empathielosen viktorianischen Mannes fremd war; der Rückzug ins Idyll geschah hauptsächlich in moderne Wohnhäuser oder durch Ausflüge mit dem Automobil, und Haus wie Auto waren erst in der Zwischenkriegszeit für die breite Öffentlichkeit erschwinglich geworden; all jene Zustände weisen auf eine zumindest teilweise Distanzierung von viktorianischen Denkmustern hin, die im klassischen Detektivroman des „Golden Age“ noch so präsent waren. Dies öffnete den Weg zu Variationen und Abkehr von der Form. 3.2.2 Variationen und Bruch mit dem Genre Originalität, ohne die Konventionen des Rätselromans zu brechen, zeigte John Dickson Carr in seinen Romanen. Darin spezialisierte er sich auf Verbrechen in verschlossenen Räumen; sein Detektiv Gideon Fell, eine überlebensgroße Karikatur des Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton, agiert zwar noch als typischer „Golden Age“-Detektiv und damit partiell humanisiertes Expositionsmedium des Autors, die Handlungen verfügen jedoch über starke groteske und fantastische Elemente.84 Auch bekennt Fell freimütig, selbst ein Charakter in einem Roman zu sein.85 Damit wird die Seriosität des clue puzzle unterminiert und dessen unrealistische Struktur hervorgehoben. Ein weiteres Produkt der Dreißigerjahre ist das vermehrte Auftreten von weiblichen Detektiven. Obwohl diese die traditionell viktorianische Hegemonie männlicher Detektive schwächen, bleiben sie in ihren Methoden oft konventionell. Beispiele sind Patricia Wentworths Miss Silver, 1928 erstmals aufgetreten in Grey Masks, oder Agatha Christies Miss Marple, die 1930 debütierte.86 Andere Autoren bemühten sich um realistische Elemente im Detektivroman. Diese Tendenz war wohl ein Faktor in der voranschreitenden Hinwendung zum Polizeiroman. Während Polizeiermittler im Detektivroman der Dreißigerjahre 83 vgl. Watson 1987, S. 38f vgl. Knight 2003, S. 86f 85 vgl. Carr 2013, S. 152 86 vgl. Knight 2010, S. 103 84 20 meist noch entsprechend den Konventionen des „Golden Age“ agieren, wird der Status des Detektivs vom Amateur zum Polizisten und vom Angehörigen der Oberschicht zum Mitglied der unteren Mittelschicht korrigiert.87 Obwohl dies den Detektiv substanziell humanisiert, ist darin noch keine direkte Abwendung vom logisch-rationalen Ermittler des Rätselromans zu sehen. Im Fall von Margery Allingham bedingt die Wende zum Realismus eine rapide Änderung im Charakter ihres adeligen Detektivs Albert Campion: Haycraft unterteilt ihre Werke in eine pikareske und konventionelle Periode vor 1934 sowie eine naturalistische Periode danach. In diesen späteren Werken lässt Campion die superfiziellen humanisierenden Attribute des Rätselromandetektivs hinter sich und wird zu einem verständnisvollen und bescheidenen Charakter. Diese Romane basieren auch weniger auf materiellen als auf mentalen Lösungsprozessen. 88 Hierin lässt sich sowohl die Abkehr vom künstlichen Idealdetektiv zugunsten eines ruhigeren Charakters wie auch die Aufwertung der Psychologie erkennen, die Allinghams Romane vom klassischen clue puzzle unterscheiden. Anthony Berkeley Cox zeigt mit The Poisoned Chocolates Case (1929) die Defizite des Rätselromans auf. Der Detektiv Sheringham liegt falsch und die tatsächliche Lösung bleibt unbewiesen. Mit seinen unter dem Pseudonym Francis Iles geschriebenen Romanen aber durchbricht Cox die Regeln des „Golden Age“, indem er sich dem Verbrechensroman annähert. Malice Aforethought (1931) verfolgt nicht den Prozess der Ermittlung, sondern Hintergrund, Ausführung und Auswirkungen des Mordes aus der Perspektive des Mörders selbst; Before the Fact (1932) wird aus dem Blickwinkel des späteren Opfers erzählt. 89 Diese außerhalb des Genres stehenden Texte benötigen keinen handlungszentralen Detektiv mehr. Die Variationen des Detektivromans, die in den Dreißigerjahren entstanden, verkomplizieren die Verfolgung einer Entwicklung der Form beträchtlich; besonders aber stechen Margery Allingham und Anthony Berkeley Cox hervor, 87 vgl. ebenda, S. 156 vgl. Haycraft 1941, S. 185 89 vgl. Dabundo/Kelleghan 2001, S. 33f 88 21 die durch realistische Darstellungen und die Inklusion eines erheblichen psychologischen Elements in ihren Werken die strikten Regeln des Rätselromans verletzen. Die beiden letztgenannten Texte Cox’ verlassen das Genre des Detektivromans vollkommen und ähneln stattdessen dem psychologischeren Verbrechensroman. Wenn diese Entwicklung auch nicht generell war, so zeigt sie doch eine deutliche Abkehr vom rein rational aufgebauten clue puzzle und seinem überhöhten Detektiv. 3.3 Die Weiterentwicklung des Lord Peter Wimsey Der Zuwendung zum Realismus verschrieb sich auch Dorothy L. Sayers, die eine schlussendliche Verschmelzung des Detektivromans mit dem psychologischeren und charakterbasierten Sittenroman anstrebte. 90 Sie sah The Moonstone, einen damals kaum bekannten Detektivroman des Autors Wilkie Collins aus dem Jahr 1868, als ihr Vorbild, wie sie in ihrer 1929 erschienenen Einleitung zu The Omnibus of Crime schreibt: Taking everything into consideration, The Moonstone is probably the finest detective story ever written. By comparison with its wide scope, its dovetailed completeness and the marvellous variety and soundness of its characterisation, modern mystery fiction looks thin and mechanical. Nothing human is perfect, but The Moonstone comes about as near perfection as anything 91 of its kind can be. Sayers ist der Meinung, dass der Detektivroman sich zu einer offeneren Form entwickeln müsse; diese werde enger mit dem Sittenroman, der novel of manners, und weniger mit dem formelhaften Thriller verwandt sein müssen, um das Interesse der Leser zu wecken.92 Diese Tendenz lässt sich am besten anhand von Wimseys Interaktion mit Harriet Vane betrachten, für die Lord Peters Charakter ausgebaut werden musste. Trotz ihrer Prognose schrieb Sayers mit ihrem nächsten Roman, Five Red Herrings (1931), einen klassischen Rätselroman, in dem Charakter und Psychologie eine untergeordnete Rolle einnehmen und Harriet Vane nicht 90 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 154 Sayers 1980, S. 67 92 vgl. ebenda, S. 82 91 22 erwähnt wird.93 Erst in dem 1932 erschienenen Have His Carcase wandte sie sich erneut der Beziehung zwischen ihrem Protagonisten und der fiktiven Kriminalautorin zu. Dieser Roman beginnt nicht mit Lord Peter, sondern wird aus der Sicht Harriet Vanes erzählt, die sich nach ihrem Prozess einen Urlaub an der Küste erlaubt. Auf einem Strandspaziergang findet sie die Leiche eines ermordeten Mannes und wird so in die Ermittlungen involviert. Erst nach der Information der Presse erscheint Wimsey im vierten Kapitel. Sein struktureller Status als Medium der Autorin wird somit, obwohl er Protagonist der Handlung bleibt, untergraben; diese Funktion wird auf Vane und Lord Peter aufgeteilt, was Wimsey weiter humanisiert. Verglichen mit Lord Peter nimmt Vane eine viel wichtigere Rolle ein als in Strong Poison. Ihre Passivität weicht einer aktiven Teilnahme an der Ermittlung: Sie ist die Erste und Einzige, die die Leiche untersuchen kann, bevor sie von der Flut weggerissen wird, später sammelt sie in Gesprächen mit Verdächtigen essentielle Informationen. Gleichsam wird Wimseys Rolle weniger rein intellektuell: In Have His Carcase nimmt er sich auch trivialer Aspekte der Ermittlung an, die in früheren Romanen seinen Assistenten zugefallen wären.94 Die Zusammenarbeit bietet Gelegenheiten zur emotionalen Weiterentwicklung. Diese verläuft weniger harmonisch als die Ermittlung: Wieder eilt Wimsey Vane zu Hilfe und verpflichtet sie damit ungewollt zu Dankbarkeit.95 Eine Streitszene zwischen Lord Peter und Vane gibt auch Einblick in seine Unruhe und Furcht beim Gedanken, Vanes beinahe wiedererlangte Unabhängigkeit durch sein Eingreifen erneut zu zerstören.96 Die in Strong Poison begonnene Humanisierung der Figur wird durch die Präsenz solcher emotionaler Konflikte, denen der logisch-rationale Detektiv ausgesetzt ist, fortgesetzt. Noch aber kann die Barriere zwischen Harriet Vane und Lord Peter nicht überwunden werden, genauso wenig wie dieser Roman als außerhalb des 93 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 133f vgl. ebenda, S. 138f 95 vgl. Sayers 1974b, S. 175 96 vgl. ebenda, S. 174 94 23 Genres liegend bewertet werden kann. Es ist Wimsey, der durch obskures medizinisches Wissen der erstaunten Harriet und dem Polizeiinspektor die Lösung offenbart und so erneut seine Überlegenheit beweist. Er erkennt den Mordfall als die menschliche Tragödie an, die sie ist, zieht sich davor aber bequem mit Harriet nach London zurück.97 Nach Have His Carcase folgten Murder Must Advertise (1933) und The Nine Tailors (1934), wieder ohne Harriet Vane. Obwohl The Nine Tailors bereits eine komplexe Charakterstudie, wenn auch primär ein Kriminalroman ist,98 vermengt Sayers erstmals in Gaudy Night (1935) Sittenroman und Detektivroman so, dass der Detektiv zu einer unabhängigen Figur im Roman und der Fokus nicht mehr nur auf die Ermittlung gelenkt wird. 99 Dies ist auch der Text, in dem Wimsey und Vane schließlich zusammenfinden. Wie auch in Have His Carcase wird die Handlung von Gaudy Night aus der Perspektive von Harriet Vane geschildert. Dies betrifft all ihre Eindrücke und Emotionen, so dass der Handlungsschwerpunkt klar auf ihr liegt; es handelt sich im Grunde um eine Harriet-Vane-Geschichte.100 Darin erscheint Lord Peter als ein hervorstechender, aber lange abwesender Charakter, als einzelne und vom Romanschema unabhängige Person. Als Schauplatz ihres zehnten Romans wählte Sayers die Universität von Oxford, die ihr als Absolventin vertraut war: Zum einen, wie sie im 1937 erschienenen Essay Gaudy Night schreibt, um die Wichtigkeit der akademischen Integrität zu unterstreichen; zum anderen aber, um auf der intellektuellen Ebene Wimsey und Vane, beide ehemalige Oxford-Studenten, endlich als gleichwertig darstellen zu können.101 Innerhalb der Handlung geschieht die Angleichung beider Protagonisten durch die lange Abwesenheit Lord Peters vom Handlungsmittelpunkt. Lange Zeit ermittelt Vane alleine gegen einen Unruhestifter am fiktiven Shrewsbury College und gewinnt dadurch ihre Selbstständigkeit. Selbst als sie durch ihre Aktivitäten 97 vgl. ebenda, S. 460 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 153 99 vgl. Nusser 2009, S. 103 100 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 175 101 vgl. Sayers 1946 98 24 in Gefahr gerät, rät ihr Wimsey nicht zur Aufgabe: Dadurch, dass er sie nicht zu beschützen sucht, öffnet er ihr den Weg zur Emanzipation.102 Wenn Wimsey schlussendlich auch als Löser des Rätsels auftritt, so kann er dies nur mithilfe Vanes, die sich als moderne und intellektuell fähige Frau bewiesen hat, die selbst Risiken eingehen kann. Gleichzeitig mit Vanes Position im intellektuellen Milieu wird im Laufe des Romans die Emotionalität in Lord Peters Charakter thematisiert, die Gefühle im Kontrast zum rationalen Denken: “[…] Should you catalogue me as a heart or a brain?” “Nobody,” said Harriet, “could deny your brain.” “Who denies it? And you may deny my heart, but I’m damned if you shall 103 deny its existence.” Sowohl Emotion wie auch Rationalität werden nun in Wimseys ganzheitlichem Charakter dargestellt. Seine komplizierte Beziehung zu Vane dominiert den Roman, und er zeigt oft Schwäche, wie seine Unsicherheit ob der politischen Situation, vor der Oxford ein Refugium bildet. 104 Unter der viktorianischen Oberfläche befindet sich ein menschliches Wesen, das auch Liebe, Angst und Unsicherheit empfinden kann. Im viktorianischen Zeitalter existierte eine ideologische Trennung zwischen dem unterlegenen Weiblichen und Emotionalen und dem überlegenen Männlichen und Rationalen. 105 Dieses Stereotyp wird in Gaudy Night aufgelöst; die humanisierten Charaktere Wimseys und Vanes umfassen beide Bereiche. Zugleich mit der Loslösung von der Vergangenheit erleben die Figuren aber auch die Angst vor der Zukunft, vor der sie der Rückzug nach Oxford beschützt. Weder Nostalgie noch Zukunftshoffnung herrschen vor, vielmehr die Flucht in eine eskapistische, alternative Gegenwart. Harriet Vane erlangt ihre Unabhängigkeit von Lord Peter und wird ihm so angeglichen, der Detektiv verliert seine Position als dominierende Figur des Romans. Dies erlaubt, dass die Handlung nach der Auflösung des Rätsels mit 102 vgl. Lewis 1994, S. 71f Sayers 1970, S. 78 104 vgl. Sayers 1970, S. 338f 105 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 64f 103 25 einem Kuss unter der Bridge of Sighs und der Aussicht auf eine Heirat abgeschlossen werden kann.106 Die unrealistische Überlegenheit des Detektivs weicht einer Partnerschaft. Der nächste und letzte Wimsey-Roman, Busman’s Honeymoon, veröffentlicht 1937, stellt diese Partnerschaft dar. Die ursprünglich für ein Theaterstück konzipierte Handlung musste eingeschränkt werden: Am Beginn ihrer Flitterwochen stoßen Lord und Lady Peter in ihrem neugekauften Landhaus Talboys auf die Leiche des Vorbesitzers. Das Verbrechen ist bis auf den Tathergang selbst kaum bemerkenswert, Opfer wie Verdächtige sind wenig sympathisch. 107 Statt der Ermittlung steht das Einfinden der Protagonisten in ihre matrimoniellen Positionen im Vordergrund, wovon der Mord sie nicht ablenken kann. 108 Die Stabilität des Status quo nimmt gegenüber dem Störelement des Verbrechens überhand. Auch Wimsey selbst erscheint als gewöhnliche Figur, die Teil dieser Stabilität ist. Harriet sieht ihren Gatten als an die geordnete rurale Gesellschaft angepasst, die im Kontrast zur komplexen Urbanität steht, und denkt über ihn: „I have married England.“ 109 Dies reflektiert den Rückzug der britischen Bevölkerung in die Alternativwelt der traditionellen Dorfgemeinschaften Englands, der Detektiv wird vollkommen humanisiert und in die homogene Gesellschaft integriert. Gerade aber wegen der Gewöhnlichkeit von Tat und Umfeld kann Lord Peter sich nicht weigern, zu ermitteln. Er handelt aus Verantwortungssinn, aus der Erkenntnis, dass seine Ermittlungen nur ein unmoralisches Freizeitvergnügen darstellten, würde er sich seine Fälle aussuchen.110 Wimseys direkte Involvierung in den Kasus mindert auch seine Schuldgefühle ob des Schicksals des Täters, die Sayers seit Whose Body großteils ignoriert oder, in Gaudy Night, durch Weglassen eines Mordes kaum thematisiert hatte, sie sind aber dennoch präsent. 106 vgl. Sayers 1970, S. 556f vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 185 108 vgl. ebenda, S. 185f 109 Sayers 1968d, S. 105 110 vgl. ebenda, S. 141 107 26 Dass der Roman nicht mit der Verhaftung des Mörders endet, sondern noch bis zu seiner Hinrichtung andauert, gibt dieser Tatsache besonderen Nachdruck. In den drei Kapiteln des Epithalamions, die diese Zeitspanne zeigen, nimmt sich Lord Peter in London des Täters an, verschafft ihm einen guten Anwalt und organisiert Pflege für seine Familie, kann ihn jedoch nicht zur Reue bewegen. Die Großstadt London ist ein Ort der Frustration, und der Detektiv als gewöhnlicher Mensch muss sich daraus zurückziehen. Am Familiensitz der Wimseys in Duke’s Denver erfährt Harriet von Wimseys viktorianisch anmutender Mutter Details über die Kriegsneurose ihres Ehemannes, die sich allerdings im Verhalten Lord Peters kaum ausdrückt. Zurück in Talboys schließlich folgt der Zusammenbruch, im Zuge dessen Wimsey weinend in die Arme seiner Frau fällt, während in London der Mörder hingerichtet wird.111 Auch diese Stationen lassen sich symbolisch lesen: Die Rückkehr in die Vergangenheit bedeutet auch die Annahme der viktorianischen Emotionslosigkeit; innere Konflikte können durch Rückzug ins ländliche Idyll und Rückhalt in einer harmonischen Ehe gelöst werden. Busman’s Honeymoon war nicht als Ende der Romanreihe vorgesehen, doch anderweitige Verpflichtungen und die Abkehr des Publikums vom klassischen Detektivroman hinderten Sayers daran, einen weiteren Text um ihren aristokratischen Detektiv zu verfassen.112 Die Figur des Lord Peter Wimsey hat sich in den Dreißigerjahren merklich entwickelt: vom dominanten, rein rationalen Detektiv des clue puzzle zu einer gefühlsfähigen, individuellen und etwas biederen Romanfigur. In ihrem Drang zum Realismus schafft Sayers charakterbasierte Romane, die sich wegen ihrer Alternation zwischen Detektivund Sittenroman außerhalb des starren viktorianischen Genres des Rätselromans ansiedeln lassen. 111 112 vgl. ebenda, S. 451 vgl. McGregor/Lewis 2000, S. 209 27 4 Nach dem „Golden Age of Crime Fiction“ Ab dem Zweiten Weltkrieg war die Ära des Rätselromans de facto passé. Agatha Christie veröffentlichte weiter bis zu ihrem Tod in den Siebzigerjahren Romane nach dem klassischen Schema, junge Autoren aber wandten sich selten der traditionellen Form zu. Eine Ausnahme ist Bruce Montgomery alias Edmund Crispin, der statt Realismus parodistische Elemente ins Genre einbrachte. Crispins Detektiv Gervase Fen durchbricht nach dem Vorbild Gideon Fells oftmals die vierte Wand und zeigt so die Künstlichkeit des Rätselromans auf.113 Ein sich nach Kriegsende ausprägendes Genre war der Polizeiroman, ein Schema, das heute noch in Romanen und Fernsehserien Verwendung findet. Der Polizeiroman zeichnet sich durch akkurate Darstellung trivialer Polizeiarbeit, einen Fokus auf Verbrechen innerhalb des Milieus der unteren Mittelschicht sowie eine Ermittlung durch eine Gruppe von zusammenarbeitenden Polizisten aus.114 Damit hat sich das Genre vom überhöhten, allein oder nur mit einem Partner handelnden Amateurdetektiv distanziert. Der neue Realismus wurde ab den Sechzigerjahren in den in ruralen Umgebungen angesiedelten cosies mit der Form des clue puzzle vermengt. 115 Bürgerliche Polizeibeamte führen die Ermittlung und es wird Wert auf die Psychologie der Charaktere gelegt; dennoch funktionieren diese Romane noch nach den grundlegenden Regeln des Detektivromans, wonach der zentrale und teils markant überhöhte Detektiv im klassischen Schema am Ende des Textes die Lösung präsentiert.116 In eine solche Kategorie ließen sich, abgesehen von Lord Peters sozialem Status, auch die späteren Wimsey-Romane einordnen; durch das Epithalamion geht Busman’s Honeymoon wohl gar noch darüber hinaus. 113 vgl. Priestman 2003, S. 174 vgl. Knight 2010, S. 156-163 115 vgl. Priestman 2003, S. 178 116 vgl. Knight 2010, S. 136f 114 28 So wird die realistische und humanisierende Tendenz, die in den Dreißigerjahren zum Vorschein kam, im Polizeiroman der Nachkriegszeit weitergeführt. Wie schon zuvor ist aber auch hier die Entwicklung nicht linear: Die teilweise Rückkehr zum konventionellen Schema zwei Jahrzehnte nach Kriegsende macht das deutlich. 5 Zusammenfassung Im Rahmen dieser Arbeit wurde die Entwicklung und Fragmentierung des Detektivromans des „Golden Age of Crime Fiction“ im Großbritannien der Zwischenkriegszeit analysiert. Dabei wurden soziale Veränderungen mit den sich wandelnden Konventionen des Genres und den Charakteristika der Figur des Lord Peter Wimsey in Dorothy L. Sayers’ Romanen in Beziehung gesetzt. Der pointierte Rätselroman des „Golden Age of Crime Fiction“ zeichnet sich durch seine strenge Struktur und alleinige Darstellung von Figuren der Mittelund Oberschicht aus. Als Detektiv fungiert meist ein reicher Amateur, der nach nostalgisch-viktorianischem Schema rein rational agiert und so zum Projektionsobjekt für Wunschvorstellungen wird. Zu weit reichende Humanisierungsversuche scheitern an seiner strukturellen Funktion als Führer durch das Rätsel. In dieses Schema passt auch Lord Peter Wimsey, bis in Strong Poison (1929) seine Liebe zur unschuldig verdächtigen Harriet Vane eine emotionale Komponente einbringt. Abkehr von viktorianischen Idealen, der Rückzug der Mittelschicht in rurale und suburbane Räume sowie ein großes weibliches Publikum, dem viktorianische Stereotype des Rätselromans fremd waren, erlaubten in den Dreißigerjahren zahlreiche Variationen des Genres. Eine der aufkommenden Tendenzen war es, mehr Realismus im Detektivroman zuzulassen. Dieser Prozess lässt sich in den späteren Wimsey-Romanen verfolgen, im Verlauf derer sich Lord Peter zu einer emotionalen und von der Romanstruktur unabhängigen Figur entwickelt, die weniger überhöht dargestellt wird. 29 Realismus im Detektivroman war nach dem Zweiten Weltkrieg auch Grundlage der Entwicklung der heute noch beliebten Polizeiromane und cosy-Romane. Letzteres Genre weist starke Ähnlichkeit zu späten Wimsey-Romanen auf, und eine Analyse seiner Genese könnte noch relevante Ergebnisse zum „Golden Age of Crime Fiction“ und seinen Nachwirkungen hervorbringen; aber auch jene Variationen des Kriminalromans, auf die in dieser Arbeit nicht eingegangen wurde, ließen sich im historischen Kontext untersuchen. Damit eröffnet sich ein breites Forschungsfeld für die Geschichte des modernen Kriminalromans. 30 Literaturverzeichnis Brooke, Stephen: Class and gender. In: Carnevali, Francesca und Strange, Julie-Marie (Hrsg.): Twentieth-century Britain. 2. Aufl. Harlow: Pearson Education 2007, S. 42-57. Brownson, Charles: The Figure of the Detective. A Literary History and Analysis. Jefferson: McFarland & Company 2014. Carr, John Dickson. The Hollow Man. London: Orion Books 2013. Dabundo, Laura und Kelleghan, Fiona: Anthony Berkeley. In: Kelleghan, Fiona (Hrsg.): 100 Masters of Mystery and Detective Fiction. Bd. 1. 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